Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.

Der Brief

Die alte Erlaucht hatte nach jenem ernsten Tage alsbald das gewohnte Gleichgewicht wiedergefunden und bewegte sich drinnen im Schloß und draußen bei mancherlei Anordnungen und Geschäften, die sie ihrer Aufsicht und Bestimmung nicht entziehn ließ, in herkömmlich freundlicher und zutrauenerweckender Weise. Sie war, wie sie selbst gesagt hatte, mit diesen furchtbaren Ereignissen ihrer Jugend zu vertraut geworden, um nicht mit einer gewissen ernsten Ruhe und Fassung daran denken, ja im Nothfall selbst davon reden zu können; und andrerseits hatte sie ein so langes, bewegtes und oft schweres Leben durchlebt und die Forderungen, die es nicht nur an den Menschen überhaupt, sondern auch an sie persönlich und ins Besondere stellte, so gut begriffen, daß sie wohl einsah, wie weise der Schöpfer auch dies eingerichtet, wie gleichmäßig und gerecht sowohl das Hinleben, als auch das ganze innere und eigene Wesen des Menschen an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vertheilt, man möchte sagen, darauf gegründet sei. Für den, der es richtig erfaßt, kompensirt sich das alles aufs vollständigste, läßt ihn die rechte Lebensruhe und Klarheit erlangen und jeder Zeit ihr volles Recht gewähren. Die alte Dame gestand weder der Erinnerung, noch dem Hoffen und Erwarten mehr Raum zu, als das geschäftige Leben des Tags hier übrig ließ, dort bedurfte, um nicht rein materiell und kalt zu werden. Sie ließ das alles wohl einander tragen, aber nicht Eins durch das Andere beherrschen.

Bei den jungen Leuten, welche diese Erinnerungen der Gräfin gehört und, als ein neues, beinah gegenwärtiges Leid in sich aufgenommen hatten, war es damit freilich etwas Anderes, und es verging mehr als ein Tag, bevor sie auch nur den ersten Eindruck, geschweige denn die volle Erschütterung überwunden hatten und sich wieder unbefangen und heiter dem Leben des Tags hingeben mochten. Nachhaltiger als Gerhard schien jedoch keiner von allen durch die Mittheilungen der Gräfin berührt worden zu sein, wie sie denn freilich auch keinen von allen näher angingen als ihn.

Seine Kenntnis früherer Zustände war bisher fast nur aus den sehr dürftigen Nachrichten geschöpft, die bald Hubert, bald der frühere Forstmeister, in dessen Familie er erzogen war, auf des Knaben und Jünglings Fragen zu geben für gut und genügend gehalten. Theils mochten beide Männer von diesen Dingen nicht viel reden, theils durften sie es nicht. Und überdies gehörte der alte Forstmeister zu denen, die mit Rolof niemals auf einem guten Fuß gestanden. Daher wußte Gerhard von seinen Eltern kaum etwas mehr, als daß sein Vater nach seiner Niederlassung zum Grafen in irgend ein Dienstverhältnis getreten und mit ihm so vertraut geworden sei, wie es zwischen Herrn und Diener im langjährigen Verkehr zuweilen möglich ist; endlich, daß Rolof bald nach Gerhards Geburt im Walde durch Marodeurs oder Wilddiebe zu Tode gekommen, und daß seine Mutter in Folge des Schrecks über diesen Fall gleichfalls gestorben sei. Denn ein versiegeltes Papier, welches Rolof, in der unruhigen Zeit an seinen Tod denkend, seiner Frau, und diese auf ihrem Sterbebett dem alten Hubert zum Aufheben für ihr Kind gegeben, enthielt, da Gerhard es vor seinem Abgang zur Akademie empfing, nur einen Nachweis über Rolofs kleines Vermögen und einige Notizen aus seiner Jugendzeit, kein Wort aber über sein späteres Leben und seine damaligen Verhältnisse. So wußte Gerhard von der Jugend seines Vaters freilich mehr als die Uebrigen. Dem ausdrücklichen schriftlich hinzugefügten Verbot gemäß, hatte er diese Kunde aber gegen jedermann verschwiegen.

Nun hatte er denn freilich Anderes und Richtigeres erfahren, das Verhältnis zwischen den beiden Männern nicht nur, sondern auch das zwischen dem originellen Fremdling und der ganzen Familie erschien in einem bei weitem andern Licht, und außer dem Bilde des Vaters, welches die alte Erlaucht an jenem Morgen aus dem Lindenhof fortgenommen und in der Gallerie unter dem Bilde des Grafen Wolf Christoph hatte aufhängen lassen, erwuchs im Innern des Sohns aus den einzelnen mitgetheilten Zügen Gestalt und Wesen des wilden und doch so tüchtigen Mannes zum erstenmal zu voller Deutlichkeit und Wahrheit. Das alles war denn wohl geeignet, den Sohn bis ins Innerste zu bewegen, ihn ernst darnach streben zu lassen, daß die einzelnen Züge sich zu einem Ganzen zusammenzögen, Halt und Leben gewännen. Allein er zeigte sich niedergedrückter, trauriger und schweigsamer, als es eigentlich hiedurch zu erklären war, und als die alte Erlaucht bei einem ihrer Revidirritte ihn in der Ferne finster und sinnend durch eine Allee schreiten sah und theilnehmend bemerkte: »ein braver Junge! Den hat's aber mehr gepackt, als ich geglaubt. Er sollte sich ja eigentlich seines Vaters freuen!« – da antwortete ihr steter Begleiter, Hubert, kopfschüttelnd: »es ist auch noch was Anderes, Erlaucht, und von länger her.« – »Was denn, Hubert?« fragte die alte Dame verwundert. – »Weiß nicht, Erlaucht. Aber es ist was,« erwiderte der Leibjäger lakonisch. Und ähnlich schienen auch noch Andere zu denken, denn Hugo wenigstens betrachtete den sonst so muntern Genossen oft mit heimlichem Kopfschütteln und flüchtigen, verstohlenen, halb zweifelhaften, halb nachdenklichen Blicken.

Am stillen, grauen Morgen ging Gerhard einsam durch den Park, um sich auf den kleinen runden Platz am äußersten Ende desselben zu begeben, wo er der Verabredung gemäß mit Hugo zusammentreffen wollte. Zu der kleinen Jagdstreiferei, die sie vorhatten, war das Wetter so günstig wie möglich, eine kühle, ruhige, nebelfreie Luft, ein leichter Frost, der Feld und Wald wieder gangbar gemacht, und eine dichte, am vorigen Abend erneuerte Schneedecke, welche Paß und Wechsel des Wildes auf's deutlichste sichtbar machte.

Der junge Beamte ging stumm und ziemlich langsam die Allee entlang, welche den Park von Süden nach Norden durchschnitt, und sah nur zuweilen auf, um den Hühnerhund heranzurufen, der noch jung und flüchtig, sich wenig um den Herrn kümmerte und lustig durch die zu beiden Seiten sich hinziehenden Busch- und Waldpartieen revierte. Allein plötzlich blieb er stehn und sah aufmerksam vor sich hin, wo ein früherer Wanderer die Allee gekreuzt hatte; es war eine vollkommen ausgetretene Spur und zwar von dem Fuß einer Dame. Gerhard sah mit einem plötzlich hell gewordenen Blick auf und aufmerksam nach vorn und zurück und durch den ziemlich laublosen, lichten Wald. Bald aber schaute er wieder auf die Spur hinab und murmelte, indem ein trübes Lächeln über sein Gesicht glitt, leise vor sich hin: »nichts! – Zu fest! – Wohl die Kaufberg.« Dann ging er gesenkten Hauptes weiter, blieb jedoch nach einigen Schritten stehn, sah sich wieder um, murmelte: »was thut's am Ende?« – und schritt entschlossen zurück und dann der Spur nach auf einem schmalen Seitenwege in das Gebüsch. Nach einer kleinen Weile wandte er sich wieder in einen breitern Pfad und im nächsten Augenblick trat er wie überrascht einen Schritt zurück, blieb stehn und sagte mit dem Ausdruck der Verwunderung: »Ah, – Comteß Margot?« –

Sie stand allerdings nahe vor ihm, noch näher als damals, wo er sie mit Diana in der großen Allee getroffen, und sie mochte sehr überrascht oder erschrocken sein, denn ihr Gesicht war von glühender Röthe übergossen, und nicht nur ihre Gestalt, sondern auch ihre Stimme zitterte, als sie leise sagte: »Gerhard!« – Sein Blick lag ernst auf ihr, fast düster, und der Ton war bitter, mit dem er erst nach einer Pause gedämpft erwiderte: »das ist ein großes Wunder, Comteß Margot – Zufall oder Gnade?« – Sie sah langsam zu ihm auf mit einem sanften, trüben Blick, und in ihrem Auge glänzte eine Thräne. »Habe ich das verdient, Gerhard?« fragte sie mit leisem Vorwurf. – »Sind Sie allein?« lautete seine Gegenfrage; zugleich wandte er den Kopf und schaute finster nach allen Seiten umher. – »Ganz allein,« entgegnete sie. – »Und ist das kein Wunder?« sprach er hart und bitter. – »Beinah vierzehn Tage bin ich wieder hier, und noch nicht einmal habe ich Sie allein gesehn – nicht ein einzigmal war das möglich! Nicht ein Händedruck – nicht ein Wort – weiß ich denn, ob nur einmal ein Blick, der wirklich mir galt?« –

»Sie sind furchtbar – furchtbar hart!« sagte sie leise nach einer Weile, ohne aufzusehn; aber mit tiefer Bitterkeit versetzte er: »wissen Sie, was mich hätte weich machen können? Ich – nichts!« Und da sie schwieg, setzte er nach einer Pause hinzu: »nun Margot – und heut? Wie kommt uns dies Begegnen?« – Sie schlug die Augen zu ihm auf und antwortete wieder mit leiser, weicher Stimme: »Ich sah Sie vorhin durch den Lehnhof gehn und wußte von Hugo, daß ihr auf die Jagd wolltet. Ich dachte – ich könnte Ihnen begegnen. Ich habe mich so sehr nach Ihnen gesehnt, Gerhard! – So sehr nach einem Wort von Ihnen!« Und bei ihren Worten glitt Thräne auf Thräne langsam über ihre blassen Wangen.

Da war's, als ob alle Härte und Bitterkeit plötzlich von ihm wiche, er legte beide Arme um das Mädchen und zog ihren Kopf an seine Brust, und während die Thränen in seine Augen drangen, sprach er dumpf: »verzeihen Sie mir, Margot! Verzeihen Sie mir! Aber sehn Sie – ich habe nicht mehr so leben können, und mir war zu Muth, als ginge die Welt umher unter. Ich fühl's immer mehr – ich bin nichts ohne Sie! Und wie es werden soll, vermag ich nicht zu fassen.«

Sie hob den Kopf auf und sah ihm innig in die Augen. »Glauben Sie nicht mehr an Ihre Margot?« fragte sie mit sanfter Stimme. – Er preßte heftig den kleinen Kopf an sein Herz. »Was bliebe mir dann?« rief er; »aber was hilft mir alles Glauben und Vertrauen, wenn es so fortgehn soll – so unerträglich!« setzte er heftig hinzu und ließ sie aus seinen Armen. – Sie sah wieder zu ihm auf und schüttelte mit einem leichten Lächeln ein wenig das Haupt, dann legte sie beide Hände auf seine Schultern, und erwiderte: »Gerhard, Gerhard! Wilder Mann! Haben Sie doch Geduld! Haben Sie doch Nachsicht! Es geht doch nicht anders,« fuhr sie fort und lehnte sich wieder an ihn, indem sie ihren rechten Arm aber auf seiner Schulter ruhen ließ. »Ich bin weniger allein als je, wir müssen uns begnügen, Gerhard! Und ist denn das so schwer, Sie theurer Mann?« fügte sie innig hinzu. »Sehn wir uns nicht? Hören wir uns nicht? Ist nicht unsere Liebe immer in Ihnen und mir, und unser volles Vertrauen? – Aber wenn ich Sie so finster, so traurig, so gedrückt sehe, wie in den letzten Tagen, da –«

Sie schwieg, plötzlich zusammen- und aufschreckend, denn eine Stimme nahe bei ihnen sagte leise: »Vorsicht! – Rasch! – Man kommt!« und bevor sie sich noch umsehn konnten, ging Hugo im schnellen, leichten Schritt, ohne aufzuschauen, an ihnen vorüber und quer über den Pfad in den nächsten Seitenweg.– Sie wechselten noch einen Blick, einen Händedruck; dann folgte Gerhard eilig dem Vorausgehenden und hatte ihn, da er im Gebüsch stehn geblieben, nach wenigen Schritten erreicht. Im selben Augenblick lachte hinter ihnen im nahen, aber nicht mehr sichtbaren Pfade Diana's spöttische Stimme: »ei, ei, Margaritta! Einsam – bin ich nicht alleine?« – Und Margarethe versetzte gleichfalls lachend: »also darum flog Hugo wie ein gescheuchtes Wild vorüber! – Armer Knabe! – Er flieht den Zauber der Nixe – aber was hilft es ihm!«

»Weiber! Weiber!« murmelte der junge Graf, mit Mühe das Lachen verbeißend, packte krampfhaft Gerhard's Arm und zog den bestürzten Genossen rasch und leise mit sich fort. Erst auf dem runden Platz, den sie bald erreichten, pfiffen sie über ihre Hunde, und als sich dieselben eingefunden, gingen sie stumm in's Feld hinaus, dem nächsten Waldsaum zu.

Sie waren schon im Walde ein gut Stück noch immer stumm oder nur ein paar gleichgültige Worte tauschend, fortgeschritten und hatten mit verstohlenen Blicken mehr als einmal einander gestreift, als wollten sie errathen, was Einer vom Andern zu denken und zu erwarten habe. Da trafen diese Blicke zufällig aufeinander und zugleich blieb Hugo stehn, ließ die Flinte von der Schulter und mit dem Kolben auf das schneebestreute Laub sinken und sagte mit festem Blick und ruhiger Stimme: »nun, Gerhard, was denken Sie eigentlich bei dem allen?« – Der Forstmeister sah den jungen Mann einen Augenblick ernst prüfend an. »Ja, Graf Hugo,« versetzte er dann, »darnach möchte ich lieber Sie fragen.«

Hugo brach in ein helles Gelächter aus. »Ich?« rief er lustig den Kopf schüttelnd, »ich? Nun, ich denke, daß ihr beide vor allen Dingen wenigstens vorsichtiger sein könntet und eure Liebesnoth nicht aller Welt vor's Gesicht zu halten und jedermann zu erzählen brauchtet.« – Und als Gerhard heftig ausbrach: »bei Gott, Graf Hugo –!« – da legte er die Hand auf des Aufgeregten Schulter und fuhr ernster fort: »ja, so mein' ich's allerdings, Gerhard, mögen Sie darüber zürnen wollen oder nicht. Glauben Sie, daß ich eben erst die Entdeckung machte und mit unmenschlicher Bonhomie und Geistesgegenwart gleich auch in die warnenden Worte ausbrach? Ganz so ist es nicht, und hätte ich die Sache nicht schon seit manchen Tagen begriffen, so möchte ich kaum in solcher Weise an euch vorbeigegangen sein.« – »Aber wie war es möglich, daß Sie es merkten?« fragte Gerhard nach einer Pause tief aufathmend und erhob den gesenkten Kopf. »Hab' ich es doch selbst kaum noch gemerkt!« setzte er bitter hinzu.

Hugo lächelte. »Hören Sie, alter Freund,« sprach er und faßte und drückte des Andern Hand, »vor allen Dingen muß aus unserm Gespräch jede Gereiztheit heraus. Seien Sie vernünftig, Gerhard, und begreifen Sie, daß ich euch beiden in keiner Weise übelwill. Ich habe Gretchen von Herzen lieb und will, daß es ihr wohl geht; wie ich Sie von früher Jugend her ansehe, das wissen Sie, das beweis' ich Ihnen noch alle Tage. – Sie fragen mich, wie eine Entdeckung möglich gewesen?« sprach er weiter; »ich möchte entgegenfragen: wie ist es möglich, daß euer Geheimniß noch Geheimniß bleibt, daß nicht zumal die Erlaucht es entdeckt? Euer Wesen predigt es in alle Welt hinaus, können Sie mir glauben. Und daß wenigstens die Seejungfer und Hubert davon wissen, das möchte ich beschwören.«

Gerhard versetzte kein Wort; finster und gesenkten Hauptes ging er an der Seite des Freundes durch den Wald, und selbst als dieser jetzt nochmals fragte: »wie denken Sie sich nun die Sache, Gerhard?« – hatte er keine Antwort.

»Ich verstehe Sie,« fing Hugo nach einigen Schritten wieder an. »Es mag ein verdammt unbehaglicher Zustand sein, in dem ihr seid, und was heut Morgen passirte, wird euch wie ein Donnerschlag getroffen haben. Aber – ich bin ein lustiger Gesell und halte es nicht mit dem vielen Nachdenken – aber das sehe ich ohne Nachdenken ein, daß ihr über kurz oder lang auf solchen Donnerschlag gefaßt sein mußtet. Und nun, alter Freund, lassen Sie uns das Ding offen besprechen, wir brechen der Quälerei dadurch die Spitze ab. Also – mitzureden haben bei der Sache nur zwei, die alte Großmama und mein Vater; die andere Verwandtschaft geht euch nichts an. Was die Erlaucht sagen wird, weiß ich nicht; sie ist ja in solchen Dingen unberechenbar. Meinen Vater habt ihr sicher gegen euch; und das ist schlimm, denn er hat ebensoviel und mehr zu sagen als die Großmutter. Dann ist da auch noch die Seejungfer – Gretchen steht leider sehr unter ihrer Herrschaft!« Und als er Gerhard die Stirn zusammenziehn, aber ein wenig verächtlich das Haupt aufwerfen sah, setzte er lachend hinzu: »ei Gerhard, mich würde das am meisten inkommodiren. Mit der Freundin reden Mädchen vertraulicher und eingehender als mit Großmutter und Onkel. Die beiden Mädchen hängen an einander wie Kletten, und Diana – das beschwör' ich! – hat alle Teufelei und Zauberei der Welt im Leibe! – Doch genug, wir wollen nicht scherzen,« fuhr er fort. »Also, es soll alles gut gehn. Aber was dann, Freund? In Ihrer Stellung können Sie dann nicht bleiben, und Gretchen hat, wie Sie wohl wissen, ziemlich so viel Vermögen, wie Sie – gar nichts. Die lumpigen hunderttausend Gulden, die sie etwa als Erbtheilsrest ihrer Mutter und aus den Ersparnissen der Großmutter erhält, mögen eine arme Familie reich machen; aber für euch und für die Ansprüche, die meine Cousine machen kann und muß, sind sie gar nichts. Dabei kann man nicht leben, nicht sterben.« – Gerhard neigte finster und zustimmend das Haupt und schritt noch eine ganze Weile stumm neben dem Freunde her.

Endlich blieb er stehn und faßte Hugo's Hand. »Ich danke Ihnen, daß Sie so mit mir sprechen, Hugo,« sagte er. »Sie haben recht, es macht leichter; und das that Noth, es war nicht mehr zu ertragen. Sehn Sie,« sprach er weiter und schüttelte mit trübem Lächeln den Kopf, »es ist kein Wort in Ihrer Rede, das ich mir nicht schon hundertmal selbst gesagt habe. Ich weiß und fühle das alles und noch unendlich viel mehr bis in's Herz. Ich weiß, was diese Liebe für uns beide Ungehöriges hat, was für Widerstand ihrer wartet, wie sie gescholten werden wird, wie gänzlich – gänzlich aussichtslos sie ist. Und wir ringen ja darum auch dagegen an, wie wir können. Geben Sie mir, wohin ich ausweichen, wohin ich, ohne Margot zu kompromittiren, ohne meine Ehre zu verletzen, entkommen kann – und ich scheide augenblicklich. – Es ist ein feiger Wunsch,« setzte er hinzu, indem er langsam weiter schritt, »aber man kommt darauf. – Oft möchte ich todt sein, um sie von dieser Qual frei zu machen, und selbst davon frei zu werden.«

Hugo blieb stehn und warf den Kopf auf; die Brauen hatten sich zusammengezogen und die Augen blitzten eigenthümlich. »Allerdings,« sagte er, »das ist ein seltsamer Wunsch für – Sie. Mir däucht, so was sollte man nicht aussprechen, sondern thun. Die That mag sein, wie sie will, – die Worte sind –.« – »Was?« fragte Gerhard ernst und ruhig dazwischen. – Hugo lenkte ein: »Ihrer nicht würdig, Gerhard, – sie sind miserabel. Das ist das Wort. Lassen Sie mich ausreden,« setzte er entschlossen hinzu, als Gerhard zornig aufblickte, »ich habe ein Recht dazu. Sie wissen, für Sie thu' ich nichts in dieser Sache, so lange ich Sie auch kenne, so lieb ich stets Sie hatte. Für Sie ebensowenig, wie für einen Andern, Gerhard; alles nur für meine Cousine. Wen Margarethe erwählt, gegen den sage ich kein Wort, so lange ich ihn für ihrer werth halte; Margarethe ist ein hoher Preis und will verdient sein, – ernst verdient! Zum Spiel ist sie zu gut, zum Zeitvertreib ist sie nicht da. Und wer sie aufgeben kann, wenn er doch ihre Liebe einmal errungen – wie nennen Sie den, Gerhard?« – »Sind Sie fertig, Graf Hugo?« fragte Gerhard nach einer Pause. – »Ja, Gerhard! Das wollte ich sagen,« gab der Graf ruhig zur Antwort.

»Sie haben harte Worte geredet,« sprach der Forstmeister, »und wenn ich nicht Ihr Recht als Verwandter anerkennen und nicht einsehn müßte, daß ich selbst daran schuld bin – so würde ich anders darauf antworten. Warum sage ich auch etwas, was Sie nicht verstehn können, ohne daß ich's zugleich erkläre! – Sie kennen mich schon lange Zeit, Herr Graf, und wissen, wie ich im, wie ich zum Hause Ihrer Verwandten von jeher stand und stehe: Sie können glauben, ich kenne meine Stellung, meine Pflichten, meine Verbindlichkeiten selbst auf das genaueste, und sie werden erfüllt werden. – Ich liebe Margot von Kindheit an,« fuhr er aufathmend fort, »das weiß alle Welt; die kleine Comteß ist von jeher mein Augapfel gewesen. Als sie vor anderthalb Jahren aus dem Kloster zurückkam, da fühlte ich diese Liebe in noch erhöhtem Maße, sie ward eine andere, sie füllte mein ganzes Wesen. Aber ich kannte meine Stellung, Herr Graf: ich beherrschte mich, wie ich konnte, ich floh jede Aeußerung meines Gefühls, jede Andeutung. Ich konnte nicht wissen, nicht wähnen, daß in Margot etwas Aehnliches herrsche. – Aber da kam ein Augenblick, – das Weitere ist überflüssig – wo wir uns beide verriethen, beide, Herr Graf! Es geschah, absichtslos – und als das Wort heraus war, brachte es uns kein volles, reiches, unsägliches Glück – o nein! Es war nur ein ernstes, banges – ein trauriges. Denn es blieb mir, als wir nach dem ersten Rausche schieden und ich allein war, keinen Augenblick verborgen, daß in den wenigen Minuten für uns die Liebe zugleich mit der Entsagung aufgegangen sei, daß unsere Liebe aussichtslos. – Margot sieht das nicht,« sprach er weiter und schüttelte mit finsterm Lächeln den Kopf. »Sie liebt nur – sie denkt und rechnet nicht; und das soll auch wohl so sein. Das macht mich glücklich und das macht mich elend. Sie ist nicht zu der Einwilligung zu bewegen, daß ich fortgehe. Sie will das alles nicht als Traum gelten lassen; sie sagt, es sei das Leben. Und sie hat recht, das ist's!«

Er schwieg, pfiff dem Hunde und streichelte ihn, als er heransprang, zerstreut über den glatten Kopf. Dann ging er stumm auf dem schmalen Steige weiter, und Hugo folgte ebenso, schweigend und gedankenvoll. Erst nach einer ganzen Weile fing Gerhard wieder an. »Nun rechnen Sie, wie ich stehe,« sagte er. »Daß ich den Dienst des Hauses nicht verlassen kann, ohne grenzenlos undankbar zu sein, das ist klar. Daß mich die Erlaucht nicht nach Willsburg hinüberläßt, ohne Erklärungen zu fordern – das wissen Sie, und daß sie zu klug ist, um sich mit einer andern als der richtigen zu begnügen, das wissen Sie auch. Und wenn ich dennoch durchdringen wollte – so oder so – Margot will nicht. Sie will nicht entsagen, sie will mich nicht entbehren, sie will sich zu keiner Entdeckung verstehn. Sie hofft – ich weiß nicht was. Sehn Sie, Graf Hugo,« fuhr er aufgeregt fort und blieb stehn, »ich liebe sie wie mein Herzblut! Ich fühle es, daß ich nicht leben kann ohne sie, und weiß doch, daß es so kommen wird und muß. – Ich habe nie – schütteln Sie nicht den Kopf! – nie nach ihrer Liebe gestrebt, weil ich von je wußte und fühlte, daß es nicht recht sei, daß es zu keinem guten Ende führen könne. Und nun, da ich sie doch habe, da ich alles noch klarer, noch besser einsehe als sonst – nun kann ich sie nicht aufgeben! – Ich weiß wohl, wohin das alles führen wird,« schloß er finster und nahm die herabgesunkene Flinte wieder auf. »Ich muß davon – mit oder ohne Aufklärung, gleichviel. So geht's nicht.«

Hugo hatte ihm schweigend zugehört und nur zuweilen, als verstehe er den Redner nicht, oder stimme nicht mit ihm überein, leise den Kopf geschüttelt. Er war indessen nicht sentimental genug, um zu dem Forstmeister zu sagen: »wenn Sie so schwanken, so denken, lieben Sie meine Cousine nicht!« – und er fühlte auch, daß die Zeit des Erörterns für jetzt vorüber und Gerhard's Stimmung ihn zu allem andern eher aufgelegt machte. Er sagte daher, indem er des Freundes Hand faßte, nur ernst und freundlich: »ich sehe ein, Sie sind da in einer, für einen Mann von Ehre qualvollen Lage, zumal weil das Warten, das Nichtsthun darin eine Hauptrolle spielt. Aber weil sie ein Mann von Ehre und Verstand sind, so müssen Sie auch einsehn, daß mit dem einfachen Davongehn nichts gethan, wenigstens nichts gebessert ist. Wie ich Gretchen kenne und wie Sie das Kind mir auch hier schildern, bräche ihr darüber das Herz. Das soll und darf nicht sein! – Es muß sich ein Ausweg finden lassen. Ich bin noch im Leben nicht verzagt und thue es auch hier nicht.«

Gerhard lächelte trübe. »Wollte Gott,« meinte er, »ich könnte auch noch so sagen, wie ich es ja so lange gethan.« – »Nun, Sie wissen jetzt, ich stehe treu zu euch beiden,« versetzte Hugo. »Es müßte doch mit dem Kukuk zugehn, wenn zwei verständige und dreiste Menschenkinder nicht zum Ziel kämen, das sie sich vorgesetzt, mag es auch noch so fern, und der Weg für jetzt noch so unklar sein.« – »Sie vergessen Margot dabei,« bemerkte Gerhard mit leisem Kopfschütteln. – »O nein, mein Freund!« rief er munter aus. »Aber wißt ihr, was euch beiden fehlt? – Das ist ein wenig Kampf und Drang. Ihr seid zu schnell und leicht euer eigen geworden, euer eigen geblieben! Margarethe mühte nur einmal aus der Noth ihrer Träumerei in die des wirklichen Lebens, wo sie einmal wollen, einmal streiten müßte für ihr Gefühl. Und Ihnen, Schatz, Ihnen fehlt ein Nebenbuhler, aber ein rechter! Da würden Ihre Fluchtpläne und alle Ihre hochlöblichen Gedanken von Entsagung bald auf eine ganz andere, thatenvolle Bahn kommen.«

»Sie mögen recht haben,« entgegnete der Andere nachdenklich. »Aber nun genug von diesen traurigen Dingen,« setzte er hinzu. »Sie haben schon zu lange gewährt, und ein Gespräch darüber kann doch nicht zur rechten Beruhigung und Aufklärung führen. Denn es gibt hierbei keine. – Wir sind an Ort und Stelle für unser bischen Jagd. Attention, Nimrod! Aufgepaßt, Luna! Hierher! – Und nun kein Wort mehr! Nur um Eins bitt' ich – sagen Sie Margot ein tröstlich Wort, und stehn Sie ihr treulich zur Seite.« – Hugo lachte und schüttelte die dargebotene Hand des Freundes. »Das ist nichts für mich,« sagte er, »darauf versteh' ich mich nicht. Aber ich will was Besseres thun und die Seejungfer vornehmen, sie ein wenig ausholen, was sie etwa ahnt, und sie von eurer Fährte bringen. Das paßt mir! – Also, Freund Gerhard, Vorsicht, Geduld und Vertrauen zu mir! – Und nun voran! – Beim lebendigen Gott, da gehn sie wieder hin! Daß wir auch die verdammten Hunde bei uns haben müssen!« Und beide brachen so schnell wie möglich durch die Büsche, um vor dem flüchtig gewordenen Wilde den Wechsel desselben zu erreichen.

Beide waren eifrige Jäger genug, um vor der erwachten Jagdlust einstweilen alles übrige zu vergessen, und die Jagd ist eine Beschäftigung, die wie keine andere geeignet ist, den Geist zu erfrischen und zu kräftigen, von trüben Gedanken und Vorstellungen abzuziehen. Luft und Aufregung, Bewegung, und körperliche Ermüdung, alles wirkt zu diesem Erfolge zusammen und führt ihn fast sicher herbei, und als sie gegen die Dämmerung wieder nach Schloß Königshofen zurückkehrten, waren sie nicht nur mit der Jagd zufrieden, sondern auch müde und hungerig, so daß sie sich in bequemer Kleidung und vor dem wohlbesetzten Tisch in der Wohnung des Forstmeisters überaus behaglich fühlten. Bei ihrem Plaudern konnte es nicht ausbleiben, daß sie auch auf das am Morgen Verhandelte zurückkamen. Aber Gerhard sah die Sachlage jetzt viel ruhiger an und schaute, durch die Heiterkeit und Sorglosigkeit seines Genossen angeregt, gleichfalls mit Vertrauen und einer gewissen Sicherheit in die Zukunft.

Inzwischen war es spät geworden, Gerhard setzte sich zu einer drängenden Arbeit, und Hugo eilte sich umzukleiden, um noch zur rechten Zeit bei der Großtante erscheinen zu können, wo sich um diese Stunde die Gesellschaft regelmäßig zum Thee versammelte. Denn so viel Freiheit Gräfin Charlotte ihrer Familie und ihren Gästen auch gestattete, und es den Männern zum Beispiel gern nachsah, wenn sie zur Jagdzeit das Diner versäumten, so streng hielt sie, zumal in der schlechtern Jahrszeit, auf diese Theestunde und konnte lange mit dem zürnen, der sich davon ausschloß. Und es war in der That auch niemand, dem diese Ruhe- und Plauderzeit nicht lieb gewesen.

Indessen schien Hugo heut sich in der Zeit getäuscht zu haben, denn der kleine Salon war, als er eintrat, zwar warm und hell wie immer, allein noch leer, und der Kammerdiener ordnete eben das Service auf dem Nebentische und zündete die dort befindliche Lampe an. Der Graf nahm daher in einem der Lehnsessel Platz, die sich in alterthümlicher, aber höchst bequemer Façon um den runden Theetisch reihten, und nachdem er die große Lampe, welche darüber hing, höher gegen die Zimmerdecke geschoben, sah er sich mit all dem Behagen um, welches der schöne Saal in jedem seiner Besucher hervorrief und nährte. Es war in der That ein reizendes Gemach, und wenn seine Einrichtung auch aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts stammen mochte, so zeigte sie sich doch in einer gediegenen und geschmackvollen Pracht und zugleich in einer Bequemlichkeit und Behaglichkeit, wie man es zu unserer Zeit kaum noch erreichen kann. Die Wände waren bis zu einem Drittheil ihrer Höhe mit verschiedenen Holzarten in zierlichen Mustern getäfelt, der Plafond reich und heiter gemalt, und der Wandraum zwischen diesem und dem Täfelwerk mit prachtvollen Tapeten bedeckt, die sich bei genauer Betrachtung als eine wundervoll feine und gleichmäßige Stickerei erwiesen, bei welcher die kränkelnde Reichsgräfin Josephine, die Großmutter des letzten regierenden Grafen, fast ihr ganzes Leben zugebracht hatte. Sie zeigte sich so wohl erhalten, als sei sie eben erst aus der Hand der geduldigen Arbeiterin hervorgegangen.

Der Kammerdiener hatte auch das Gemach verlassen und Hugo mochte etwa fünf Minuten allein gewesen sein, als sich hinter ihm die Thür zum Kabinet der Gräfin öffnete und sie selbst hereintrat. »Ei mein Gott, noch so zeitig?« sagte sie, »und du allein hier, Wildfang? Das gesteh' ich! Du besserst dich, Hugo, und nimmst Gesellschaftssitten an.« – Er lachte. »Diesmal, Großtantchen, verdiene ich Ihr Lob nicht. Ich habe mich wie Sie in der Zeit geirrt.« – »Nun, die Zeit wäre schon da,« versetzte sie; »aber ich muß heut wohl ein Auge zudrücken, denn es ist eine große Menge Briefe eingetroffen, und das hebt alle Hausordnung auf. Du hast auch ein paar dabei, Neffe.« – »Ich sah sie, Großtantchen! Aber es ist nichts Wichtiges dazwischen, was nicht bis heut Abend Zeit hätte. Nur so viel sah ich – meinem Vater geht es erträglich. Er hat selbst ein paar Zeilen beigelegt und läßt sich Ihnen empfehlen.« – »Das freut mich, das freut mich sehr!« erwiderte die alte Dame, welche, die Hände auf dem Rücken in einander gefegt, im Zimmer auf und ab spazierte; »grüße herzlich von mir, wenn du wieder schreibst. Dein Vater sollte zu uns herüber kommen mit deinen Geschwistern. Was hockt er drüben allein?« – Hugo zuckte die Achseln. »Das thut er nicht, Großtantchen,« bemerkte er. »Und das ist ja eben das Unglück, daß wir ihn nicht fortbringen können.« – »Wo hast du denn Gerhard gelassen?« fragte sie nach einer Weile. – »Er sitzt bei einer Arbeit und wird heut Abend kaum hieher kommen.« – »Ja, ja, er hat jetzt viel zu thun,« sprach sie halb vor sich hin. »Ein gewissenhafter, braver, treuer Mann! Ein wahrer Schatz für die Familie!« – »So sagt mein Vater gleichfalls, Großtantchen, und auch ich,« entgegnete Hugo.

Sie gab keine Antwort und setzte ruhig ihre Promenade fort, bis sie nach einer Weile vor Hugo stehn blieb und sagte: »auch ich habe vorhin einen Brief von meinem Bruder erhalten, der mich halb lachen, halb aber auch recht nachdenklich macht. Er wird auch dich interessiren, Herr Neffe, und ich möchte einmal deine Ansicht hören. Wir sollten doch jetzt auch nachgerade gesetzt werden und anfangen, Ansichten zu haben,« setzte sie lächelnd hinzu und legte ihre Hand auf sein dunkles lockiges Haar. Er nahm die Hand und zog sie an seine Lippen zum warmen Kuß, und als sie dann herzlich sprach: »komm, mein lieber Knabe, du sollst ihn bei mir drinnen lesen!« erhob er sich und folgte ihr bereitwillig ins Kabinet, wo sie ihm den Brief gab, und während er las, die Brille aufsetzte und selbst ein anderes Schriftstück vornahm.

Der Brief war, wie gesagt, von dem Bruder der alten Erlaucht, dem Freiherrn von Berndingen, welcher, früher Diplomat, sich seit einigen Jahren aus dem Staatsdienst zurückgezogen hatte und nach alter Gewohnheit bald hier, bald dort lebte. Er war aus Wien datirt und lautete nach dem gewöhnlichen Eingange folgendermaßen.

»Bei meinem Spaziergang, der mich täglich zum Stephansplatz und zur Betrachtung und Bewunderung des alten Domes führt, traf ich dort mehrmals mit einem Mann zusammen, der gleichfalls das Bauwerk betrachtete, und als ich ihn bei Gelegenheit einmal anredete, sich so angenehm auszudrücken und so seine Bemerkungen zu machen wußte, daß er mich wahrhaft anzog und eine längere Unterhaltung nicht bereuen ließ. Er war von unscheinbarem, aber nicht unangenehmem Aeußern, verrieth jedoch in allem den Cavalier und nannte sich mir, auf meine höfliche Frage, als ein Graf von Ruysbroek aus Belgien. Die Familie ist mir wohlbekannt, da ein Mitglied derselben im Anfang unseres Jahrhunderts mit mir zugleich in Madrid und damals Attache bei der französischen Gesandtschaft war. Sie ist eine der besten ihrer Heimat, aber ich hielt sie für ausgestorben. Doch höre ich von meinem neuen Bekannten, daß sein Vater – der oben erwähnte Attaché, sich im Jahre 14 oder 15 aus dem Dienste zurückzog und seiner Vermögensverhältnisse wegen bis an. seinen Tod sehr eingezogen auf dem letzten kleinen Besitzthum in Flandern lebte.

»Mein junger Bekannter – er mag etwa sechsunddreißig Jahre zählen – zog mich, wie gesagt, an, und zwar nicht nur durch seine Unterhaltung und seinen Geist, sondern auch durch sein ganzes, höchst angenehmes Wesen, wie man es bei den jüngern Generationen leider immer seltner trifft. Wir wohnten, bis ich vor acht Tagen meine jetzige Wohnung bezog, auch im selben Gasthof und verkehrten daher häufig mit einander. Dabei konnte mir nicht verborgen bleiben, daß der Graf oft niedergedrückt, ja finster erschien, und nachdem ich diesen Punkt mehrmals vergebens berührt – der Mann flößte mir eine wahrhafte Theilnahme ein – hat er mir vor einigen Abenden folgendes mitgetheilt.

»Das Vermögen seiner Eltern, das nie bedeutend gewesen, sei durch den Krieg noch mehr ruinirt worden, nach dem Tode seiner Mutter sei ihnen durch Gott weiß welche Kabalen, eine bedeutende Erbschaft derselben entzogen, und sein Vater und nach dem Tode desselben auch er selbst hätten in großer Dürftigkeit, ja Armuth gelebt. In den Staatsdienst der Heimat zu treten, sei beiden durch ihre politische Ueberzeugung unmöglich geworden. Auch hatte der Sohn nur den Unterricht seines Vaters und eines alten Priesters erhalten und sich dann durch eigene Studien weitergebildet. Als der Vater starb, lebte Graf Raimund – so heißt er – eingezogen wie bisher und wußte von keinen Ansprüchen an Welt und Leben, oder hatte sie nothgedrungen aufgegeben: denn trotz aller Sparsamkeit schwand das Vermögen immer mehr zusammen.

»Da erhielt er durch die Behörde die Nachricht, daß seinem Hause in Galizien, wohin sich vor 150 Jahren eine Comteß Ruysbroek an einen polnischen Magnaten verheirathet hatte, eine sehr bedeutende Erbschaft zugefallen sei und der Erbe zur Eröffnung eines dem Testament angehängten Codicills erwartet werde. Ungläubig reiste er nach wiederholter Aufforderung ab, fand jedoch die Nachricht bestätigt und die Erbschaft überaus bedeutend. Die Papiere, die er mir mitgetheilt, und auch andere Erkundigungen, die ich angestellt, lassen das Vermögen wirklich als ein fürstliches erscheinen. – Das Codicill verlangt aber von dem Erben, daß er entweder schon mit einer Dame von makellosem, stiftsfähigem Adel verheirathet sei oder eine solche im Laufe des ersten Jahrs nach dem Antritt der Erbschaft heimführe, widrigenfalls er nicht nur die Erbschaft verliert, sondern auch alles zu ersetzen hat, was er in dem Jahre von den Einkünften verwendete.

»Diese Clausel ist es, die den jungen Mann unglücklich macht. Er kennt nicht allein keine einzige Dame, sondern verkehrte seit dem Tode seiner Mutter auch mit keinem weiblichen Wesen und hat – es ist zum Lachen! – vor ihnen eine wahrhafte Angst, so daß er sich nicht entschließen kann, in eine Gesellschaft zu gehn, wo er Damen begegnen möchte, und selbst das Theater nur ungern besucht. Er ist in der That von einer Schüchternheit, die eine Klosterfrau zieren würde, und als ich ihn neulich im Theater in der Nahe einer Dame sah, stand ihm der Angstschweiß auf der Stirne. Dazu kommt seine Bescheidenheit, und der Glaube, daß er innerlich nicht genug gebildet und äußerlich zu wenig anziehend sei, um jemals Anspruch auf Herz und Hand einer Dame machen zu können. Und so ist ein halbes Jahr der gesetzten Frist herum, und er kennt weder eine Frau, noch hat er Bekanntschaften, die ihm bei seinem Zweck förderlich sein können. Denn er ist überhaupt menschenscheu. Und andrerseits ist er verständiger Mann genug, um die Erbschaft nur ungern zu verlieren, zumal er dann noch einen Ersatz leisten müßte, der, wie solid er lebt, dennoch beinah sein ganzes kleines Vermögen verschlingen würde.

»Du wirst hieraus ersehn, um was es sich handelt, meine gute Charlotte. Schloß Künigshofen wäre, glaube ich, der passende Ort für ihn, seine Menschen- und Weiberscheu zu verlieren; er findet bei euch Ruhe, Ordnung, Anstand und vor allem nicht den Firlefanz modischer Sitten und modischer Bildung, die er mit Recht hauptsächlich an der Damenwelt fürchtet und verabscheut. Daher werde ich ihn bei einer Reise, die er demnächst nach Flandern zu machen hat, über Königshofen dirigiren und empfehle ihn dir zur freundlichen An- und Aufnahme. Gegen ihn, dem ich schon hiervon geredet, habe ich nur Dich erwähnt, meine gute Charlotte. Unter uns aber darf ich auch wohl auf Deine Enkelin, Margarethe Hirschegg, hindeuten, die so viel ich weiß, noch frei ist und deren Verheirathung und Zukunft Dir, wie Du schreibst, des geringen Vermögens wegen Sorge macht. Von Vermögen wäre bei dem Grafen Raimund keine Rede; er hat leicht so viel, daß er die Reichs- und die andere Grafschaft Hirschegg dazu kaufen könnte. Dagegen erfüllt Deine Enkelin die Bedingung des Codicills im vollsten Maße; ich entsinne mich keiner Mesalliance im Geschlecht derer von Hirschegg und noch weniger im Geschlechte Berndingen. Und wie ich das Glück habe Dich zu kennen, wirst Du Deine Enkelin auch so haben erziehen lassen, daß sie nicht auf das Flittergold glatter Züge und Formen, sondern auf das sieht, was den wahren Cavalier macht und was Graf Raimund besitzt, wie kaum ein anderer Mann meiner Bekanntschaft. Doch das wirst du bald selbst am besten beurtheilen können.

»Es sollte mich wahrhaft erfreuen, wenn dieser Brief dazu dienen könnte, Deine Sorgen zu erleichtern und hinwegzuräumen. Wenn ich aber recht verstanden, daß dein Vetter, Graf Wolfgang, für seinen Sohn an die Hand seiner Enkelin denkt, und daß dieser Sohn selbst – er heißt Hugo, glaube ich? – leider, zu deiner höchsten Verstimmung, selbst diesen Gedanken hegt, so hättest Du hier eine vielleicht sich nie wieder so günstig darbietende Gelegenheit, diese Dir mit Recht unwillkommenen Pläne ein für allemal umzustoßen, ohne –«

Hugo hatte während seiner Lecture, wie die ihn heimlich beobachtende alte Erlaucht wohl bemerkte, mehrmals nur mit Mühe seine Heiterkeit unterdrückt; bei dem ganzen letzten Satze aber verzog sich sein Gesicht immer mehr und mehr, und nun ließ er das Blatt fallen, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und brach in ein Gelächter aus, wie es diese Räume vermutlich lange nicht so laut und ungenirt gehört hatten. Es steckte auch die Gräfin an, und indem sie ihm das Blatt fortnahm und ins Couvert schob, sagte sie: »das Uebrige ist Nebensache. Nicht wahr, Tollkopf, du warst bei dir selbst?« – »Freilich, freilich!« rief er noch immer lachend, »und daß wir, der Vater und ich, es auf solche Weise nicht übel nehmen könnten – ! – O, Ihr Bruder, Großtantchen, ist ein prachtvoller alter Herr!«

Sie nickte lachend. »Du hast recht, er ist gar vorsichtig und rücksichtsvoll, mein alter Karl Anton. Aber nun, du wilder Knabe, laß einmal dein Lachen und sage, was du selbst dabei denkst?« – »Ich? Lieber Gott, was soll ich denken? Ich bin überzeugt, daß Gretchen nicht auf das Flittergold, sondern auf den ächten Cavalier sieht, und daher – lassen Sie ihn kommen, so bald wie möglich! Wir wollen ihm eine Ehrenpforte bauen bis in den Mond, und von allen Thürmen sollen die Banner der Hirschegg-Königshofen wehen!«

»Unsinn!« sagte sie halb lachend, halb ärgerlich. »Ich will wissen, was du selbst dabei fühlst und denkst?« – »Ich? Unsterbliche Neugier und unendliche Freude, die Bekanntschaft dieses romanhaften Ritters zu machen.« – »Ist das dein Ernst, Hugo?« fragte sie mit festem Blick. »Seine Ankunft und Bewerbung ist dir nicht zuwider?« – »Bei meiner Ehre, Großtantchen, nein! Ich freue mich im Gegentheil darauf und gönne diese Bewerbungen meiner lieben Cousine von ganzem Herzen.« – »Das verstehe ich nicht!« bemerkte die Erlaucht, den Kopf schüttelnd. – »Ei, Sie werden's schon noch einmal verstehn,« versetzte der lustige Neffe. »Ich liebe Räthsel aufzugeben.«

Im Salon ward es laut, in der geöffneten Thür des Kabinets erschien der Kammerdiener, um zu melden, daß der Thee bereit und die Gesellschaft versammelt sei. »Ich komme, Karl. Sie können gehn,« sprach die Gräfin, und als die Thür sich geschlossen, nahm sie die Brille ab, stand auf, und Hugo mit fast mütterlicher Zärtlichkeit in die blitzenden blauen Augen sehend, sagte sie: »bist du denn Diana's sicher, mein lieber Knabe?« – Hugo zuckte, schelmisch lachend, die Achseln. »Großtantchen, Großtantchen!« entgegnete er, »wo denken Sie hin? Sie wissen doch, alle Seegeschöpfe, Fische, Aale und Seejungfern, sind glatt. Wer kann deren sicher sein, und hielt er sie in der Hand!«

Die alte Erlaucht schüttelte lächelnd den Kopf und erhob drohend den Finger. »Unverbesserlicher!« murmelte sie, und beide traten zu den Damen in den Salon.


 << zurück weiter >>