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Siebentes Kapitel.
Der Schlüssel zur Geheimschrift

Samstag, den 5. September, saß Fortescue spät abends arbeitend in seinem Zimmer im Gasthofe, als ihm ein Brief überbracht wurde, dessen Absender er beim ersten Blick an der Handschrift erkannte.

»Lieber Fortescue!

Da ich weiß, daß Sie Lady und Miß Metcalf über Boulogne nach England begleiten und Montag abreisen werden, erlaube ich mir, Sie um eine Gefälligkeit zu bitten. Melton, der englische Polizeibeamte, schreibt mir, er halte sich in Boulogne auf und beobachte Delaval, gegen den augenblicklich noch nichts anderes vorliege, als daß er häufig in der Gesellschaft gewisser berüchtigter irisch-amerikanischer Umstürzler gesehen worden sei. Nun wäre mir viel daran gelegen, Melton von Delavals Versuch mit dem Koffer in Kenntnis zu setzen, aber ich möchte das auf nichtamtlichem Wege und nicht gerne schriftlich thun. Mein Grund für diesen Wunsch ist der, daß, wenn ich ihn schriftlich benachrichtige, er nach Euren bureaukratischen Vorschriften verpflichtet sein würde, seinen Vorgesetzten von Scotland Yard Meldung zu erstatten. Das würde, wie Sie vielleicht nicht gern zugeben, aber sehr wohl wissen, großen Lärm und gewaltiges Aufsehen machen und schließlich dazu führen, daß die hochgestellten Verbrecher entschlüpfen, die ich unter allen Umständen fassen muß. Wollen Sie also, mein alter Kamerad, Melton in Boulogne aufsuchen, ihm mitteilen, was wir nach seiner Abreise entdeckt haben, und ihm erklären, warum ich ihm die Nachricht auf diesem Wege zugehen lasse? Delaval darf durchaus nicht aus den Augen verloren werden, da er uns früher oder später ganz bestimmt die Fürstin P. in die Hände liefern wird, von der unsre auswärtigen Agenten keine sichere Spur finden können. Ich bin überzeugt, daß sie in Boulogne ist, und daß Delaval sich bei ihr neue Anweisungen geholt hat, nachdem sein erster Versuch, sich Eintritt in das Haus der Frau von Lindberg zu verschaffen, fehlgeschlagen war, und daß sie ihm darauf Dubrowskis Namen als Beschwörungsmittel angegeben hat. Wahrscheinlich hat sie gleichzeitig den Brief an Dubrowski zur Post gegeben, der die Ursache des peinlichen Vorfalls heute nachmittag war.

Dubrowskis verrücktes Gackern über den Zwischenfall mit Delaval habe ich ein Ende gemacht, indem ich ihm bewiesen habe, daß, möge Miß Metcalfs Behauptung wahr sein oder nicht, nicht nur er selbst, sondern auch die Schreiberin des Empfehlungsbriefes für Delaval polizeilicher Ueberwachung ausgesetzt sei, wenn die Sache bekannt werde. Nun wird ihn wohl seine Bethörung für die Fürstin stumm machen, aber er bleibt dabei, zu glauben, Fräulein Vassili habe Miß Metcalf angestiftet, die Geschichte zu erfinden. Armer Thor! Er wird aus einem andern Loche pfeifen, wenn, Herr ›Winkel‹ zum Schlusse wieder auf der Bildfläche erscheint und die Erzählung Ihrer reizenden Braut bestätigt.

Fräulein Vassili erholt sich langsam von dem Schrecken, den sie empfand, als sie hörte, wie der liebe Boris mich mit, wie er es sehr richtig nannte, ›ausgezeichnetem Stoffe‹ versorgte. Das unglückliche Mädchen, für das ich das tiefste Mitleid empfinde, würde wieder ohnmächtig werden, wenn sie wüßte, daß das, was er mir mitteilte, für mich bereits ›Meidinger‹ war, wie Miß Laura es nennen würde. Ihre Majestät, die Kaiserin hat ihr befohlen, sich zu Hause auszuruhen, bis wir Breslau verlassen, so daß sich die beiden Freundinnen hier nicht wieder treffen werden, was, wie ich glaube, ganz gut ist.

Noch ein Wort, und auch das können Sie Melton mitteilen. Ich bin mit den österreichischen Polizeibehörden übereingekommen, daß sie ein Auge zudrücken und Anna Tschigorins Flucht nichts in den Weg legen, und jetzt ist sie wahrscheinlich schon in Freiheit. Meine Gründe für diesen anscheinend tollkühnen Schritt werden Sie zu würdigen wissen. Wir können mit ziemlicher Bestimmtheit annehmen, daß sie sich schleunigst an den Ort verfügen wird, wo die Wespenkönigin, die Fürstin, an der Arbeit ist, und wenn es uns nicht gelingt, durch Delaval einen Faden zu finden, der uns dahin führt, so ist es ganz gut, für einen zweiten zu sorgen. Anna wird von dem Augenblick an, wo sie das Gefängnis in Wien verläßt, von zwei unsrer besten Leute beobachtet werden.

Ich glaube, das ist alles, mein lieber Fortescue; nur will ich Sie noch versichern, daß wenn Sie keine Lust haben, meine kleine Bitte zu erfüllen, Ihre Weigerung keine Aenderung in unsern gegenseitigen Beziehungen herbeiführen wird, denn ich bin im voraus überzeugt, daß Sie sich nur aus triftigen Gründen weigern werden. Derselbe Bote, der Ihnen dies überbringt, wird morgen Ihre Antwort abholen, denn ich halte es für besser, wenn wir hier nicht mehr zusammen gesehen werden. Der Feind kann immer noch Augen in Breslau haben, und sie könnten in unsern Begegnungen so viel sehen, daß es zu Schwierigkeiten führen möchte. Ist Ihre Antwort zusagend, so werde ich Ihnen eine Photographie der Fürstin schicken, für den Fall, daß Sie ihr zufällig begegneten. Ebenso werde ich an Melton telegraphieren, daß er Sie bei Ihrer Ankunft erwarten soll. Wir reisen Montag über Görlitz und Kiel nach Kopenhagen, wo mich etwaige Mitteilungen unter der Adresse des Polizeichefs erreichen werden.

Ihr
Volborth.«

Fortescue lehnte sich auf seinem Stuhle zurück, um zu überlegen. Auf Volborths Verlangen würde er ohne weiteres eingegangen sein, wenn nicht eins gewesen wäre. Er hatte an diesem Abend bei der Baronin Lindberg gespeist, und Laura hatte die erste Gelegenheit benutzt, ihn beiseite zu ziehen.

»Spencer, wer ist denn dieser Volborth, mit dem du gingst, als wir dich trafen?« hatte sie gefragt.

»Ein alter Freund von mir, – sozusagen ein Kollege,« war alles gewesen, was er ihr geantwortet, obgleich er geahnt hatte, was vorgefallen sei. »Er gehört zum Gefolge des Zaren als Berichterstatter über die Reise, wie er mir sagt.«

»Nun, dann glaube ihm nicht,« hatte Laura hitzig erwidert. »Er ist ein russischer Spion – wenigstens behauptet Ilma das, und sie muß es wissen. Sieh mal, was sie mir geschrieben hat.«

Bei diesen Worten hatte sie ihm ein Briefchen gereicht, das spät am Nachmittag vom Rathause gebracht worden war. Darin versuchte Ilma ihren plötzlichen Ohnmachtanfall zu erklären und machte dabei, jedoch ohne Namen zu nennen, Andeutungen über die Ursachen der Entfremdung zwischen ihr und Boris. Sie ging sogar so weit, ihrer Freundin ihren Verdacht betreffs des furchtbaren Gebrauches, der von ihrem treulosen Verlobten gemacht wurde, anzuvertrauen, wobei sie den Zweck hatte, diese vor Volborth zu warnen, den mit Fortescue auf so vertrautem Fuße stehen zu sehen, sie sehr unglücklich gemacht habe. Der Brief schloß mit einer rührenden Bitte an ihre »liebe englische Freundin,« Volborth alle möglichen Hindernisse in den Weg zu legen und ihren Verlobten zu überreden, dasselbe zu thun, im Falle der Mann, den sie für einen Beamten der dritten Sektion hielt, die Waffe, die ihm Boris so unvorsichtig in die Hand gegeben hatte, gebrauchen sollte. Es gehe ihr etwas besser, schrieb Ilma weiter, aber sie werde nicht im stande sein, Laura vor ihrem Zusammentreffen in Schottland noch einmal zu sehen, wo, wie sie hoffe, ihre Warnung hinsichtlich Volborths mehr als je beachtet werden würde. Sie gelobte, Boris unausgesetzt zu bewachen, damit Ihre Majestäten durch seine Thorheit nicht zu Schaden kämen, denn obgleich alles zwischen ihnen aus sei, sei sie doch entschlossen, ihn vor der furchtbaren Strafe zu bewahren, der er, wie sie fürchtete, schon verfallen sei, wenn die dritte Sektion Beweise erlangen könne.

»Dieser Volborth muß ja ein ganz gräßlicher Mensch sein,« hatte Laura gesagt, als Fortescue ihr den Brief wiedergab. »Nach welchen Grundsätzen du bei der Wahl deiner Freunde verfährst, begreife ich nicht – wenn du gleichzeitig eine greuliche Schlange von einem Spion kennst und mit einem so netten alten Manne, wie Herrn Winkel, auf vertrautem Fuße stehst.«

»Volborth ist mir bei meiner Arbeit sehr nützlich gewesen,« hatte Fortescue ausweichend geantwortet.

»Nun, du mußt mir versprechen, ihm bei seiner Arbeit nicht nützlich zu sein – insoweit diese auf die Verfolgung des Hauptmanns Dubrowski gerichtet ist,« hatte Laura verlangt. »Ich gebe es noch lange nicht auf, die beiden wieder zu versöhnen, wenn ich in Schottland nur einigermaßen günstige Gelegenheit habe. Zu denken, daß der gute alte Herr Winkel und ich in der Nacht mit einem Haufen Dynamit umgesprungen sind und daß wir uns diese Mühe umsonst gemacht haben sollen, würde dir doch nicht gefallen, wie?«

Darauf hatte Fortescue sofort die Versicherung gegeben, er werde Volborth nicht helfen, Dubrowski ins Verderben zu stürzen. Nicht nur war er nicht im stande gewesen, dem flehenden Ausdruck des tapferen, zu ihm emporgerichteten Antlitzes zu widerstehen, sondern er war um so bereitwilliger auf Lauras Verlangen eingegangen, als es vollkommen im Einklang mit seinen eigenen Empfindungen stand. Hatte sich Boris auch wie ein ungezogener Flegel benommen und als ungetreuer Liebhaber gezeigt, so hatte doch Fortescue einen großen Abscheu davor, sich eines unehrlichen Vorteils gegen einen Menschen zu bedienen, und er konnte Volborths Verfahren gegen den jungen Adjutanten nur in diesem und in keinem andern Lichte sehen.

»Russen haben keine Freunde – wenigstens unter Russen – und dies ist ein Fall, wo ein Wort zur rechten Zeit von einem älteren Manne schon lange die Bremse angezogen haben würde,« hatte der junge Diplomat bei sich gesagt.

So kam es, daß er als Mann von Ehre nicht sofort entscheiden konnte, ob er den Auftrag in Boulogne ausführen solle oder nicht. Zunächst mußte er sich darüber klar werden, ob dieser nicht im Widerspruch mit dem Laura gegebenen Versprechen stehe, doch nach reiflicher Ueberlegung kam er zu dem Schlusse, daß er das nicht thue. In Hinsicht auf den Gebrauch, den Delaval von Dubrowskis Namen gemacht hatte, wußte Volborth bereits alles, was zu wissen war, und die Bestellung der Botschaft an den englischen Fahnder konnte dem Gegenstand seiner und Lauras Besorgnis weder schaden, noch nützen. Demnach schrieb er, bevor er zu Bett ging, ein Briefchen an Volborth, wodurch er dessen Verlangen zustimmte.

Am nächsten Morgen kam derselbe schweigende Bote, um die Antwort abzuholen, und kehrte kurz darauf mit einer Photographie Olga Palitzins zurück, auf deren Umschlag das eine Wort »Danke« gekritzelt war. Volborth selbst sah Fortescue nur noch einmal ganz flüchtig in einem der Wagen, die die abreisenden russischen Gäste nach dem Bahnhofe brachten. Der Beamte der Sektion schien keine ernstere Aufgabe zu haben, als die Unterhaltung der Gräfin Vassili, deren vom Lachen erschütterte Schultern den Erfolg seiner Bemühungen bezeugten.

Eine Stunde später waren Fortescue und die Metcalfs ebenfalls unterwegs. Sie erreichten Paris am nächsten Tage gegen Mittag, wo Lady Metcalf eine wohlverdiente Ruhepause genoß.

Der Morgen des Mittwoch brach naß und stürmisch an, und Lady Metcalf, die eine »schlechte Seereisende« war, fühlte sich mehr als halb geneigt, noch einen Tag in Paris zu bleiben, allein Fortescue, der wußte, daß Inspektor Melton ihn bei Ankunft des Zuges in Boulogne erwarten werde, überredete sie, abzureisen, unter dem Vorbehalte jedoch, daß sie in Boulogne übernachten wollten, falls sich das Wetter nicht gebessert hätte.

Auf dem Bahnhofe trafen sie beizeiten ein, und mit echt schottischer Abneigung, für etwas Geld auszugeben, was nicht unbedingt notwendig war, lehnte Lady Metcalf es ab, eine ganze Wagenabteilung zu nehmen. Nachdem Fortescue, der eine leere Abteilung erster Klasse gefunden, durch ein reichliches Trinkgeld an den Schaffner sein Möglichstes dazu gethan hatte, ihr Alleinbleiben zu sichern, verließ er die Damen, um einen Augenblick einen Bekannten zu begrüßen, den er weiter hinten im Zuge gesehen hatte.

Als er zurückkehrte, war er überrascht, daß Laura Kopf und Schultern aus dem Fenster lehnte und hinaussah, aber nicht in der Richtung, von wo er kam, sondern nach der Schranke, wo ein schäbiger Mensch in einem verschlissenen Mantel mit einem Eisenbahnbeamten verhandelte. Gerade als Fortescue die Abteilung erreichte, wurde dem kleinen Manne erlaubt, den Bahnsteig zu betreten, und er begann, am Zuge entlang laufend, in die Wagen zu sehen.

»Springe herein, Spencer, der Zug geht ab,« rief Laura ihrem Verlobten zu, indem sie ihm Platz machte, aber sich sofort wieder zum Fenster hinauslehnte. »Ich will dem Manne im Mantel dort die Aussicht versperren, wenn er an diesen Wagen kommt. So, wir sind in Bewegung, und er kann nichts mehr machen,« fügte sie in französischer Sprache hinzu, indem sie sich setzte. »Jetzt sind Sie sicher, Madame; der Mouchard hat den Rückzug angetreten.«

Erst jetzt bemerkte Fortescue, daß sich eine vierte Person im Wagen befand, eine Dame, die in der entgegengesetzten Ecke saß, halb durch Lady Metcalfs umfangreiche Gestalt und einen Haufen von Decken und Reisetaschen verborgen. Da ihr Platz an derselben Seite, wie der seine war, konnte er ihr Gesicht erst vollständig sehen, als sie sich vorbeugte, und er hatte alle seine Selbstbeherrschung nötig, einen Ausruf zu unterdrücken.

Ihre Reisegefährtin, der Laura in einer Weise behilflich gewesen war, die er noch nicht an ihr kannte, war zweifellos das Urbild der ihm von Volborth überschickten Photographie der Erznihilistin, der Fürstin Palitzin.

»Ich sah sofort, Mademoiselle, daß Sie Engländerin sind und daß ich mich deshalb nicht vergeblich an Sie wenden würde,« sagte die Fremde in sanften, wohlklingenden Tönen. »Sie sagen, daß der Mann im Mantel nicht in den Zug gestiegen ist oder in diesen Wagen gesehen hat? O, das ist gut: dann bin ich Ihnen zu ebenso großem Danke für Ihren guten Willen verpflichtet, als ob Sie mir den Dienst wirklich geleistet hätten.«

»Eine von Lauras Donquichotterieen, obgleich bei dieser Gelegenheit, wie ich glaube, in der That am Platze,« erklärte Lady Metcalf.

»Die Sache kam so,« fiel Laura ihr ins Wort. »Die Dame trat an die Thür und ersuchte uns, nachdem sie sich vorgestellt hatte, sie einsteigen zu lassen, da sie von einem Spion der russischen Polizei verfolgt werde. Denk' nur einmal! Aus keinem andern Grunde in der Welt, als weil sie Petersburg etwas eilig verlassen hat, um Worth in Paris einen Besuch zu machen! Es ist wirklich zu abscheulich, und wenn ich eine von den Schlangen der dritten Sektion bei Blairgeldie umherkriechend erwische, während der Zar in Balmoral ist, werde ich unsre Jagdaufseher auf sie hetzen.«

Diese Drohung übersetzte sie, ihrem Schützling zugewandt, ins Französische, wodurch sie einen neuen Ausbruch von Danksagungen und ein Lächeln entfesselte, wovon etwas am Ziele vorbeischoß und Fortescue traf.

»Wenn sie mich ködern will, so mag sie meinetwegen auch denken, es gelinge ihr,« meinte dieser aufstrebende Diplomat bei sich, als er begann, sich an der allgemeinen Unterhaltung zu beteiligen, die sich um die Abscheulichkeiten des russischen Polizeisystems drehte. Zu gut geschult, als daß er lange über dieses merkwürdige Zusammentreffen erstaunt gewesen wäre, dachte er eifrig darüber nach, auf welche Weise er Nutzen daraus ziehen könne, und er war sehr erfreut, daß Ilma Vassili den Namen ihrer Nebenbuhlerin Laura nicht anvertraut hatte. Seine Schlauheit würde wenig Gelegenheit gefunden haben, sich zu bethätigen, wenn seine ungestüme Braut gewußt hätte, daß die zierliche Gestalt in dem kostbaren Pelzwerk die Ursache von Dubrowskis Verderben war.

Natürlich sprachen sie auch eine Zeitlang über die Reise des Zaren, besonders über das, was die Engländer in Breslau gesehen hatten. Fortescue war anfänglich etwas besorgt, Laura möchte eine Unvorsichtigkeit begehen, und obgleich sie sich hütete, gefährliches Gelände zu betreten, gab er doch dem Gespräche, sobald er konnte, eine andre Wendung. Die Fürstin, die für die Reise ihres Herrschers kein besonderes Interesse an den Tag legte, schien viel mehr geneigt, über französische Kunst und Künstler zu sprechen, und war abwechselnd witzig, beißend und kokett.

Und die ganze Zeit, während sie so munter plauderten, dachte und überlegte Fortescue, bis er mit sich im reinen war und seinen Feldzug eröffnen konnte. Als der Zug durch den Bahnhof von St. Just rasselte, trat eine Unterbrechung der Unterhaltung ein, und Laura, die die Gründe, welche ihn veranlaßt hatten, ein Gespräch über Breslau zu vermeiden, wohl zu würdigen wußte, war nie im Leben mehr erstaunt gewesen, als in diesem Augenblick, wo er auf die Festlichkeiten in der schlesischen Hauptstadt zurückkam.

»Der Besuch beim deutschen Kaiser würde als ein vollständiger Erfolg auf die Nachwelt gekommen sein, wenn das Gerücht nicht eine bedauerliche Entdeckung damit in Verbindung brächte,« sagte er endlich.

»So? Und was war das, wenn ich fragen darf?« murmelte die Fürstin süß.

»Daß ein Offizier des kaiserlichen Gefolges in Verdacht gekommen sei, nihilistischen Verschwörern Mitteilungen zu machen und ihnen Vorschub zu leisten,« antwortete er, so daß Laura ihren ganzen unvergleichlichen Glauben an ihren Geliebten zu Hilfe rufen mußte, um einen lauten Ausruf zu unterdrücken. »Es war nur ein Gerücht,« fuhr Fortescue fort, indem er sich ausschließlich der Fürstin zuwandte, die ihn fest ansah, »aber wo ein so häßlicher Rauch aufsteigt, ist gewöhnlich auch Feuer vorhanden.«

»Mir sind mehrere Offiziere des Gefolges bekannt. Wissen Sie vielleicht den Namen des Verdächtigen?« fragte sie in ihrer eigentümlichen gleichmäßigen Stimme nach einer merklichen Pause.

»Damit kann ich Ihnen leider nicht dienen,« erwiderte Fortescue; »der Name wurde noch nicht genannt.«

»Das war eine richtige Diplomatenantwort,« dachte Laura, die wieder frei aufatmete. »Spencer muß eine bestimmte Absicht haben, wenn er sich die Mühe nimmt, einer Lüge ein Mäntelchen der Wahrheit umzuhängen, wie er es eben gethan hat.«

»Spricht das Gerücht auch von der Verhaftung des Offiziers?« fuhr die Fürstin fort, wobei ihr Wesen zeigte, daß der Gegenstand sie bereits zu langweilen begann.

»Von einer Verhaftung habe ich noch nichts gehört; und vielleicht ist die ganze Geschichte nur leeres Geschwätz,« entgegnete Fortescue.

Einige Augenblicke verhielt sich die Fürstin schweigend und begann sodann mit Lady Metcalf ein Gespräch über die Küche im Grand Hotel, das dauerte, bis sie nur noch eine Viertelstunde von Amiens entfernt waren. Hierauf lehnte sie sich auf ihrem Sitz zurück, zog ein Blatt Briefpapier aus einer inneren Tasche ihres Pelzmantels hervor und begann langsam und nachdenklich zu schreiben. Schon verminderte der Zug seine Geschwindigkeit für seinen ersten und einzigen Aufenthalt in Amiens, als sie fertig war und Fortescue ansah. Dieses jungen Diplomaten sehnlichster Wunsch war, die Fürstin möchte ihn und seine Damen für eine Gesellschaft beschränkter Reisender halten, und aus dem Verlangen, das sie an ihn richtete, schien hervorzugehen, daß sie das in der That thue.

»Sie sind schon so liebenswürdig gegen mich gewesen, Sie lieben Engländer, daß ich den Mut habe, Sie um eine kleine Gefälligkeit zu bitten, mein Herr,« sagte sie. »Hier habe ich ein Telegramm ausgeschrieben, das ich gern nach Kopenhagen schicken möchte. Würden Sie so gütig sein, es in Amiens für mich aufzugeben? Der elende Mouchard in Paris hat mich ganz nervös gemacht, so daß ich nicht den Mut habe, mich selbst auf dem Bahnhofe sehen zu lassen.«

Fortescue stimmte mit der größten Höflichkeit zu, und sie überreichte ihm das Papier und das nötige Geld, die Depesche zu bezahlen. Sowie der Zug hielt, sprang er aus dem Wagen, allein sie rief ihn noch einmal zurück.

»Verstehen Sie russisch?« fragte sie. »O, dann muß ich Ihnen etwas erklären für den Fall, daß die Beamten fragen sollten,« fuhr sie fort, als er verneinend geantwortet hatte. »Die Adresse ist französisch geschrieben, aber das eigentliche Telegramm russisch. Das ist alles – au revoir

Erst als er im Telegraphenamt war und vom Zuge aus nicht mehr gesehen werden konnte, zeigte er Interesse für den Inhalt des Papiers, aber beim ersten Blick darauf stieß er ein leises Pfeifen aus.

»Russisch zu verstehen, ist etwas viel verlangt, und ich sagte die Wahrheit, als ich die Kenntnis in Abrede stellte,« murmelte er, »aber so viel weiß ich doch davon, um zu sehen, daß dies gar kein Russisch ist.«

Die Aufschrift lautete: »A. M. Serjow, Poste restante, Kopenhagen«, aber das eigentliche Telegramm hatte keine Aehnlichkeit mit irgend einer europäischen Sprache, und es bedurfte nur geringen Scharfsinns, um zu erkennen, daß es in einer Geheimschrift abgefaßt war. Bei der Kürze der Depesche, und da der Aufenthalt zwanzig Minuten dauerte, hatte er Zeit genug, die Urschrift selbst auf ein Formular abzuschreiben, statt sie dem Beamten zu geben und diesen zu ersuchen, das Abschreiben gegen eine kleine Vergütung zu besorgen, wie das zuerst seine Absicht gewesen war.

»Ich möchte wohl wissen, welches Verbrechen ich unterstütze,« dachte er, als er die Urschrift in die Tasche steckte, nachdem er das Formular hineingereicht hatte, »aber unterdrücken konnte ich das Telegramm kaum; das würde die Vögel erschrecken, ehe Volborth Zeit gehabt hat, den Zweig mit Leim zu bestreichen.«

Als er in den Wagen zurückkehrte, sprach ihm die Fürstin höflich ihren Dank aus, und damit schien die Angelegenheit für sie erledigt zu sein, denn sie nahm sogleich ihre Unterhaltung mit Laura wieder auf. Diese junge Dame hielt jetzt einen Vortrag über die Art, wie man eine Treibjagd einrichten müsse, ein Gegenstand, wofür die Fürstin ein ganz unbegreifliches Interesse an den Tag legte, das erst verständlich wurde, als sie erklärte, sie sei begierig zu wissen, wie sich ihr geliebter Herrscher die Zeit in Schottland vertreiben werde.

»O, Sie dürfen nicht glauben, daß meine Beschreibung auf einen großen Herrn, wie den, paßt,« sagte Laura. »Der hat natürlich einen Mann bei sich mit einem Feldstuhl, einen andern mit der Brandyflasche und ein halbes Dutzend Büchsenspanner. Er wird die Sache wohl anfassen, wie die südafrikanischen Millionäre: viel Lärm und nichts dafür zu zeigen, als leere Patronenhülsen.«

»Laura!« rief Lady Metcalf vorwurfsvoll. »So über den Kaiser der Fürstin Palitzin zu sprechen, ist ganz ungehörig.«

Allein die Fürstin lächelte nur freundlich und fuhr mit ihren Fragen so eindringlich fort, daß Fortescue sich vornahm, Volborth darauf aufmerksam zu machen, bei Auswahl der Büchsenspanner für den Kaiser mit ganz besonderer Sorgfalt zu verfahren. Das Gespräch drehte sich noch weiter um die Jagd, namentlich über die Art, wie sie in Schottland betrieben wird, bis der Zug in den Stadtbahnhof von Boulogne einfuhr, und hier wurde ein Punkt, der Fortescues Neugier erregt hatte, aufgeklärt: die Fürstin beabsichtigte nicht, über den Kanal zu fahren. Sie zog ihren Pelzmantel zusammen, ergriff ihre Handtasche und sagte »ihren gütigen englischen Freunden« Lebewohl, worauf sie ausstieg.

Zehn Minuten später hielt der Zug an der Landungsbrücke, aber Lady Metcalf erklärte, nichts werde sie bewegen, an Bord des Bootes zu gehen. Der Regen fiel in Strömen, und ein heftiger Südwestwind machte die See außerhalb des Hafens so unruhig, daß es ihr nicht zu verargen war, wenn sie vorzog, ein Gasthaus aufzusuchen und dort abzuwarten, bis das Meer ruhiger sein würde.

»Also werden Sie doch nicht überfahren?« sagte eine Stimme an Fortescues Seite, als dieser die durch die Abänderung des Reiseplanes notwendig gewordenen Anordnungen traf.

Als er sich umdrehte, erblickte er Melton, den Fahnder, nach dem er sich schon vergeblich umgeschaut hatte.

»Nein, also können wir uns Zeit lassen,« antwortete er. »Ich muß zwei Damen, mit denen ich reise, zunächst nach dem Hotel de l'Europe bringen, und dann stehe ich Ihnen zu Diensten. Wollen Sie dorthin kommen?«

»Ich werde fast ebenso rasch dort sein, als Sie,« sagte Melton, indem er zurücktrat, um die wenigen Reisenden zu mustern, die im Begriffe waren, der Wut des Sturmes zu trotzen.

So kam es, daß Fortescue kurz darauf im Saale des Gasthofes auf den Inspektor Melton wartete, der auch sofort kam.

»Hier, Mr. Fortescue, ist eine ruhige Ecke,« sagte er. »Ich brenne vor Verlangen, die Neuigkeit zu hören, die unser Freund Volborth nicht telegraphieren oder schreiben wollte.«

Fortescue richtete seinen Auftrag mit so wenigen Worten als möglich aus, wobei er sich auf die wirkliche Entdeckung der Höllenmaschine beschränkte. Die Unterströmung der Verschwörung zu erwähnen – die Beziehungen zwischen der Fürstin Palitzin und Dubrowski und das Verhältnis Ilmas zu ihrem Verlobten – war weder erforderlich, noch hatte Volborth das verlangt, aber in Fortescues Mitteilung schien etwas zu liegen, was den Beamten von Scotland Yard zuerst sehr ernst und dann sehr ärgerlich machte.

»Hol' der Kuckuck die krummen Wege dieser Russen!« rief Melton. »Warum konnte Volborth nicht offen handeln und mir dies mitteilen, bevor es zu spät war?«

»Zu spät?« rief Fortescue. »Wollen Sie damit sagen, daß Delaval Ihnen durch die Finger geschlüpft ist?«

»Nein, so schlimm ist es doch nicht. Ich habe ihn selbst gehen lassen – für den Preis, den er mir in der Form von Enthüllungen gezahlt hat, wie ich glaubte; aber im Lichte dessen betrachtet, was Sie mir eben gesagt haben, kann es sich leicht herausstellen, daß diese Enthüllungen wertlos sind und daß alles, was ich dabei gewonnen habe, der Schlüssel zu einer Geheimschrift ist, der mir nichts nützen kann.«

»Sie haben seinen Geheimschriftschlüssel? Na, Mr. Melton, das ist doch ein hübscher Erfolg,« sagte Fortescue vergnügt. »Ich bin nicht dumm genug, als daß ich versuchen könnte, Sie auszupumpen, aber ich würde mit großem Interesse alles hören, was Sie glauben mir mitteilen zu dürfen. Was sagen Sie zu einem kleinen Frühstück?«

*


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