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Drittes Kapitel.

Das letzte Blatt der Chronik

»Es ist ein trübes und ernstes Kapitel unserer Hausgeschichte, das ich euch zu erzählen habe, meine Kinder,« begann die Gräfin Charlotte am Abend vor dem versammelten, fast andächtig gestimmten Kreise der jungen Leute ihre Mittheilung. »Von dem Tage an, wo Graf Wolf Josef II., der Erbauer des nach ihm benannten Schloßtheils, durch persönliche Freundschaft mit dem Churfürsten Max Emanuel von Baiern sich verleiten ließ, im spanischen Erbfolgekriege die Partei des Churfürsten und des Reichsfeindes, der Franzosen, zu ergreifen, war es mit dem frühem Glück und der frühern Blüthe unseres alten Hauses zu Ende. In der Schlacht bei Höchstädt fielen drei seiner Söhne in den Reihen der Franzosen, und ein vierter starb an den Wunden, die er in einem Gefecht des Jahres 1705 davontrug, so daß von dem großen Familienkreise nur der älteste Sohn, Wolf Eberhard, übrig blieb. Aber es war damit nicht genug. Im gerechten Zorn über solchen Verrath seines Vaterlandes, wandte sich der Bruder des Grafen Josef, Graf Augustin, ganz von ihm ab, heirathete gegen seine frühere Absicht, und stiftete mit seinem bedeutenden, bisher von ihm dem Hauptstamm bestimmten Vermögen für seine Kinder eine neue Linie – die der Grafen von Hirschegg. Das ist dein Ahnherr, Hugo. Und dazu kam endlich, daß neben dem Verlust dieses Vermögens auch das eigene immer mehr belastet wurde. Bauten und Ausschweifungen hatten es verringert, der Krieg und bedeutende Contributionen, die den Besitzungen als Strafe für den Verrath des Herrn aufgelegt wurden, brachten es dem Ruin nahe. Ja, Graf Josef hatte es einzig der Verwandtschaft zu danken, in der er mütterlicherseits mit der Kaiserin Eleonore stand, daß er mit diesen Opfern davonkam.

»Von der Zeit an, könnte man sagen, krankte das alte Geschlecht. Das Vermögen wollte sich noch lange nicht wieder von diesen schweren Schlägen erholen, wozu freilich die unsinnige Baulust der beiden folgenden Grafen – Wolf Eberhard und Wolf Leo – sowie der unter dem letztern hereinbrechende siebenjährige Krieg ihr Theil beitrugen. Aber auch mit der Familie selbst sah es traurig aus. Der Besitz stand von Generation zu Generation entweder nur auf den zwei Augen des direkten Nachfolgers, oder wenn noch mehr Söhne da waren, litten sie an allerlei körperlichen oder geistigen Gebrechen.

»So war auch mein späterer Gemahl, Reichsgraf Wolf Christoph, der einzige Sohn seiner Eltern, und in seiner eigenen Ehe mit der Gräfin Leonore schien es nicht anders gehn zu sollen. Die Kinder, welche auf den ersten Sohn folgten, starben alle fast unmittelbar nach der Geburt; und als nach fünf oder sechs Jahren wieder ein Kind kam und am Leben blieb, war es eine Tochter, die Blanka genannt wurde. Dann starben wieder ein paar, und zum Schluß dieses reichen Segens ward im Jahre 1789 Leo geboren, mein unglücklicher Stiefsohn, der jetzt – regierende Graf. Es war ein kräftiges, gesundes Kind, und die Freude der Eltern daher groß. Aber schon nach dem Verlauf des ersten Jahrs stellte sich eine leise Betrübniß ein und steigerte sich von da immer mehr, bis sie alle Freude verdrängte. Wie auch der Körper des Kindes gedieh – es wollte liegen und nur liegen. Mühsam lernte es erst im vierten oder fünften Jahr einige Schritte gehn – und was ja das Schlimmste war, sein Geist war und blieb schwach. Ihr mögt euch selbst denken, wie das alles den armen Eltern das Herz zerdrückte.

»Indessen war es für beide eine große Beruhigung, daß sie in dem ältesten Sohne Wolf einen so gesunden, kräftigen und vortrefflichen Jüngling heranblühen sahen, und als er sich in seinem einundzwanzigsten Jahre verlobte, schien ihnen ihr Stamm diesmal noch gerettet zu sein.

»Da kam ein großes Unglück über Königshofen. Um Weihnachten 1795 erkrankte und starb Gräfin Leonore in wenig Tagen, und als Graf Wolf Christoph etwa drei Wochen später mit seinem Sohne, der in den nächsten Tagen seine Hochzeit feiern sollte, und deinem Vater, Gerhard, der Zerstreuung wegen auf der Jagd war, ging beim Uebersteigen über einen Schlagbaum des jungen Grafen Gewehr los und der Schuß verwundete den unglücklichen Jüngling so schwer über der linken Hüfte, daß er nach qualvollen Leiden kaum achtundvierzig Stunden später starb. Der Vater brach schier zusammen in seinem Schmerz. Wochen und Monde verflossen, ohne daß er seine Zimmer verließ, und dann verging Jahr und Tag, bevor er wieder mit diesem oder jenem Bekannten verkehrte. Sein einziger Gesellschafter in dieser ganzen Zeit, und der einzige Mensch, dem er hin und wider eine Tröstung, ein vernünftiges Zureden, ja sogar einen Tadel gestattete, wenn sich sein Gram und Schmerz zuweilen fast bis zu unsinniger Raserei und Lästerung steigerte, war wieder Rolof Wolthusen. Denn so hieß Gerhard's Vater, von dem ich später noch manches Weitere zu sagen haben werde. Neben ihm durfte lange Zeit nur noch der Leibjäger Hubert um seinen kranken Herrn sein. Der ist der Sohn des alten Leibjägers und im Schlosse geboren und erzogen.

»So verging, wie gesagt, Jahr und Tag, bis der Graf eigentlich wieder zum Leben erwachte und über die Zukunft seines Stammes und seiner Familie nachzudenken begann. Da mußte er denn freilich bald erkennen, daß es damit übel bestellt sei; daß seiner Tochter grade in dem Alter, wo sie's am meisten bedurfte, das Auge und Herz einer Mutter fehlen werde, – jetzt war sie im Kloster, – und daß Leo, wenn er überhaupt zum männlichen Alter gelange, niemals im Stande sein würde, die Pflichten zu erfüllen, die ihm seine Stellung und sein Besitz auferlegten. Jedoch fing der Geist des Knaben grade damals an sich ein wenig mehr zu entwickeln, auch ward sein Körper zusehens kräftiger, und dies vermochte den Grafen einstweilen noch zum hartnäckigen Widerstand gegen die Anmuthung seiner Freunde, – daß er sich wieder verheirathen solle. Der Gedanke war ihm überaus peinlich und er konnte sich nicht an ihn gewöhnen; auch da noch nicht, als Leo's Zustand sich wieder verschlimmerte, und die Aussichten auf allmälige Besserung fast ganz schwanden. Und doch verlangte auch der Zustand der Grafschaft dringend eine kräftige, wenigstens eine helfende Hand. Denn trotz des großen Vermögens, welches Mutter und Großmutter des Grafen zugebracht, und trotz des schuldenfreien Besitzthums seiner verstorbenen Frau, welches nach den Ehepacten zur Grafschaft geschlagen wurde und nicht an die Tochter kam, – waren die Finanzen in unheilbarer Verwirrung; und wie der Graf selbst sparte und ordnete und neue Einnahmequellen zu eröffnen suchte, wollte es ihm doch nicht gelingen, sie nachhaltig zu verbessern. Die damals wild einhertobenden Kriege mit der französischen Republik verwirrten das alles noch mehr.

»Im Jahre 1799 entschloß sich der Graf auf den Rath des Arztes Leo's wegen nach Pyrmont zu gehen. Ob es für den armen Knaben angemessen war, weiß ich nicht; es war damals eben ein Modebad, nicht nur für die Gäste, sondern auch für die Aerzte. Als er jenseits Königshofen in die Waldberge fuhr, begegnete ihm Rolof Wolthusen, um von dem Freunde Abschied zu nehmen, und sagte; »nun, Graf Christoph, bringt der Grafschaft einen gesunden Erbherrn und Euch selbst eine brave junge Frau mit. Glaubt mir, das Letztere muß doch einmal sein!« – »Wollen sehn, alter Schatz,« versetzte der Graf lachend. »Du denkst wie du schießest – immer fix! – Doch Gott befohlen.« Und damit schieden sie. Aber der Graf konnte des Freundes Wort: »das muß doch einmal sein!« nicht mehr aus dem Kopfe bringen.

»Um dieselbe Zeit war auch ich mit meinen Eltern nach Pyrmont gekommen, mein Vater litt an unheilbarer, gar sehr betrübender Schwäche. Ich muß wieder hinzusetzen: ob das Bad für ihn paßte, weiß ich nicht, ja möchte es fast bezweifeln. Wie dem aber auch sei – auf diese Weise trafen wir mit dem Grafen zusammen, der vordem meinen Vater gekannt hatte, uns alsbald aufsuchte und uns unser trauriges, angstvolles Leben so viel wie möglich zu erleichtern und erheitern suchte. Denn meine Kinder,« setzte die alte Dame mit leisem Kopfschütteln hinzu, »wir waren sehr arm; so arm, daß wir nur mit Noth und Mühe das Geld zur Badereise auftreiben und die Mitnahme eines Dieners nur dadurch möglich machen konnten, daß wir uns selbst die herbsten Entbehrungen auferlegten. Und dennoch bedurfte mein Vater männlicher Hülfe, zu der unser alter Ignaz wenig fähig war. Da half uns denn der Graf, der neben uns wohnte, mit seinem Hubert aus der Noth.

»Daß ich es kurz mache, meine Kinder – mein Vater starb; und an dem Tage, wo wir traurig in unsere alte Kutsche steigen und nach Berndingen zurückkehren wollten, warb der Graf mit offenen, herzlichen und ehrlichen Worten bei meiner Mutter um meine Hand. Er habe gesehn, sagte er zur Mutter, daß ich ein starkes und geduldiges Herz, einen treuen, theilnehmenden Sinn habe. Das brauche er, das brauche sein Kind. Er habe mich herzlich liebgewonnen, und wenn ich ja sage, könne er mir – nicht ein leichtes, aber ein ehrenvolles und gesichertes Leben und alle Liebe, Treue und Achtung verheißen, wie sie ein Mann in seinen Jahren nur zu bieten vermöge. – Die Mutter rief mich herein und theilte mir die Sache in seiner Gegenwart mit. Ich war wie vom Donner gerührt; ich rang in bitterer Angst; ich wollte nicht nein, ich konnte nicht ja sagen. Denn ich dummes Mädchen glaubte schon einen Andern im Herzen zu tragen, und sah doch nur zu wohl ein, daß diese Liebe nie zu einem guten Ende führen konnte; es war ein blutarmer Cavalier, ein Nachbarskind, aber ohne einen andern Besitz, ohne andere Aussichten als seinen Degen. Das wußte ich alles!

»Ich bat mir Bedenkzeit aus und wir reisten ab. Meine Mutter redete nicht zu, nicht ab; sie sprach kein Wort über die Sache, sie verrieth durch keine Miene, durch keine noch so leise Andeutung ihre Wünsche. Ich hatte allein mit meinem Herzen fertig zu werden, und ich ward's; das Wie braucht niemand zu wissen. Genug, am Tage unserer Ankunft in Berndingen schrieb ich dem Grafen das Jawort und –« die Gräfin machte eine Pause. Sie legte die Hand auf den Tisch und sah mit einem gedankenvollen Lächeln ins Licht der Lampe. Dann, nach einigen Sekunden, wandte sie die Augen mit vollem Aufschlag und einem freundlichen Blick zu den jungen Leuten zurück und sagte: »und ich habe es nie zu bereuen gehabt, Graf Christoph ward mir ein Gemahl, wie ich ihn nicht treuer, ehrenfester und liebevoller hätte wünschen können, und ich danke ihm noch heut für jeden Tag, den er mich an seiner Seite durchleben ließ. –

»Unsere Vermählung fand nach wenigen Wochen statt, und am 2. October des Jahres 1799 betrat mein Fuß zum erstem mal diese Räume, wo ich seitdem in viel Leid und Freud' gelebt und meine rechte, liebe Heimat gefunden habe.

»Am zweiten Tage nach unserm Einzuge sagte mir der Graf morgens vor dem Frühstück lächelnd: »erschrick nicht, Charlott' – er sprach meinen Namen stets mit dieser Betonung aus – über die Bekanntschaft, die dir bevorsteht. Wenn du mich lieb hast, nimmst du den Mann auch jetzt schon, bevor du ihn recht kennst, freundlich auf. Später wird's damit keine Noth haben, denn es ist das treuste und bravste Herz im Lande, und wer weiß, ob du ohne ihn meine Frau geworden.« – Und allerdings, als wir dann in das Frühstückszimmer traten, erschrak ich doch ein wenig. Denn der Mann, der dort stand und sich mit uns nachher zu Tisch setzte, war in rauher, gar schmuckloser Jägertracht, die dunklen Haare umgaben nichts weniger als zierlich sein Haupt, sein Gesicht hatte eine tiefgebräunte Farbe, und sein Blick kam aus den braunen Augen so adlerartig, kühn und scharf hervor, daß es mich leise überrieselte. Seine Mütze und Tasche hingen an einer Stuhllehne und die Flinte stand daneben.

»Mein Gemahl reichte ihm die Hand zum festen Druck. »Grüß dich Gott, Rolof,« sprach er herzlich: »nun, du wilder Gesell, da ist denn meine Frau, die ich mir nach deinem Befehl erwählt.« – Und der Mann streckte auch mir die Hand entgegen, die so braun und hart aussah, daß ich ganz zaghaft ward, aber doch tapfer die meine hineinlegte, und dann sagte er, offen und ungenirt: »grüß Gott, Erlaucht, und willkommen in Königshofen! Ihr bekommt einen braven Mann; es läßt sich gut mit ihm leben.« Ich kann nicht grade sagen, daß mich diese Worte übermäßig erbauten; allein was half's? Sie waren nun einmal geredet und ganz so, wie der Mann selbst. Und es währte auch gar nicht lange, da hatte ich mich an ihn und seine Weise gewöhnt. Ich war von Natur eigentlich niemals recht schreckhaft oder empfindsam, und habe mir aus zarten Redensarten mein Lebenlang nichts gemacht.

»Aber ich muß euch nun wohl ein Wort über den Rolof Wolthusen sagen, so viel wie für meinen Bericht nöthig ist und ich selbst von ihm weiß. Woher er eigentlich gekommen und weßhalb er sich hier niedergelassen, habe ich nicht erfahren. Er schien jedoch ein Norddeutscher, an der See zu Hause und mochte etwa von der preußischen Armee, die 1787 gegen die holländischen Patrioten zog, desertirt oder entlassen, vielleicht auch aus dem nordamerikanischen Freiheitskriege zurückgekehrt sein. Genug, um jene Zeit war er drunten in Königshofen erschienen, hatte das Bürgerrecht erworben und ein kleines Haus in Miethe genommen. Beides war nicht schwierig. Der Ort hatte für eine bedeutende Summe, die er dem damals grade sehr bedrängten Grafen Josef bezahlte, sich von unserer Herrschaft eigentlich fast ganz frei gekauft, war dann aber im siebenjährigen Kriege entvölkert und verarmt und gewährte jedermann, der bezahlen konnte, bereitwillig Aufnahme und Wohnung; denn es standen Häuser genug leer.

»Um die Zeit, zu der Rolof in der Gegend erschien, nahmen die Wildfrevel in den gräflichen Forsten in einer Weise überhand, wie man es nie früher gekannt. Es war an und für sich kein Unglück, denn der Wildstand überschritt grade damals alles Maß, aber es war einmal ein Frevel, der nicht ungeahndet bleiben konnte, und daher waren alle Forstbeamte auf's eifrigste bemüht, den Thätern auf die Spur zu kommen. Indessen blieb alle Mühe umsonst, niemand traf die oder den Schützen, wie oft man auch an einen Ort kam, den er augenscheinlich erst vor wenig Minuten verlassen. Und wenn sich auch die meisten Stimmen für einen Schützen entschieden – gesehen hatte ihn kein Mensch; und als sich ein unbestimmtes Gerücht verbreitete, daß Rolof der Mann sei, so führte das gleichfalls zu nichts, da man ihm nichts zu beweisen vermochte, und der eifersüchtige Vorstand des Oertchens grundsätzlich und überall seinen alten Grafen entgegentrat, wo er auch nur im entferntesten fürchten konnte, daß sie auf ihre frühern Rechte zurückkommen und in die Angelegenheiten der Stadt und Bürger eingreifen möchten. Auch jetzt ward jede Untersuchung gegen den neuen Mitbürger beharrlich abgelehnt, die Sache blieb unaufgeklärt, und es konnte daher nicht ausbleiben, daß der Wildschütz im Aberglauben der Förster und Jäger, der Dienerschaft und des Landvolks zu einem spukhaften Popanz wurde, von dem man sich Abends am Herde schreckliche Geschichten erzählte, und den man fürchtete wie das höllische Feuer, obgleich er noch keinem Manschen etwas zu Leide gethan.

»Da war eines Tags der Graf selbst drüben in den Forsten an der Tannenburg, hatte sich, ich weiß nicht wobei, verspätet und wollte, da es bereits dämmerte, auf dem kürzesten Wege zurückkehren, als er einen Schuß fallen hörte und demselben halb ärgerlich, halb neugierig nachging. So gelangte er zum Königsring, und unter der Königseiche fand er den Rolof bei dem eben erlegten Hirsch. Was dort zwischen den Männern vorgefallen, weiß ich nicht. »Da hab' ich ihn gewonnen,« pflegte mein Gemahl wohl zu sagen, wenn er einmal auf diese Begegnung zu sprechen kam. Und als ich später einmal Rolof selbst darnach fragte, da schüttelte er lachend den Kopf und meinte: »je nun, Erlaucht, da hat mich der Graf gebändigt; weiter läßt sich nichts davon sagen.«

»Genug, von dem Augenblick an wurden sie gute Freunde, Rolof schoß, wenn er mochte, offen und unbelästigt ein Stück Wild in den Forsten, begleitete den Grafen auf seinen Jagden, besuchte ihn auch zuweilen im Schloß auf seinem Zimmer, würdigte aber, mit Ausnahme von Hubert, keinen Menschen weiter eines Blicks oder Worts. Wie treu er dann im Unglück bei dem Grafen aushielt, habe ich euch schon erzählt. Ihr Verhältniß ward dadurch immer vertrauter und freundschaftlicher, und bald nachher vermochte endlich der Graf den nun schon vieljährigen Genossen die Stadt zu verlassen und das »Heidehaus« zu beziehen, wo der Waldwärter grade gestorben war. Das heißt, meine Kinder, Rolof bezog die Wohnung, nahm aber keinen Gehalt, wie er denn auch nicht anders als von freien Stücken irgend einen Dienst leistete, und machte es zur ausdrücklichen, schriftlich aufgesetzten Bedingung, daß er Herr seines Willens bleibe und thun und lassen, gehn oder bleiben könne, was und wie er's wolle. Von da an verkehrten sie mehr als je mit einander.

»So standen die Sachen, als ich ihn kennen und bald auch schätzen lernte. Dein Vater, Gerhard, war ein seltsamer, rauher und oft wilder Gesell, aber ein Herz so treu, so fest wie Stahl, unverzagt in aller Noth, offen und unverstellt in Freundschaft und Feindschaft. Und als ich mich an die herbe Außenseite gewöhnt hatte, fand ich mich leicht in den ganzen Menschen und seinen Verkehr hinein. Denn von jenem ersten Tage an kam er hin und wider einmal ins Schloß, wenn er wußte, daß wir allein waren, und verweilte ein paar Stunden; und als mir unser Herrgott nach einem Jahr meinen Knaben, und nach einem zweiten meine Lucie schenkte, kam er noch häufiger, spielte und lachte mit den Kleinen und hütete sie mit einer Zärtlichkeit, die ich bei dem rauhen Mann nie für möglich gehalten. Meine Stieftochter Blanka dagegen konnte er nicht leiden und ging ihr finster oder kalt aus dein Weg, wie er grade gelaunt war.

»Diese Abneigung, die beiläufig gesagt, gegenseitig war, kann ich ihm indessen kaum verdenken, denn meine Stieftochter war kein Wesen, welches das Vertrauen, geschweige denn die Zuneigung eines solchen Menschen sich erwerben konnte. Sie vermochte das nicht einmal bei uns, ihrem Vater und Bruder und mir, die wir ihr doch so nahe standen, und machte diesen – ich muß sagen: abwehrenden Eindruck auf jedermann, der sich ihr näherte. Du kannst einmal deinen Vater darum befragen, Hugo,« setzte die Erzählerin zu dem jungen Manne gewendet hinzu. »Er kam damals mit seinem Bruder Eugen, meinem spätern Schwiegersohn, viel in unser Haus.

»Ich will es kurz machen, meine Kinder. Blanka hatte von jeher einen Zug gehabt, der dem Vater stets mißfiel – sie war hochmüthig, und als sie bald nach der Geburt meines ersten Kindes aus dem Kloster zurückkam, war sie's in noch erhöhtem Maße, und dazu so kalt und so unnahbar, daß sie von vornherein jedermann zurückstieß. Ich selbst bin ihr nach den ersten paar Begegnungen nie mehr nahe gekommen; die Idee für eine Stiefmutter zu gelten oder gar es zu werden, war mir zu widerwärtig. Und da wir auch unserm Alter nach für ein solches Verhältniß ziemlich wunderlich zu einander standen – ich war kaum fünf Jahre älter – so meinte ich, das Wunderliche sei hier das Natürliche, bat meinen Gemahl, Blanka so selbständig und unabhängig wie möglich zu stellen, lehnte ein für allemal eine Einmischung in ihre Angelegenheiten von mir ab und sagte selber zu ihr: »mein liebes Kind, daß wir nicht für einander passen, sehn wir beide, daher bleiben wir am besten für uns und gehn jede den eigenen Weg. Indessen können Sie darauf rechnen, daß Sie stets, wo Sie mit mir zu reden, zu verhandeln haben, an mir die redlichste Freundin finden werden.« Dabei standen wir uns beide denn auch ganz gut, und ich glaube, daß sie zu mir so viel Zuneigung fühlte, wie ihr kaltes Herz derselben überhaupt fähig war.

»Uebrigens blieb sie nicht lange bei uns. Ein Emigré, Marquis de Montarliers, kam zuweilen von B. herüber hieher zum Besuch, ein schöner junger Mann, dessen Vater, mit meinem Gemahl vor Zeiten genau bekannt gewesen. Im Jahre 1801 erhielt er die Erlaubnis nach Frankreich zurückzukehren, und hielt dann um Blanka's Hand an, die ihm, da sie selbst einwilligte und seine Verhältnisse durchaus geordnet und seine Aussichten auf Rückerstattung der Familiengüter sehr günstig sein sollten, auch nicht versagt wurde. Die Hochzeit folgte bald und beide reisten ab – leider nach einer betrübenden Scene mit meinem Gemahl. Das Genauere darüber mochte ich nie erfahren, wie ich auch nicht dabei zugegen war. Nur so viel weiß ich, daß der Marquis, der genau wußte, was Blanka an Vermögen zu erwarten und zu beanspruchen hatte, plötzlich, als der Graf ihm in der Scheidestunde die Anweisungen und andere Papiere überantwortete, mit den seltsamsten und übertriebensten Forderungen hervortrat und darin von seiner jungen Gattin unterstützt wurde. Es kam zu ernsten, harten, bösen Worten, und nachdem sie so traurig sich getrennt, zu einer Correspondenz, die so widerwärtig war, daß der Graf die ganze Angelegenheit alsbald seinem Geschäftsführer übergab und die Tochter immer mehr aus dem Herzen verlor. Es war daher fast ein Glück zu nennen, daß der Marquis mit seiner Gattin schon im Jahre 1802 nach den westindischen Inseln ging, wo er Besitzungen hatte. Seitdem haben wir aber nichts mehr von ihnen erfahren und unsere Erkundigungen nach des Vaters Tode haben nicht den geringsten Erfolg gehabt. Sie sind verschwunden, und niemand hörte seit ihrer Abreise nach Frankreich von ihnen ein Wort.

»Von den folgenden Jahren weiß ich wenig zu sagen, wie inhaltschwer sie damals auch für uns sein mochten. Seit dem Frieden von Lüneville schon drohte uns wie den meisten unserer Standesgenossen die Mediatisirung, und da mein Gemahl einsah, daß er sich doch nicht halten könnte, wie denn ja auch in solcher Zeit, wo die größten Reiche nur mühsam sich behaupteten, die Existenz der kleinen Herrschaften eine Unmöglichkeit, ja ein Unsinn geworden war, so kam er dem drohenden Verhängniß zuvor und schloß sich freiwillig an das Reich an, dem wir jetzt noch angehören. Er konnte es unter den günstigsten Bedingungen thun, und die guten Folgen spürten wir schon 1805, wo der neubeginnende Kriegssturm, der uns allein vernichtet hätte, uns nun nicht härter traf als den ganzen Staat. In jenen Zeiten der ewigen Unsicherheit und Unruhe, der steten Truppenzüge und Einquartierungen, zeigte sich Rolof's treue Freundschaft, seine Gewandtheit und Unverzagtheit, seine eiserne Entschlossenheit und sein kaltes Blut aufs neue und so glänzend wie nie vorher. Aus hunderterlei Bedrängnissen half er uns treulich heraus, in hunderterlei Gefahren stand er uns ebenso treu zur Seite, niemals dachte er an sich, obgleich er grade damals, ich meine im Sommer 1805, deine Mutter geheirathet hatte, Gerhard, – ein – Waisenkind drüben aus Rodingen, das wildeste und hübscheste junge Mädchen, das ich gekannt.

»Ja, es waren trotz all der Unruhe und Gefahr, trotz des eigenen Leids, das uns traf – mein Knabe starb, und Leo's Zustand besserte sich wenig oder gar nicht – doch schöne, reiche, Jahre. Sie führten uns Menschen recht sichtbar und fühlbar darauf hin, daß wir in und durch einander, nur im engen Aneinanderschließen, im treusten und innigsten Zusammenleben unser wahres, volles Glück finden und uns sichern können. Wie kurze Zeit es äußerlich dann auch währen mochte – es war in der Gegenwart so voll, so wahr und ächt gewesen, daß es im Herzen der Ueberlebenden seine festen Wurzeln schlagen konnte und über Tod und Zeit hinaus für alle Zukunft sich unverändert und segensvoll empfinden ließ.

»Im Jahre 1806, als die Truppenzüge, welche zur Schlacht von Jena eilten, eben vorüber waren und wir vor wenigen Tagen die erste Kunde von der Schlacht selbst erhalten hatten, empfing ich die Nachricht, daß meine Mutter in Berndingen, dessen Besitz uns durch meines Gatten freigebige Hülfe bis an ihr Ende gesichert worden war, auf den Tod liege und mich zu sehn wünsche. War es nur der allgemeine Druck, den damals in der schweren Zeit jedermann fühlte, oder war es eine Vorahnung des Kommenden, die uns Beiden das Herz beim Scheiden so schwer und bang machte – ich war noch nie mit solchem Gefühl zu meinen häufigen kleinen Reisen aufgebrochen, und auch mein Gemahl schien von ähnlichen Empfindungen beherrscht.

»Der Courier war gegen Mitternacht eingetroffen, und bevor ich am Morgen gegen acht Uhr in den Wagen stieg, zog mich der Graf noch zu einem kleinen Gange in den Park; und nachdem er allerlei Naheliegendes besprochen, wiederholt seine Betrübniß ausgedrückt, daß er mich nicht begleiten könne, mich nochmals zur Vorsicht auf meinem, von der Heerstraße durchkreuzten Wege und zur Schonung meiner Gesundheit ermahnt hatte, sagte er mit der wunderbaren, milden Freundlichkeit, die dem starken, ernsten und strengen Mann so ganz eigentümlich war und ihm jedes Herz gewann: »Charlott', ich habe dir noch nicht gesagt, daß ich vor einigen Wochen mein Testament gemacht und im Hofgericht zu B. niedergelegt habe. Ich habe für dich gethan, so viel ich vermochte, mein theures Kind. Du wirst dereinst finden, wie dein Mann dich geliebt und dir vertraut hat. Ich habe dir auch während Leo's Unmündigkeit nur den Wolfgang Hirschegg zur Seite gestellt, den wir beide als einen wackern und klugen jungen Mann kennen.« – »Aber Christoph,« versetzte ich und seine Worte hatten mich so erschüttert, daß ich kaum sprechen konnte, – »wie kommst du darauf? Du bist ja, allen Heiligen sei tausend Dank! gesund und rüstig und –.« – Er drückte meinen Arm an sich und unterbrach mich lächelnd mit den Worten: »ja, ja, Charlott', das ist alles richtig, und die Sache sollte dir eigentlich auch verschwiegen bleiben, um dir keinen Kummer zu machen. Aber in solcher Zeit ist es besser, man hält sich auf alles gefaßt. Auch muß ich gestehn, daß mir die großen Geldsummen im Hause unbehaglich sind. Das mag mich wohl verstimmen und auf dumme Gedanken bringen. Im Uebrigen, mein Kind,« setzte er hinzu, »wenn mir jetzt oder später etwas Menschliches passirt – so weißt du, daß theils Vetter Wolfgang, theils Rolof von allem Kunde hat. Und nun laß uns zurück, es ist Zeit.«

»So gingen wir, und als ich im Wagen saß und die Thür schon geschlossen war, beugte er den Kopf nochmals ins Fenster, ließ sich Lucie zum Kuß reichen und sagte: »wenn du zurückkommst, Charlott', hole ich dich entweder selbst von D. ab oder schicke dir Rolof entgegen. Gott behüte euch!« Das waren die letzten Worte, die ich aus dem theuren Munde vernahm. –

»Von nun an,« sagte die Gräfin nach einem kurzen, ernsten Schweigen, »muß ich euch das Folgende nach den Berichten Anderer erzählen. Es wird freilich darum nicht minder treu sein.

»Die beiden letzten Vorfahren meines Gemahls und auch er selbst hatten, obgleich ihre Besitzungen sich bedeutend vergrößert, ja durch Heirathen und Erbfälle der Umfang der Grafschaft fast um das Doppelte vermehrt war, dennoch ihre Residenz und alle Beamten hier in Königshofen behalten, wodurch natürlich die Verwaltung erschwert und die Geschäfte verdreifacht wurden. Ich sehe das selbst erst recht ein, seit Graf Leo und die Hauptverwaltung an der richtigen Stelle und im Mittelpunkt der Grafschaft, in Willsburg sind. Genug, damals war hier noch alles vereint, und durch die vielen Kriegszüge, durch die Mediatisirung und hunderterlei dadurch herbeigeführte Aenderungen, Ansprüche, Inconvenienzen aller Art, sowie noch durch mancherlei Zufälle hatte sich grade damals eine Unsumme von Geschäften zusammengefunden, bei welchen allen die Abwickelung und endliche Ordnung höchst nöthig und erwünscht schien. Mein Gemahl hatte schon in den letzten Wochen sehr viel in seiner Privatkanzlei, wie er's nannte, gearbeitet, und sich vorgenommen, in meiner Abwesenheit alles so viel wie möglich ins Reine zu bringen. Es kam dazu, daß er für einen jungen Herrn von Hentsch die Vormundschaft geführt hatte und bei der demnächst eintretenden Mündigkeit desselben eine bedeutende Summe auszahlen mußte. Daher hatte er, zumal auch eigene Kapitalien eingelaufen waren, beinah für 150,000 Gulden baares Geld und Papiere im Kassenzimmer.

»Die Rentmeisterei und die eigentlichen Kanzlei- und Bureauzimmer waren damals gleichfalls im Lindenhof, aber dem Privatbureau des Herrn gegenüber im Josefsbau. Doch waren sie durch Klingelzüge unter einander und mit dem Kabinet des Grafen verbunden.

»Weil die Arbeit drängte und am Tage durch mannigfache Störungen unterbrochen und verzögert wurde, arbeitete mein Gemahl jetzt häufig Abends spät und auch wieder am Morgen, wo die Dienerschaft Befehl hatte, wenn irgend möglich, jeden Besuch und jede andere Störung abzuhalten oder doch auf den Nachmittag zu verweisen. Unter diesen Umständen schlief er, wie auch sonst bei ähnlichen Veranlassungen meistens, in seinem Arbeitskabinet, machte Morgens selbst Feuer im eisernen Ofen, bereitete sich auch selber seinen Kaffee und erschien oft erst gegen Mittag in der Kanzlei oder, während meiner Anwesenheit, bei mir und den Kindern, um noch ein halbes Stündchen zu plaudern, bevor er sich zur Tafel ankleidete. – Seit ich mit ihm verheirathet war, hatte ich es durchgesetzt, daß bei solchen Gelegenheiten der Leibjäger Hubert im Vorzimmer seines Herrn schlief; denn der Lindenhof war, wenn auch auf der andern Seite nicht ohne Bewohner, doch sehr abgelegen und einsam, die Zeit unruhig, das Land voll Gesindel; und die zwei Wachen, welche Nachts den Dienst hatten, konnten bei der unmäßigen Ausdehnung des Schlosses wenig nützen, da sie nicht eine Seite, geschweige denn das Ganze zu übersehn vermochten.

»Jetzt ergriff Hubert daher auch auf seinen eigenen Kopf und weil, wie er behauptete, ihm gleichfalls unbehaglich zu Muth war, weitere Vorsichtsmaßregeln. Er schloß bei Dunkelwerden eigenhändig alle Thüren, durch welche man zur Privatkanzlei gelangen konnte, und ließ nur die eine drunten im Lindenhof, welche bei eiligen Gängen und Geschäften von den Beamten drüben in der großen Kanzlei benützt wurde, so lange offen, bis die Tagesarbeit beendet und der Graf sich für die Nacht in sein Kabinet zurückzog. Dazu ließ er Nachts noch im kleinen Wartezimmer am Fuß der Kanzleitreppe einen Jäger mit einem tüchtigen, wachsamen Hunde die Wache beziehen, welcher Befehl hatte, hin und wider durch das Gebäude und den angrenzenden Hof die Runde zu machen. Und da er selbst, wie gesagt, im Vorzimmer schlief, und die ganze Zimmerreihe, wie ihr heut Morgen selbst gesehn, keinen andern Zugang hat als den durch das Vorgemach, vorüber an Huberts Bett, so schien nach menschlichen Begriffen ein Unglück, ein Einbruch unmöglich, und der Graf sowohl wie seine Diener waren ruhig.

»So verging die Zeit, der October lief aus, der November begann mit kaltem, unfreundlichem Nebel- und Regenwetter. Da meine Mutter schon am Tage meiner Ankunft, am 25. October, gestorben war, wollte ich gleich nach dem Begräbniß nach Königshofen zurück, denn mir war das Herz schwer und ich sehnte mich nach meinem Gemahl, nach meinem Hause – es war in Berndingen sterbenseinsam und traurig. Ihr könnt daher denken, daß mir ordentlich leicht ward, als mir der Courier des Grafen die Nachricht brachte, es stehe hier alles gut; ich möge am dritten November abreisen, daß ich am fünften, einem Montage, hier eintreffen könne; nach D. wolle er mir Rolof entgegenschicken.

»Den Brief hatte er am Donnerstag in der Frühe geschrieben und abgeschickt. Als er im Lehnhof – es war Morgens sechs Uhr und noch ziemlich finster – dem Reitenden selbst den Brief und die letzten Instructionen gegeben, trabte ein anderer Reiter in den Hof, stieg ab und gab dem Grafen einen Brief. »Von Waldseck, Euer Erlaucht,« sagte er dabei; »es habe Eile, brauche aber keiner Antwort.« – »Schon gut,« versetzte mein Gemahl, »warte Er nur, bis ich gelesen; es könnte doch nöthig sein zu antworten.« Und damit ging er die Kanzleitreppe hinauf in sein Kabinet, um den Brief zu lesen.

»Das konnte aber kaum geschehen sein, als Hubert durch ein heftiges Klingeln hereingerufen wurde und die Weisung empfing, augenblicklich den Boten heraufzuholen. »Was das für Menschen sind!« sprach mein Gemahl dabei ärgerlich: »schicken mir den seltsamsten Brief und denken, es sei damit gut!« – Hubert eilte jedoch umsonst, der Reiter war schon wieder fort, weil er, wie er zu einem Diener gesagt, noch viele Aufträge und die Weisung habe, so schnell wie möglich zurückzukehren. Diese Nachricht verstimmte den Grafen sichtbar noch mehr. »Werde 'mal mit dem Lienhardt – so hieß der Verwalter – reden! Werden die Menschen denn alle toll?« sagte er vor sich hin. Dann aber setzte er sich ruhig zur Arbeit, und es dachte bald niemand mehr an den ganzen Vorgang, bis nach einigen Tagen das Unglück geschah und alle Umstände erwogen wurden. Da freilich fiel ihnen denn ein, daß sie seltsamer Weise den Boten ja auch gar nicht gekannt hatten, obgleich der Verkehr zwischen dort und hier ein sehr häufiger war und niemand hier oder drüben lebte, den nicht alle Angehörigen wenigstens hie und da einmal gesehen hatten.

»Am Nachmittag ließ der Graf sich ein Pferd satteln und ritt nach Waldseck hinüber, wie immer nur in Begleitung eines Reitknechts. Auch daß beide, Herr und Diener, Pistolen in den Holstern hatten, war schon seit Jahr und Tag gewöhnlich. Als er Abends zurückkam und Hubert, der halb und halb auch das Amt eines Kammerdieners versah, ihm die Reiterstiefel ausgezogen und den Hausrock hingereicht hatte und dann noch aufräumend im Kabinet hin und her kramte, ging der Graf, die Hände auf dem Rücken nachdenklich auf und ab und sagte ein paarmal abgebrochen vor sich hin: »kurios! – Kurios! – Müssen's denn eben abwarten! – Sollte mir fehlen!« Und endlich schickte er Hubert hinaus und setzte sich an den Tisch zur Arbeit.

»Das war am Donnerstag. Die folgenden Tage vergingen wie gewöhnlich, arbeitsam und still, und der Graf war in der besten Laune. Er freute sich sehr zu unserer Ankunft, und als er am Sonntag mir Rolof entgegenschickte, sagte er beim Abschied zu ihm: »grüß' mir die Charlott' vielmal und küsse meine kleine Lucie. Kommt nicht zu spät!« Damit lenkte er sein Pferd um, hielt jedoch nach einigen Schritten wieder an, wandte sich im Sattel und rief dem Andern nach: »du, Rolof, erinnere mich doch übermorgen dran, daß ich dir etwas zu erzählen habe. Die kurioseste und unverschämteste Bettelei, die ich je erlebt!« Er lachte bei diesen Worten. Wenige Augenblicke darauf waren die beiden einander aus den Augen. So war er auch am Abend, den er bei Leo und seinem Erzieher zubrachte, gar heiter, und als er gegen zehn Uhr in die Privatkanzlei und sein Kabinet zurückkehrte, bemerkte er gegen Hubert: »nun, morgen kommt die Gräfin, da muß ich heut aufarbeiten. Aber ich habe sicher bis gegen Mittag zu thun. Lasse mich nicht stören, Hubert.« Dann entließ er den Leibjäger, und dieser hörte ihn, während er durch den Saal ging, die Thür schließen und dann den Stuhl zum Schreibtisch rücken. »Der arme geplagte Herr!« dachte er, »es wird Zeit! Er arbeitet sich sonst noch krank!«

»Hubert war bis gegen Abend mit Erlaubniß des Grafen drunten in Königshofen gewesen, hatte das Schließen der Thüren seinem Kameraden übertragen und fand, wie er nun selbst vorsorglich nachsah, alles in der besten Ordnung, traf Jäger und Hund auf dem Posten, nahm die Schlüssel an sich, erkundigte sich, ob auch etwas passirt sei, und ging endlich nach oben und in sein Vorzimmer, das während seines Ganges wie üblich verschlossen gewesen war. Da er sich frostig fühlte in dem kalten, ofenlosen Gemach, so holte er aus dem dort befindlichen kleinen Wandschrank Geräthe und Ingredienzen, kochte Wasser und machte sich ein Glas Grog. Dann, weil er noch nicht schlafen mochte, setzte er sich mit Riedingers Thierbuch zur Lampe. Der Grog schmeckte ihm nicht, er schien ihm bitter zu sein, so daß er glaubte, der Rum, der schon lange unberührt in der kleinen Flasche gestanden, sei verdorben. Er schob das Glas halbgeleert auf die Seite und fühlte sich dann fast plötzlich von einer solchen Müdigkeit übermannt, daß er nicht mehr aufstehn konnte, sondern den Kopf auf den Tisch sinken ließ und einschlief.

»Als er aus einem schweren, betäubenden Schlafe auffuhr und seiner Sinne wieder mächtig ward, war es stockfinster um ihn und todtenstill. »Um Gott!« dachte er, »wie kam mir das?« griff gleich nach den Schlüsseln, und da er sie richtig in der Tasche seines Rocks fand, zündete er beruhigt wieder Licht an. Die Lampe war aus Mangel an Oel erloschen. Um ganz ruhig zu sein, ging er nochmals hinab, traf den Jäger wachsam und fragte ihn, ob auch irgend etwas Ungewöhnliches zu vernehmen gewesen. »Nichts,« erwiderte der Mann, ein alter treuer Diener des Hauses. »Vor einer halben Stunde schlug der Caro an und ich sah aus dem Fenster; aber es bissen sich nur zwei Katzen.« Dann ging Hubert nach der Thür, die in den Lindenhof führte, öffnete die verschlossene und blieb einen Augenblick draußen stehn, um sich in der Nachtluft vollends zu erfrischen. Dabei sah er, daß der Graf noch Licht hatte; es war freilich auch eben erst dreiviertel auf Zwölf, wie der Jäger sagte. »Der arme Herr!« dachte er wieder, schloß ab und schob auch den Riegel vor, stieg hinauf und legte sich ins Bett. Aber schlafen konnte er nur kurz und unruhig, obgleich er sich todmüde und wie zerschlagen fühlte, und stand schon um sechs Uhr wieder auf. Alle Thüren und Schlösser waren in vollkommener Ordnung, wie er sie nachher für den Tag öffnete und die Beamten einließ, welche im Saal arbeiteten.

»Die Uhr ward neun, ward zehn, vom Grafen sah und hörte man nichts. Da er dies jedoch vorhergesagt und jede Störung verboten hatte, so achtete man nicht weiter darauf, als daß man sich im Saal möglichst still verhielt. Als die Uhr indessen zwölf wurde und die Schreiber zum Essen gingen, als der Sekretair, der bis dahin keinen Laut, kein Stuhlrücken, keinen Tritt aus dem Kabinet vernommen, dies gegen Hubert kopfschüttelnd erwähnte, überkam es auch den mit Besorgniß, und er klopfte in des Andern Gegenwart erst leise, dann stärker an und rief auch seinen Herrn. Aber es blieb still – todesstill, und als sie dann an der Thür rüttelten, zeigte sie sich verschlossen und der Schlüssel steckte drinnen umgedreht im Schloß. Den Männern stiegen die Haare zu Berge. Sie riefen den alten Jäger herbei, der grade drunten über den Hof ging, und schickten ihn zum Rentmeister und Leibarzt – damals hatten wir den noch. – Dann, als die Beiden mit dem Alten zurückkamen, erbrachen sie die Thür.

»Nach dem ersten Blick taumelten die Männer bleich vor Entsetzen zurück, Hubert schlug sinnlos zu Boden. Mein Gemahl war todt – ermordet. Der Mörder mußte zwischen Repositorium und Schreibtisch gestanden und von dort, über den Aufsatz des letztern auf den zum Papier geneigten Kopf des Schreibenden seinen Schlag – vielleicht mit einem Hirschfänger – geführt haben, der das Hinterhaupt buchstäblich spaltete und wenigstens augenblicklichen Tod zur Folge gehabt haben mußte. Dann war der Körper vom Stuhl gesunken und lag zwischen diesem und dem Schreibtisch auf dem Teppich, dessen Bordüre das Blut ganz durchdrungen hatte.«

Die Erzählerin hielt inne; sie war sehr blaß, aber sie hatte diesen furchtbaren Bericht mit eiserner Entschlossenheit und Stimme gegeben, der man auch nicht das geringste Zittern anhörte. »Ja, ja, meine Kinder,« sprach sie nach einer Pause, indem ein finsteres Lächeln durch ihre Züge glitt, »ich sehe wohl, euch bebt das Herz. Und es ist auch furchtbar genug. Aber ich bin, seit ich damals, eine Stunde nach der Entdeckung, zurückkam und das erste Entsetzen überwunden hatte, damit vertraut geworden. Es ist kein Tag vergangen, wo ich nicht daran gedacht – kein Tag, an dem ich nicht um Strafe und Rache für diesen Mord gefleht. Mag das christlich sein oder nicht,« setzte sie leidenschaftlich hinzu, »ich kann nicht anders, und lebt' ich noch hundert Jahre!«

Sie schwieg, die Zuhörer sagten auch kein Wort, und im Zimmer war es still. – Endlich fuhr sie wieder fort.

»Von dem Mörder zeigte sich keine Spur, es müßten denn zwei blutige Abdrücke eines zierlichen und eleganten Stiefels, gewesen sein, die sich im Zimmer fanden; nachher war der Stiefel sichtbar auf dem Bärenfell in der Mitte des Teppichs sorgfältig abgewischt worden. Die Thür zum Kassenzimmer stand offen und vom Gelde in der kleinen sogenannten Tagescasse, die nicht verschlossen war, fehlte allerdings eine bedeutende Summe; alles Silber jedoch und alle Papiere, die sich nicht leicht und ohne ein Aufsehen realisiren ließen, hatte der Mörder ebensogut liegen lassen, wie die sehr kostbare Uhr und ein paar Brillantringe aus dem Schreibtisch. Die große Kasse war unberührt. Das war alles. Wer es gewesen, wie er herein, wie er, bei der von innen verschlossenen Thür, bei den ebenso verschlossenen, gänzlich unverletzten Fenstern, wieder heraus gelangen, wie er weiter entkommen konnte, – das war unerklärlich und blieb es bis heute.

»Am Abend quartierte sich ein französischer General bei uns ein, in seinem Gefolge ein Commissair Ordonnateur, der früher in Paris bei der Polizei angestellt gewesen war. Das Unglück konnte ihnen nicht verborgen, werden, sie nahmen lebhaft theil an dem Schmerze aller; der General quartierte sich voll Zartgefühl nach Königshofen hinüber, der Commissair betheiligte sich an der Untersuchung, mit der das Justizamt am folgenden Morgen fortfuhr. Durch seinen wirklich wunderbaren Scharfsinn wurde man noch auf einige Punkte aufmerksam gemacht, die man bisher übersehn, darunter auch auf Huberts Schläfrigkeit. Und siehe da, – im Rum fand sich ein starkes Schlafmittel. Aber die Sache ward dadurch nur noch verwickelter, da der Leibjäger den Schlüssel zu jenem Schrank nie aus der Tasche ließ. – Zweitens machte der Mensch auch auf den Brief aufmerksam, den der Graf am Donnerstag erhielt und von dem er sicher auch zu Rolof hatte reden wollen. Aber der Brief war fort, und Lienhardt erklärte: er habe schon den Herrn Grafen selbst überzeugt, daß er den Brief und Boten nicht abgesendet haben könne. Vom Inhalt habe der Herr gegen ihn nichts verlauten lassen.

»So schwand auch diese Hoffnung, und es schien nur festzustehn, daß der Mörder am Sonntagnachmittag sich mit unerhörter Frechheit durch die ziemlich belebten Höfe und Gänge geschlichen, mit Nachschlüsseln die Wohnung eröffnet, den Schlaftrunk bereitet und dann in der Stunde, die Huberts Schlaf gewährt, die That begangen und das Schloß wieder verlassen habe. Wie das alles möglich gewesen, ist, ich habe es schon gesagt, nie erklärt worden. Ebensowenig vermochte man sich einen Thäter zu denken. Daß es kein gemeiner Mörder und Dieb gewesen, erhellte nicht nur aus dem Abdruck des Stiefels und der Sonderung des Geldes, dem Zurückbleiben der Uhr, sondern auch aus allen nothwendigen Vorbereitungen, die mit einem Aufwand von Geist und Zeit, möchte man sagen, getroffen waren, wie man es sonst schwerlich finden dürfte. Auch der Commissair erklärte, etwas Aehnliches sei ihm bisher niemals vorgekommen. Bei mir stand es überdies fest, daß der Mord nicht durch den Diebstahl, sondern mehr durch Privatfeindschaft oder Rache veranlaßt worden. Das sagten mir unabweislich die seltsamen Worte meines Gemahls nach seiner Rückkehr von Waldseck: »müssen's denn eben erwarten! – Sollte mir fehlen!« – die nach seinem ganzen Charakter sich nur auf irgend eine gegen ihn persönlich gerichtete Drohung beziehn konnten. Eine Drohung gegen seinen Besitz, sein Vermögen hätte er den Gerichten übergeben.

»Allein auch diese Ahnung oder Voraussetzung führte zu nichts; weder ich, noch irgend ein anderer Mensch wußte von jemand, der dem Grafen übelwollte, geschweige denn ihn haßte. Er hatte mit aller Welt in Frieden gelebt, war in der ganzen Grafschaft sehr beliebt und wurde von seiner nähern Umgebung gradezu angebetet. Das stellte sich selbst aus der Untersuchung heraus, die sich natürlicherweise auch auf die Hausgenossen und die nächste Umgebung meines Gemahls erstreckte. Von denen war niemand der Mörder gewesen, niemand von ihnen schien mit dem Thäter auch nur in Verbindung, im Einvernehmen gewesen zu sein. Und so war denn alles aus und zu Ende; die Acten wurden geschlossen, die Untersuchung stockte, und wer von der ganzen Angelegenheit wußte – denn das Publikum und sogar der größte Theil der Dienerschaft erfuhr nur, daß der Graf plötzlich gestorben sei, – der schwieg und fügte sich in die Beschlüsse der Vorsehung, ohne jedoch den Gedanken und die Hoffnung aufzugeben, daß sich die Sache noch einmal aufklären werde. Zu den Gläubigsten in dieser Beziehung und zu denen, die auch das Beobachten und Nachspüren niemals aufgaben, gehörte dein Vater, Gerhard.

»So verging Jahr und Tag, ohne daß wir noch etwas erfuhren, da erschien eines Tags im März 1808 Rolof bei mir und theilte mir Folgendes mit. Er war auf einer seiner unaufhörlichen Streifereien, die er auch in diesen Tagen fortsetzte, obgleich du, Gerhard, mein Kind, eben geboren warst und deine Mutter ganz einsam mit dir und einer alten Frau im Heidehaus war, – nach Lautenthal gekommen, einem Städtchen, das etwa zehn Stunden von hier im Gebirge liegt, nach C. gehört und auch jetzt noch wenig bekannt ist. Ich hörte den Namen damals zum erstenmal. – Der Wirth in der Linde war Rolof von frühern Jahren her bekannt, und nachdem sie, die sich seit Jahren nicht gesehen, eine Zeitlang geplaudert hatten, sagte er plötzlich: »Du bist ja jetzt wohl obenauf bei der Herrschaft in Königshofen? Wie ist's denn eigentlich – ist dort vor ein paar Jahren nicht einmal ein großer Diebstahl geschehn, worüber sich der alte Herr Graf so alterirt hat, daß ihn gleich darauf der Schlag rührte?« – »Davon weiß ich nichts,« versetzte Rolof vorsichtig; »aber weßhalb fragst du, Lindenhans?« Und so erfuhr er, es sei damals ein anscheinend vornehmer Herr mit einem Diener dort eingekehrt, des Tags über meistens aber abwesend gewesen und wohl acht bis zehn Tage geblieben. Am Tage vor Allerheiligen – der Wirth wußte das genau – also am Mittwoch, habe er den Diener, der diesmal keine Livree getragen, sondern wie ein Ackerknecht gekleidet gewesen, mit einem Briefe fortgeschickt und dabei, wie er, der Wirth vernommen, zum Abschied gesagt: »also so zeitig, wie möglich, und von Waldseck! Vergiß nicht!«

»Beides, die Verkleidung und die Erwähnung von Waldseck, fiel dem Lindenhans auf – letzteres war ja ein nach Königshofen gehöriges Gut, ihm zufällig bekannt, und ebenso, daß dort niemand wohnte, mit dem ein solcher Herr verkehren konnte. Doch geschah nichts Besonderes; der Diener kam am nächsten Abend spät zurück; dann blieben beide noch zwei Tage und reisten am Sonntag ganz früh ab. Gleich nachher erfuhr der Wirth von einem großen Diebstahl in Königshofen und daß der Graf in Folge des Schrecks bei der Entdeckung gestorben sei. Da dachte er an seine Gäste. Allein bis nach Lautenthal erstreckten sich die Nachforschungen nicht, er selbst mochte, wie es bei solchen Leuten geht, mit den Gerichten nichts zu thun haben und schwieg daher. Dem Rolof aber erzählte er's und beschrieb beide, Herrn und Diener, so genau wie möglich. In dem Letztern mußten wir alle den Boten vom Donnerstagmorgen erkennen, den Herrn kannten wir nicht. Und wieder nutzlos war auch der Wappenknopf von der Livree des Dieners, den der Wirth nach der Abreise der Fremden im Zimmer gefunden, aufbewahrt und jetzt bereitwillig Rolof überlassen hatte. Ich habe ihn noch. Es ist ein gekrümmter Arm darauf mit einem Streitkolben in der Faust, und als Devise stehn die Worte darüber: » garde à vous!« Alle Nachforschungen haben zu nichts geführt: ähnliche Wappen gab und gibt es viele, die Devise fand sich bei keinem.

»Rolof wollte nach diesen Mittheilungen am nächstfolgenden Tage noch einmal nach Lautenthal hinüber, um womöglich weiteres zu erfahren. Allein es sollte nicht so sein. Auf dem Wege dahin wurde er im alten Steinwalde erschossen, und erst nach zwei Tagen gefunden. Ob das durch einen unglücklichen Zufall, ob mit Absicht geschehen – ob durch einen Feind, deren er mehr als einen hatte, ob durch den noch anwesenden Mörder meines Gemahls, der von seinen Nachforschungen erfahren und ihn fürchtete – das alles weiß weder ich, noch das Gericht. Die Untersuchung, die in der wilden Zeit überhaupt nur wenig nachhaltig geführt werden konnte, brachte nichts an's Licht; und nachdem man im Stillen auch die Nachforschungen in Betreff des an meinem Gemahl geschehenen Mordes wieder aufgenommen und den Lindenwirth vergeblich inquirirt hatte, mußte man endlich von beiden Fällen abstehn. Nun liegt der Staub dicht darüber, und wenige sind, die noch davon wissen, noch daran denken. –

»Das wollte ich euch erzählen, meine guten Kinder.«


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