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Vermächtnis der Antike

Rede anläßlich eines Festes der Freunde des humanistischen Gymnasiums

Die Unruhe ist nach wie vor allgemein, der Zweifel und die Verworrenheit eher im Wachsen als im Abnehmen. Die materiellen Auswirkungen der Katastrophe, durch die wir gegangen sind, bleiben ungeheure; aber wir gewahren, daß die geistigen noch furchtbarer und noch folgenreicher sind. Wir versuchen uns zur Klarheit durchzuringen, zu erkennen, was dahingestürzt und was noch aufrecht ist; aber der ordnende Sinn in uns selber, der allein zu solchen Urteilen fähig wäre, ist im tiefsten beschädigt. Niemand ist geistesmächtig, niemand scharfsinnig genug, sich über das zu erheben, was alle und alles umstrickt. Unsere Befürchtungen, die manchmal die Betonung des Schreckens annehmen, finden immerfort und von allen Seiten her neue Nahrung, unsere Hoffnungen sind unsicher und vag; die stärkste von ihnen, paradoxerweise, ist die, welche wir gerade aus der Größe der Bedrohung, aus der umfassenden Gewalt des Ereignisses ziehen.

Es gibt nichts im geistigen Bereich, das nicht versehrt wäre. »Der Geist selbst ist verwundet«, sagt ein Franzose. »Unsere Welt ist im Untergehen«, schreibt ein Deutscher auf sein Buch. »Wir sind allein«, ruft ein Spanier aus, »der Europäer von heute steht allein, ohne lebende Tote an seiner Seite.« In der Tat, das, was fünfzehn Jahre hinter uns liegt, ist so fern von uns, so unerreichbar wie Sesostris und Nimrod. Wir sind ganz allein.

Die Geschichte, wenn wir uns an sie wenden, ist kalt und vieldeutig in ihren Antworten wie ein Orakel. Schlagen wir heute ihre Blätter auf, so scheinen uns die Jahrhunderte bis zurück an den Ausgang des Mittelalters von nichts zu sprechen als von dem Kommen des Kataklysmas, das uns heute unter Trümmern erschlägt. Was immer sich im Geistesleben vollzogen hat, von jener Anfangstat des sechzehnten Jahrhunderts an, jener Setzung des Ethos über den Logos, die wir den Protestantismus nennen – mit dem wissenden Auge, das der heutige Tag uns gibt, sehen wir in der Kette der Geschehnisse nichts als die Vorbereitung dessen, was heute Wirklichkeit wird. Der rückwärts gewandte Prophet heftet den gleichen eisigen, undurchdringlichen Blick auf uns wie die Gegenwart selber.

Und in dieser Welt rüsten Sie sich, ein Fest des Geistes zu feiern; und der Gegenstand Ihres Festes ist das Bekenntnis zur Überlieferung kat' exochen, zur geistigen Ordnung kat' exochen, zum ewigen Band aller geistigen Ordnungen. Sie haben das unverwesliche Wort Humanismus auf Ihrem Banner, während rings in Europa und in jenem hybriden Neu-Europa jenseits des Ozeans der vollständigste, tiefstgreifende Prozeß der Deshumanisation, der je geträumt werden konnte, im Gange ist.

Zwischen der Zeit, in der wir jung waren, und heute liegt ein Abgrund, und einer, dessen Ränder nicht einmal fest sind, sondern der stündlich weiter um sich frißt. Das Begrenzte, auf dem allein wir geistig zu fußen vermögen, ist im Begriff, sich zu verflüchtigen wie Rauch; das Unmeßbare, die indefinite formlose Materie unserer Welterfahrung, überflutet den Bezirk unseres Daseins. Das, was sich vollzieht, ist schreckensvoll und kaum mehr deutbar. Es gibt diesem Ungeheuren gegenüber die Haltung einzelner: Gebärden der Abwehr, des Stoizismus und der Verzweiflung, aber die Grundgebärde des Europäers ist nicht mehr wahrnehmbar, und auch jenen einzelnen Gebärden fehlt es an Kraft und Größe. Da und dort flammt ein jäher Orientalismus auf – auch Rußland ist Orient! –, aber ohne fortreißende Kräfte; und an denen, die ihm huldigen, wird nichts so deutlich wie der Wunsch, allen Ballast abzuwerfen, und wäre es das eigene denkende Selbst. Achtet man dieser einen Fluchtgebärde nicht, so geht alles darauf aus, sich der »Wirklichkeit« zu unterwerfen. Diese aber wechselt dämonisch ihre Mienen: denn Wirklichkeit ist geistige Schöpfung, und jene wechselnden Mienen sind nichts als der Reflex des inneren Seelenschwindels einer Menschheit, die zur Schöpfung nicht mehr die Seelenkräfte in sich trägt.

Wir leben in einem kritischen Weltmoment, der zu Festen kaum Raum gibt. Aus Kriegen der Völker und Konflikten der Klassen sind neuartige Religionskriege geworden, Geisteskriege, um so mörderischer, als sie in der Halbnacht wechselseitigen Nichterkennens geführt werden; Sekte ringt mit Sekte, und niemand will es wahrhaben, in welch unheimlicher Weise über Nacht von unsichtbaren Händen die furchtbaren Gewichte des leiblichen und des geistigen Behauptungswillens der Massen lautlos vertauscht werden: bald verkleidet sich Ökonomie als Geist, bald Geist als Ökonomie. In der verworrensten der Welten treten Sie zusammen und wollen das Fest der Unverworrenheit feiern, der höchsten Offenbarung geistiger Klarheit, die je da war.

Aber Sie dürfen es, und dürften es, wären die Gemüter noch gespannter und die Verzagtheit (welche zuweilen die Maske des Zynismus vornimmt) noch größer. Denn der Gegenstand Ihres Festes ist über dem allen, und Ihre Feier zieht eben aus der Dunkelheit, die uns umgibt, jenen einen zwischen nachtschwarzen Wolken durchbrechenden Lichtstrahl, der sie adelt. Sie stehen hier nicht als die Hüter eines Vorrates von Kenntnissen oder Sinnbildern; es ist kein System unter Systemen, als dessen Parteigänger Sie sich vereinigen; es ist keine bestimmte schulmäßige Geisteshaltung – oder ist es eine solche, dann im höchsten Sinne, und in der Region solcher Synthesen, die der gemeinen Kritik entzogen sind.

Das, wofür Sie einstehen, ist der Geist der Antike; ein so großes Numen, daß kein einzelner Tempel, obwohl viele ihm geweiht sind, es faßt.

Es ist unser Denken selber; es ist das, was den europäischen Intellekt geformt hat.

Es ist die eine Grundfeste der Kirche und aus dem zur Weltreligion gewordenen Christentum nicht auszuscheiden; ohne Platon und Aristoteles nicht Augustin noch Thomas.

Es ist die Sprache der Politik, ihr geistiges Element, vermöge dessen ihre wechselnden und ewig wiederkehrenden Formen in unser geistiges Leben eingehen können.

Es ist der Mythos unseres europäischen Daseins, die Kreation unserer geistigen Welt (ohne welche die religiöse nicht sein kann), die Setzung von Kosmos gegen Chaos, und er umschließt den Helden und das Opfer, die Ordnung und die Verwandlung, das Maß und die Weihe.

Es ist kein angehäufter Vorrat, der veralten könnte, sondern eine mit Leben trächtige Geisteswelt in uns selber: unser wahrer innerer Orient, offenes, unverwesliches Geheimnis.

Es ist ein herrliches Ganzes: tragender Strom zugleich und jungfräulicher Quell, der immer rein hervorbricht. Nichts in seinem Bereich ist so alt, daß es nicht morgen als ein Neues, strahlend vor Jugend, hervortreten könnte. Homer glänzt in alter Herrlichkeit, alterslos wie das Meer, aber seinen Helden Achilleus hat Hölderlins Seelenblick getroffen, und er steht in neuem, ungeahntem Licht. Heraklit, für ein Jahrtausend nichts als ein Name, ist an den Tag getreten, und seine dunkle Lehre ist heute wieder seelenbildende Gewalt. Die dunklen ältesten Mythen, eingemauert in die Grundfesten des Werkes der Tragiker, haben in dem wunderbaren Schweizer, dem lange verkannten, ihren Deuter gefunden; noch einmal breitet sich in seinen Werken, wie einst im antiken Lebensbereich, das Ganze dieser Geisteswelt, vom orphischen Spruch bis zur mythischen Anekdote, die ein byzantinischer Spätling überliefert.

In der mittelsten Region aber der Naturwissenschaften, dort, wo der Begriff der »Wirkung« den Begriff der »Energie« heute ablöst, wo von den Begriffen »Raum«, »Zeit« und »Schwere« her jenes Geheimnis, das wir zuletzt mit dem Wort Materie bedeckten, einer neuen Enthüllung entgegenharrt, dort, wo das nüchtern großartige Wort laut wird: Was ich messen kann, das existiert – dort erhebt sich aus den brauenden Nebeln der Theoreme, wie das Licht des uralten, ewig jungen Tages, die Vision Platons von einer Zahlentheorie der Natur, und mit ihr die Weisheit des Pythagoras.


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