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Der höfliche Zeitgenosse

Verehrte Damen, und werte Herr'n!
»Der Zeitgenossen Höflichkeit«,
Das ist heut meines Vortrags Kern,
Ein Thema – unerschöpflich weit!

Um dies gleich vorwegzunehmen: nach meiner bescheidenen Ansicht hat die Höflichkeit unserer Zeitgenossen in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Die Aufgeregtheit der Kriegszeiten und die mehr oder weniger berechtigte Nervosität der Inflationsjahre haben ruhigeren Gefühlen und besseren Empfindungen Platz gemacht. Und es überrascht uns kaum noch, wenn wir vernehmen, daß große Behörden das Heer ihrer Angestellten zu stets wachsender Höflichkeit gegenüber dem Publikum erziehen.

Vielleicht sollte aber andererseits auch das Publikum den Versuch machen, sich selbst zu steigender Liebenswürdigkeit gegenüber den Beamten zu erziehen.

Glauben Sie nur ja nicht, meine verehrten Damen und Herren, daß es ein Vergnügen ist, täglich zahlreiche Stunden hinter dem Schalter eines Postamtes zu sitzen und dort neben aller notwendigen Arbeit auch noch den Launen, Wünschen und Fragen des hochwohllöblichen Publikums preisgegeben zu sein. Ich habe gerade bei dieser Behörde einen kleinen Blick hinter die Kulissen getan, ich bin freiwilliger Hilfsreferent bei der Berliner Oberpostdirektion gewesen. Und ich kann sagen: manches habe ich dort gesehen – nur nicht die Rosen, auf denen angeblich die Beamten der deutschen Reichspost gebettet sein sollen.

Betrachten wir mal die gesamten,
So oft geschmähten Postbeamten,
In Ruhe und der Reihe nach,
Geordnet nach ihrem Arbeitsfach.

*

Da wäre zuerst der Mann am Schalter,
Zumeist ein Herr in mittlerem Alter,
Der mit erstaunlicher Schnelligkeit schreibt
Und meistens liebenswürdig bleibt!

So sah ich z. B. mit an, wie ein – vor mir – harrender Kaufmannslehrling auf dem Schaltertisch mit zehn Fingern den Torgauer Marsch trommelte, wobei der Jüngling gesonnen schien, diese musikalische Tätigkeit so lange fortzusetzen, bis der Beamte die fünfzig Einschreibebriefe eingetragen haben würde, die der Lehrling ihm durchs Schalterfensterchen gereicht hatte. In kurzen, aber erregungsfreien Worten verbat sich der Beamte diese Belästigung. Worauf der jugendliche Musikfreund entgegnete: »Det will 'ne Republik sein, und man darf nicht mal mehr den Torgauer Marsch trommeln!« Aber dieser Versuch, den Kampf auf das politische Gebiet hinüberzuspielen, fand bei dem Beamten keine Gegenliebe. Der erledigte in Seelenruhe die fünfzig Einschreibebriefe. Und dann kam – ich dran, ohne daß dem musikalisch-politischen Lehrling noch ein weiteres Wort gewidmet worden wäre. –

Ein anderes, kleines Erlebnis:

Im Postamt Berlin W. 9, beim Potsdamer Bahnhof ist im ersten Stockwerk eine besondere Abteilung von Schaltern untergebracht, die nur die köstlichsten Dinge annimmt, wie Postanweisungen, Zahlkarten und wohlversiegelte Wertbriefe. Dort sah ich eine alte Frau mit einem ungesiegelten Wertbrief umherirren... sie trat endlich an einen Schalter und fragte den Beamten, was sie da tun solle, sie besitze weder Siegellack noch Petschaft und sie verstehe auch mit dergleichen Apparaten nicht umzugehen. –

»Da kann Ihnen gern geholfen werden«, entgegnete der Mann am Schalter, »vor Schalter 9 ist ein Gashahn, da kann das Publikum dran siegeln. Aber Ihnen schicke ich einen Beamten 'raus, der bringt Petschaft und Siegellack mit und hilft Ihnen!« Kaum hatte der Mann am Schalter so gesprochen, da trat durch eine Seitentür ein Beamter heran, zündete die Gasflamme an, siegelte mit dem postalischen Siegellack und mit dem postalischen Petschaft – und der strahlend freudigen alten Dame war geholfen!! Wer's nicht glaubt, gehe, wenn er einmal in der Nähe ist, selbst hin und betrachte zu Berlin im Postamt W. 9 eine Treppe hoch neben Schalter 9 den Gashahn, dieses Denkmal postalischer Liebenswürdigkeit gegen das Publikum.

Von diesem Gashahn, dem freundlich » entflammten«,
Zieht nun einen Schluß auf die Schalterbeamten,
Die – statt bequem den Schalter zu riegeln –
Den alten Damen helfen beim Siegeln!

*

Jetzt reden wir mal vom – Geldbriefträger! Wer klagt über ihn? Da gibt's keinen Kläger! Er ist willkommen unbedingt, Wofern er nicht grad 'ne Nachnahme bringt!

 

Der Geldbriefträger! Welchen »goldenen« Klang hat dieses Wort, das eigentlich einen kleinen Unsinn bedeutet; denn richtig müßte der Mann »Postanweisungsträger« heißen. Bares Geld darf in Briefen überhaupt nicht versandt werden. Höchstens kämen Scheine in Betracht, aber die werden wieder nicht in »Geldbriefen«, sondern in » Wertbriefen« versandt, wonach der brave Beamte also »Wertbriefträger« heißen müßte. Aber mag das Wort noch so falsch sein, mag es rein postalisch überhaupt nicht existieren – in der Studentenzeit gibt es keinen Menschen männlichen Geschlechts, den man lieber auf der schlicht möblierten »Bube« erscheinen sieht als den Geldbriefträger.

Der Geldbriefträger ist wohlgenährt, von einem gewissen Embonpoint und zeigt eine rosige Gesichtsfarbe. Er schmunzelt. Er ist höflich und zugänglich. Seine Klienten kennt er alle persönlich; wenn er sie auf der Straße trifft und »etwas« für sie »hat«, so erkennt der Adressat dies schon von weitem an dem um zwei Grad verstärkten Schmunzeln. Der Adressat und der Geldbriefträger schreiten dann mit herzlichem Gruße aufeinander zu, und das Auszahlungsgeschäft findet in Gottes freier Natur statt.

Wenn man nicht mehr Student, sondern »alter Herr« ist, muß man sich allmählich von diesem liebenswerten Beamten »entwöhnen«. Man hat ein Postscheckkonto. Man hat das zuständige Postamt durch einen höflichen Schreibebrief beauftragt, von nun an bis in alle Ewigkeit die Postanweisungen nicht mehr an uns zu bestellen, sondern die Beträge unserem Postscheckkonto gutzuschreiben. Von dem Tag an, da wir diesen höflichen Schreibebrief an das Postamt abgesandt haben, sehen wir den Geldbriefträger nur noch auf der Straße wieder.

Und immer wieder, wenn wir ihn sehen, Empfinden wir deutlich: ihn umwehen Erinnerungen an Liebe und ... Bier! O Geldbriefträger, dich lieben wir!

 

Wer bringt tagtäglich was für jeden?
Der Der Briefträger! Von ihm laßt uns reden!

Der Briefträger ... im Gegensatz zum »Geldbriefträger« müßte man den richtigen Briefträger eigentlich » Briefbriefträger« nennen, damit der Titel besagt, daß sein Träger wirklich Briefe austrägt.

Der Briefträger – wohlgemerkt: der Briefbriefträger – ist der Don Juan unter den Postboten. Was der Gardeleutnant unter den Jüngern des Mars für die Damenwelt bedeutete, was der Heldentenor im Reiche der Musen – das ist der Briefträger unter den Beamten der Reichspost. Sämtliche Dienstmädchen sind alle rettungslos in ihn verliebt! Heute erlauschst du, wie er mit der blonden Lina von Geheimrats parterre tuschelt, morgen findest du ihn im traulichen Geplauder mit der schwarzen Anna, die oben in der vierten Etage bei Klavierlehrers dient. Und nicht minder bedenkt er mit seiner Gunst die verschiedenen dazwischen liegenden Stockwerke, die rechten Hälften und die linken Hälften. –

Aber die Rache ereilt ihn. Jahrelang treibt er es – da plötzlich weiß ihn eine fester anzupacken, als es sonst die anderen taten, und im Handumdrehen ist aus Amtsrichters Stubenfee, der braunen Kathrins, eine »Frau Briefträgerin« geworden. Wenn er nicht sehr viel Glück hat, muß er's von der braunen Kathrins dann sein lebenlang tagtäglich hören, daß er's damals auch, noch mit der blonden Lina, mit der schwarzen Anna und allen anderen Stockwerken gehalten hat ...

Und noch eins: betrachtet euch mal einen verheirateten Briefträger – und ihr werdet mir zustimmen: alle Briefträger haben hübsche Frauen!

Schon das beweist uns klar und geschwind,
Daß Briefträger liebenswürdig sind.
Sie steigen die Treppen unverdrossen
Als nette, höfliche Zeitgenossen!

*

Jetzt kommt der Berliner Rohrpostbote!
Der hat eine ganz besondere Note.

Der Beamte, der in Berlin die Rohrpostbriefe ihren Empfängern zuzustellen hat, ist gewiß derjenige Berliner, der die meisten Lügen spazierenträgt. Auf keinem postalischen Beförderungswege wird so viel »geschwindelt« als – »per Rohrpost«. Der Jüngling, der zum heutigen Abend für eine fünfzigköpfige »Gesellschaft« zugesagt hat und nun plötzlich von seiner heimlichen Braut erfährt, er könne »sie« heute abend sehen ... dieser Jüngling schreibt schleunigst einen Rohrpostbrief an das gastliche Haus, dem er zugesagt hatte, und in seinem Rohrpostbrief schwindelt er: »Ich habe so furchtbare Migräne, daß ich leider unmöglich kommen kann«. Fügt es sich aber, daß die heimliche Braut von einem kühnen Herrn angeredet wird, der ihr liebenswürdiger erscheint als ihr »Bisheriger«, so ist es wohl möglich, daß die junge Dame zwecks Abfassung eines Rohrpostbriefes für drei Minuten in ein Postamt einkehrt, und daß der harrende Jüngling noch am gleichen Abend eine rohrpostalische Mitteilung empfängt des Inhalts: »Innigst Geliebter! Ich habe so furchtbare Migräne, daß ich leider unmöglich kommen kann.« So geht es. Manchmal ist die Migräne weiblichen, manchmal auch männlichen Geschlechtes. Je nachdem. Und immer ist es der vielgeplagte Rohrpostbote, der alle diese kleineren und größeren Lügen in den Straßen der Reichshauptstadt spazierentragen muß.

Ich denke mir den Beruf des Rohrpostboten furchtbar anstrengend und aufregend; immer diese interessanten kleinen Briefchen umhertragen müssen und nicht einen aufmachen dürfen, um nachzusehen was drinsteht! ..

*

Nun kommt der letzte Postbote dran!
Das ist der gern gesehene Mann,
Der die Pakete ins Haus dir bringt
Und deshalb niemals vergeblich klinkt!

Die anderen Postboten müssen zu Fuß gehen, bestenfalls dürfen sie radfahren, – der Paketbote ist vornehm, er hält sich sein eigenes schwefelgelblackiertes Automobil! Darin darf er den ganzen Tag spazierenfahren. Bei den Erwachsenen ist der Paketbote ein fast ebenso gern gesehener Gast wie der Geldbriefträger. Bei den Kindern ist er sogar noch bedeutend beliebter; die Kleinen wissen den Wert des Geldes ja noch nicht zu schätzen; aber daß in einem großen Paket von den Großeltern, oder von Onkel Max, oder von Tante Laura zumeist etwas Schönes drinnen ist, das wissen sie. Und so ist für sie der Paketbriefträger – Großvater, Großmutter, Onkel und Tante in einer Person.

 

Ich zähle also die gesamten
Bis jetzt erwähnten Postbeamten,
Die nun mein Vortrag hat umschlossen,
Zu den liebenswürdigen Zeitgenossen,
Die uns das Leben nicht vergällen.
Uns trotzdem gibt's noch manche Stellen,
Wo liebenswürdiger die Post
Zu uns sein dürfte ganz getrost!
In jedem Monat fliegt da, zum Exempel
Mir eine » Fernsprechrechnung« in den Tempel,
Die sagt ganz ohne jeden Gruß,
Daß ich » umgehend« berappen muß.
Sie sagt dies ein bißchen herzensroh,
Und die beiden Schlußsätze lauten so:

»Ist der geschuldete Betrag nicht innerhalb einer Woche nach dem Schlußtag eingegangen, so müßte der Anschluß gesperrt werben. Die Sperre kostet 5 Goldmark.«

Das ist hart.

Ich habe bis jetzt immer pünktlich bezahlt, in seinem ganzen Leben war mein Fernsprecher auch nicht eine Sekunde lang gesperrt, die Post müßte mich eigentlich als zuverlässigen und angenehmen Kunden kennen – aber allmonatlich aufs neue verwendet sie das gleiche unliebenswürdige Formular, das von der Göttin des Mißtrauens diktiert scheint.

Dabei hat es die Post in Wirklichkeit gar nicht so eilig. Sie denkt nicht im entferntesten daran, so bitter und schleunigst Ernst zu machen und wirklich schon am achten Tage den Anschluß zu sperren. Aber das Formular lautet nun einmal so, wahrscheinlich liegen auch noch Hunderttausende dieses unliebenswürdigen Formulars fertig auf den Aemtern und sollen nun aus Sparsamkeitsgründen trotz aller modernen Höflichkeits-Bestrebungen zunächst aufgebraucht werden.

Aber wenn der Vorrat dieser Drucksachen sich seinem Ende nähert, so sollte die Post einmal so freundlich sein und den Wortlaut liebenswürdiger wählen. Ich erkläre mich gerne bereit, der Post diese Arbeit abzunehmen und ihr hiermit einen hübschen Text zur Verfügung zu stellen, den jedes Amt auf jede Rechnung drucken lassen sollte. Bekanntlich sind ja Verse im allgemeinen an sich schon liebenswürdiger als Prosa. Wie würde jeder Telephonabonnent schmunzeln, wenn er auf seiner Fernsprechrechnung diese Zeilen zu lesen bekäme:

Verehrtes Fernsprech-Publikum!
Nun ist schon wieder ein Monat um,
Nicht wahr! ja, wie die Zeit so rennt!
Auch du, o Fernsprech-Abonnent,
Wirst um entsprechende Moneten
Hierdurch in Freundlichkeit gebeten.
O komm – so will es die Moral –
            O komm und zahl'!

30 mal 24 Stunden
Hat man dich oft und gern verbunden.
War's manchmal falsch (und nicht zu knapp).
Dafür gehn fünf Prozente ab,
Die, um die Mühe dir zu sparen
Von uns schon abgezogen waren.
Komm! Unsre Kassen sind schon kahl!
            O komm und zahl'!

Es warte keiner von den Herren,
Bis wir ihm erst den Anschluß sperren,
Was wir, obwohl uns Geld von nöten,
Doch nur mit schwerem Herzen täten!
Das würde dann auch noch den Posten
Von weiteren fünf Reichsmark kosten.
Spar' dir dies Geld und uns die Qual –
            O komm und zahl'!

Und wenn du kommst, um zu bezahlen,
Ach, wie wir dann vor Freude strahlen!
Wir werden's als Genuß empfinden
Und dich nie wieder falsch verbinden
Und nie dich wieder warten lassen! –
Genau wie du jetzt unsre Kassen! –
Das wird ein Leben!!! ideal!!...
            Drum komm und zahl'!

Was meinen Sie, meine Damen und Herren: wer könnte einer solchen Aufforderung widerstehen? Niemand! So liebenswürdig angeredet, würde jeder mit Freude sein letztes Hemde auf dem Altare des Postamtes opfern – ohne, daß ihm vorher der Anschluß gesperrt wird.

Auch bei der Reichsbahn könnte die Liebenswürdigkeit der Beamten gut und gerne noch um einige Grade wachsen. Mit den schönen Versprechungen, die ab und zu in den Zeitungen zu lesen stehen, ist da wenig getan. Wir fuhren kürzlich vom Schlesischen Bahnhof in Berlin mit dem Fernzug nach Fürstenwalde, wobei ich bemerken muß, daß der Fernzug zwischen dem Schlesischen Bahnhof und Fürstenwalde nicht hält. Mein Gepäckträger irrte verzweifelt von einem Abteil zum anderen: alles besetzt, und wir waren vier Personen mit reichlichem Handgepäck. Da sieht unser Gepäckträger, daß das Abteil, das laut Plakat für Kriegsbeschädigte reserviert ist, noch vollständig leer blieb; er erklärt uns, daß wir unter diesen Umständen hier getrost Platz nehmen können, verstaut unser Gepäck, nimmt seinen Lohn und empfiehlt sich. Kaum ist der Träger fort, da erscheint ein uniformierter Reichsbahnbeamter, der im benachbarten, durch eine Tafel als »Dienstabteil« gekennzeichneten Räume seinen Sitz hat. Mit unfreundlicher Stimme fährt er uns an:

»Wie kommen Sie dazu sich hierhin zu setzen!?«

Ich erkläre: »Wir wollen nur bis zur nächsten Station, da hat der Gepäckträger ...«

»Das ist ganz egal! der Gepäckträger hat gar nichts zu bestimmen, zeigen Sie mir mal Ihre Fahrkarten her!«

Also nun war die Situation die:

1. Das Abteil ganz leer. Alle anderen Abteile überfüllt.

2. Kein Zweifel darüber, daß wir aussteigen, so bald der Zug wieder hält. Nämlich in Fürstenwalde.

Also –: 3. Nicht die leiseste Möglichkeit, daß wir irgend einem Berechtigteren auch nur einen Augenblick lang den Platz wegnahmen.

Und trotzdem wird der Beamte um keine Spur liebenswürdiger; er läßt uns zwar aus Gnad' und Barmherzigkeit die einmal eingenommenen Plätze, aber man hört sein Knurren noch, so lange er in Sicht bleibt.

Also – wohl: Duldung! Aber – –: keine Liebenswürdigkeit. Wie weit ist solch Beamter von jenem Dichterwort entfernt, das da sagt:

»Es gleichet nichts an Sträflichkeit
Der mangelhaften Höflichkeit.«

Wenn Sie übrigens wissen wollen, von wem dieses Dichterwort stammt, will ich errötend eingestehen: es ist von mir. Ich mußte mich notgedrungen mit eigenem Erzeugnis behelfen; denn die Dichterworte über Höflichkeit, Liebenswürdigkeit und dergleichen sind im allgemeinen überhaupt sehr dünn gesäet.

Der Dichter Johann Gottfried Seume spricht in seinem Gedicht »Der Wilde« beinahe abfällig von einer Eigenschaft, für die er das geflügelte Wort prägte:

»Europas übertünchte Höflichkeit«, und Goethe läßt im 2. Akt des »Faust« den Baccalaureus gar sagen:

»Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist«.

Auch Friedrich Freiherr von Logau, der so viele geistreiche Epigramme geformt hat, traute der Höflichkeit nicht allzu viel zu. In seinen Sinngedichten ist eines mit der Ueberschrift »Höflichkeit«, und das lautet:

»Die Höflichkeit ist Gold; man hält sie wert und teuer, Doch hält sie nicht den Strich, taugt wenig in das Feuer.«

Und über das Thema »Liebenswürdigkeit« sagte Ludwig Börne vor hundert Jahren in einem Aufsatz »lieber den Umgang mit Menschen« – denn nicht nur der Freiherr von Knigge hat über diesen Stoff geschrieben – also, da sagt Börne ein mit Geist übersättigtes Sprüchlein, nämlich:

»Nicht wenn du liebenswürdig bist, wirst du geliebt; wenn man dich liebt, wirst du liebenswürdig gefunden

Der unsterbliche Lustspieldichter August von Kotzebue formt in einem seiner weniger bekannten Werke – »Die neue Frauenschule« heißt es – die Wendung:

»Die liebenswürdigste der Frauen
Wird immer auch die schönste sein!«

und mit diesem Zitat wäre ich dann da angelangt, wo ich hinsteuerte, bei – den Frauen; denn ich habe keineswegs die Absicht, hier nur über den höflichen Zeitgenossen, nein, ich will auch über die höfliche Zeitgenossin sprechen.

Willst du studieren die Zeitgenoss-in,
So zieh zu einem Warenhause hin.
In diesem hochmodernen Prachtgehäuse
Erblickst du Damen gleich vieltausendweise,
Sie sind zum Teile als Verkäuferinnen,
Zum Teile auch als Käuferinnen drinnen,
Und du ergründest sicher und geschwind,
Ob höflich sie und liebenswürdig sind.

 

Gerade vorgestern war ich stundenlang in einem solchen Warenhause. Weniger um Studien zu machen – als vielmehr, um einen ... Streichholz-Halter zu kaufen. Nämlich: in unserem Landhaus haben wir zwar ein sehr helles und sehr geräumiges Badezimmer. Ferner muß zugegeben werden, daß der Badeofen mit überraschender Schnelligkeit aus Kiefernholz und Briketts die nötige Wärme zaubert. Aber der Badebetrieb hat einen großen Fehler: zum Anzünden des Feuers gehört ein Zündholz. Und das ist nie da. Wenn ich noch so oft eine wohlgefüllte Streichholzschachtel in die Badestube lege ... bis zum nächsten Morgen ist die Schachtel verschwunden. Da fiel mir ein: ich habe einmal, ich weiß nicht mehr wo, ein Ding gesehen – ja, wie soll ich es beschreiben? es war aus Metall, hing an der Wand und faßte eine Streichholzschachtel, so, daß die Zündfläche benutzbar blieb, aber die Schachtel energisch festgehalten war.

Als ich den Angehörigen meines Haushaltes dieses Gerät beschrieb, zog ich mir eine allgemeine Belobung zu – was selten geschieht –, und ich erhielt den Auftrag, anläßlich meines nächsten Ausfluges »in die Stadt« eine solche Vorrichtung, im Warenhause zu erwerben.

 

Das Warenhaus, dem ich den Einkauf zugedacht hatte, erfreute sich zur Zeit meines Besuches eines lebhaften Kundinnenandranges. Nachdem ich gewartet hatte, bis sieben vor mir eingetretenen Damen die wünschenswerten Auskünfte durch den Türhüter erteilt waren, stand ich selbst, nicht ohne schamhaftes Erröten, vor dem Gewaltigen und versuchte, ihm meine Wünsche zu erläutern; er sollte mir sagen, nach welchem Stockwerk und zu welcher Abteilung ich mich zu begeben habe. Trotzdem ich meine Rede ausgiebig durch erklärende Hand- und Armbewegungen unterstrich, hatte der Portier nicht die leiseste Ahnung von dem Ziele meiner Kauflust. Er rief einen freundlichen Jüngling im Gehrock zu Hilfe. Und der Gehrock entschied nach kurzem Nachdenken: »Der Herr wünscht einen Streichholzhalter. Dritter Gang links, vierter Fahrstuhl rechts, fünftes Stockwerk, Bijouterielager

Ich zog mein Taschenbuch, stenographierte, dankte und begab mich auf den Weg nach dem Bijouterielager.

Zehn Minuten später stand ich im Bijouterielager, vor einer liebenswürdig lächelnden Blondine, die erst dann unfreundlich wurde, als ich das Wort »Streichholzhalter« aussprach. »Nein«, hauchte sie mit stolzem Achselzucken, » Streichholzhalter« führen wir hier nicht; bitte zweiter Gang rechts, neunter Fahrstuhl links, Zwischenstock, Galanterielager«.

Ich stenographierte, dankte, wanderte und stand nach einer Viertelstunde im Galanterielager vor drei lächelnden Damen, die ihre Höflichkeit selbst dann nicht verloren, als das Wort »Streichholzhalter« von meinen Lippen ertönte. »Der Herr meint ein Rauchservice –« sprachen sie untereinander. Da merkwürdigerweise gerade in dieser Abteilung des Hauses just wenig zu tun war, bemühten sich die drei Grazien in holder Eintracht so bestrickend um meine Wenigkeit, daß ich all meine Härte zusammennehmen mußte, um nicht anstatt des notwendigen Zündholzaufhängers eine kostbare, aber vollkommen überflüssige, aus zehn Teilen bestehende Rauchgarnitur nach Hause zu tragen. Endlich wurden die drei Grazien des zwecklosen Spieles müde. »Ach«, lächelten sie, »der Herr wünscht wirklich einen ganz gewöhnlichen Streichholzhalter? Erster Gang links, vierter Fahrstuhl links, achtes Stockwerk, Blechwarenlager.« Was ich gewissenhaft in mein Taschenbuch stenographierte ... Hei, welch Betrieb durchdonnerte das Blechwarenlager. Da war es nicht wie im Reiche der Galanterien! hier bemühten nicht drei graziöse Verkäuferinnen sich um eine einzige Kundin, sondern jede Verkäuferin hatte ein Rudel von drängenden Kundinnen um sich. Als mich nach einer halben Stunde eine solche Beamtin eines Blickes gewürdigt und ich ihr mein Anliegen genannt hatte, sprach sie gekränkt: »Streichhölzer hat man nicht mehr, nur noch Benzin. Hängen Sie sich hier dies Benzinfeuerzeug in Ihre Badestube; funktioniert tadellos!« Meine auftauchenden Zweifel an der Zuverlässigkeit des Apparates wollte sie durch ein kurzes Experiment widerlegen: sie holte eine Benzinflasche, füllte das Maschinchen und strich. Strich zehnmal, zwanzigmal – es brannte nicht. Da sprach sie gekränkt: »Wenn der Herr durchaus einen Streichholzhalter wollen – bitte siebenter Gang durch die Mitte, elfter Fahrstuhl gradeaus, Souterrain, Emaillelager

Kellerwärts verschwand ich dankend mit der neuesten stenographischen Notiz. Am Emaillelager sagte das höfliche Fräulein:

»Ach, der Herr meint einen Gasanzünder?« –

»Nein, mein verehrtes Fräulein, wir haben in unserem Vorort kein Gas!« –

»Wissen Sie was, mein Herr?« –

»Nun, liebes Fräulein?« –

»Ziehen Sie doch nach einem anderen Vorort!«

»O, wie recht haben Sie, meine Gnädige, aber vorläufig möchte ich doch lieber einen Streichholzhalter

»Bitte sehr, mein Herr, dann bemühen Sie sich vielleicht durch den zwölften Quergang dort vorne zum dreizehnten Fahrstuhl, ins Nickellager

Endlich hatte ich auch das Nickellager erreicht.

Da hing er – der heiß ersehnte Streichholzhalter.

Ich griff nach ihm, wie der Ertrinkende nach dem Strohhalm.

Aber leider war dieser Strohhalm zu klein: der Halter war nur für ein winziges Zwergschächtelchen allerniedlichster Liliput-Streichhölzchen berechnet.

» Gibt es denn sooo kleine Zündhölzer?« fragte ich die höfliche Verkäuferin.

»Aber gewiß, mein Herr, gleich nebenan im Wirtschaftslager, ich werde Sie führen ... Fräulein Struckmann, bitte, der Herr wünscht Taschenstreichhölzchen!«

Aber vernichtend antwortete Fräulein Struckmann:

»Die gibt es schon seit zehn Jahren nicht mehr; deshalb sind ja auch unsere Nickelstreichholzhalter alle unverkäuflich.« – »Tja«, achselzuckte die andere Verkäuferin mit unerschütterlicher Höflichkeit, »dann bemühen sich der Herr vielleicht ins Bijouterielager ...«

»Jawohl!!!!« lächelte ich höflich, aber meine Geduld war zu Ende, »wieder ins Bijouterielager und von da wieder ins Galanterielager und von da wieder ins Nickel-, Emaille- und Blechlager und dann wieder von vorne? was?? Leben Sie wohl! Ich empfehle mich – Sie sind mir hier zu höflich, viel zu höflich!«

Ich ging zum Bahnhof, fuhr nach unserem stillen Vorort zurück, steige dort aus und im schmalen Schaufenster des bescheidenen Lädchens dort, was seh' ich? Den richtigen, hängenden, prächtigen, wundervollsten Streichholzhalter. Eine Mark hat er gekostet, und seit dieser Stunde habe ich Zündhölzer im Badezimmer.

Aber was merk' ich, o Publikum?
Meine ganze Redezeit ist ja schon um!
Ich hindre durch meines Vortrags Schwung
Schon bald die nächste Veranstaltung.
Das geht nicht, nein, die will ich nicht stören –
Ein andermal mehr! Auf Wiederhören!


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