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Festspiele in Salzburg

Musikalisch theatralische Festspiele in Salzburg zu veranstalten, das heißt: uralt Lebendiges aufs neue lebendig machen; es heißt: an uralter sinnfällig auserlesener Stätte aufs neue tun, was dort allezeit getan wurde; es heißt: den Urtrieb des bayrisch-österreichischen Stammes gewähren lassen, und diesem Volk, in dem »die Gabe des Liedes, des Menschensachenspielens, des Holzschneidens, des Malens und des Tonsetzens fast allgemein verteilt ist«, den Weg zurück finden helfen zu seinem eigentlichen geistigen Element.

Dem Bajuvaren wurde alles Handlung; er ist der Schöpfer des deutschen Volksspieles. Das Passionsspiel der Oberammergauer Bauern, alle zehn Jahre wiederholt, ragt heraus, weltberühmt. Aber der Ammergau ist ein Gau unter siebzig Gauen deutscher alpenländischer Landschaft; und die Dörfer und Städtlein, die Abteien und Schulklöster am Inn und an der Etsch, an der Donau und an der Mur haben aus sich das gleiche herausgeboren. In Tirol allein lassen sich innerhalb eines halben Jahrhunderts, 1750 bis 1800, an 160 verschiedenen Orten über 800 Volksaufführungen zählen. »Der Tiroler Bauer hat in diesem halben Jahrhundert einfach alles gesehen, was seit 1600 über deutsche Bühnen, vieles, was in dieser Zeit über europäische Bühnen gegangen war.« Da sind Staatstragödien großen Stiles, Passionsspiele, Weltgerichtsspiele, deutsche und italienische Operetten; da sind Legenden; da sind Komödien und Tragödien aus dem Spielplane aller deutschen Hoftheater dieses Menschenalters; alte Fastnachtspiele. Da steht unter Voltaires »Zaïre« der sächsische Prinzenraub, unter der »Maria Stuart« die »Griseldis«, »Genofeva«, »Johannes von Nepomuk«.

Das ist Tirol, und so geht es den Inn entlang, die Donau hinab zum Böhmerwald hinüber, es geht südlich bis an die kärntnerische Drau, östlich bis Preßburg. So ist's Stadt um Stadt, Dorf um Dorf. Die mächtigen Abteien, die von schönen Hügeln herab weit ins Land schauen, haben ihre Bühne für das große Schauspiel, für die prunkvolle Oper; sie wetteifern mit München und Wien. Ihrer jede ist der Mittelpunkt, von dem aus diese volkstümliche Kunst nach allen Seiten ausströmt »bis in die einsamste Waldkapelle, in die letzte Holzschnitzerwerkstatt«. Wo in einem Waldtal die Schmiedehämmer dröhnen, spielen die Schmiede und Schmiedgesellen Theater. Sie spielen Ritterstücke, Märchen und Sagen. An der Kieferach blühte ein solches Schmiedetheater vom Ende des sechzehnten Jahrhunderts bis zum Anfang des neunzehnten.

Anderswo sind's die Müller und Müllergesellen, die sich zusammentun. In den Bergstädten haben die Bergleute ihre Singschulen, und aus ihnen wachsen Theater. In Lauffen an der Salzach, dem schönen Fluß, an dem Salzburg liegt, blüht die Gilde der Salzschiffer, mächtig und geachtet. Im Winter, wenn der Fluß vereist ist, spielen sie Theater: in Wirtshäusern, in Mühlen, auf Schlössern, und ihr Ruhm als Schauspieler stellt ihren Ruhm als mutige und geschickte Schiffer in den Schatten. Es ist wahrhaftig ein Urtrieb, der sich da auslebt; und wenn die Zeiten finster werden, die Wirklichkeit hart und gräßlich auf den Menschen liegt, so wird dieser Trieb stärker, nicht schwächer. 1663, im furchtbaren Pestjahre, gelobten die Oberammergauer ein Passionsspiel, und seitdem halten sie ihr Gelübde. 1683, als die Türken vor Wien lagen und halb Niederösterreich in die Sklaverei verschleppt wurde, und der Brand der Dörfer und Städte nicht aufhörte, den Nachthimmel zu röten, wurde in den verschonten Teilen der Alpenländer Theater gespielt mit einer Hingabe wie kaum je zuvor, und sieben Jahre später war Kara Mustapha eine Bühnenfigur auf zwanzig Bühnen. Es ist etwas in diesem Tun und Treiben, diesem unbesiegbaren Drang zur Darstellung, in dem Bild und Klang, pathetische Gebärde und Tanzrhythmus zusammenfließen, das an Attika gemahnt; und hier wie dort scheint es an das gleiche Naturgegebene gebunden: das Bergland. Ein Bergtal ist ein natürliches Theater, und sonderbar genug, der theatralische Trieb des südlichen deutschen Stammes folgt den Bergketten. So strahlt er bis in den Böhmerwald aus; die Passionsspiele zu Höritz sind sein letztes lebendiges Überbleibsel; so geht er nördlich bis Niederbayern, östlich bis an die ungarische Ebene. Die Nürnberger Landschaft gehört noch dazu, die Hügel von Bayreuth gehören dazu. Und sollte es Zufall sein, daß Wagner Bayreuth gewählt hat? In Bayreuth steht aus der Markgrafenzeit das prunkvolle Barocktheater, das ein süddeutscher Fürst geschaffen hat. Es ist nichts Zufall, alles geographische Wahrheit, tiefer Zusammenhang zwischen scheinbar nur Geistigem und scheinbar nur Physischem.

In Syrakus, im antiken Theater, mit dem ewigen Meer als Hintergrund, wird seit drei Jahren jedes Frühjahr eine der Tragödien des Äschylos aufgeführt, mit gesungenen Chören, die Gewänder in den Farbtönen der antiken Wandmalereien, die stumpf erscheinen unter unserem stumpfen Licht, aber wundervoll aufleben unter der sizilianischen Sonne. Der Eindruck ist überwältigend, und er appelliert nicht an den Bildungssinn, sondern an das unmittelbare Gefühl. Es waren Fremde, Schweden, Schweizer, die von dorther zurückkamen und mir davon sprachen. Sie waren sich bewußt, etwas aufgenommen zu haben, das – obwohl aus der höchsten geistigen Sphäre und durch den Abgrund der Jahrtausende von uns getrennt – doch, an dieser Stätte, so unmittelbar, so natürlich, so volkshaft auf sie gewirkt hatte wie eine Marienprozession in Gent oder ein Stiergefecht in Spanien. So war es mit dem »Jedermann« in Salzburg.

Es war nur ein Anfang. Aber der Eindruck war ungeheuer: denn hier, wie dort in Syrakus, traten unendlich komplizierte Elemente, die ganz verschiedenen Ordnungen angehören, zu einer solchen Einheit zusammen, daß das Resultat als etwas rein Volkshaftes, ja Naturhaftes, Unmittelbares erschien. Salzburg ist in der Tat das Herz dieser bayrisch-österreichischen Landschaft. Alle diese kulturellen und geographischen Linien, die Wien mit München, Tirol mit Böhmen, Nürnberg mit Steiermark und Kärnten verbinden, laufen hier zusammen. Zugleich ist es landschaftlich und architektonisch der stärkste Ausdruck des süddeutschen Barock, denn die Landschaft spielt hier so der Architektur entgegen, die Architektur hat sich so leidenschaftlich theatralisch der Landschaft bemächtigt, daß die beiden Elemente zu trennen undenkbar wäre. Das Geistige stimmt überein. Salzburg war seit der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts »der unbestrittene geistige Führer alles freien Landes zwischen München, Wien und Innsbruck. Humanismus, Renaissance und Barock hatten hier einen geschichtlichen Gehalt wie in keiner Landschaft«. Josef Nadler, »Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften«, dem auch die übrigen Zitate angehören. Nirgends so wie dort fließen die Jahrhunderte ineinander, das Barock des Mittelalters – die nach Ausdruck und Darstellung ringende franziskanische Zeit – und das Barock des Jahrhunderts. Das bäuerliche, beharrende, naturnahe Element bindet beide. Der von Palästen und Säulenbogen umschlossene Domplatz ist italienisch, fast zeitlos. Herein blicken die Berge einer deutschen Landschaft, gekrönt von einer deutschen Burg. Die Franziskanerkirche ragt daneben auf, reines Mittelalter. Die Statuen vor dem Dom sind frühes Barock.

Es war der Gedanke Max Reinhardts, auf diesem Platze, vor der Fassade des Doms, das Gerüst für das »Jedermann«-Spiel aufzubauen. Aber als das Spiel lebendig wurde, schien es sein Gedanke gewesen zu sein, der in diesem Platz, diesem Ganzen aus Natur und Baukunst, immer gelegen war. Die Fanfarenbläser und Spielansager hatten ihren selbstverständlichen Platz, zerstreut auf dem marmornen Portikus. Wie ein Selbstverständliches wirkten die marmornen fünf Meter hohen Heiligen, zwischen denen die Schauspieler hervortraten und wieder verschwanden, wie ein Selbstverständliches die Rufe »Jedermann« von den Türmen der nahen Kirche, von der Festung herab, vom Petersfriedhof herüber, wie ein Selbstverständliches das Dröhnen der großen Glocken zum Ende des Spieles, das Hineinschreiten der sechs Engel ins dämmernde Portal, die Franziskanermönche, die von ihrem Turm herunter zusahen, die Kleriker in den hundert Fenstern des Petersstiftes, wie ein Selbstverständliches das Sinnbildliche, das Tragische, das Lustige, die Musik. Selbstverständlich war das Ganze den Bauern, die hereinströmten, zuerst vom Rande der Stadt, dann von den nächsten Dorf ern, dann von weiter und weiter her. Sie sagten: »Es wird wieder Theater gespielt. Das ist recht.«

In diesem Jahre zu gleicher Zeit, in der zweiten Hälfte des August, wird das »Jedermann«-Spiel wiederholt. Aber dazu tritt nun Mozart. Von all dieser Theaterkunst, dieser wahren organischen Entwicklung, einer der folgerichtigsten, ungebrochensten, die je, seit der Antike, auf künstlerischem Gebiete da war, ist das Mysterienspiel in deutschen gereimten Versen der Anfang und ein Gebilde wie der »Don Juan« die Krönung. Verwandt sind sie beide durch und durch, denn beide sind sie ein wahres Theater, nicht aus der Rhetorik geboren, nicht aus dem Psychologischen, sondern aus jenem Urtrieb, »der das Übermenschliche greifbar vor sich sehen will und tiefen Abscheu hegt vor jeder formlosen Abstraktion«. Äußerlich schon wie ein kleines Abzeichen blutsverwandter Kinder, verbindet sie das gemeinsame Buffoelement, eine Figur wie der Teufel des mittelalterlichen Mysterienspieles und der Leporello sind eines Geschlechtes. Ihr Gemeinsames heißt Hans Wurst; und Hans Wurst wieder ist ein geborener Salzburger.

Zu dem »Don Juan« tritt »Cosi fan tutte«: das Gebilde, worin dieses Buffoelement zum herrschenden geworden ist, das Tanzhafteste, was Mozart schuf, das am verwandtesten ist dem bezauberndsten Bauelement des Rokoko: einem schwebenden Plafond aus Stukkatur und Malerei. Den Taktstock führt – als Regisseur zugleich, als Führer ganz und gar – Strauß, der ein Bayer ist und ein Künstler, der – wenn mit einer Sache auf der Welt – mit der Welt des Barock eine wirkliche Affinität hat. So wird einmal an einem Ort der Welt wieder etwas gemacht werden, das zugleich höchst raffiniert und höchst natürlich, ja naturhaft sich aufbaut. Möge es Freude machen.


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