Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fez

Das Haus, das ich bewohne, liegt am Rande der Stadt, keine hundert Schritt von der hohen alten Stadtmauer, die, mit Zinnen durchaus und je einem Turm alle tausend Schritt, die ganze über zwei Hügel hingestreckte Häusermenge umschließt und die Stadt erst zur Stadt macht, zur gewaltigen, seit tausend Jahren gesicherten, gegen das leere hügelige Land hin, das für die Reisenden und Schweifenden da ist; offen und öde, mit einem weißen rundkuppeligen Heiligengrab da und dort, oder einem einzelnen Baum, oder ein paar erdfarbigen Nomadenzelten, und in der Ferne die weißschimmernde Gipfelkette des hohen Atlas, aber in solcher Ferne am Horizont, daß dieser Streif von Grau und Silber mit seiner Last von leicht auf ruhenden weißen Haufenwolken dem Himmel nichts von seiner Reinheit und Leere nimmt, nichts von seiner Höhe, aus der die klare kühle Nordostluft unablässig herabweht, durchschnitten vom ruhigen Flug der vielen Störche oder vom Flattern eines weißen Taubenschwarmes, über dem, ihn niederdrückend, die rostfarbigen Falken kreisen. Aber sowie ich die oberste Terrasse meines Hauses verlasse und die steile, enge Treppe hinabsteige, deren Stufen farbige Kacheln sind, mit einem marmornen Rand eingefaßt; sowie ich unten im Hof meines Hauses stehe oder, um es besser zu sagen, im Garten zwischen den Orangenbäumen, den Rosenbüschen und den steinernen Becken, in denen das Wasser immer von innen aufquillt und, über den Rand des Beckens hinabtriefend, unten wie in einem winzigen Bachbette aus blauen Fliesen murmelnd wegläuft: so sehe ich von der unendlichen Durchsichtigkeit und Weite dieses vor Klarheit fast strengen Himmels nur mehr ein kleines Stück; denn auch mein Haus ist mit einer solchen rotgelben Mauer umgeben, die zwei Stock hoch aufragt und gezinnt ist wie die Stadtmauer, und dieses Heim, das sich ein Vornehmer und Reicher vor hundert oder hundertfünfzig Jahren gebaut hat: dieser reizende kleine aufgestufte Garten mit seinen bunten kleinen Treppen und den springenden und fallenden Wassern, das Haupthaus oben, mit dem einen riesengroßen, prachtvoll vergitterten Fenster, und die fünf Pavillons mit ihren schneeweißen, flachen, dunkelgrün eingerahmten Dächern, von deren einem man zum andern herabklettern kann, denn die Stufung der Dächer wiederholt die des Gartens, diese ganze Welt des mächtigen, genießenden einzelnen ist in eine Festung eingeschlossen. Trete ich in den untersten Pavillon, der schmal an der Mauer klebt und nur mein Zimmer und einen kleinen Vorraum enthält, so höre ich durch die Wand, an der mein Bett steht, den gedämpften Lärm der Stadt, der ich an dieser Stelle so fühlbar nahe bin, als ich im oberen Teil des Gartens mir fern von ihr und über sie hinausgehoben schien. Und an meinem Bette stehend und meine Reisesachen und Bücher herauslegend, höre ich vor allem den Aufschlag Schritt gehender und auch leicht trabender Pferde und Maultiere aus solcher Nähe von meinem Ohr, daß ich mir nichts anderes denken kann, als im Hause selbst werde in irgendwelchem Raum auf gestampftem Lehmboden geritten. Ich gehe die enge Treppe hinunter, die wieder, wie in all diesen arabischen Häusern, aus bunten Kacheln und sehr steil ist – so steil, daß man immer an dies »die Treppe hinunterstoßen« denkt, das in den arabischen Erzählungen so oft vorkommt; da ist ein kleiner Vorraum; auf einem Diwan sitzen ein paar junge arabische Diener; der mir beigegebene steht auf und tritt, mir anständig den Weg weisend, aus dem kleinen Raum, in dem es dämmert, über eine Stufe in einen andern Raum, der nach oben mit uralten Holzbalken gedeckt, nach beiden Seiten offen ist; und hier, in dieser Art von Vorhalle, mit schmalen Bänken an der Seite, auf deren einer ein blinder Bettler sitzt, bin ich noch in meinem Haus – es sind auch Türen rechts und links mit dicken Türflügeln aus einem Holz, das vor Alter fast aussieht wie Stein, so daß der Raum geschlossen werden könnte –, aber ich bin auch schon auf der Gasse: Balök! ruft eine Stimme in meinem Rücken: Gib acht, das Wort, das der Reitende halblaut und nachlässig ausspricht als Warnung für den Fußgänger in seinem Weg; und da kommt ein Alter gemächlich auf seinem kleinen Esel und wirft mir, indem ich beiseite trete, einen schnellen, scharfen, geringschätzigen Blick zu; vielleicht weil ich zu Fuß gehe, wenn auch mit einem Diener – vielleicht auch ist dieser schnell sich abwendende, verachtende Blick eben der, den er allein für die Begegnung eines »Rumi« übrig hat; denn noch ist in dieser heiligen Stadt, dem Mekka des westlichen Islam, der Europäer das sehr Fremde; das, dessen eben nur mit einem solchen Blick gedacht wird. (Das französische Protektorat, mit einer großen Zurückhaltung ausgeübt, umgibt den einzelnen mit dem Gefühl völliger Sicherheit; aber es sind nicht mehr als zwölf Jahre, daß hier an einem Tage sämtliche »Nazaräer« den Tod fanden; und ein Nachzittern davon ist in vielen Blicken, die uns streifen.) Aber schon hat sich aus der Öffnung eines Hauses heraus – oder ist es eine noch engere, noch finsterere Gasse als die, in der ich meinem Führer folge? – ein noch kleinerer Esel, auf dem zwei lachende kleine Kinder in blauen Leinenburnussen sitzen, hervorgeschoben, und nun überholt mich, so daß ich wieder beiseite und dicht an die Mauer treten muß, ein sehr leicht und schnell trabendes Pferd; ein berberisches Pferd, arabisch im Gepräge, sehr mager und zartgliedrig; ein junger Neger reitet es ohne Bügel auf einem zerfetzten Strohsattel an einem strohernen Zaum; unbeschreiblich frei und leicht das Handgelenk der Linken, wie es den elenden Zaum regiert; so der leichte Druck der herabhängenden leichten Beine, mit den schön geformten Zehen, der edlen Ferse.

Nun aber ist mein Führer, scharf links sich wendend, in ein Haus getreten; nein, es ist kein Hauseingang, sondern eine neue Gasse, ein neuer solcher Schacht aus den fensterlosen Mauern hoher uralter Häuser; sie treten nach oben hin zusammen, so daß das Gefühl, im geschlossenen Raum zu sein, sich noch verstärkt; zugleich steigt diese Gasse an; und von oben her, wo sie sich wieder krümmt und scheinbar wieder in ein noch finstereres Hausinnere verliert, kommt mir auf einem schönen starken Maultier, das sie selber lenkt, eine verschleierte Frau entgegen. Die Straße ist so eng, daß fast ihr Steigbügel mich streift und daß um ein Nichts die Tücher und Schleier, in die ihre Gestalt gehüllt ist, mich berühren müßten. Nichts von ihrem Gesicht ist frei als der schmale Streif, aus dem die beiden Augen finster blitzen; von der Gestalt nichts erkennbar in der wehenden Verhüllung der weißen Schleier; wunderbar die junge, starke Gebärde, mit der sie sich im Sattel strafft, entgegen dem Abwärtstreten des Tieres. Da ist aber schon zwischen mir und ihr auf einem dieser lautlos trippelnden kleinen Esel ein stämmiger Neger, querübersitzend, die beiden Beine auf der einen Seite fast den Boden streifend; wulstige Riesenlippen, eine knollige Nase, eine ungeheuerliche Perücke von krausem Haar, und quer über die ganze Wange eine Narbe, tief, gräßlich und überlebensgroß wie das ganze Gesicht; und da auch, von der anderen Seite her, auf einem großen ruhig blickenden, isabellenfarbigen Maultier, auf blaßgrünem Sattel ein vornehmer Alter; sehr gelassen über mich hinblickend aus seinem violetten, auch das schöne Gesicht umgebenden Gewand; an jedem Steigbügel geht ein Diener; schwarz der eine, weiß der andere. Und so bin ich denn nach so wenigen Schritten mitten drin in dieser Stadt; wie sehr ist man und wie schnell mitten drin in ihr; wie schnell umgibt sie einen so vielgehäusig und geschlossen und ausgangslos, als wäre man ins Innere eines Granatapfels geraten. Denn da bin ich aus dem kellerartigen Schacht dieser zweiten oder dritten Gasse nun auf einem Kreuzweg, einer Art von kleinem Platz, wo alte Weiber, auf Matten hockend, gesalzene Fische feilhalten; aber er ist mit einem Balkengitter überdeckt, auf dem Schilf liegt, so daß auch hier wieder jenes Gefühl bleibt, in einem Gehäuse zu sein und daß all dies zusammenhängt, und daß man, ohne zu wissen wie, von einem ins andere kommt. Und dieses Gefühl wird bleiben für alle Tage eines Aufenthaltes in Fez, und wird alles, was man sieht und erlebt, begleiten und wird sich, je mehr Tage vergehen, eher verstärken als abschwächen. Denn der Diener stößt eine ganz kleine Tür auf, in einer dieser fensterlosen Mauern, die vor Alter aussehen wie nichts Gebautes, sondern etwas von Natur Gewordenes; und man betritt den Vorraum eines Palastes; da sitzen auf einem Teppich die vier Söhne des Hausherrn und lesen in einem Koran, den der älteste, mittelst sitzend, in seiner Hand hält, lesen alle zugleich laut und bewegen ihre Köpfe beim Lesen, und zwischen ihren wiegenden Köpfen sieht man den offenen Hof mit den springenden Wassern, die zarten Säulen des offenen Umganges, die Farben, die matten Vergoldungen, den ganzen Glanz des arabischen Hauses; und man stößt, fünfzig Schritte weiter, eine andere, ganz so alte, ganz so niedrige kleine Tür auf, tritt zwei Stufen abwärts: und man ist im Gefängnis des Pascha. Auf einer Matte, seine Babuschen vor sich, im Koran lesend, sitzt der freundliche alte Wärter. Ein Berber, mit verwildertem Haar und einem scheuen Blick wie ein frisch eingefangenes Tier, hockt halb unterirdisch im Halbdunkel hinter dicken Eisenstäben. Man schiebt sich an diesem Verlies vorbei längs einer Mauer, die wie alles hier bergesalt ist, der Führer stößt wieder eine Tür auf, und man ist in einem niedrigen Raum, in dem etwas leise behaglich surrt und stampft. In einem zarten gelbgrauen Halblicht gehen fünf Webstühle; an jedem sitzt ein Mann und webt einen breiten Gürtel: die Bänder aus fliederfarbenen Seidenfäden, silbern durchzogen, oder aus flammendem Gelb mit roten Mustern wie Korallen, verbreitern sich fast zusehends unter dem lautlosen Griff dieser fleißigen Hände, dem leisen Tritt dieser nackten Füße, dem gedämpften Surren und Stampfen dieser Webstühle, die selber wieder uralt scheinen, alles an ihnen von vielhundertjährigem Gebrauch poliert und vornehm wie sehr altes Elfenbein. Aus der Bandweberei tritt man in die Gasse der Gewürzhändler; ich hätte ebensogut gesagt in die Halle oder Laube: denn diese ist abermals mit einem hölzernen Gitterwerk gedeckt, auf dem oben Wein gezogen ist, eine steinalte Rebe mit tausend Seitentrieben. Von hier aus aber trägt mich die Welle der Gehenden und Reitenden, der kleinen Esel, die mich aus dem Weg schieben, der bettelnden Kinderhände, die mich leise anrühren, in einen ganz geschlossenen, ganz mit Menschen und Waren angefüllten Raum; die kleinen Butiken, eine an der andern, keine breiter als ein Wandschrank, bis hinauf reichend an die gewölbte steinerne Decke (oder ist es wieder eine Decke aus so altem Holz, daß es aussieht wie Stein?) und auf den Waren, auf dem Gewürz, auf den Datteln und Bananen, die jeden dieser offenen Schränke füllen, hoch oben thronend der Verkäufer mit seiner Waage und dem großen Holzlöffel, um die Ware herunterzureichen; und dieser völlig geschlossene Raum, dieses große längliche Zimmer, das so voller Menschen und Ware ist, daß man nicht begreift, wie die geduldigen kleinen Esel sich durchzwängen oder wie auf dem eisengrauen Maultier noch ein solcher Vornehmer in seinem blütenweißen Burnus und mit dem sanften geringschätzigen Lächeln, in unendlicher Gelassenheit über dem Gedräng erhoben, hier hindurchfindet, dieses überfüllte Zimmer ist eine Brücke; und durch einen Spalt irgendwo seitwärts sehe ich unter uns das wilde gelbbraune Wasser des Oued und sehe einen Teil des Ufers; finstere Häuserwände, fensterlos bis auf einen eisenvergitterten Spalt, ein Guckloch da und dort, und unten am Fuß einer dieser Hausmauern sogar Schilf, blaßgrün und sonderbar hier mitten in der Stadt, und sich biegend unter der Heftigkeit des Wassers.

So geht eins ins andere, und alles ist, als wäre es von immerher. Ja, noch diese kleine Höhlung in der Mauer eines besonders finsteren, drohend aussehenden Hauses, von immerher ausgenommen für den Leib des Bettlers, der dort hockt, zwei furchtbare Armstummel vor sich hinstreckt und mit geschlossenen oder blinden Augen immer das gleiche – ein Gebet, eine Bitte, eine Lobpreisung – mit fanatischer Kraft vor sich hin spricht. Und dieses Zusammenhängen aller Dinge mit allen, diese Verkettung der Behausungen und der Arbeitsstätten und der Märkte und der Moscheen, dieses Ornament der sich ineinander verstrickenden Schriftzüge, das überall von den sich tausendfach verstrickenden Lebenslinien wiederholt wird, all dies umgibt uns mit einem Gefühl, einem Geheimnis, einem Geruch, in dem etwas Urewiges ist, eine Urerinnerung – Griechenland und Rom und das arabische Märchenbuch und die Bibel –, aber dem zugleich etwas leise Drohendes beigemengt ist, das wahre Geheimnis der Fremdheit, und dieser Geruch, dieses Geheimnis, dieses Drinnensein im Knäuel und die leise Ahnung des Verbotenen, die niemals ganz schweigt, dies ist – heute noch und vielleicht morgen noch – Fez; bis vor zwanzig Jahren die große Unbetretene; die strengste, die verbotenste aller islamischen Städte; und der Duft davon ist noch nicht völlig ausgeraucht.


 << zurück weiter >>