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Viertes Kapitel.
Der Spaziergang im Walde

Wieder war ein Tag hingegangen, und die Schatten der Nacht senkten sich auf die Berge, als der kaiserliche Sonderzug in den Bahnhof der alten Hauptstadt von Polen einfuhr. Kaum war die lange Wagenreihe zum Stehen gekommen, als sich die Insassen auf den Bahnsteig zu ergießen begannen, denn in dem sorgfältig ausgearbeiteten Fahrplane stand hinter dem Worte »Krakau« die Zauberformel »Aufenthalt zum Diner.«

Obgleich der Bahnhof von einer Kette österreichischer Kürassiere abgesperrt war, umstellten Restofski und seine Untergebenen sofort den grün und goldenen Salonwagen in der Mitte des Zuges, denn da die Zarina von den Wiener Festlichkeiten etwas angegriffen war, hatte das kaiserliche Paar befohlen, das Diner im Wagen anzurichten. Volborth war jedoch durch seine unklare Stellung genötigt, die hungrige Menge seiner Reisegefährten in den Wartesaal zu begleiten, wo für das Gefolge gedeckt worden war. Hätte er freie Wahl gehabt, so würde er dasselbe gethan haben, denn der Erfolg seiner Thätigkeit hing jetzt davon ab, daß er sich dem jüngeren Flügeladjutanten möglichst nahe hielt.

Der Rest des Wiener Besuches war ohne neue Entdeckungen und Beunruhigungen hingegangen. Die aufgeschobene Heerschau hatte stattgefunden, die beiden Kaiser waren zur letzten Verabschiedung zusammen nach dem Bahnhofe gefahren, und nichts war vorgefallen, was das Programm hätte stören können. Nicht daß das Fehlen sichtbarer Gefahren Volborths Sorgen etwa vermindert hätte! Durch die Verhaftung Anna Tschigorins hatten die Verhältnisse für den Augenblick zwar ein weniger drohendes Ansehen angenommen, wie er glaubte, denn er hielt es nicht für wahrscheinlich, daß mehr als ein Anschlag für Wien vorbereitet war, aber innerlich hatte er die Ueberzeugung, daß das nur der erste einer ganzen Folge gewesen war und daß jeder neue schlauer und spitzfindiger angelegt sein würde, als der letzte.

Den Speisesaal betrat er an der Seite Boris Dubrowskis, dem die mit Ilma bereits an einem entfernt stehenden Tische sitzende Gräfin Vassili wie wahnsinnig zuwinkte. Die alte Dame hatte einen Platz neben sich für Boris belegt, obgleich dieser den ganzen Tag Mutter und Tochter geflissentlich gemieden hatte und sich jetzt bemühte, einen so weit als möglich von ihnen entfernten Tisch zu finden.

»Hier ist was für uns, Dubrowski,« sagte Volborth, der die Lage übersah und den nur zu willigen jungen Offizier nach einem am entgegengesetzten Ende des Saales stehenden Tische steuerte, woran nur Platz für zwei war. »Wir wollen en garçon speisen. Ich habe den ganzen Tag den Liebenswürdigen bei den Damen gespielt, aber ich gestehe, daß ich der süßen Geschöpfe ein wenig müde bin.«

»Diese Empfindungen teile ich vollständig, Paul,« antwortete Boris und versuchte vergeblich, ein echt russisches Gähnen zu unterdrücken, als er sich setzte. »Es wäre aufs innigste zu wünschen, daß Ihre Majestät in der Stimmung verbliebe, die ihr das Gerücht heute zuschreibt, daß sie uns nämlich in Kiew verlassen und ihr Rudel Katzen mit nach Petersburg nehmen wolle. Bei solchen Veranlassungen sind sie eine Plage; das Reisen macht sie nervös – und dann kratzen sie.«

In diesem Augenblick kam ein Kellner mit der Speisekarte auf sie zugestürzt und reichte sie zuerst Volborth, der sich mit dem Rücken gegen die Wand gesetzt hatte, so daß er sehen konnte, was vorging. Nachdem er seine Wahl getroffen hatte, reichte er Boris die Karte, der ihm gegenüber saß, und der Kellner trat neben den Offizier. Das gab Volborth die erste Gelegenheit, den dienstbaren Geist genau anzusehen.

Wie alle die andern sorgfältig ausgewählten Kellner war er sauber in einen Frack gekleidet und zeigte ein schneeweißes Vorhemd, aber unähnlich den andern, die meist dunkelhäutige Italiener aus Istrien waren, hatte er eine Hautfarbe, die Backsteinstaub glich und gar nicht zu seiner kohlschwarzen Mähne paßte. Es war ein Gesicht, das nach allen Regeln der Natur durch Locken von einer mehr rötlichen Farbe hätte gekrönt sein sollen.

Volborth lehnte sich träge zurück und betrachtete den Mann, wie er Dubrowskis Befehlen ein diensteifriges Ohr lieh, und dabei merkte er, daß er von dem Kellner einer ähnlichen Prüfung unterworfen wurde, freilich nicht offen, allein in den Augenwinkeln des Menschen lauerte eine rege Wachsamkeit, die, wie sich Volborth bei seiner Erfahrung sagte, nicht bloß dem Geschäfte des Augenblicks galt. Dieselbe verstohlene Wachsamkeit war bemerkbar, als der Kellner mit dem ersten Gang zurückkehrte, allein Volborth that so, als ob er ihm keine weitere Beachtung mehr schenke.

Der Einfluß der blendenden Lichter, des blitzenden Silbers und der ausgezeichneten Militärmusik vertrieben Boris' üble Laune für eine Weile, und er plauderte wie ein ausgelassener Knabe von den Vergnügungen, die sie sich in Paris verschaffen wollten. Vom ganzen Gefolge wurde die französische Hauptstadt als das Paradies angesehen, zu dem die Steifheit von Wien und Breslau, die langweilige Häuslichkeit von Kopenhagen und Balmoral nur das Fegefeuer bildeten. Beide Herren kannten ihr Paris, und sie wetteiferten miteinander im Erzählen ihrer Erinnerungen.

Als sich der Kellner während dieses lebhaften Gesprächs einmal entfernt hatte, sprang Volborth plötzlich mit einem Ausrufe des Verdrusses aus.

»Da fällt mir eben etwas ein!« rief er. »Und wenn mir jemand tausend Rubel böte, möchte ich das nicht verlieren. Entschuldigen Sie mich für zwei Minuten, mein lieber Boris, aber ich muß rasch einmal hinlaufen und die goldene Cigarettendose holen, die mir Sarah Bernhard geschenkt hat. Ich habe sie aus dem Sitz im Wagen liegen lassen, und wer weiß, ob nicht ein Eisenbahnmensch Wohlgefallen daran findet.«

»Das Andenken der göttlichen Sarah müssen Sie unter allen Umständen retten,« rief Boris, worauf Volborth aus dem Saale eilte, gerade als der Kellner mit den beiden silbernen Platten zurückkehrte.

Aber nicht nach dem Wagen, worin er gefahren war, lenkte Volborth seine Schritte, sondern er ging auf eine Gruppe von Polizisten los, die den kaiserlichen Salonwagen bewachte, und winkte Restofski beiseite.

»Sie kennen doch Serjow von Ansehen – der, der im Verdacht stand, im Jahre 94 das Bombenattentat in Warschau ausgeführt zu haben?« fragte er.

»Besser, als ich Sie kenne,« antwortete Restofski. »Hat er mir nicht dieses Andenken hinterlassen?« Bei diesen Worten hielt der Polizist die linke Hand in die Höhe, woran der dritte Finger fehlte, den ihm der verzweifelte Nihilist bei einem erfolgreichen Versuche, sich seiner Verhaftung zu widersetzen, abgebissen hatte.

»Ich habe ihn nie gesehen,« fuhr Volborth fort, »allein da drinnen thut ein Mann Kellnerdienst, der, wenn ich nur nach den Photographieen urteile, Serjow sein könnte. Ich wünsche, daß Sie ihn einmal ordentlich anschauen, wobei Sie sich jedoch weder von Dubrowski, mit dem ich speise, noch vom Verdächtigen sehen lassen dürfen. Wir sitzen dort links am vierten Fenster, das nach dem Bahnsteige sieht. Wenn ich Zeit genug gehabt habe, meinen Platz wieder zu erreichen, kommen Sie und mustern den Kellner, der uns bedient. Glauben Sie, daß es Serjow nicht ist, dann klopfen Sie dreimal leise an die Scheibe; erkennen Sie ihn jedoch, so thun Sie weiter nichts, bis Sie weitere Befehle erhalten. Es herrscht da drinnen ein solcher Lärm, daß niemand Ihr Klopfen beachten wird.«

Restofski nickte. Eine der liebsten Hoffnungen seines Lebens war die, dem Manne, der ihn verstümmelt hatte, auf die Spur zu kommen, aber nicht mit einem Zucken der Augenlider verriet er etwas von dieser persönlichen Empfindung.

Volborth eilte in den Speisesaal zurück und vergaß dabei nicht, die goldene Cigarettendose (die er sich selbst gekauft und als Vorwand benutzt hatte) aus der Tasche zu ziehen. Bei seinem Eintritt sah er, wie Boris, der nach der Thür blickte, seine Augen aber sofort abwandte, als er Volborth bemerkte, etwas in die Brusttasche seines Waffenrockes schob – etwas Dünnes, Weißes, das einem Briefe verdächtig ähnlich sah. Auch das Benehmen des Adjutanten hatte sich verändert. Er schien unruhig zu sein und lächelte kaum, als Volborth die Cigarettendose vor seinen Augen schwenkte.

»Sehen Sie, ich hab's – das Andenken der Sarah Bernhard,« sagte Volborth, als er sich wieder auf seinen Platz setzte! »Aha, da ist ja auch das Salmi von Wachteln – aber wo steckt denn der verfluchte Kellner? Da ist er wieder weggerannt, und es steht kein roter Pfeffer auf dem Tisch.«

Boris murmelte, der Mann sei noch eben da gewesen, aber die frühere gute Laune und Munterkeit schien den jungen Offizier vollständig verlassen zu haben. Obgleich er Blut witterte, wie ein Tiger, war Volborth so gesammelt, als nur je. Erst als er annehmen durfte, daß Restofski eine volle Minute am Fenster wartete, heuchelte er die natürliche Entrüstung eines Feinschmeckers, dessen Mahlzeit durch das Fehlen einer notwendigen Zuthat verdorben wurde!

»Sie da!« rief er einen vorübereilenden Kellner an. »Wo ist denn der Mensch, der uns bedient?«

Der Mann erklärte, es nicht zu wissen, versprach jedoch den Oberkellner zu rufen, der auch sogleich erschien, um »Ihren Excellenzen« mitzuteilen, daß der Kellner, der ihnen bisher aufgewartet hatte, unwohl geworden sei und die Erlaubnis erhalten habe, sich zu entfernen, aber daß er, der Oberkellner, sogleich einen andern zur Bedienung des Tisches bestimmen werde. Das that er auch. Ein andrer Kellner kam eiligst herbei, und bei seinem Erscheinen ertönten die drei leisen Schläge am Fenster.

Später hat Volborth erklärt, nie in seiner ganzen Laufbahn sei er so nahe daran gewesen, seinem grenzenlosen Aerger die Zügel schießen zu lassen, als in dem Augenblick, wo er das verabredete Zeichen in Beziehung auf den falschen Mann geben hörte, denn da er jetzt mehr als je darauf bedacht war, seine Verbindung mit der Polizei vor Boris geheim zu halten, konnte er den Saal ohne Aufsehen nicht zum zweiten Mal verlassen, um die nötigen Nachforschungen einzuleiten. Und doch bestätigte das plötzliche Verschwinden des Kellners nicht nur den Verdacht, daß es Serjow gewesen war, sondern es wies auch zwingend auf die Annahme hin, daß er die Kellnerstelle nicht ohne eine bestimmte Absicht übernommen und daß er sich unter dem Vorwande des Unwohlseins erst dann entfernt habe, als er diese Absicht erreicht hatte; davon war Volborth vollkommen überzeugt.

Höher als alle andern Rücksichten aber stand die Notwendigkeit, Restofski sofort zu benachrichtigen, daß sich der gefährliche Nihilist in der Nähe des Bahnhofes aufhielt, wenn er nicht sogar im Gebäude selbst war. Eine ganz kurze Andeutung würde genügen, Volborths zuverlässigen Stellvertreter zu veranlassen, die richtigen Maßregeln zu ergreifen, und es kam nur darauf an, ihn in Kenntnis zu setzen. Rasch schrieb er ein paar Zeilen auf ein aus seinem Taschenbuche gerissenes Blatt.

»Nicht wahr, italienisch verstehen Sie nicht?« fragte er Dubrowski dabei. »Na,« fuhr er fort, nachdem der Adjutant verneinend geantwortet hatte, »dann passen Sie mal auf, welche Wirkung es auf diesen Sohn des Südens haben wird, wenn er seine Muttersprache hört.« Dabei wandte er sich dem neuen Kellner zu und befahl ihm in italienischer Sprache, den Zettel auf den Bahnsteig zu bringen und ihn dem ersten von den russischen Beamten einzuhändigen, die in der Nähe des kaiserlichen Wagens ständen. Restofskis Namen zu nennen, hütete er sich wohlweislich, denn er war sicher, daß jeder Polizist, der den Zettel erhielt, ihn sofort seinem scheinbar höchsten Vorgesetzten übergeben werde.

Beim Hören der vertrauten Laute vor Freude grinsend, eilte der Italiener davon, um den Befehl auszuführen, und kehrte gleich darauf mit der Meldung zurück, er habe das Papier richtig abgeliefert. Um Boris zu verhindern, über den Auftrag, den er dem Kellner gegeben hatte, nachzudenken, brachte Volborth das Gespräch wieder auf den Gegenstand, der, wie er wußte, ein »wunder Punkt« bei Boris war: die Unannehmlichkeit, mit Damen reisen zu müssen. Allein er merkte sehr bald, daß diese kleine Bosheit unnötig war. Boris war zu sehr in seine eigenen Gedanken vertieft und, wie man aus der Hast sah, womit er aß und trank, in zu großer Eile, seine Mahlzeit zu beenden, als daß er auf diesen Gegenstand eingegangen wäre.

»Er brennt vor Begierde, den Brief zu lesen, den ihm Serjow – wenn es Serjow war – gebracht hat,« dachte Volborth, »und ich muß den Inhalt des Briefes kennen – wo möglich noch vor ihm.«

Den Brief aus dem fest zugeknöpften Waffenrocke eines Mannes, der durch einen drei Fuß breiten Tisch von ihm getrennt war, herauszuhexen, war keine leichte Aufgabe, aber gerade in solchen Kunststücken war Volborth Meister, und er verzweifelte keineswegs am Gelingen. In einer Hinsicht war ihm das Glück günstig, denn seit dem Kellnerwechsel hatte Boris sehr hitzig getrunken, und Volborth entschloß sich zu einem kühnen Schachzug.

»Wir sprachen doch vorhin von Damen,« begann er, »und darüber fällt mir ein, daß ich Sie, wenn ich nicht irre, einmal im Hause der Fürstin Olga Palitzin getroffen habe. Das ist ein reizendes Weib!«

Boris erhob sein vom Weine gerötetes Gesicht, aber da er in Volborths Zügen keine Spur entdeckte, daß dieser sich Anspielungen erlauben wollte, stimmte er mit mehr Lebhaftigkeit zu, als er während des letzten Teiles des Mahles gezeigt hatte.

»Das ist sie allerdings,« antwortete er. »Kommen Sie her, lassen Sie uns auf ihr Wohl trinken.« Bei diesen Worten leerte er sein Glas bis zur Neige, und Volborth that ihm Bescheid.

»Ich weiß nicht,« fuhr dieser sodann fort, wobei er seine Stimme zu vertraulichem Flüstern dämpfte, »ob Sie mit ihr auf so freundschaftlichem Fuße stehen, daß Sie ihre Handschrift kennen. Ich habe Gründe – vollkommen unschuldige Gründe, soweit ich in Betracht komme – zu dieser Frage.«

»Ja, ich kenne ihre Handschrift. Wieso? Was sind das für Gründe?« stammelte Boris, indem er unbewußt seine Hand zur Brust seines Waffenrocks erhob, sie aber sofort wieder sinken ließ.

»Ja, sehen Sie, es ist eine zarte Angelegenheit, und es muß ganz unter uns bleiben,« fuhr Volborth fort, indem er ein Päckchen Briefe aus seiner Tasche hervorzog, wovon er einen aussuchte, den er in Wien erhalten hatte – einen Bericht über irgend eine nebensächliche Angelegenheit von einer Spionin der Sektion. »Dies ist ein anonymer Brief sehr schmeichelhafter Natur, den ich gestern erhalten habe, und der einzige Mensch, der ihn gesehen hat, behauptet, es sei die Handschrift der Fürstin Olga.«

Boris versuchte ein höhnisches Lachen, allein in seinen Zügen arbeitete eifersüchtige Wut.

»Wer Ihnen das auch gesagt haben mag, hat gelogen,« knurrte er. »Olga würde sich nicht so weit erniedrigen, anonyme Billetdoux zu schreiben – am wenigsten an Sie.«

»O, in dem Sinne habe ich das ›schmeichelhaft‹ gar nicht gemeint,« erwiderte Volborth, bei dem Gedanken lächelnd, daß diese Falle ebensogut gewesen wäre, als die, die er stellte. »Die Schreiberin schmeichelt mir auf dieselbe Art, wie es andre in der letzten Zeit gethan haben – indem sie mich für einen Polizisten hält. Von dieser Voraussetzung ausgehend, warnt sie mich vor einer Dame des Gefolges – ich sage Ihnen dies absichtlich, Dubrowski – vor Fräulein Vassili. Dieser niederträchtige Brief beschuldigt Ihre Braut revolutionärer Neigungen.«

»Die Schreiberin lügt infam! Ilma ist über jeden derartigen Verdacht erhaben,« rief Boris aus, denn sein besseres Selbst erhob sich gegen diese falsche Anklage einer Unschuldigen, aber dann mußte ihm, ganz wie Volborth erwartet hatte, der Gedanke durch den Kopf geschossen sein, daß Olga Palitzin von allen Menschen in der Welt das größte Interesse daran hatte, Ilma herabzusetzen. Daß sie so niedrig sei, glaubte er freilich nicht, allein er war doch sehr begierig, sich zu überzeugen, daß sie es nicht war, und das hatte Volborth ebenfalls vorausgesehen.

»Zeigen Sie mir die Handschrift,« sagte Boris.

Den Brief, den Volborth ihm reichte, ihm fast aus der Hand reißend, warf er einen Blick darauf und brach dann in ein schallendes Gelächter aus.

»Das ist ebensowenig Olga Palitzins Handschrift, als es die meinige ist,« sagte er. »Sehen Sie mal hier,« fuhr er fort und zog einen noch unerbrochenen Brief aus dem Waffenrock, »dies ist Olgas Handschrift. Vergleichen Sie die beiden und gestehen Sie, daß Ihr Bekannter gelogen hat.«

So werden den Unbesonnenen Fallen gestellt. Jetzt mußte Volborth die Hand nach den Briefen ausstrecken, und sie wurden ihm sogleich zur Besichtigung übergeben. Er that auch so, als ob er die beiden Briefe vergleiche, und sah, daß derjenige, welchen Dubrowski erhalten hatte, wirklich Olgas Handschrift zeigte, die ihm genau bekannt war. Der Umschlag trug weder Marken, noch einen Poststempel, woraus hervorging, daß das Schreiben ursprünglich in ein anderes, an den Menschen, der es Dubrowski gegeben hatte, gerichtetes, eingeschlossen gewesen war. Auch seinen eigenen Brief hatte er auf dieselbe Weise erhalten, so daß die beiden Schreiben sich nur durch die Handschrift unterschieden.

Diese Entdeckung war sehr wertvoll, aber die Frage war, wie er den Inhalt erfahren solle. Während er ungesäumt zugab, daß die beiden Briefe nicht von derselben Hand geschrieben sein konnten, fing Volborth, um Zeit zu gewinnen, an, über die hervorstechendsten Verschiedenheiten der beiden Schriften zu sprechen, als er sah, daß seine Gelegenheit gekommen war.

Gräfin Vassili und Ilma hatten sich erhoben und waren im Begriffe, in Begleitung des alten Woronzoff und des Generals Freedericks nach dem Zuge zurückzukehren. Auf ihrem Wege nach der Thür mußten sie dicht an dem Tische vorbeikommen, woran Boris und Volborth saßen, und die scharfen Augen des Polizeibeamten erkannten, daß die achtunggebietende Gestalt der Gräfin den schmalen Gang zwischen den Tischen vollständig ausfüllen werde. Diesen Umstand benutzte er und richtete es so ein, daß die Gräfin beim Vorbeigehen ihn an den Ellbogen stoßen mußte, was zur Folge hatte, daß beide Briefe zu Boden fielen. In demselben Augenblick stürzte auch eine neben ihm stehende Tasse Kaffee hin und übergoß die beiden Papiere mit ihren schwarzen Fluten.

Rasch sprang er auf, um sie wieder aufzuheben, in der Hoffnung, daß Boris während der wortreichen Erklärungen und Entschuldigungen, die folgten, und auch wegen Ilmas Nähe, den Brief, den er erhielt, in die Tasche stecken werde, ohne ihn näher anzusehen. Natürlich sollte das nicht der von der Fürstin sein, den mit dem andern zu verwechseln, durch die Kaffeeflecken sehr erleichtert wurde. Da sein eigener Brief in der Geheimschrift der Sektion geschrieben war, blieb sein Inhalt Boris unverständlich, wenn dieser seinen »Irrtum« entdeckte.

Schon hatte er diesen Brief erfaßt, und eben streckte er die Hand nach dem wichtigem aus, als ein paar schlanke Finger fast die seinen berührten und – siehe da! das kostbare Papier war weggehext! Als er seinen Stuhl wieder erreichte, sah er gerade, wie Ilma den Brief seinem rechtmäßigen Eigentümer wieder übergab.

»Sie wollten ihn ja doch wohl Boris reichen,« sagte die Ehrendame, ihn mit einem süßen Lächeln ansehend, »und indem ich Ihnen diese Mühe erspart, habe ich die Ungeschicklichkeit meiner Mutter wieder gut gemacht, nicht wahr?«

»Sie haben mehr gethan, als das,« erwiderte Volborth, indem er, buchstäblich und bildlich gesprochen, seine Zähne ein wenig zeigte. »Sie haben mir eine Verpflichtung auferlegt, die zu vergelten, ich mein Möglichstes thun werde.«

Alle lachten über diese für eine scherzhaft übertriebene Höflichkeit gehaltenen Worte, aber Ilmas ausdrucksvolle Augen zeigten, daß ihr die wahre Bedeutung der Antwort nicht entgangen war, und so hatte Volborth selbst im Augenblick seiner Niederlage einen Sieg untergeordneter Art zu verzeichnen, indem er die Ueberzeugung gewann, daß er diesen Querstrich keiner bloßen Laune des Zufalls zuzuschreiben hatte.

Die Gräfin und ihre Gesellschaft gingen weiter, und gleich darauf sagten ihm die Klänge der Glocke, daß er weitere Versuche, in den Besitz des Briefes zu gelangen, aufschieben müsse, denn Boris erhob sich und begab sich auf den Bahnsteig, wo er ihn verlassen mußte, um mit Restofski zu beraten, bevor sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Seinen Untergebenen fand er an dem schon früher verabredeten Orte und hörte von ihm, daß die sofort angestellten Nachforschungen nach dem Menschen, den Volborth für Serjow gehalten hatte, ohne Ergebnis geblieben waren. Restofski hatte den Oberkellner gesprochen und von diesem erfahren, daß der Mann, der mit vielen andern für diese Gelegenheit besonders in Dienst genommen worden war, die besten Zeugnisse gehabt hatte. Aber ein Bote, der nach der von ihm angegebenen Wohnung geschickt worden war, hatte die Antwort zurückgebracht, daß niemand, auf den die Beschreibung paßte, dort bekannt sei.

Nachdem er Restofski von dem, was im Speisesaale vorgefallen war, in Kenntnis gesetzt hatte, beeilte sich Volborth, Boris wieder aufzusuchen, und er beschleunigte seine Schritte, als er den Adjutanten unter einer Gaslaterne stehen und den Brief lesen sah. Schon hatte er eine neue List, wie er sich in den Besitz des Papiers setzen wollte, ersonnen, als er plötzlich durch eine Hand, die sich ihm auf die Schulter legte, zum Stehenbleiben veranlaßt wurde.

»Nun, wohin so eiligen Laufes, Sturmschwalbe?« fragte eine Stimme nahe an seinem Ohr.

Der Sprecher war Fürst Lobanof, der auf dem Wege nach seinem Platze war, nachdem er mit den kaiserlichen Herrschaften gespeist hatte.

»Entschuldigen Sie, Excellenz, ich bin sehr eilig,« erwiderte Volborth, indem er den Fürsten auf den lesenden Boris aufmerksam machte.

»Aha,« sagte Lobanof. »Neue Verwickelungen? Wird die Sache ernst? Nun, dann will ich Sie nicht aufhalten.«

Der Minister ging weiter, ohne Ahnung, welche verhängnisvollen Folgen diese Verzögerung von zwanzig Sekunden haben sollte – besonders für ihn selbst. Als sich Volborth wieder nach Dubrowski umwandte, zerriß dieser mit einer Miene, als ob er sich den Inhalt genau eingeprägt habe, den Brief in tausend Stücke, die er in einen in der Nähe stehenden mit glühendem Coaks gefüllten eisernen Korb warf.

So war Volborth zum zweitenmal an diesem Abend geäfft, allein er konnte sich doch nicht entschließen, an seine endgültige Niederlage zu glauben, und beschloß, den Inhalt des Briefes auf dem einzigen ihm noch offen stehenden Wege zu erfahren, dem, Boris zu verleiten, ihn selbst auszuplaudern. Der Zug setzte sich gleich darauf in Bewegung. Volborth hielt sich dicht bei dem Adjutanten und folgte ihm in den Raucherwagen, wo er die spitzfindigsten Listen, die der menschliche Geist ersinnen kann, gegen ihn zur Anwendung brachte, allein es war alles vergeblich. Durch keins der Mittel, die er anwenden konnte, vermochte er Boris wieder auf den Brief zu bringen. Der junge Offizier hatte thatsächlich beim Diner so reichlich getrunken, daß er jeder Unterhaltung unter vier Augen abgeneigt war und bald den Mittelpunkt einer Gruppe lebhafter junger Degen vom Stabe bildete, die sich sehr geräuschvoll unterhielten, bis es Schlafenszeit war.

Während der ganzen Sommernacht eilte der kaiserliche Hofzug durch die fruchtbaren Ebenen von Galizien und hielt nur in Jaroslaw und zwei Stunden später beim Morgengrauen in Lemberg an, wo sich Volborth aus dem Wagen schlich, um einige Worte mit dem immer wachsamen Restofski zu reden. Auch nach einem Telegramm fragte er, das ihm alsbald übergeben wurde und das ihn davon in Kenntnis setzte, daß der Impressario von Petersburg den Empfehlungsbrief, wodurch Anna Tschigorin Zutritt zum Konzertsaale der Hofburg erlangt hatte, für eine Fälschung erklärte.

Um sieben Uhr morgens wurde die Grenzstation Radziwillow erreicht, wo die bekannten russischen Uniformen auf dem Bahnsteig bewiesen, daß sich der Zar wieder auf dem Boden seines eignen heiligen Rußland befand. Von da eilte der Zug weiter nach Sdolbunow, wo das Frühstück in den Wagen eingenommen wurde.

Alle Welt war wieder auf, die Damen in frischen Morgenanzügen und die militärischen Glieder des Gefolges in Galauniformen, die sie für den am Nachmittag in Aussicht stehenden Empfang in Kiew angelegt hatten. Volborth war es gelungen, alle Spuren einer fast schlaflosen Nacht zu beseitigen, und er war anscheinend in der sorglosesten guten Laune, aber Boris hatte die krampfhaft geräuschvolle Lustigkeit, die er während des vorigen Abends an den Tag gelegt hatte, ganz eingebüßt und schien abwechselnd abgespannt oder in Gedanken versunken zu sein. Volborth schäumte innerlich. Gern hätte er alles, was er besaß, hingegeben, wenn er die nächsten sechs Stunden damit hätte aus der Welt schaffen können, denn wenn der Zar erst glücklich in Kiew und von den gewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln der Sektion umgeben war, wie sie sich nur auf russischem Boden treffen ließen, würde er – Volborth – ein Gefühl haben, wie ein zum Spielen freigelassener Knabe. Später gestand er ein, daß er in diesem Zeitabschnitt der Reise von trüben Ahnungen so niedergedrückt gewesen sei, daß er beim geringsten greifbaren Anlaß sein hinhaltendes Verfahren aufgegeben und Restofski den schweigsamen und verdrossenen Adjutanten im Polizeiwagen übergeben haben würde.

Aber wegen seltsamen Benehmens allein konnte er einen Offizier des kaiserlichen Gefolges doch nicht verhaften, und das Verlangen, seine Netze für die wirklichen Verbrecher zu stellen, half ihm, sich zu beherrschen. Bald unterstützte ihn Boris selbst dabei, indem er während der vierzig Meilen langen Fahrt von Sdolbunow nach Scheptowka allmählich aufthaute und, als der Zug an diesem Haltepunkt angelangt war, wieder heiter plauderte.

»Vielleicht rührte seine üble Laune heute morgen nur vom Katzenjammer her, denn er hat gestern abend in Krakau sehr viel getrunken, aber er kann auch einen Plan überlegt haben, worüber er jetzt mit sich im reinen ist,« dachte Volborth, als er aus dem Wagen stieg, um sich die Steifheit etwas zu vertreten. Zu seiner Ueberraschung gesellte sich Boris zu Ilma und begann mit ihr auf dem Bahnsteig auf und ab zu gehen, so daß Volborth notgedrungen etwas zurückblieb – aber nicht weit.

Scheptowka liegt am Rande der Kornkammer Rußlands. Die Landschaft war eine einzige weite Fläche goldenen Weizens, der der Ernte entgegenreifte, nur durch ein etwa eine halbe Meile vom Bahnhofe gelegenes Lindenwäldchen unterbrochen. Außerhalb eines eisernen Gitters kauerte ein Trupp schmutziger Auswanderer im Staube und wartete geduldig, bis der Herrscher, dessen Gebiet sie verlassen wollten, seine Reise fortsetzen würde. Das Gespräch, womit Boris Ilma zu unterhalten begann, hatte, wie es schien, nichts Wichtigeres zum Gegenstande, als die Einzelheiten dieser Landschaft.

Als sie dem grün und goldenen Salonwagen gegenüber angelangt waren, blieb Boris plötzlich stehen und wies auf das Gehölz.

»Das Wäldchen, das du da zur Linken siehst,« sagte er ziemlich laut, »ist ein ganz interessanter Ort. Es birgt nämlich ein Bild des heiligen Gregor, ein Heiligenbild, von dem behauptet wird, es sei das älteste in Rußland.«

»Hauptmann Dubrowski,« rief jetzt eine angenehme, aber gebieterische Stimme.

Am kaiserlichen Wagen war ein Fenster herabgelassen worden und daran ein Gesicht erschienen, bei dessen Erblicken die auf dem Bahnsteige umherstehenden Gruppen in feierliches Schweigen versanken. Die Hände der Herren flogen zur Kopfbedeckung empor, und die Damen verbeugten sich ehrfurchtsvoll. Hinter dem Zaren stand die Zarina mit Lobanof und lächelte wohlwollend. Boris trat vor, schlug die Hacken zusammen und blieb in militärischer Haltung stehen.

»Wir haben Ihre Worte zufällig gehört,« sagte der Zar. »Also steht in jenem Wäldchen ein Heiligenbild von hohem Alter?«

»Das habe ich wenigstens gelesen, Sire,« antwortete. Boris fest. »Gestatten Eure Majestät, daß ich mich beim Bahnhofvorstand erkundige?«

Allein der Zar machte eine ablehnende Bewegung.

»Wir wollen selbst untersuchen, was an der Sache ist, Hauptmann,« sagte er. »Ihre Majestät hat ein großes Interesse für Heiligenbilder, und ein kleiner Spaziergang wird eine ganz angenehme Unterbrechung der Fahrt sein.«

Diese Anspielung bezog sich auf eine wohlbekannte Liebhaberei der Kaiserin, die seit ihrer »Bekehrung« von einer großen Leidenschaft, Bilder der russischen Heiligen zu sammeln, ergriffen worden war.

Kaum war die Absicht des Kaisers bekannt, als Volborth es so einzurichten wußte, daß er Restofski ein Wort zuflüstern konnte.

»Passen Sie auf! Dieser Gedanke ist von unserm jungen Freunde angeregt worden,« war jedoch alles, was er sagen konnte.

Als ihm ein Eisenbahnangestellter, den er befragte, bestätigte, daß wirklich ein altes Heiligenbild St. Gregors in dem Walde stehe, fühlte er sich etwas beruhigt, wozu die Wolke von Beamten, die die Gesellschaft umgab, noch weiter beitrug. Er schloß sich Boris und Ilma an und verließ mit dem gesamten Gefolge hinter dem kaiserlichen Paare den Bahnhof.

Bald lag die staubige Straße hinter ihnen, und sie traten in den erfrischenden Schatten des Wäldchens, das Restofski und seine Leute zuvor abgesucht und vollständig von Menschen gesäubert hatten – mit Ausnahme des greisen Priesters, der das Heiligenbild hütete. Der alte Mann saß vor dem Schrein auf der Erde, als sich der Zar, die Zarina und Lobanof näherten. Aus der ungezwungenen Art, wie er sich in seiner Beschäftigung, dem Ordnen von Rosen in kleinen Körben, nicht stören ließ, war zu schließen, daß er nicht wisse, wer seine Besucher waren. Nach ein paar freundlichen Worten des Zaren erhob er sich jedoch und machte eine tiefe Verbeugung.

Als er die über das Heiligenbild an ihn gerichteten Fragen beantwortet und erklärt hatte, die Rosen seien zum Verkauf an Pilger bestimmt, wählte er das schönste Körbchen aus und bat die Kaiserin, es gnädigst anzunehmen. Schon streckte diese die Hand danach aus, als Fürst Lobanof ihr zuvorkam, die Blumen ergriff und darauf bestand, sie für seine Herrin nach dem Wagen zu tragen.

»Sehen Sie!« rief er munter, »die Rosen des guten Priesters haben auch Dornen, und es ist mir selbst in meinem Alter noch vergönnt worden, mein Blut für Eure Majestät zu vergießen.« Dabei wies er auf einen roten Tropfen an einem seiner Finger, die das Körbchen umspannt hielten.

Als die Gesellschaft hierauf dem seinen Dank für einen Regen von Goldstücken murmelnden Priester den Rücken wandte, um nach dem Bahnhofe zurückzukehren, hielt sich Volborth immer noch an der Seite Ilmas und Boris' etwas hinter den höheren Würdenträgern. Plötzlich, als sie schon in der Nähe des Bahnhofes angelangt waren, schwankte Fürst Lobanof, raffte sich wieder auf, schwankte abermals und würde zusammengestürzt sein, hätte ihn der Zar selbst nicht gehalten. Der Hofarzt drängte sich durch die Menge, bereitwillige Hände trugen den Kranken nach seinem Wagen, aber noch ehe man ihn dort gebettet hatte, flog ein Flüstern durch das erschreckte Gefolge, daß der Fürst im Sterben liege – infolge eines Herzleidens.

Volborth, dem es in der allgemeinen Verwirrung gelungen war, den Blumenkorb in die Hände zu bekommen, den der Fürst hatte fallen lassen, schlich sich, weiß wie ein Leintuch, beiseite und suchte Restofski auf, der von seinem Standpunkte aus mit dem Erfolge des kleinen Spaziergangs ganz zufrieden war. Als ihm jedoch sein Vorgesetzter ein paar Worte ins Ohr geflüstert hatte, wurde auch er blaß und rief drei von seinen Leuten herbei.

»Rasch, zurück in den Wald und verhaftet den Priester,« befahl er. »Keine langen Umstände! Schießt ihn nieder, wenn ihr ihn nicht fangen könnt!«

Fünf Minuten, nachdem des Zaren treuer Diener seinen letzten Atemzug gethan hatte, kehrten die Leute zurück und berichteten, der Priester sei nirgends zu finden, und angestellte Nachforschungen ergaben später, daß das Heiligenbild des St. Gregor im Walde von Scheptowka seit Menschengedenken keinen besonderen Priester gehabt hatte.

*


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