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XI.

Meine kleinen Erlebnisse wollte ich aufzeichnen, die alltäglichen und die großen. Denn ich glaubte erkannt zu haben, daß jedes seinen Platz haben soll, auch in der Erinnerung. Sprach ich mit Freunden von Kinder- und Jugendzeit, dann merkte ich erstaunt, daß manches bewegte und bewegende Geschehen, das mich und andere erfaßt hatte, mir rückschauend zwar nicht geringer, unwichtiger erschien, aber für mich, für mein Leben, für mein Werden nicht so entscheidend wie irgend eine schier bedeutungslose Episode, daß ich aber umsonst mich mühte, einige dieser kleinen Erlebnisse wieder ganz klar und scharf vor mein Erinnern zu stellen. Wie ein ferner schimmernder Punkt erschienen sie mir, oder wie seltsam leuchtender Nebel, und wußte ich auch, was ich meinte, wußte ich es auch mit meinem fühlenden Denken, so gelang es mir doch kaum einmal, Gestalten wieder deutlich zu sehen, Stimmungen von damals mir wieder gegenwärtig zu machen, innere Erlebnisse wieder lebendig. Ich bin, fast noch ein Kind, in einem Lebensalter also, in dem der Körper nach Nahrung schreit, durch die Hungerjahre des Krieges gegangen. Ich erinnere mich ihrer deutlich genug. Aber sie waren mir kein Erlebnis, an das zu denken sich lohnt oder das selber sich der Erinnerung aufdrängt. Aber daß unser junger frischer Nachbar nicht aus dem Kriege zurückkam und seine Frau, als der Tod des Mannes gemeldet worden war, wie verwandelt war, daß sie wie eine Geistesabwesende herumging, wie eine lebende Tote, daß sie aß und schlief und auf Anrede antwortete und doch mit Augen auf uns blickte, die uns nicht sahen, zu einem Scherz lachte und doch so lachte, daß man merkte, wie gleichgültig ihr Scherz und Lachen waren, daß sie lebte, als wäre sie nicht mehr auf der Erde – das habe ich nicht vergessen. Aber anderes, das in den Augenblicken des Erlebens nicht weniger tief auf mich wirkte, mir als großes Erlebnis bewußt war, ist unscharf geworden, verwischt, und ich suche vergebens in den Schächten der Erinnerung nach Deutlichkeiten, nach Einzelheiten …

Mit einem Schulfreunde, einem gleichalterigen Jungen, wanderte ich oft auf der Straße, die von Teplitz aus durch die Industrieorte ins Gebirge hinaufführt, wanderte mit ihm in endlose Gespräche verstrickt dahin. Kein Mensch stand damals dem Herzen des Fünfzehnjährigen so nahe wie er. Wie liebte ich Michael! Wie schien mir jede Stunde leer, die ich ohne ihn verbringen mußte! Und heute – suche ich seiner Gestalt, seines Wesens, des Klanges seiner Stimme mich zu erinnern, so bleibt der Jugendfreund schattenhaft und seine Stimme ohne Klang. Ich höre sie – ohne Ton, so, als läse ich Worte eines Gespräches in einem Buch. Ich weiß, daß unsere Gespräche für mich von ungemeiner Wichtigkeit waren. Denn wir hatten uns, wie alle jungen Menschen in diesem Alter, auseinanderzusetzen mit den großen Fragen der Welt und des Lebens. Wir mußten zu ergründen versuchen, ob Gott existierte, und ob eine völlige Revolution zur Erneuerung der Menschheit notwendig sei, und wir sprachen über diese seltsamen Wesen, die Mädchen, die wir scheu bewunderten und die uns täglich mehr Beachtung aufzwangen und immer rätselhafter erschienen. Ein wenig ist mir noch der allgemeine Inhalt unserer Gespräche in Erinnerung geblieben, aber ich entsinne mich keines Satzes mehr. Und doch weiß ich, daß sie mitentschieden über meine Entwicklung!

Und ich weiß heute, daß für mich von nicht minderer Bedeutung winzige Augenblickserlebnisse waren: ein bewußt, aufgeschlossen erlebter Sonnenuntergang – eine Begegnung mit einem Menschen – der Anblick eines Gesichtes – Worte aus einem Gedicht – ein verträumter Waldweg. Und alles ist blaß geworden und zerfließt vor dem zugreifenden Blick.

Ich möchte mein gelebtes Leben mit mir tragen, nicht so nur, wie es, mir meist unbewußt, Baustein zu Baustein fügte, mich zu formen. Ich möchte alles Wichtige, Bemerkenswerte, Bedeutende, das Schöne, Strahlende und das Dunkle, Niederziehende, Qualvolle, allzeit gegenwärtig haben, wie bereit zu überprüfendem Betrachten. Wie verloren erscheint mir das ins Vergessen Versunkene. Es ist nicht zu retten. Aber, so dachte ich, als ich zu schreiben begonnen hatte, alles Künftige, alles von nun an in mein Leben Tretende, kann ich in Worte zwingen. In unzulänglicher Art wahrscheinlich nur, aber klar genug, sprechend genug für mich.

Nun wußte ich wohl, daß ich, meine Erlebnisse vermerkend, auch von den Menschen unseres Ortes, mit denen ich täglich zu tun habe, werde sprechen müssen. Aber nun, da ich als Miterlebender von ihnen spreche, merke ich mehr und mehr, daß ich Menschenschicksale aufzeichne.

Je länger ich mit unseren Arbeitern zusammenlebe, umso mehr löst sich mir ihre Gesamtheit in Einzelwesen auf. Die sind nicht herauszudenken aus dieser Gesamtheit, die sie bilden und die sie formt, aber ich habe doch gelernt, das Einzelleben und das Einzelschicksal zu sehen, und die Unterschiede im Gleichgearteten …

Da lebt, außer in seiner großen Welt der Fabrik und der Gemeinde und der Organisation, jeder dieser Männer als Mittelpunkt einer kleinen eng umgrenzten Welt, fühlt sich als Oberhaupt seiner Familie, vertrauend lehnt sich sein Weib an ihn, gläubig schauen zu ihm die Kinder auf, zu ihm, der ihnen so groß, so mächtig dünkt. Und er ist doch so wenig! Unsichtbare Hände lenken die Fäden seines Schicksals …

Da freit einer, schafft sich ein Heim, zeugt Kinder, spart und spart und baut sich ein Häuschen, gibt sich kleinen Freuden hin, die so notwendig sind, um dem Leben ein wenig Glanz zu geben. Er bastelt vielleicht oder zieht Blumen, er pflegt einen Kreuzschnabel und steht bewundernd vor dem Käfig und freut sich an den Kapriolen des lustigen Vögelchens, – er hat einen Radioapparat erworben und wird nicht müde des Drehens an den lauterweckenden Knöpfen und des Lauschens auf die Stimmen der Welt …

Und plötzlich schlägt eine wuchtige Faust zu und zermalmt alles, was sein und der seinen Glück war.

Wie viele meiner Freunde hat diese Faust getroffen!

Sie zielt nicht nach dem einzelnen. Wie ein Blitz ist sie, der in Menschenhaufen niederschlägt, um viele zu treffen.

Auf Landschaften und Länder und Staaten schlägt sie nieder.

Sie hat, Schlag auf Schlag, Fabrik auf Fabrik niedergeworfen.

Sie hat die Glasindustrie in Südböhmen vernichtet.

Schickel hat mir viel davon erzählt.

Schon gleich nach dem Krieg hat das große Sterben angefangen. Glasarbeiter sind von den Fronten zurückgekommen und haben in ihren Heimatorten mit sich nichts mehr anzufangen gewußt, weil die Fabriken, in denen sie gearbeitet hatten, ihre Tore nicht mehr öffneten. Das war so in Josefstal-Glöckelsberg und in Frauental und in Fichtenbach. Und in Annatal ist nur kurze Zeit gearbeitet worden, dann wurde auch dieser Betrieb stillgelegt. Aber dann war doch wieder gute Zeit gekommen. Das große Wirtschaftsdurcheinander, das dem Kriege gefolgt war, entwirrte sich, Zerstörtes wurde wieder aufgebaut, überall in der weiten Welt, und man suchte und fand neue Absatzgebiete. Und dann kam das große Weltunglück, die große Krise, von der wir alle fast täglich sprechen und die wir doch nur so schwer verstehen können, und jetzt sauste wieder Schlag auf Schlag die Schicksalsfaust nieder und kurz nacheinander wurden die Glasfabriken in Erdweis und Suchental, in Klostermühle und Wittung, in Seewiesen und Karlbach geschlossen. Und Glasveredelungswerke in Holzschlag und Haselbach, in Münchsdorf und Waldheim.

Wie lieb und traulich die Namen dieser Orte, die ich nur als Punkte und Pünktlein auf der Landkarte kenne! Der Wald lebt in diesen Namen, das Rauschen der Gebirgsbäche, und der uralte Zauber der Glashüttenmärchen. Sprich sie aus, diese Namen, und du denkst nicht an Fabriken, an Maschinen und rauchende Schlote, du denkst an winzige in gewaltige Wälder eingenistete Siedelungen, und du siehst die einsamen Feuer der Holzfäller glühen, kleine Wässer lachend zu Tal springen, siehst braune Mädchen auf Hochwiesen das Heu zusammentragen – und Waldatem und der würzige Geruch sommerlicher Wiesen steigt auf, wenn diese freundlichen Ortsnamen laut werden oder du sie liest. Ja, und dann glaubst du, du müßtest sie unbedingt mit einer Novelle Stifters in Verbindung bringen, und grübelst und suchst, in welcher Geschichte dir der freundliche Namen schon begegnete …

Auf den Bergen unserer Heimat ragen mehr und mehr zerfallende Mauertrümmer einstiger Burgen in unsere Zeit.

Aus unseren Tagen werden in späten Zeiten die Ruinen der Fabriken von einer großen versunkenen Industrie zeugen.

Und so wie die Phantasie der Schreiber historischer Romane gewandt die alten Burgmauern wieder aufbaut und die Höfe mit Rittern und Knappen und die Säle und Kemenaten mit Edelfräulein und Pagen bevölkert, so wird in späten Jahren einmal ein Erzähler wieder den Lärm der Arbeit durch die jetzt verödeten Fabrikshallen brausen, wieder Arbeiterscharen durch die jetzt geschlossenen Tore ziehen lassen zu tüchtigem Werk oder heimwärts zu verdienter Rast.

Selbstverständlichkeit ist es dem Erzähler der Rittergeschichten, daß im Verlaufe einer großen notwendigen Wandlung die Burgen verlassen und dem Verfall überlassen wurden, daß die Menschen ins Tal niederstiegen und die hochragenden Mauern in sich zusammensanken.

Vielleicht wird man auch später einmal, rückschauend von einer höheren Warte aus, den Verfall unserer Fabriken als geschichtliche Notwendigkeit sehen.

Wird man dann auch die Menschen von heute sehen? Wird man sehen, wie die zusammenbrechenden Fabriksmauern sie begraben?

*

Beim Erlacher bin ich gewesen.

Ich muß doch wieder einmal nach meinem Patenkind sehen, nach dem kleinen Peter!

Als er angekommen war, der ersehnte Bub, da war die Freude der Eltern groß und mich erfaßte Ehrfurcht vor diesem elterlichen Glück. Und doch lag ein Schatten darauf. Denn in jenen Tagen hielt man es noch für gewiß, hielt man es schon für gewiß, daß die Fabrik gesperrt werde. Und da zitterte Erlacher um seine Arbeitsstelle und um sein Häuschen, und betrachtete er seinen Jungen, so stiegen Tränen in seine Augen, denn er sah sich schon mit Weib und Kind so heimatlos auf der Landstraße dahinwandern wie voreinst seine Eltern.

Aber alles war wieder gut! Gesichert die Arbeitsstelle und fest begründet das Häuschen und mit ihm des Kindes Heimat. Von zwiefachem Besitzerstolz ist Erlacher erfüllt. Ein liebes schmuckes Haus hat er und einen prächtigen Buben. Nicht zu vergessen natürlich das brave Weib!

»Schau sie dir an, Sekretär! Wie sie jetzt auseinander geht, so in die Breiten!«

»Du bist schuld!« eiferte die Frau. »Du hast doch das Kind gewollt, und ohne das Kind war ich nicht so voll geworden. Das geschieht vielen Frauen, wenn sie geboren haben.«

»Macht doch nichts, Alte! Ist doch gerade recht so! Wenigstens spürt man was und greift nicht daneben! Was man hat, das hat man!«

Das Kind meldete sich.

»Hörst, was für eine Stimme er hat? Mein Lieber, der wird sich einmal nicht so leicht niederschreien lassen, der nicht! Ah, der wird einmal ein Kerl werden, der Peter!«

Zärtlich hob die Mutter den quäkenden Kleinen aus dem Korb, der sein Bettchen war.

Das Krähen des Säuglings hatte den Ehrgeiz des Zeisigs geweckt. Hansi schloß, weit den Schnabel aufsperrend, seinen Gesang mit einem kräftigen Krähen ab.

»Was, Hansi, jetzt singst du nicht mehr allein! Jetzt haben wir ihrer zwei, die Krawall machen!«

Die glücklichen Augen wanderten vom noch immer lärmenden, immer wieder seinen Gesang aufnehmenden Zeisig zum verstummten, behaglich an der Mutterbrust schmatzenden Kind.

Lieber Erlacher!

Was für ein Prachtkerl! Stark, lebensfroh und glücklich, so glücklich! Froh im Besitze alles dessen, was du erstreben konntest. Aber wenn die Fabrik geschlossen worden wäre!

Nichts, gar nichts hinge ab von deiner Kraft, deinem Mut, deiner Tüchtigkeit. Niedergeschlagen würdest du von der unsichtbaren Faust und könntest dich nicht wehren.

*

Schickel ist jetzt viel unterwegs. Sitzungen, Besprechungen, Beratungen füllen seine Abende aus, nehmen ihm jeden Sonntag. Er hat auch für seine Frau die Arbeit in der Küche für die Kinder der Arbeitslosen übernehmen müssen.

Frau Schickel muß alle Arbeit liegen lassen. Ihr Töchterchen ist krank.

Wir haben viele kranke Kinder im Orte. Eine Diphtherie-Epidemie ist in den Ort eingebrochen, hat viele Kinder niedergeworfen, viele Mütter in Verzweiflung gestürzt.

Viele der jungen Leben erlöschen.

Frau Schickel sitzt stundenlang am Bettchen ihres Kindes. Die Sorge um das Kind hat alle anderen Sorgen zurückgedrängt. Auch die um ihren armen Bruder.

Der Zorn Andreas, Frau Schickels Bruder, hat vier Kinder und ist arbeitslos.

Andreas war früher Glasarbeiter, schon vor dem Kriege. Ein kräftiger, flotter, frischer Bursch war er. So sagen alle, die ihn gekannt haben, so sagt auch seine Frau. Die hatte sich damals als begnadet unter allen Frauen angesehen, als sie ihn bekommen hatte, den lustigen, witzigen und arbeitsfrohen Mann, dem so viele Mädchenaugen nachgeträumt hatten, wenn er durch den Ort gegangen war. Aber als Andreas aus dem Kriege heimgekommen war, taugte er nicht mehr zu richtiger Arbeit. Er ist etwas »wunderlich«, wie die Leute sagen, ein wenig verwirrt und vergeßlich. Es kann geschehen, daß er mitten in der Arbeit inne hält und vor sich hinstarrt, als müsse er irgendetwas Geheimnisvollem nachsinnen. Er war an der italienischen Front verwundet und verschüttet worden. – Nach dem Krieg kam es auf einen Arbeiter mehr oder weniger nicht so sehr an, und war der Zorn Andreas nicht mehr an der Wanne brauchbar und nicht zum Polieren, so konnte man ihn doch als Hilfsarbeiter verwenden. Er säuberte den Hof, griff da und dort zu, tat allerlei kleine Handgriffe. Aber bei den großen Arbeiterentlassungen war er selbstverständlich einer der Ersten, die aus der Fabrik mußten.

Und Zorn hatte vier Kinder!

Weinend ist er in die Gemeindekanzlei gekommen.

Ich soll raten, soll helfen.

Er hat einen kleinen Hausierhandel mit Socken und Krawatten angefangen. Mit einem Kofferchen, das seine Ware barg, wanderte er von Tür zu Tür und durch alle Ortschaften der Umgebung. Kam er zu Kameraden, die noch in Arbeit standen, dann kaufte wohl mancher eine der billigen Krawatten oder der dicken Socken. Auch wenn er nicht just eine Krawatte brauchte. Wenigen Männern lag in diesen Tagen viel an neuen Selbstbindern. Die meisten benützten eine Krawatte, die ja doch nur an den Sonntagen getragen wurde und etwa dann, wenn man in eine Sitzung gehen mußte, viele Monate lang. Aber man kaufte aus Mitleid, um den Zorn zu unterstützen.

Und jetzt war er angezeigt worden wegen unbefugten Hausierens und sein Kofferchen mit der Ware hatte ihm ein Gendarm abgenommen. Sein Kofferchen mit neu eingekaufter Ware!

Ob ich ihm raten könne?

Vielleicht ist ihm zu helfen. Zwar kann ich ihm nicht die beschlagnahmte Ware wieder beschaffen; die muß er verloren geben. Aber ich kann mich um einen Hausierschein bemühen. Freilich, das kostet ein paar Kronen, und ich weiß noch nicht, wie ich das Geld auftreibe.

Aber ich kann den armen Andreas doch mit einem kleinen Trost, mit einem Bißchen neuer Hoffnung wegschicken.

Er ist nicht der Aermste und ist nicht der einzige seiner Art. Nicht der einzige der neuen Hausierer.

Sie kommen mit Klöppelspitzen, mit Zwirn und Knöpfen und Bändern, mit Seife, mit Briefpapier und Ansichtskarten, mit Strümpfen und Krawatten.

Sie wollen nicht betteln, diese Menschen, die sich wenigstens die Selbsttäuschung, zu arbeiten, und damit einen Rest von Selbstachtung bewahren wollen. Sie wollen nicht betteln, und so haben sie denn, auf den Genuß auch der billigsten Zigarette verzichtend und am Essen der Frau und der Kinder abknappend, ein paar Kronen zusammengekratzt zum Einkauf ihrer Ware. Aus dem Erzgebirge kommen sie und aus dem Böhmerwald und aus den einstigen Industrieorten des Flachlandes. Und wie Verbrecher, denen die Polizei auf den Fersen ist, schauen sie scheu sich um, schleichen sie heimlich in die Häuser. Denn was sie tun, ist verboten und vor dem Gesetz nicht weniger schlimm als das Betteln, das ja auch nicht erlaubt ist.

*

Kein auch im Schmerze schönes Madonnenbild strahlt mich an. Verfallen und fahl sind die Wangen der Frau, rot verweint ihre Augen. Müde, hoffnungslos hängen die Schultern nieder, die Hände knäueln und entfalten, ohne zu wissen, was sie tun, unermüdlich ein vielzerknittertes Taschentuch. Ihr Körper, niedergebeugt, vorgesunken, erscheint mir um vieles kleiner als sonst. Grau ist das stoppelige Gesicht ihres Mannes und tränenrot sind auch seine Augen. Doch ist er gefaßter, ruhiger, nicht so ganz schmerzzermalmt wie seine Frau.

Mit müder, von vielem Weinen und Schluchzen heiserer Stimme, schwerfällig und stockend die Worte sich abzwingend, erzählt Frau Schickel:

»Ich war halt doch schließlich eingeschlafen. Ich kann mir's nicht verzeihen und begreif' es doch. Ich war übermüde von dem vielen Wachen. Und die Kleine war gerade viel ruhiger. Und so still war es im Zimmer, und dunkel war es schon. Ich habe das Elektrische ausgelöscht, weil es zu grell war, und eine Petroleumlampe angezündet und die hab ich weggeschoben gehabt. – Und wie ich geschlafen hab, da hör ich im Traum ein Trippeln – so ist immer meine Rosl zu mir gekommen, so gegen neun Uhr, wenn sie schlafen gegangen ist. Da hat sie mir Gute Nacht! gesagt und mir ein Busserl gegeben und dann ist sie zu ihrem Bett getrippelt. Gerade so war es. Ich hör' sie zu mir herantrippeln und hör' sie sagen: Komm heim, Mutti! – und hör' sie wieder wegtrippeln – und wach' auf – und spring' zum Betterl hin – und hör' gerad noch den letzten Atemzug!«

Die Frau sinkt tiefer in sich zusammen, sie preßt die Hände, die noch immer das Tuch umklammern, wie im Krampf aneinander.

»Mein Kind ist gestorben und hat im letzten Augenblick die Mutter nicht bei sich gehabt! Meine Rosl ist gestorben und ich war nicht bei ihr!«

Begütigend spricht der Mann auf sie ein:

»Schau, du warst ja doch bei ihr! Glaub mir doch, sie war in den letzten Augenblicken schon nicht mehr bei klarem Bewußtsein …«

»Sie hat doch nach mir gerufen! Das war's! Komm heim, Mutti – das hat doch geheißen: Komm zu mir, Mutti!«

»Du bist doch zu ihr gekommen! Du warst ja im letzten Augenblick doch bei ihr! Da darfst dir keine Vorwürfe machen, du warst unserer Rosl eine gute Mutter!«

Schickel richtet die Frau, sie tröstend an sich ziehend, behutsam auf. Schwer stützt sie sich auf ihn.

»Sie können das nicht verstehen, Herr Sekretär, was das heißt, kein Kind mehr haben! – Und wir dürfen kein Kind mehr haben. Solang meinem Mann die Arbeit nicht wirklich sicher ist. Wir können es doch nicht hineinstellen in den Hunger! – und ein Weib ohne Kind ist nichts!«

Auch Schickel hat feuchte Augen.

»Gelt, sagst es dem Vorsteher: um sieben ist die Sitzung vom Aktionsausschuß. Aber nicht in meiner Wohnung. Wir müssen zum Sternwirt gehen. Sagst ihm, weil unsere Rosl – unsere Rosl daheim aufgebahrt ist!«

*

Ein Weib, das kein Kind hat, ist nichts!

Und vor ein paar Tagen …

Ein kleines schmächtiges Mädchen hat sich zu mir in die Kanzlei geschoben, verlegen, scheu, hat nicht gewußt, wie es anfangen soll zu sprechen. Ein kleines schmächtiges Mädchen, ein junges zierliches Ding, und war doch auf dem Wege, Mutter zu werden.

Richtig fing die Kleine im selben Augenblick, da sie die ersten Worte über die Lippen brachte, zu weinen an.

»Na, weinen Sie nicht, Fräulein,« versuchte ich zu trösten, »wird nicht so schlimm sein, was sie drückt! Sprechen Sie sich nur einmal aus, das erleichtert! Und dann werden wir schon sehen, was zu tun ist! So, schön niedersetzen und ein Bißchen aufatmen, so, und wenn Sie wieder ruhig geworden sind, erzählen Sie!«

»Ich bin die Junghans Therese …«

Fragend blickte ich sie an. Ich kannte sie nicht und sie hatte mir doch ihren Namen wie einen genannt, der mir vertraut sein mußte.

»Hat der Hermann Ihnen nichts von mir gesagt? Ich hab gedacht, weil der Hermann Ihr Freund war … Und jetzt, wo man so lang schon vom Hermann nichts gehört hat und ich nimmer glauben kann, daß er zurückkommt … Wissen Sie, Herr Sekretär, ich hab ihm nichts gesagt. Er war doch arbeitslos und hat sich so schwere Sorgen gemacht und da hab ich ihm das Herz nicht noch schwerer machen wollen. So hab ich ihm nichts gesagt …«

Hermann hatte ein Mädchen gehabt! Nie, mit keiner Silbe hatte er davon gesprochen. Zu keusch war er, um von seiner Liebe zu sprechen. Ich verstand es so gut, weil ich ihn so gut gekannt hatte! Seine Liebe – das war sein und seines Mädchens Erlebnis und schon Gespräch mit dem Freunde über seine Liebe wäre ihm als Entweihung erschienen. Sie war ängstlich gehütetes Geheimnis gewesen. Es war ihm ergangen wie vielen Männern, die sich vor anderen schämen, zu lieben, die Glückwünsche ebenso wenig ertragen wie Neckereien, ihr Glück vor der Welt verbergen, für sich allein tragen …

Und die Erzählung des Mädchens! Kindliches Gestammel eines Kindes und vertrauensvolle Beichte einer naiv-gläubig von Hoffnung zu Hoffnung Taumelnden. Sie sei so erschrocken gewesen, als sie ihren Zustand entdeckt habe, so sehr erschrocken. Und sie habe sich fest eingeredet, es sei nicht wahr und könne nicht sein und dürfe nicht sein. Sie habe sich gefürchtet, es dem Hermann zu sagen, nur deshalb gefürchtet, weil sie Angst hatte, ihrem lieben Jungen weh zu tun. Und geschämt habe sie sich auch. Sie habe damals so viel gebetet, da mußten ihr doch der liebe Gott und Maria helfen! Sie habe an ein Wunder geglaubt. An jedem Abend, ehe sie eingeschlafen, habe sie gedacht, am nächsten Morgen, wenn sie aufwache, werde alles sein wie früher. Und so habe sie gehofft und gehofft und einfach nicht glauben können, was ihr doch mit jedem Tag als wirklicher sich offenbarte. Und jetzt, da sich nichts mehr verbergen lasse, jetzt habe der Vater so sehr geschimpft, o so sehr! Schlimm genug wäre es, wenn der Hermann nicht verschwunden wäre, aber ein Kind ohne Vater! Thereses Vater ist Bauer in Krümmern, einem Nachbarort. Wäre Hermann da, so hätte er wohl widerwillig die Zustimmung zur Heirat gegeben; er empfindet es als Schande, wenn seine Tochter unehelich Mutter wird. Dann schon lieber einen Mann haben, der nur ein Arbeiter ist und noch dazu einer ohne Arbeit. Aber ein Kind, dessen Vater verschwunden ist! Das dulde er nicht. Er verlangt, daß Therese sich das Kind nehmen läßt. Wie, das sei ihre Sache. Habe sie sich's machen lassen, dann müsse sie sich auch um das andere kümmern …

Ob ich helfen könne? Ich sei doch Hermanns Freund gewesen. So solle ich auch ihr Freund sein …

»Aber Kind, Kind, hättest du doch dem Hermann etwas gesagt!«

Ganz unwillkürlich, ohne zu überlegen, ohne Absicht, sage ich Du. Therese ist mir plötzlich zu einem nahestehenden Menschen geworden.

»Therese, hättest du doch dem Hermann gesagt, daß du Mutter wirst! Nie wäre er fortgegangen! Wie hätte er sich gefreut und wie stolz wäre er gewesen! Und er wäre nicht fortgegangen, weil er sich für das Kind verantwortlich gefühlt hätte! Wüßt' er es, Therese, daß du Mutter wirst – ach, wie rasch käme er zurück!«

Gläubig-ungläubig hob Therese das Köpfchen.

»Sie halten es für möglich, daß er noch lebt? Sie glauben es?«

»Natürlich glaub' ich es! Solang man von Hermann nicht mehr weiß, als daß er verschwunden ist, solang glaub' ich, daß er lebt! Hat er denn nicht immer große Freude am Leben gehabt? Hat er denn nicht gern gelebt? Weißt du, wie er lachen konnte? Wie froh er sein konnte?«

»Ob ich es weiß!«

Ein sonniges Leuchten fliegt über Thereses Gesichtchen. Ein zartes Lächeln formt ihr Mund.

In rührender Zuversicht sagt sie:

»Wenn Sie glauben, Herr Sekretär, daß er zurückkommt – und daß er an dem Kind Freude haben wird, dann werd' ich es austragen. Und wenn mein Vater noch so sehr schimpft und wenn er mir auch Prügel androht! Wenn der Hermann heimkommt, werde ich ihm sein Kind entgegenhalten!«

Therese geht anders fort, als sie gekommen ist.

Ihre Augen lachen, ein Hauch freudiger Röte liegt auf ihren Wangen, und ihre Haltung ist die stolze Haltung zukunftsfroher Frauen gesegneten Leibes.


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