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VIII.

Nebel hüllten den Morgen ein und die Luft roch feucht und nach dem Dünger, den die Bauern auf die Felder gefahren hatten. Kalt war es, als sollte bald Schneesturm über die Berge kommen. Nebel wälzte sich durch die Gassenbahnen. Die Menschen eilten fröstelnd und hüstelnd dahin.

Trüb und nebelig blieb es den ganzen Tag. Gegen Abend fiel ein gelber Schein durch den Nebel. Die Sonne warf im Scheiden etwas Lichtgold auf sein Grau. In meiner Stube war es warm. In jedem Winkel hockte die Melancholie des Herbstes. Ich trat ans Fenster und blickte versonnen hinaus. Da sah ich auf dem Gesimse eine kleine Biene liegen, – sie lag auf dem Rücken, ganz steif. Die Sonne hatte sie erfliegen wollen und hatte nur Nebel, feuchten Nebel und eine kalte Fensterscheibe gefunden. Ich fühlte, als ich das verlassene Tierlein sah, starkes Mitleid in mir aufsteigen, dessen Ursache mir unbegreiflich war. Eine kleine Biene bloß, ein unscheinbares Tierchen! Ich holte es herein, nahm es auf ein Blatt Papier in die Wärme meiner Stube. Bewundernd blickte ich nieder auf den Leib, den goldgelbe Streifen schmückten, und auf die zarten Flügel, die wie Graphit glänzten. Woher mag die Biene gekommen sein, wo war ihr Volk?

Ich dachte, während ich abwartete, ob mein Gast sich erholen werde, an die süß-sentimentale Geschichte von Bonsels, an die rührsame Geschichte von der Biene Maja, die, im Film gezeigt, alle Besucherinnen weinen läßt …

Die Wärme machte den erstarrten Leib wieder lebendig. Die Biene begann die erstarrten Beinchen zu heben. Sie machte einige Fortbewegungsversuche. Es ging schwer vorwärts. Die bleierne Nässe des Herbstnebels hatte den sonst so flinken Beinchen alle Beweglichkeit genommen. Und ganz erschöpft mußte das arme Ding sein. Ich biß eine süße Birne an und legte sie ihr zu. Wie ein heißhungriger Mensch auf das Essen stürzte sich die Biene auf die Frucht, eifrig begann ihr Rüssel den Saft zu saugen. Dann putzte sich die wieder lebendig Gewordene die Beine, die Flügel, reckte sich und streckte sich und bald lief sie geschäftig über das Papierblatt. Nun öffnete ich das Fenster und hielt das Papier, auf dem die Biene saß, hinaus ins Freie. Sie flog geradeaus in den gelben Schein.

Hoffentlich findest du dein Volk!

Denn was wärest du ohne deine Gemeinschaft?

Vielleicht wirst du am Wege sterben, wird irgendwo draußen der Nebel dich wieder niederdrücken.

Wie schwer muß das Sterben auch des kleinsten Wesens sein!

Oft habe ich gehört, ich habe es noch öfter gelesen, daß Menschen in den letzten Augenblicken ihres Lebens, in den Minuten vor dem Entfliehen ihres Atems und dem Stillstehens ihres Herzens, ihr ganzes Leben wie im Fluge noch einmal durchleben, daß, wenn ihre Augen sich schon für immer schließen, ihre Seele noch einmal in die Welt schaut, die nun mit ihnen versinkt. Denn mit jedem Menschen erlischt seine Welt … Ob es auch einem sterbenden Tier so ergeht? Was wissen wir, die wir so oft gedankenlos lieblos gegen Tiere sind, von den Seelen der Tiere?

Ich schaute deine Welt, kleine Biene! Vor mir standen die roten Kelche der Tulpen, ich sah die Duftquellen der Rosen, der Dahlien, der Nelken und der Sonnenblumen. Reseden dampften würzige Gerüche. In dieser Welt, in allen diesen Welten war meine kleine Biene daheim! Vielleicht auch in der des Feldthymians, des Mohns und des Natternkopfs oder einer gelbleuchtenden Königskerze auf einer Steinhalde. Darüber blauer Himmel mit einer großen brennenden Rose, der Sonnenrose …

Ihr Bienen, ihr und die Ameisen, werdet so gern den Menschen als Vorbilder des Fleißes gezeigt. Und Eure Gemeinschaften als Vorbilder sinnvoll geordneten Zusammenwirkens.

Ein paar hundert Menschen kenne ich, die keines Vorbildes bedürften und keiner Ermunterung, die nichts heißer ersehnen, als arbeiten zu dürfen. Kleine Biene, gibt es eine der Arbeiterinnen deines Volkes, die nicht arbeiten darf?

Wie gut, daß euer Geschlecht auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung stehen blieb! Wenn es auch bei euch eine Rationalisierung gäbe! Wenn ein paar Bienen in jedem Volke so hochgezüchtet würden, daß sie allein allen Blütensaft der Welt aufsaugen könnten! Dann bliebe für die vielen anderen nichts übrig und ihr Leben wäre sinnlos geworden – wie das meiner Kameraden. Aber ich glaube, ihr ließet euch das nicht gefallen, ins Sinnlose und in die Not gestoßen zu werden. Ihr gebrauchtet eure Stacheln!

Aber vielleicht hat es auch in eurer Entwicklungsgeschichte einmal eine Zeit gegeben, in der alles durcheinander ging, vielleicht hat es auch in eurem Volke heftige und opferreiche Kämpfe gegeben, ehe sich eine Ordnung durchsetzte, die von allen gewollt war?

Wer weiß – vielleicht, wenn man mehr von euch wüßte, hätte man euch nicht als Sinnbild des Fleißes gewählt!

*

Einer, der arbeiten will, – einer, der das Arbeiten erlernen will und nicht darf …

Der Krummhorn Toni war bei mir, ein vierzehneinhalb Jahre alter Bursche. Ende Juli hat er die Schule verlassen. Was er tun solle? Früher, ja, da seien die Jungen, wenn sie die Schule verlassen hatten, in die Glasfabrik gegangen oder bei einem Meister in die Lehre getreten. Heuer sei niemand mehr aufgenommen worden. Und daheim – ja, der Vater war nun auch schon seit langem arbeitslos und wußte es, daß die Fabrik niemanden aufnahm – und doch machte er ein finsteres Gesicht, wenn er den Jungen sah. »In deinem Alter habe ich mir schon mein Brot verdient!« Wie oft habe der Toni das hören müssen! Als unnützer Fresser gelte er daheim, er wisse es wohl, wenn auch weder der Vater noch die Mutter es so geradeheraus sagen. Aber er wolle doch arbeiten! »Ich hab mir eine Lehre suchen wollen. Aber kein Meister nimmt mich auf. Alle Glasarbeiterjungen wollen jetzt in die Lehre gehen. Und die Meister sagen, daß sie nichts zu tun haben und keine Lehrlinge brauchen.«

Ein lieber hübscher Bub, der Krummhorn Toni. Gar nicht verlegen ist er, er weiß gut in Worte zu fassen, was er sagen will. Ich denke, daß es schade wäre um ihn, müßte er in die Glasfabrik. Er ist in der Schule gut mitgekommen, er könnte vielleicht in eine Handelsschule gehen, – er könnte … er kann nichts, er kann nicht weiterlernen, weil es den Eltern einfach unmöglich ist, den Jungen nach Pilsen oder in eine andere Stadt an die Handelsschule zu schicken. Und wenn er sie besuchen könnte? Wo fände er eine Stelle? Schade wäre es, wenn er in die Glasfabrik gehen müßte? Glück wäre es, unfaßbares Glück, wenn er in der Glasfabrik arbeiten dürfte!

Toni will Rat von mir. Wie kann ich raten? Dem kleinen Bienchen konnte ich zu neuem Flug in die Welt helfen. Dir, Toni, kann ich nicht dazu verhelfen! Und ich weiß doch nicht einmal, ob ich dem Bienchen wirklich geholfen habe! Vielleicht hat schon eine Viertelstunde später der Frost sie gelähmt, auf die erstarrte Erde geworfen – vielleicht ist achtlos ein Menschenfuß auf sie getreten. Wem kann ich wirklich helfen? Aber ich kann tun, was ich der armen Biene tat: ich kann dir ein bißchen Wärme mit auf den Weg geben, und wäre es auch nur die Wärme einiger tröstender herzlicher Worte. Ja, ich will mich gerne umsehen, um eine Lehrstelle für dich zu finden, Toni! Laß nur nicht den Kopf hängen, Bub! Du hast ein gutes Schulzeugnis, du bist willig und anstellig, es müßt' doch schon seltsam zugehen, wenn ein so netter und braver Bursche keine Lehrstelle bekäme! Ich will alles tun, was möglich ist …

Ich lüge gar nicht. Ich will wirklich herumfragen nach einer Lehrstelle für den Toni. Aber ich habe wenig Hoffnung. Und ist auch mein Versprechen keine Lüge, so doch die Zuversicht, die ich zur Schau trage. Aber ich habe gern geheuchelt, denn ich konnte den Jungen nicht ohne Trost von mir gehen lassen.

Oder – ist meine Auffassung eine altväterliche? Jungen Menschen keine Hoffnungen bauen? Das Fenster öffnen und sagen: da draußen der fahle Nebel, die feuchte Kälte, das graue Gewoge, das jeden Weg verhüllt, das ist deine Welt! Flieg hinaus und warte ab, ob du einen Arbeitsplatz erfliegen kannst oder ob der Frost dich niederwirft auf erstarrte Erde, auf der erbarmungsloser Tritt eines unbegreiflichen Schicksals dich zermalmt …

Alte Gewohnheit der Leute ist es, mit mancherlei Anliegen zu mir zu kommen. Auch mit solchen, die nichts mit der Gemeinde zu tun haben. In einem kleinen Orte ist der Gemeindesekretär keine scheu umschlichene, demütig gegrüßte Amtsperson, ist er, von allen gekannt, eher Vertrauensmann aller. Hundert kleine und größere Sorgen haben die Leute zu mir gebracht, auch hundert kleine und größere Freuden. Jetzt haben sie keine Freuden mehr zu bringen …

Der Maurermeister Klippel klagte, daß niemand mehr baue. Es getraut sich niemand mehr. Und der Kaufmann Luckschandl: »Meine Außenstände wachsen, – ich kann doch Leuten, die seit so vielen Jahren bei mir einkaufen, nicht sagen: Ich borg nichts! Und ich hab gedacht: das wird schon vorübergehen, die Krise in der Fabrik, und wenn die Leute wieder Arbeit haben, werden sie auch wieder zahlen. Aber jetzt schaut es doch aus, als käm das Werkel überhaupt nicht mehr in Gang! Was soll man denn tun? Man kann doch nicht zusehen, wie die Leut' hungern – alte gute Bekannte! Und ich kann aber doch auch nicht weiter und weiter borgen! Früher – da war Geld unter den Leuten! Sie haben's verdient und wieder ausgegeben. Leben und leben lassen! Aber jetzt! Jetzt kann bald keiner mehr leben!«

Klippel und Luckschandl erwarten kaum Rat und Trost von mir. Sie wollen sich nur einmal, wieder einmal, ihre Sorgen von der Seele reden. Es ist, als wäre jeder Mensch anlehnsamer geworden, mitteilungsbedürftiger, und als fielen nicht nur Wände zwischen Mensch und Mensch, sondern auch zwischen Gruppe und Gruppe in nichts zusammen. Als rückten alle, dem gleichen Druck von aussen folgend, näher aneinander.

Wir haben im Orte nicht mehr viel Selbständige. Ein paar Kaufleute, ein paar Handwerker. Sie haben alle von den Arbeitern und Angestellten der Fabrik gelebt, wie diese von der Fabrik gelebt haben. Und wie etwas ganz Selbstverständliches stand die Fabrik da, allen Arbeit und Nahrung gebend. Sie war nicht in den Ort gekommen, ohne zunächst Mißmut und allerlei Unbehagen zu erzeugen. Sie war eingebrochen in eine stille, in sich umgrenzte Welt, in die Ruhe und die überlieferten Gewohnheiten eines Bauerndorfes. Fremde Arbeiter waren gekommen und hatten den Boden aufgewühlt und gehackt und gegraben, und die Fremden waren im Dorfwirtshaus gesessen und hatten getrunken und gelärmt und sich so benommen, daß der Einheimische sich in die Ecke gedrückt fühlen mußte. Unruhe war in den Ort eingebrochen. Aber die Bauern hatten auch zu verdienen bekommen. Viel Fuhrarbeit gab es. Flußsand war heranzubringen, Steine und Ziegel waren zu fahren, und für die Arbeit wurde gut bezahlt. Wer Wagen und Pferde hatte oder ein Ochsengespann aufbieten konnte, verdiente in jenen Tagen ein schönes Stück Geld. Und der Sternwirt, der bis dahin nur eine kleine Dorfschenke besessen, legte damals den Grundstock zu seinem Vermögen. Die fremden Arbeiter gaben viel Geld aus, sie aßen und tranken bei ihm, ja, und in seinem Extrastüberl saßen die Ingenieure. Der Sternwirt, große Zukunftsmöglichkeiten witternd, stockte auf und baute an. – Aber als die fremden Erdarbeiter und Bauarbeiter, nachdem die Fabrik in die Höhe gewachsen war, wieder verschwanden, war man doch recht froh. Die hatten allzu viel Unruhe um sich verbreitet. Die Baracken, in denen sie gehaust, blieben stehen. Andere Arbeiter kamen, Glasarbeiter, die zunächst dort wohnen mußten, wo die Bauarbeiter genistet hatten. Aber sie sahen dieses Heim nur als vorläufiges an, suchten bald nach ordentlichen guten Wohnungen. Ja, und da gab es bald wieder zu verdienen. Der und jener konnte eine Wohnung vermieten. Hatten schon ein paar Bauern gut verdient beim Grundverkauf an die Fabrik, so verdienten jetzt andere, weil die Fabrik Wohnhäuser für ihre Beamten und Ingenieure baute. Und dann kamen allerlei Aenderungen innerhalb der Ortsbevölkerung. Schon immer hatte es selbstverständlich auch arme Leute gegeben, Kleinhäusler und solche, die nicht einmal eine Hütte besaßen, zur Miete wohnen mußten und also von keinem Teil voll genommen worden waren. Die waren in die Fremde auf Arbeit gegangen, etwa als Bauarbeiter bis hinein »ins Oesterreich« oder als Fabriksarbeiter hinüber nach Sachsen. Die Bauarbeiter waren viele Monate nicht daheim, die Sachsengänger kamen öfter, etwa über die großen Feiertage, zu ihren Familien zurück. Als die Fabrik stand und allmählich ins Arbeiten kam und nun täglich das ungewohnte Schrillen der Fabrikssirene über den Ort hinaus auf die Felder flog, wurden bald mehr und mehr Arbeiter gebraucht. Die Sachsengänger konnten im Orte bleiben, fanden Beschäftigung in der Fabrik, und waren dessen froh. Und bald verschmolzen sie mit den zugewanderten Glasarbeitern zu einer Einheit. – Neben der Fabrik wuchs die große Schlacken- und Aschenhalde, und die Bauern fluchten, wenn der Wind einmal tüchtig hineingriff und dann übermütig Staubwolken auf ihre Felder warf. Aber wenn sie daran dachten, daß die Fabrik den Großteil aller Ortssteuern trug, und daß viel Geld hereinkam und die Gemeinde wohlhabend wurde – und daß man sich auch als Bauer besser stand, seit die Fabrik in den Ort gekommen war, weil, um nur an eines zu denken, Arbeiter und Beamte mit Milch beliefert sein wollten und für sie gut zahlten, – da versank ihr Zorn und ihre Gesichter glätteten sich und um den Mund spielte ein zufriedenes Lächeln. Und es war ja auch ein anderes Leben im Ort als früher! Die Werksbeamten hatten den Gesangverein »Lyra« gegründet und zum Mittelpunkt ihrer Geselligkeit gemacht und der eine und der andere jüngere Bauer war in den Verein eingetreten. In jedem Herbste lud die »Lyra« zu einer Liedertafel und jeder Fasching sah sie als Veranstalterin eines Balles. – Die Arbeiter hatten ihren eigenen Gesangverein, der im Herbst zu einer Liedertafel lud, und im Feber gab es alljährlich, als gemeinsames Fest aller Arbeitervereine, den Glasarbeiterball.

Ja, es war viel lebendiger geworden im Orte, seit es die Fabrik gab. Und das Seltsame war, daß die große Umwandlung alle erfaßte und auf jeden wirkte und daß sie dem Leben aller einen Mittelpunkt gab, die große Fabrik, und somit allen etwas Gemeinsames, und doch die Menschen in verschiedene Kreise preßte, die einander zwar berührten, aber doch ebenso viele von einander geschiedene Welten waren. Dann die Gewerbetreibenden und Handwerker und Bauern fühlten sich zwar den Arbeitern verbunden, aber nicht mit ihnen gleich, und eher angezogen von dem Kreis der Beamten und ihrer Familien. Und diese wieder betrachteten sich als Gruppe, als Stand für sich, säuberlich abgegrenzt gegen die anderen. Sie wohnten abseits der anderen in den Beamtenhäusern, hatten Verkehr fast nur untereinander, die Frauen besuchten einander nachmittags zum Kaffee und die Männer kamen abends zu Kartengesellschaften zusammen. Manchmal gab es eine Fahrt nach Pilsen zu Theater- oder Konzertbesuch. Die großen festlichen Ereignisse waren die Herbstliedertafel und der Ball. – Auch ihre Liebes- und Eheaffairen führten nur selten jemanden aus diesem Kreise heraus, und dann war die Verurteilung allgemein. Nicht wegen eines kleinen Sprunges aus der Ehe, sondern aus dem Kreis.

Als bei uns die Zeitungen soviel über das amerikanische Wirtschaftswunder schrieben – ach, das war zu einer Zeit, da auch unsere Fabrik noch in vollem Gange war und noch jährlich siebentausend und sogar noch mehr als siebentausend Kisten, gewaltige Kisten besten Glases, in die Welt hinausschickte! – damals habe ich ein paar Bücher über Amerika gelesen. Und nichts hat mir so gefallen wie die Schilderung der gesellschaftlichen Sitten, die keine Unterschiede machen zwischen Arbeitern und Angestellten, großen und kleinen Angestellten. Ob es ganz so ist? Ob nicht doch auch drüben Besitz und Größe des Besitzes die Wertung des Menschen auch im gesellschaftlichen Verkehr bestimmt? Aber bei uns – da weiß es jeder, dessen Hände bei der Arbeit nicht schmutzig werden: »Zu was Besserem sind wir geboren!« – Ich auch! Ich, der Gemeindesekretär! Als etwas Besseres gelte ich drüben, im Kreise um die »Lyra«, als etwa der Vorsteher. Denn der ist Arbeiter in der Fabrik, ich aber Beamter! Mit abgeschlossener Mittelschulbildung! Daheim liegt mein Maturazeugnis! Meine Hände sind glatt und meine Fingernägel sauber. Wenn man meine Hände mit den verbrannten großen, derben Händen des Vorstehers vergleicht! Wie sollte man es verstehen, daß ich zwar die Liedertafel der »Lyra« besuchte, aber auch die des Arbeitergesangvereines und am ersten Mai mit den Arbeitern ging? Man hat sich sicherlich daran gewöhnt, daß mit mir »nichts anzufangen ist«, na ja, und es schließlich so erklärt, daß ich mich den Arbeitern anschließe, weil sie die Mehrheit in der Gemeindevertretung haben. Ganz verstanden hat man es nicht – ich bin doch längst schon fest angestellt, bin nicht mehr abhängig von den Arbeitern, brauche sie nicht mehr – und halte mich doch zu ihnen!

Man hat sich schließlich kaum noch um mich gekümmert …

Aber seit die Gerüchte von der Betriebsstilllegung nicht mehr verstummen wollen, sind auch die Beamten wieder unsicher geworden. Die große Unruhe ist auch in ihren Lebenskreis eingebrochen. Auch sie sind bedroht. Wird die Fabrik stillgelegt, dann wird ihr Schicksal das gleiche wie das der Arbeiter: sie werden arbeitslos. Mag sein, daß der eine oder der andere mit hinübergeholt wird in die große Fabrik in Nordwestböhmen. Keiner aber weiß, ob er einer dieser Glücklichen sein wird. So zittern alle in gleicher Angst wie die Arbeiter. In gleicher Angst! So wenig der Glasarbeiter hoffen kann, jemals wieder seinen Beruf ausüben zu dürfen, so wenig kann der Beamte damit rechnen. Alles wankt – mit dem Boden unter ihren Füßen, mit ihrer Existenz, die so fest begründet schien wie die der Fabrik, alles Zukunftsplanen. Da hat man einen Sohn an die Universität geschickt, eine Tochter ans Konservatorium, und weiß nun nicht, ob man die Kinder wird zu Ende studieren lassen können. Da hat man für eine Tochter Heiratspläne gesponnen – und muß nun fürchten, daß der als Gatte in Aussicht Genommene seine Stelle verliert wie der Vater. Da hat man sich so wohl, so schön daheim gefühlt in der netten behaglichen Wohnung – und jetzt wird man so rauh daran erinnert, daß das Haus der Fabrik gehört und man mit der Beschäftigung auch das Heim verlieren wird …

Wann je haben sich die Beamten und Techniker oder gar ihre Frauen mit den Arbeitern in einer Gemeinschaft verbunden gefühlt? Und jetzt erkennen sie, daß sie mit ihnen schicksalsverkettet sind, sie und die Handwerker und Händler und die Bauern, und mit ihnen die Bevölkerung der ganzen Umgebung. Unsichtbare, nur fühlbar gewesene Mauern bröckeln ab, da sich vor allen, alle gleichermaßen bedrohend, die schwarze Unheilswoge erhebt …

Der Oberbuchhalter Dornaus hat mit mir gesprochen, lange, seine Besorgnisse abbürdend, ohne doch Erleichterung zu gewinnen. Wäre doch geteiltes Leid halbes Leid! Auf so viele Hunderte ist es verteilt und ist doch für jeden ein ganzes Leid! Dornaus sagte mir, daß auch die Beamten nichts Genaues wüßten, daß allein die Direktion um das Schicksal der Fabrik wisse und von ihrem Wissen nichts preisgebe. Das freilich sei ihnen gut genug bekannt, wie sehr der Absatz ins Stocken geraten sei, und daß das Unternehmen mit der Rationalisierung sich selber getroffen.

»Sie war viel zu kostspielig, die Rationalisierung, sie ist unrentabel. Alles in zu großem Maßstab, verstehen Sie! Und dazu die kostspielige Verwaltung! Was die Herren Verwaltungsräte bekommen! Was da an Diäten drauf geht! Wenn man nur reden dürfte!«

*

Warum kümmerte ich mich um die kleine Biene?

Warum kümmere ich mich um die Arbeiter?

Lore hat, als ich zu ihr von meiner Angst um das Schicksal der vielen sprach, ein bißchen erstaunt gefragt:

»Warum kümmerst du dich so sehr um die Arbeiter?

Mir droht ja nicht das allgemeine Schicksal der Arbeitslosigkeit. Ich bin meiner Stellung sicher, sicher auch meiner Bezüge. Auch wenn die Maschinen in der Fabrik für immer ruhen, nicht mehr die großen quadratischen und rechteckigen Glasscheiben von harten und doch so vorsichtigen Händen in Kisten verpackt und auf Eisenbahnwagen verladen werden, auch wenn das breite Gittertor für immer geschlossen sein und Gras auf dem weiten Hof wachsen wird, braucht die Gemeinde einen beamteten Sekretär. Warum kümmere ich mich also so sehr um die Arbeiter, da doch mein Schicksal nicht das ihre ist?

Warum kümmerte ich mich um die kleine Biene?

Ich habe nicht darnach gefragt, nicht Nachforschungen nach meinen Gefühlsregungen angestellt, es war selbstverständlich, daß ich der Biene half, um deren Schicksal mir in jener Stunde so bange war wie um das eines lieben Menschen. Ich habe nie gefragt, nie in mir geforscht, warum ich mich um die Arbeiter kümmere. Aber nun, da Lore mich fragte, nun wird mir ganz bewußt, daß es wirklich Kummer um sie ist, der mich bewegt. Und warum?

Weil ich ein Arbeiterkind bin? Weil auch mein Vater bei der Arbeit drunten im Schacht rauhe, rissige, schwielige Hände bekommen hat? Weil er mit diesen Händen Kohle hackte für mich? Weil er so viel von seinem Lohn für mich verwendete, sich so viele kleine Genüsse versagte, um mich in die Schule schicken zu können? Aber es war doch der Traum und war später der Stolz meines Vaters, daß sein Bub etwas »Besseres« werden konnte als Arbeiter! Und es war der Stolz manches Schulkollegen, dessen Eltern Arbeiter waren, etwas »Besseres« geworden zu sein!

Warum also kümmere ich mich um die Arbeiter?

Es war einfach Selbstverständlichkeit für mich.

Ich fühlte: ich gehöre zu ihnen.

Aber ohne daß ich je mich zur Frage gezwungen gesehen hätte, zu dieser Frage an mich selber, warum ich, just ich, mich um die Arbeiter kümmere, habe ich doch ein wenig nachdenken gelernt – nicht über meine Stellung zu den Arbeitern, die mir so selbstverständlich war, aber über die Verbundenheit der Arbeiter mit den anderen Volksschichten, und ich verstand, daß das Schicksal unserer Industrie zum Volksschicksal werden kann. An der Peripherie so vieler unserer kleinen sudetendeutschen Städte stehen Fabriken. Glasfabriken, Metallfabriken, Textilfabriken, chemische Betriebe, Porzellanfabriken. Und rings umher in den Dörfern, die längst aus Bauerndörfern Arbeiterorte geworden sind, wohnen die Arbeiter. Und in vielen Tälern unserer Randgebirge stehen, längs der Wasserläufe, Fabriken – und manche haben sich sogar recht hoch oben eingewurzelt. Und in meiner nordwestböhmischen Heimat – ach, dort hat der Bergbau die Landschaft verändert, Ackerland in Wüste verwandelt, Wälder verschlungen, Schluchten in den Leib der Erde gerissen und neue Berge aufgetürmt. Aber er hat vielen tausend Menschen Arbeit gegeben.

Meine nordwestböhmische Heimat! Ich liebe sie – und doch hat mich manchmal ein Schauer gepackt, wenn ich auf einer ihrer Landstraßen dahinwanderte!

In einer kleinen Dorfschenke hatte ich, wandermüde, Rast gemacht. Ein Sonntagspätabend war es. Kartenspielende, biertrinkende, rauchende Männer saßen um schmierige Tische. Ein altes verblichenes Papier an der Wand, irgendeine Kundmachung. Eine zerbrochene Glasscheibe – ich erinnere mich an sie, weil sie einen Christuskopf zerschnitt, der aus dunklem Holzrahmen niederblickte. Ein schlechter Oeldruck. Und doch schien es mir, als starrten die großen Augen traurig jeden an, der in dem halbdunklen Raume hockte.

Ich zahlte und floh ins Freie.

Die heiseren Stimmen der Männer tönten mir nach, als ich weiterwanderte.

Rechts und links neben der Straße tiefe Löcher und Brüche.

Verwüstetes Land, so weit das Auge blickte. Hie und da tauchte ein Förderturm auf, eine Schachtanlage, ein kleines Dorf mit grauen Häusern. Denn auch sie sind grau, trübe, schwermütig im Kohlenland. Die Häuser und die Menschen.

Wie ein Wall erhob sich am Horizont das Erzgebirge und graue Wolken, schwere Regenwolken begannen sich darüber hereinzuwälzen. Die Sonne steckte als fahler Fleck hinter dem Wolkengrau.

Ich hörte Stimmen. Stimmen von Männern, die dort drüben nach dem Schacht gingen, zur Schicht. Männer in russigen, vielfach verflickten Kleidern. Ihre weißen Blechkannen blinkten.

Die Stämme der Bäume an der Straße – große dickästige Obstbäume – waren mit Kalk geweißt und trugen, gleich Trauerfloren, große schwarze Teerringe zum Schutz gegen das Ungeziefer.

Einsam und still war die Gegend. Tief unter der Erde, hunderte Meter tief, werkten die Bergarbeiter.

In der Ferne keuchte ein langer Lastzug über das Land.

Ich durchschritt ein kleines Dorf. Ein Arbeiterdorf. Vor den Haustüren tummelten sich Kinder. Blasse Mütter, Männer mit müden Gesichtern. Kein Baum im Dorf. Kein Gärtchen umsäumte ein Haus. Ungeputzte Hauswände, dunkle Fenster, dahinter dumpfe Stuben. Und ich wußte: hier werfen sich Menschen ermattet nieder zum Schlaf, hier spielen sie, kräftig fluchend, in ihren Freistunden Karten, – hier wohnen und leben und lieben sie – und vielleicht, o wahrscheinlich sitzt doch auch in der einen oder anderen dieser engen niedrigen Stuben ein junger Mann über einem Buch und sucht darin nach einer Schönheit, die ihm das Leben, sein Arbeitsleben, nicht schenkt …

Damals, ja, an jenem Spätabend, als ich durch das schwarze Dorf wanderte, damals habe ich mich, ich weiß nicht warum, ich könnte es nicht erklären, stark, so stark den Arbeitern verbunden gefühlt!

Ich war heuer im Sommer wieder daheim, wenige Tage nur. Und nicht anders als in meinen Jugendtagen und nicht anders als bei früheren Besuchen war die Landschaft. Und doch war so vieles anders geworden. Ja, das war es: weniger Schlote rauchten! Auch an Wochentagen bot ein Blick über das Land, von irgend einer Höhe aus, ein Bild wie sonst nur an Sonntagen. Nur von wenigen der vielen Fabriksschornsteinen stieg Qualm auf. Glasfabriken, Textilfabriken, Metallfabriken, die stillgelegt sind. In anderen wird nur an einigen Tagen gearbeitet. Und Feierschichten auf allen Schächten. Glasarbeiter, Textiler, Porzellanarbeiter, Schlosser und Dreher, die nichts zu tun haben. Die Geschäftsleute klagen.

Auf der Straße nach Teplitz hat mich ein Mann angesprochen, um eine Unterstützung gebeten. Während ich nach einem Geldstück suchte in meiner Börse, überlegend, wieviel ich geben solle und könne, schrie der Mann auf: »Jesses, das ist doch der Rieger!« – Ein Jugendbekannter, ein Mann in meinem Alter! »Was soll man denn tun! Ich hab zwei Kinder!«

Was soll man denn tun?

Ueberall das große Industriesterben, überall Arbeitslose! Und überall klagende Geschäftsleute und Handwerker. Und in aller Herzen Verzagtheit, Ratlosigkeit.

Ein alter Spruch fiel mir ein, ein oft gehörter: »Hat der Bauer Geld, hat's die ganze Welt.« Und wenn der Arbeiter keines hat? Wenn die Arbeiter nichts mehr verdienen?

Versinken immer mehr und mehr Arbeiter in Arbeitslosigkeit, in immer tiefere Not, dann wird ihre Not zur großen Not unseres ganzen Volkes!

Ich habe es Lore zu erklären versucht, so gut ich es eben verstand. Und ich habe ihr gesagt, daß ich nie der Meinung war, etwas anderes zu sein als ein Arbeiter. Daß ich einfach nicht anders könne – ich müsse mich um die Arbeiter kümmern.

Es mögen nicht meine Worte gewesen sein, die Lore rührten. Eher der Ton, in dem ich zu ihr sprach. Ich sprach wahrscheinlich so unbeholfen wie einst. Es ist nicht meine Art, viel zu reden. Es ist mir nicht gegeben, gut und lange zu sprechen. Ich werde verlegen, verhasple mich, verliere leicht den Zusammenhang. Aber vielleicht ahnte Lore, verspürte sie es, sagte es ihr ein Instinkt, daß ihre Frage mir weh getan.

»Aber dummer Junge, mußt doch nicht jedes Wort gleich so schwer nehmen! Weißt, es ist schon auch so: ich will, daß du dich viel um mich kümmerst, vor allem um mich! Mich sollst du lieb haben! Mich allein! Und mir allein sollst du gehören!«

*

Ich hatte in Pilsen zu tun. Und ich wollte meinen Besuch in Pilsen dazu benützen, nach einem Weihnachtsgeschenk für Lore zu suchen.

Meine Beine, gelenkt von unbewußten Gedanken, trugen mich zu den Schaufenstern der Buchhandlungen. Bücher! Ich weiß nichts Schöneres zu schenken!

Im großen Schaufenster einer Buchhandlung sind einige Bilder ausgestellt. Vorüberwandelnde bleiben gleich mir auf dem Gehsteig stehen, vertiefen sich in das Betrachten der Kunstwerke. Freilich, viel mehr Vorübergehende haben entweder überhaupt keine Zeit, stehen zu bleiben, oder werfen nur einen hastigen Blick den Bildern zu. Manchmal bleibt jemand stehen, schaut eine Minute, zuckt mit den Achseln und geht weiter. Kunstverständige, Kunstkritiker? Oder Gelangweilte, denen die Bilder nichts bedeuten? Auch Kinder bleiben vor den Bildern, gucken ein Weilchen nach ihnen, schauen nach dem Dargestellten, sehen nur die Dinge, wo andere Farbe und Stimmung sehen. Bald eilen sie wieder weg.

Ein Bild, das mich besonders erfreut, wird freilich anderen kaum gefallen. Es zeigt einen Tagbau. Und ich bilde mir ein, es sei just jener, in dem mein Vater so viele Jahre seines Lebens als Verdammter verbrachte, bei schwerer, lebensgefährlicher Arbeit. Ja, es kann nicht anders sein, es ist dieser Tagbau! Früher stand dort ein blühendes Dorf. Jetzt gähnt dort eine von Baggern aufgerissene, von tausend hackenden Hieben tiefer in die Tiefe getriebene Schlucht. Die kleine Kirche steht noch. Einige zerstörte Häuser ragen am Rande auf. Die Schule drüben wird eben abgerissen. Und dort, wo der Maler stand, um die Eigenart dieser Industrielandschaft zu erfassen, dort ist der Eingang und Abstieg zu dieser kleinen Hölle. Manchmal blieb ich, wenn ich meinem Vater das Geleite gegeben hatte, dort stehen, um den frischen Morgen mit seinen glutenden Lichtern auf mich wirken zu lassen. Auf den Gräsern blinkte Tau – und vor mir alles schwarz! Eine Lerche jubelte sich zum blauen Himmel empor – und an mir vorüber gingen schwarze Männer in die Tiefe! Lange, bevor ein Maler dorthin kam, um in der Enge von Lärm und Staub, inmitten von Abbruch und Zerstörung einer Idylle und der Aufklüftung der Erde und dem Legen von Schienen und dem Kreisen und Senken und Wiederaufsteigen der Bagger Schönheiten zu entdecken, ahnte ich, erfühlte ich hier Quellen der Schönheit, sah ich sie in dem Widerspruch des Neuen zum Alten, in der Veränderung der Landschaft, in der Arbeit der Menschen und der Maschinen. Nur daß ich nie mit Worten so sprechen konnte wie der Maler durch seine Farben. Und erst recht heute, nach so vielen Jahren, kann ich das mächtige Gefühl, das von all den toten und bewegten Dingen um mich her und von der grotesken Landschaft auf mich überging, nicht in Worte zwingen. Jede der wechselnden Beleuchtungen des Tages schuf andere Stimmungen. Anders war der Tagbau im Morgenlicht und anders, wenn er unter dem Schleier der Nacht mit seiner Umgebung zusammenzufließen schien zu einer einzigen dunklen Nacht. Anders war er an jenen wenigen Feiertagen, an denen die Arbeit völlig ruhte, auch die Maschinen ruhten, verloren die Hunte auf den schmalen Geleisen standen, und anders, wenn aus ihm das bunte Gemisch vieler Geräusche: Kreischen der Maschinen, Klirren der Hacken, Gespräch und Geschimpfe der Männer emporstieg.

Die im Lärm und Braus der Arbeit stehen, die murrend oder lachend hinuntersteigen zu neuer Schicht oder aufseufzend heraufkommen zu ersehnter Rast, ein wenig Kurzweil und ein Bißchen Liebe – sie werden von diesem Zauber nicht erfaßt. O ja, auch sie freuen sich eines Sonnentages! Auch sie lieben manchmal, froher gestimmt, die Augen, wenn Lerchentriller zu ihren Ohren drang. Aber es wirkte lächerlich, spräche man zu ihnen einmal von der eigenartigen Schönheit der Industrielandschaft, zu ihnen, die in dieser Landschaft arbeiten müssen, schmutzige, gefährliche – und schlecht entlohnte Arbeit leisten.

Ich habe mich oft über die Bergarbeiter gewundert, kaum sie richtig verstehen können, obwohl ich doch selber ein Bergarbeiterkind bin. Sie können so lange, so unendlich lange so vieles ertragen! In Zeiten bitterster Not eine Explosion – Trotz, Wut, Empörung, Streik. Und dann wieder ein Zurücksinken ins Gewohnte, die Welle revolutionärer Empörung verflutet in den Alltag mit seinen kleinen Erlebnissen und großen Sorgen. In zu wenigen geht die jäh aufgeflackerte Begeisterung in dauernde Glut über.

Ja, aber ist es denn bei anderen Arbeitern, anderen Berufsgruppen so viel anders?

Lange betrachtete ich das Bild. Wie goldene Funken stiegen mir Gedanken ins Bewußtsein, die mir erstanden in jener Zeit, da ich so oft diese Landschaft sah. In ihrer Dürftigkeit hatte ich nach Schönheiten gesucht und sie gefunden und damit den Weg zur Lebensfreude …

Plaudernde, lachende Damen und Herren streifen vorüber. Die meisten haben für das Bild kaum mehr als einen flüchtig darüber hinweggleitenden Blick. Welcher Einfall, so etwas Häßliches zu malen!

Gleich neben der Buchhandlung lockt ein Kaffeehaus. Wird die Türe geöffnet, so quillt Musik heraus, Tanzmusik, neue Schlager. Dort drinnen wird gescherzt und gelacht und geflirtet, werden ernste Gespräche geführt und Geschäfte abgeschlossen. Ich weiß schon, daß auch so mancher seine Sorge mitnimmt ins Kaffeehaus. Und doch – in mir steigt jäh der Gedanke auf, daß all das Geflüster und Gejauchze der Freude und alles fröhliche Lachen sich wandelte in einen einzigen wilden, klagend-anklagenden Schrei des Schmerzes, des Entsetzens und des Grauens, könnte man mit plötzlichem Griff die Insassen aller Kaffeehäuser und aller Vergnügungsorte des Landes hinwegreißen von den Klängen süßer Musik, von Spiel und Tanz, aus den Stunden genießerischen Tändelns, hinweg von den Tischen der Lebensfreude, und sie hineinstoßen in die dunklen Schlünde der Bergwerke, in die Gluthitze der Hochöfen, in die Ziegeleien und in den Lärm der Fabriken – oder hineinstellen in die Wohnungen der Arbeitslosen, in diese Wohnungen mit erkalteten Herden und leeren Speiseschränken! Welch ein Schreckensschrei würde die Welt durchgellen!

Kein Schrei erhebt sich – Musik, süße Musik strömt aus dem benachbarten Kaffeehause und ich stehe noch immer sinnend vor dem Bilde.

Wie es mich gepackt hat!

Ob ich hineingehe in den Laden und nach dem Preis frage? Ein Weihnachtsgeschenk für Lore!

Aber plötzlich fällt mir ein:

»Warum kümmerst du dich so sehr um die Arbeiter?«

Und ich verstehe: dieses Bild würde Lore nichts sagen, es würde ihr nichts sein.

Ginge Lore allein an diesem Schaufenster vorbei, so würde auch sie nur einen gleichgültigen Blick über das Bild wandern lassen, ihr Herz schon den lockenden Tönen der Musik öffnend.


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