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(Vortrag bei Gelegenheit eines ärztlichen Jubelfestes)
Fiducia aegrotantium in sacerdotem medicum ineptissimis rebus virtutem, remedii virtus majorem pontifici aestimationem dederunt. – |
J. P. Frank: De curandis hominum morbis |
Ich glaube, für den heutigen Festtag keinen geeigneteren Gegenstand zur Besprechung wählen zu können als einen solchen, der die großartige Bestimmung unseres Berufes glänzend beleuchtet, oder der vielmehr dartut, wie ein anderer, selbst der Höchstgestellte auf Erden, in Vergleich mit der Heilkunst so schwach, lückenhaft und aller Ursprünglichkeit entbehrend erscheint.
Als ich das letzte Mal bei ähnlicher Gelegenheit alte Geister heraufbeschwor, so waren sie zu rhythmischem Tanze geübt und mit den zierlichen Schellen des Reims behangen, ich las Euch Verse, so gut ich sie eben hatteEin Jubiläum im Geisterreiche. – Siehe: Meine Gedichte, S. 117. ; heute aber komme ich mit einfacher, hausbackener Prosa; meine Gedanken haben Überröcke und Stiefel an und tragen keine Handschuhe; sie setzen sich mit Euch zum Wein, können den Tabak vertragen und kannengießern mit Euch – und lassen's beim Alten: es sind gute, deutsche Alltags-Gedanken. Also nochmals verzeiht mir meine ungebundene Rede, und entschuldigt, wenn nicht alles so recht abgemessen ist!
Wir Ärzte sind es nicht allein, die auf Erden die ars medendi treiben, ja von denen, die sich mit Heilen und Sterbenlassen abgeben, sind wir sogar die wenigsten an Zahl. Die Barbiere und Apotheker haben sich emanzipiert, die Drogisten wilddieben auf dem naheliegenden Gebiete, Schäfer und Schinder sind Bauernorakel, Wartweiber besprechen den Rotlauf, die Zahnärzte treiben Homöopathie und die Somnambulen kurieren mit der Malleposte, und in jeder Familie ist wenigstens einer, der in Besitz eines Mittelchens ist für vieles oder für alles. Wahrhaftig, es sind der Helfenden mehr als der Hilfsbedürftigen! Das war so und bleibt so. Mit allbekannten Dingen will ich Euch nicht behelligen; aber soll es uns nicht wunder nehmen, wenn wir selbst diejenigen, die über Kranksein und Gesundwerden längst erhaben sein sollten, wenn wir die Regierenden, die Gewalthaber für nichts Besseres nehmen können als für medizinische Freibeuter, für die Gesellen und Geschäftsfreunde der soeben genannten Pfuscher? Eine solche Ansicht aber muß uns zur Überzeugung werden, sobald wir mit ruhigem Blicke dasjenige beobachten, was jüngst geschehen ist und noch geschieht. Die Welt ist ein Hospital, die Staaten sind krank, der Fürst ist Oberarzt, der sich gewöhnlich um so wenig wie möglich bekümmert, und so viel als möglich seinen Assistenten, den Ministern, überläßt, und diese nun wirtschaften und experimentieren mit ihren Beamten: den Krankenwärtern, Barbieren, Apothekern und Hausknechten, nach Gutdünken mit und ohne System. Auf diese Weise ist das, was man so Regieren nennt, eben nichts als eine Art medizinischer Pfuscherei, oder besser gesagt, eine Art populärer Arzneikunde. Sollte diese Weise, mit den Menschen umzugehen, die richtige sein, dann frage ich, welcher Stand darf dem unsrigen den Rang streitig machen? Denn uns gebührt dann widerspruchslos und von Rechts wegen das Zepter der weltlichen Gewalt.
Sehen wir nun aber in einer Reihe von Beispielen, nach welchen therapeutischen Grundsätzen unsere Kollegen im Spitalstaate verfahren, Leute, die sich durchweg auf das Accipe besser verstehen als auf das Recipe.
Man hat in den letzten Dezennien öfters Gelegenheit gehabt, einen Zustand zu beobachten, den wir im System füglich mit dem Namen: fractura oder luxatio politica bezeichnen dürfen. Es ist derjenige, wo zwei oder mehre Teile des Ganzen nicht mehr gehörig zusammenhalten wollen, ja wo es sogar bereits durch äußere oder innere Ursachen einen Bruch gegeben hat. In diesen traurigen Fällen haben sich die Herrn Staatsärzte Rat in unserer Chirurgie geholt, sie greifen zu Schienen, Binden und Kompressen, und man legt lege artis einen einfachen Contentiv- oder Druckverband oder, wie sie es nennen, einen Zollverband an. Ist die Dislokation eine bedeutendere, so findet man die sog. hermetische Grenzsperre indiziert. Was ist diese aber anderes als eine schlechte Nachahmung unseres Pappverbandes, nur daß hier statt des Kleisters Kosaken gebraucht werden? Ob der Bruch heilt oder nicht, ob gerade oder schief, ob eine Pseudarthrose sich bildet, ist den Herren ziemlich einerlei, wenn nur der Verband schön fest liegt und schön glatt aussieht, so daß man nicht erkennen kann, wie es im Inneren hergeht.
Mehr Sorge, als uns die Cholera, hat ihnen aber eine im eigentlichsten Sinne des Wortes epidemische Krankheit verursacht, welche am Ende des vorigen Jahrhunderts in Amerika aufgetreten ist, sich nach Frankreich hinüber verbreitet, dort besonders mörderisch gehaust hat, und nun in allen Abteilungen des großen Hospitals mehr oder minder herrscht oder doch überall in Form eines eigentümlichen flüchtigen Miasmas als ein heimlicher tückischer Feind lauert. Sie bezeichnen diese Krankheitsfamilie mit dem Namen der Freiheitslust-Seuche oder der politischen Franzosenkrankheit. Die Furcht vor diesem Übel ist bei den Afterärzten so groß, daß sich fast alle ihre Bemühungen einzig hiergegen vereinigen, und daß sie die Überzeugung gewonnen haben, die Welt würde eine durchaus kerngesunde werden, wenn es ihnen gelingen sollte, diese heillose Seuche mit der Wurzel auszurotten. Unsäglich viele therapeutische Versuche, und zum Teil höchst abenteuerliche, hat man zu diesem Endzwecke angestellt. Die meisten Ansichten haben sich zuletzt dahin vereinigt, daß man das Übel für ein konstitutionelles zu halten habe, und daß, um eine gründliche Heilung zu erzielen, es vor allem darauf ankomme, die Konstitution gründlich zu ändern. Als glänzenden Beleg für die Richtigkeit dieser Ansicht führen die Staatsärzte gewöhnlich die, wie sie sagen, gelungene Kur eines Herrn Doktors in Hannover an, die so gut ausgefallen sein soll, daß der Rekonvaleszent an der Leine sich führen ließe, wohin der Arzt es nur wünsche. Er nehme sich aber vor Rezidiven in acht bei günstigem Genius epidemicus! Übrigens ist die ganze Behandlungsart nichts als eine schlechte Kopie der Anwendung des Brechmittels, womit wir den Typhus zu kupieren hoffen. – Nächst dieser Médecine du roi hat man gegen die lues überaus vorzugsweise das grand remède oder die große Schmierkur mit Erfolg gebraucht; ja sogar in der Akupunktur der Chinesen, der Lehre von der Bestechung, will man nicht selten Hilfe gefunden haben. Natürlicherweise hat man auch das Gold als Heilmittel gegeben, und zwar mit recht schönem Erfolge; nur hat man dabei die sonderbare Bemerkung gemacht, daß in großen Dosen, nicht etwa zu 1 / 16 Gr. gereicht, das Mittel weit besser vertragen wurde, so wie es sich auch nur in metallischem, nicht oxydiertem Zustande, unversauert hilfreich erwies. – Was würde man darum geben, wenn durch eine Art Kuhpockenimpfung, etwa in den Schulen, der Verbreitung Einhalt getan werden könnte? Der politische Jenner ist aber bis dato noch nicht erstanden. Ja, wenn die Lehre von der Auskultation etwas weiter vorgeschritten wäre, und man etwa mit dem Stethoskop erlauschen könnte, ob in dem Herzen des Verdächtigen nicht leise, ganz leise ein malkontentes Katzenschnurren, ein aufwiegelndes Blasebalggeräusch oder gar ein revolutionärer bruit du diable sich vernehmen ließe! Solche geheime Auskultatoren oder Spione gehen zwar umher und kosten viel Geld, nützen aber noch wenig. – Daß die Krankheit übrigens nicht allein kontagiöser Natur, welche jedoch keineswegs abgeleugnet werden kann, sondern daß ein unbekanntes Miasma dabei im Spiele sei, beweisen uns die vergeblichen Versuche, durch Absperrung und Isolierung, durch strenge Grenzkordons etwas Erkleckliches auszurichten. Umsonst hält man die strengste polizeiliche Aufsicht über den geistigen Viktualienmarkt, umsonst werden täglich fremde Nahrungsmittel aller Art konfisziert, für verdorben und verderblich erklärt und verboten. – Eine der auffallendsten Erscheinungen aber dürfte es sein und zugleich ein Beweis, nach welchen entlegenen Provinzen der Therapie man sich Hilfe suchend gewandt hat, daß sogar der fast obsolete Mesmerismus hervorgeraumt wurde, und noch heutzutage in fast allen Staaten eigens besoldete Magnetiseurs angestellt sind. Ich meine hiermit das Institut der Zensur. Durch Streichen und wieder Streichen und die sonderbarsten Manipulationen soll der Geist in einen gewissen Rapport, d. h. in eine totale Abhängigkeit von dem Operateur gebracht, und alles Denken in dem Magen konzentriert werden. Man muß gestehen, es macht dieser Kurplan dem Erfinder alle Ehre. Schlaf sah man durch diese Behandlung schon eintreten, Clairvoyance noch nie.
Wir Ärzte wissen, daß gegen den Nervenerethismus vorzugsweise die Narkotika wirksam sind. Diesen Satz haben unsere Kollegen im Kabinett schlau zu benutzen gewußt. Wenn sich trotz der soeben angedeuteten Kurmethoden ein Zustand von Erethismus, von Irritation im Volke zeigt, so wissen die Herrn Hofapotheker gar süße Narkotika zu bereiten aus schönen Redensarten und trostreichen Versprechungen. Wien hat nicht allein den Ruhm, die Aqua laxativa hervorgebracht zu haben, sondern auch noch eine viel kunstreichere und wirksamere Komposition haben wir von dort erhalten, nämlich die Wiener Bundesakte. Da der Organismus sich aber leicht an Narkotika gewöhnt, und seit 1815 bereits 27 Jahre verflossen sind, so hat man sich jüngst genötigt gesehen, ein neues Mittel der Art zu administrieren, das sich aber sehr deutlich durch seinen Geruch nach Blausäure oder nach Acidum borussicum erkennen ließ. – Für eigne Aufregung dagegen gebrauchen die Herrn hübsche Gaben der Belladonna in wörtlicher Substanz mit etwas Syrupus Capillorum Veneris. Auch das Semen Lolii, der Samen des Schwindelhafers, jenes alte obsolete Kraut, welches in schlechten Jahren so gut gedeiht, soll ähnliche Bedeutung haben. Wir wollen uns hier nicht bei der sonderbaren Behandlungsart des noch herrschenden Grethismus confessionalis aufhalten. Es genügt weniges anzuführen. Als das Emplastrum miraculosum oder der Balsamus universalis der Landeskirche nicht mehr ausreichen wollte zur Zerteilung und Heilung, so wurde der Zustand geradezu für mania religiosa erklärt, und wie wir bei Geistesstörungen mit Erfolg zuweilen Abführmittel geben, so wurde auch hier alles, was schädlich schien, hinausgetrieben, durch eine Art Elixirium Salutis oder Extractum Catholicum oder durch die Gratiola, das Gnadenkräutlein. Das sollte den Leuten den Kopf zurechtsetzen.
Ein recht auffallendes Beispiel, zu welchen heillosen Fehlgriffen halbverstandene therapeutische Ansichten verleiten können, sehen wir bei der Anaemia politica. Geld ist das Blut des Staates, so wie wir die Münzen als die Blutkügelchen betrachten müssen, und nur eine lebendige, gleichmäßige Zirkulation dieses Blutes erhält das Leben in seiner Integrität. Wenn nun aber unnatürlicher Säfteverlust oder Verschwendung, namentlich übermäßige Doktor- und Apothekerrechnungen, Blutleere herbeigeführt haben, wie suchen alsdann die Herren Staatsärzte diesem Übel zu begegnen? – Durch tüchtige Venaesectiones, d. h. durch große Staatsanleihen, wobei der arme Patient höchstens durch die Versicherung beruhigt wird, das Blut sei zur Transfusion bestimmt! Zu gleicher Zeit werden nun die Grenzzölle noch erhöht, die indirekten Steuern vermehrt, und es kann damit unmöglich etwas anderes gemeint sein, als daß demselben, um die Kur gehörig zu unterstützen, noch eine namhafte Anzahl Blutegel an die Haut gesetzt wird. Ohne Zweifel haben die Herren vernommen, daß wir zuweilen zerrütteten Konstitutionen durch die sog. Frühjahrskuren, durch die Succi recenter expressi aufzuhelfen suchen. Dies mußte nachgemacht werden. Aber wie? Der unglückliche Patient selbst wird unter die Presse gelegt und nicht im Frühjahr allein, nein! im Januar bis ultimo Dezember. Wenn in der ganzen Behandlungsart ein Grundsatz konsequent durchgeführt ist, so ist es der, daß man im Geben homöopathisch, im Nehmen allopathisch verfährt.
Bei tiefen organischen Leiden suchen wir öfters durch Fontanellen die krankhaften Säfte abzuleiten. Kaum war dieser Satz zu den Ohren unserer Doppelgänger gekommen, als sie denselben auf ihre Weise verarbeiteten, anwendeten und auf der Erde zwei große Fontanellen etablierten, eine nördliche und eine südliche: die Kolonie in Sidney und das Eldorado in Sibirien. Vielleicht sollte auch durch diese beiden Fontanellen, die größere und die kleinere, die Erdkugel augenfällig zu einem Kindskopfe gewandelt werden, um sie mit größerem Rechte alsdann für unmündig erklären zu können. Wer weiß? –
Ja selbst die neuesten Extravaganzen der Gegenwart ließ man nicht unbenutzt vorübergehen. Als sich vor einem Jahre Symptome zeigten, welche drohend auf den Ausbruch einer akut-entzündlichen Krankheit hinzudeuten schienen, als bei unseren Nachbarn im Westen Erscheinungen auftraten, die die Gefahr möglicher Kongestion gegen das Herz, unser Deutschland, in Aussicht stellten, da war ein rastloses Konsultieren, Examinieren, Auskultieren, Rezeptieren und Präparieren bei dem staatsärztlichen Kollegium, und in allen Hofapotheken wurde Tag und Nacht gearbeitet. Nicht zufrieden aber mit dem vorhandenen, überreichen Apparatus medicaminum, rief man nun auch noch Oertel, Prießnitz und Konsorten mit den Kalt-Wasserkuren zu Hilfe, und der gute alte Rhein sollte als großes politisches Duschbad dem schlaffen Organismus den gehörigen Tonus wieder verschaffen.
Es würde wohl nicht schwerfallen, noch eine große Reihe von politisch-medizinischen Plagiaten nachzuweisen, doch ich habe des Guten wohl schon mehr als genug getan. Wir hätten z. B. auseinandersetzen können, wie der Ruhm der Species lignorum dazu verleitet hat, dieselben unbegreiflicherweise endermatisch anwenden zu wollen, was man dann im bürgerlichen Leben und im christlichen Intelligenzstaate so gewöhnlich Prügel zu nennen pflegt. Ging man vielleicht von der Idee aus, daß etwa Gerbestoff dabei sei, der als hautstärkendes Mittel wirken und aus einem widerspenstigen Gesellen eine gute Haut machen könne? Sonderbar! Sollte es uns ferner nicht auffallend erscheinen, wie die Fabae und die Patres Sancti Ignatii so ganz ähnliche Wirkung beobachten lassen, indem jene wie diese narkotisieren, jene wie diese jedoch, in den Organismus eingeführt, auch Zuckungen und Erschütterungen hervorrufen? Es würde leicht auszuführen sein, daß die Auswanderungen nach Nordamerika nichts anders sind als schlecht geleitete kritische Ausleerungen; es würde bei Gelegenheit des englisch-chinesischen Kriegs sich wohl geeignet haben, ein Kapitel zu schreiben über den Gebrauch des Bleis in Verbindung mit Opium, wo umgekehrt das erstere als Corrigens für das zweite angewendet wird, oder über die Anwendung der poma granatorum als remedium tonans; doch würden alle diese Ausführungen nur Eure Geduld auf eine harte Probe stellen, während es doch nach dem bereits Gesagten eines weiteren Beweises nicht bedarf, und schon bis zur Evidenz dargetan ist, daß die Doktoren im Kabinett nur klug sind auf Kosten der Doktoren im Krankenzimmer. Wenn aber die Welt wirklich so leidend ist, als man ihr glauben zu machen sich bemüht, dann kann sie auch nur gesund werden, wenn sie nach echt rationellen therapeutischen Grundsätzen behandelt wird, und das goldene Zeitalter dürfte erst dann zu erwarten sein, wenn wir Medici rite recepti die Welt regieren, wenn die Schlange Äskulaps sich um das goldene Zepter der Gewalt windet. Dazu fehlt aber noch viel. Nur in Nassau beginnt der Tag zu dämmern, in dem man daselbst verdiente Ärzte zu Mitgliedern der Landesregierung ernennt. Hoffen wir aber – und wir Deutsche sind ja in politischen Dingen so sehr an die methodus exspectativa gewöhnt, – daß endlich einmal die Zeit kommen wird, wo jeder Diplomat Heilkunst studieren muß; dann wird das Heil wohl nicht mehr so künstlich gesucht, und das alte Sprichwort: medicus naturae minister läßt sich dann mit geringer Veränderung übersetzen: Jeder Arzt ist von Natur ein Minister!
(1842)