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Vor einem Bild des Bauern-Brueghel

Darf man in einem Kunstwerk Rechenschaft fordern für Unbill, die das Leben einem angetan hat? Wenn ein Buch das Leben, das man gelebt hat, behandelt, darf man dies wohl. Ja, man darf sich nicht gut darum herumdrücken. Es ist keine Rache, die man nimmt, wenn man die Wahrheit berichtet. Der Gesichtswinkel aber, unter dem man die Ergebnisse eines Lebens betrachtet, mag Schärfe und Intensität der Darstellung bedingen. Ist Leben Kampf, so habe ich keine andere Waffe, um in ihm zu bestehen, als meine Feder, mit der ich Wort an Wort reihe.

Die Anderen haben ihre Waffe. Ihr Geld. Ihre Zunge. Die Verbindung mit ihresgleichen, die Freimaurerei ihrer Gesinnungsgemeinschaft, Interessengemeinschaft, ihrer Gemeinheit. Die Dummheit, die große menschliche Dummheit, die sie, statt ihr durch eigene Klugheit und Weltgewandtheit abzuhelfen, schlau ausnützen, um sich Macht zu verschaffen.

Meine Feder ist im Feuer gesäubert. Ich brauche sie mit reinem Gewissen. »Mein ist die Rache, spricht der Herr«?? Jawohl, der Herr der Rache ist auch der meine. Kein »lieber Gott«. Wie oft hörte ich das Wort »mein ist die Rache«, wie oft hörte ich es vorwurfsvoll aus dem Munde von Schurken. Dem christlichen Menschen, der es gebraucht, zu seinem Schutz anführt, erwidere ich: bist du, lebst, fühlst, handelst du nach Christenart, Christengebot, so hast du nichts begangen, wovor du zittern mußt. Bist du ein Christ, bin ich es auch. Laß mich deine Stirn küssen, küsse mich auf Stirn und Wange. Bist du aber in deinem Handeln, Fühlen, deiner Tat das Gegenteil eines Christen gewesen, so werde ich dir beweisen, daß du es mit einem Bolschewik zu tun gehabt hast.

Nun wollen wir weiterreden. –

 

Der Plan zum Buch meines Lebens kam mir an einem Vormittag im Wiener Kunsthistorischen Museum vor einem Brueghel-Bild, das den Kampf der Fasten mit dem Fasching darstellt. Man blickt da irgendwoher von oben, aus einem Turmfenster etwa, auf den Markt hinunter, auf einen Platz zwischen Dom und Wirtshaus, auf dem sich eine närrische Menge in Bauerntracht und Mummenschanz tummelt. Da gibt es Masken von Königen und Ratsherren, Mönchen und Philosophen zu sehen. Die Fettwänste, die Krüppel und die Bettler haben es leichter, ihren Stand und Wesen erraten zu lassen. Die sind in ihrer Alltagstracht aufmarschiert. Über das ganze Bild sind Gruppen verstreut, voll Eifer und tiefem Ernst mit irgendeinem närrischen Tun beschäftigt. Auch sieht man zwischen den Gruppen hier und dort eine einschichtige Figur dahinwandeln oder irren, von einer Gruppe zur anderen, sich das Treiben jeder einzelnen ansehend, dann weitergehend, ohne in einer Fuß zu fassen.

Mir schiens, als blicke ich in dieses Bild selber wie auf mein irdisches Leben nieder, als erkenne ich mich selber inmitten einer oder der anderen Gruppe – oder unter dem Narrengewand eines oder des anderen Herumirrenden, als könnte ich wie der Bauern-Brueghel behaglich und sicher von so hohem Standort aus das Treiben unten auf dem Bild meines Menschenlebens schildern.

Das war gar kein schlechter Vergleich. Und es war auch kein schlechtes Buch, das ich damals geschrieben habe. Nur ... der Turm eben hielt nicht stand, und das war der fundamentale Fehler des Buches. Darum ist das Buch unter den Trümmern des Turmes begraben und ist verbrannt in der Explosion des Fundamentes. Ein Gutes aber war dabei: das Feuer hat manches Weiche, Unausgesprochene, Halbzuendegedachte und -gefühlte aus mir weggebrannt, und daraufhin hat es sich verlohnt, Welt und Leben noch einmal anzuschauen. Es geschieht in dieser zweiten Niederschrift, die ich aufs Papier setze, weil ich noch die volle Kraft des Auges besitze und auch die Festigkeit der Hand, die nachzuzeichnen versteht, was das Auge getreu wahrgenommen, das Herz erfaßt, der Verstand verarbeitet hat.

Und das ist nicht wenig.

Meine Welt ist nicht klein. Mein Leben war nicht arm. Ich habe es auch, besonders in seiner zweiten Hälfte, von der dieses Buch handelt, nicht blindlings in den Tag hinein gelebt, sondern es hat einen Sinn gehabt. Denn ich habe Freude nicht erlebt, um mich über die Traurigen zu erheben, und das Leid, das über mich ausgeschüttet worden ist, hat meine Seele nicht verhärtet gegen die Frohen. Alles hat sich in Gefühl und Willen verwandelt, und wenn ich sage: mein Leben ist reich geworden durch Niederdrückendes so gut wie durch Erhebendes, so ist das kein Geflunker, und nicht dies mein letztes Buch allein führt den Beweis!

Der Turm meiner eigenen gefestigten Welt ist in die Luft geflogen. Aber ist etwa dem Markt nicht dasselbe passiert? dieser Trümmerstätte einer zerschlagenen und vernichteten Zeit der Lebenden, in deren Mitte das Individuum heutigen Tages steht, Tränen und Blut schwitzend, bis ins Mark verbrannt, brüllend um sich schlagend??

 

Die Katastrophe des Weltkrieges hat die politischen und ökonomischen Grundfesten der Gesellschaft zertrümmert und die Trümmer durcheinandergeworfen, die moralischen vernichtet. Die westliche Menschheit insbesondere hat aus dem Weltkriege keine neue Erkenntnis geschöpft, sie hat nichts gelernt. Ökonomisch und politisch wirkt die Katastrophe nach – die Moral hat vergessen, daß es jemals Krieg gegeben hat.

Das Reine, Hohe lebt in wenigen. Wo es sich regt, aufzuraffen sucht, sinkt es bald aufs neue, verleumdet, verhöhnt und bespien zu Boden nieder. Ehrfurcht und Schrecken gebietend steht allein, unverändert seit je, erzbewährt und triumphierend das Böse, die Niedertracht, die große, augenscheinlich unbesiegliche Dummheit aufrecht vor dem Gewissen der Welt. Der Instinkt, der unverwüstliche Trieb der Bestie, der die Art augenscheinlich nicht anders zu erhalten weiß als durch schonungslose Vernichtung der Mitbestien, triumphiert über den Gedanken, wo er sein Haupt erhebt, nach Geltung ringt.

Seht, wie sie brüderlich beisammenstehen, wenn es gilt, Menschenliebe, Hilfsbereitschaft, Zukunftswillen zu besudeln, unterzukriegen, zu zerstampfen. Den Untergang des Reinen, Hohen, der Wahrheit rasend zu feiern, zu bejubeln!

Die Arbeit zur Fron erniedrigt. Eigennutz, Knechtsinn, wohin man blickt. Der typische Nutznießer, Verräter der Leistungen des Nächsten, des Gedankens, den der Nächste gedacht hat, der Mörder des Traumes, den der Nächste träumt. Vampire und Parasiten der zusammenbrechenden armseligen, von ihren Führern ewig genasführten Sklavenhorde, die um einen Stundenlohn das Erträgnis ihres Lebenstages verschachert – höchstens, daß sie in ein ersehntes Übermorgen hinaufäugt, wo ihre Führer bereits heimatberechtigt geworden sind, in das gepriesene Reich des Bürgers, in das die verelendete, längst unter die Untersten hinuntergesunkene Mittelschicht des Volkes sich, wie in das letzte unveräußerliche Gut ihres Standes, verzweifelt mit Zähnen und Krallen verbissen hat.

Es wird hier ein Wort geredet werden über die Geistigen im Volke. Die Träumer der hohen Träume, die Kämpfer für die hohen Ziele der Menschengemeinschaft! Sofern diese nicht als Bettler vor den Türen ihrer Verächter stehen, froh, wenn durch den vorsichtig geöffneten Spalt ein Knochen von der Tafel zu ihnen hinausfliegt, sind sie Verbündete ihrer Henker geworden, der Nutznießer ihres Verrates, lauern sie frech und triumphierend darauf, sich zum Feind zu schlagen, wenn der erst aufgehört haben wird, vor dem Sieg der Idee zu zittern, für die zu kämpfen sie in die Welt gesandt worden sind.

 

Ich schreibe dieses Buch fast wie ein Toter. Wie einer, der von dem äußeren Leben nichts mehr erwartet und dem, was er erlebt, nurmehr Material ist für seine Arbeit.

Viele, die in diesem Buche vorkommen, sind, während ich es schrieb, gestorben. Viele, die ich für meine Freunde hielt, sind unter meine Feinde gegangen, für mich so gut wie tot. Dies erleichtert meine Arbeit wesentlich. Aber, wenn ich von außen auch nichts mehr erwarte – um so mehr liebe ich meine Arbeit. Nichts weiter erwarte ich von meinem Leben als dies eine, wahr sein zu dürfen bei der Verrichtung und Erfüllung meiner Arbeit. Wahr zu sein gegen mich selbst und treu zu bleiben der großen, der einzigen Pflicht, bis das Licht anbricht.

 

Es wird sich, jawohl, bei dieser Arbeit als notwendig erweisen, daß ein paar menschenähnliche Gestalten auseinandergenommen, aufgetrennt werden, so daß die Sägespäne aus ihnen herausfallen und man, im Hintergrund, hinter diesen Figuren des Lebens das wahrnimmt, was aufzuzeichnen Zweck und Ziel dieses Buches ist, um dessentwillen ich dieses Buch schreibe, nämlich: die Zusammenhänge, das Gewebe der heutigen Gesellschaft.

Bin ich gut? Nein, ich bin es nicht. Müßte ich es sein, um das Recht in Anspruch zu nehmen, daß ich ein Buch schreibe wie dieses? Ich stehe nicht an, Gott anzuklagen darum, daß er den Guten, d. h. den Heiligen unter den Menschen mit Schwäche geschlagen hat, dergestalt, daß dieser zum Untergang im Fleisch vorbestimmt und verurteilt war von Anbeginn. Den Bösen, den Henker, die Bestie mit Säbel, goldklimpernden Hosentaschen, schielendem Blick, den Verräter, der das Maul hält, wenn er schreien, schreit, wenn er verstummen sollte – den hat der Herr mit Stärke gerüstet, er besteht. Warum muß der Gute Opfer seiner eigenen Schwäche werden, sie seinem Verderber offenbaren, vermeinend, dieser sei im Grunde gut und mild wie er selber? Warum?

In der kurzen Zeit, als der Krieg schwelend zu Ende zuckte und verlosch, die große Revolution zugleich flammend aufging im Osten, da glaubte mancher: nun sei die Bestie ersoffen in dem Blut der Millionen Unschuldigen, der Armen, der Toren, der Dummen, der Verratenen und Mißbrauchten der Welt – nun steige das Nordlicht der Vernunft empor. Irrtum. Irrtum. Sieh, wie das Gute, die Reinheit, wie der Heilige weiter gekreuzigt wird, um seiner Liebe, seiner Gerechtigkeit willen, zur Strafe für sein überströmendes Gefühl zur leidenden Kreatur, dem hilflos untergehenden Mitmenschen, den ewig verratenen Massen.

 

Wahrheit dessen, der glaubt. Den die Erfahrung nicht abtötet. Der fortfährt, zu kämpfen gegen Erbarmungslose.

Wahrheit gegen sich selbst, den Feind im eigenen Blut, den Verräter an dem eigenen Gefühl, den Verneiner des Willens zum Hohen, der im eigenen trägen Herzen sitzt und Verzicht brütet.

Wahr sein – letzte Freude von allen! Nach dem Untergang der Hoffnung letzte Freude, Liebe und Haß in einem. Lust an der Arbeit, magnetische Atmosphäre des lebendigen Gewissens. Trieb! Alles sagen, was das Herz, die Sinne, Nerven, was die okkulten Organe des Bewußtseins zu erfassen, wahrzunehmen vermögen; nichts verschweigen, was sich im Laufe eines Menschenlebens in den Gebieten zugetragen hat, in denen der Verstand, das Gefühl, die Ganglien, die Substanz des irdischen Körpers sich zurechtzufinden vermögen. Alles aussagen, was hilft, dem Menschen hilft, diese Mitwelt, dieses Gebilde, das sich menschliche Gesellschaft nennt, dieses irdische Dasein zu erkennen, vielleicht zu ertragen.

Nichts verschweigen als das, was Gott der Herr selbst dem Menschen verschwiegen hat. Was Gott abzuringen Aufgabe der Wissenschaft, der Religion, Lebensziel des Wahrheitssuchers auf Erden ist. Dessen, der sich unterfängt, eine Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht tätig zu erweisen, zu bestätigen: durch Arbeit; im Kampf; wenn es sein muß – und an einem bestimmten Wendepunkt des Lebens muß es sein! – im Kampf gegen Alle, trotz Allen, trotz Vereinsamung, Armut, Härte, Unverstand und Tod – immer, immer für die Gemeinschaft.

 

Maßstab des Weltgeschehens ist das eigene Schicksal. Dem Menschen ist keine andere Möglichkeit gegeben, das Weltall und seine geheimnisvolle Struktur zu erkennen, als: das eigene Leben, das ein Teil dieses Weltalls ist, den eigenen Lebenstrieb zu belauschen. Keine andere Parallele gibt es für das Leben des Weltalls als das eigene kleine, individuelle, zeitlich begrenzte Dasein. Dies zur Apologie dessen, der seine eigene Lebensgeschichte niederschreibt.

Die ewigen Gesetze spiegeln sich im Leben eines Menschen so sinnreich wider wie die Zeit, in der dieses Leben sich abrollt. Nein, es gibt keine gültigere Methode, die Gesetze, die das All regieren, den Einfluß, den die besondere Konstellation der erlebten Gegenwart auf den Ablauf der Gesetze ausübt, zu erfassen, als aufmerksamstes, bewußtestes Erleben des eigenen Lebens. Erkenntnis ohne Schmerz ist keine.

Es gibt für den bewußt lebenden Menschen aber nichts Schmerzhafteres, als wach zu sein. Die meisten Menschen werden es nie. Weckt ein Ereignis sie auf, so greinen sie wie Kinder, deren Schlaf man unterbricht. Und nun soll gar ein Leben so gelebt werden, daß, der es erlebt, stets wach sei, es wahrhaftig lebe! Wie muß der Wache sein Dasein hassen. Kann er es überhaupt ertragen, wenn er sich nicht widerstandslos durch die Instinkte von einem Tag zum andern, aus einer Nacht in die andere hinübertragen, entlangschaukeln läßt, wie über die Welle eines breiten Stromes – ohne Schiffbruch und Untergang zu erleiden?

Wer sein Leben niederschreibt, die Welt zu erkennen trachtet durch sein eigenes Leben, der befindet sich an dem anderen Pol. Fortgesetztes, aufmerksames Bewußtsein und Bewußtwerden; absolute Klarheit; Aufgabe: sich fest fühlen, den Strom an beiden Seiten an sich vorbeischäumen fühlen, wenn möglich ohne Wanken dastehen, standhaft sein, sich nicht fortschwemmen lassen vom um die Füße emporgischtenden Gewässer. Standhaft sein ohne Selbstbetrug, darauf kommt es an.

Dieser Zustand kann natürlich kein endgültiger sein. Für die Zeit, da man, sein Leben betrachtend, es beschreiben will, muß er aber unbedingt erkämpft werden, erreicht sein. Nachher wird sich der sich selbst Betrachtende wahrscheinlich dem Gesetz der Wandlung weiter fügen müssen. Aber diese Stabilität, dieser Zustand der Festigkeit und Ruhe ist notwendig. Ohne ihn erlangt zu haben, kannst du das Werk der Identifikation: Ich – Welt nicht vollbringen. Du mußt den Zweifel in dir niederkämpfen, den Zweifel an dir, an deinem eigenen Schicksal.

Haß und Bewunderung, alle extremen Gefühle, müssen auf die Formel des Fundamentalsatzes gebracht werden, in dem sie aufgehen wie in einem glücklichen Gleichnis, Erkennen der Natur, des Gesetzes selbst, ohne ihr Wesen zu fälschen, zu steigern, zu reduzieren. Schließlich weicht der Begriff Recht und Unrecht, Schuld und Strafe, die Grenze stürzt, und das Vergängliche löst sich aus dem Bereich des Gleichnisses und wird in die Sphäre der Wirklichkeit erhoben, d. h.: des Werkes.


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