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Zweites Kapitel.
Die Gefahr beginnt

Am Morgen nach der Ankunft des Zaren in Wien ergoß sich der Regen in Strömen auf die Massen aufgeregter Bürger, die sich in der Ringstraße drängten und bis an die Thore der Hofburg fluteten. Dem Plane der Festlichkeiten gemäß sollte dem russischen Herrscherpaare zu Ehren heute eine große Parade auf der Schmelz stattfinden, und die durchnäßten Neugierigen ließen es sich nicht träumen, daß »ein bißchen Wetter« den Machthaber aus dem eisigen Norden veranlassen werde, das Fest aufzugeben.

Im Innern des Schlosses wollte man dagegen schon wissen, daß die beiden Kaiser, Wirt und Gast, eine Verschiebung besprachen. Die Damen und Herren des russischen Gefolges, ein glänzender Schwarm in Erzeugnissen der Pariser Schneiderkunst und Galauniformen, hatten sich im großen Saale versammelt und warteten dort auf die Meldung, daß die Wagen vorgefahren seien.

»Ich hoffe, dieses Zögern bedeutet Aufschub,« bemerkte eine Dame von achtunggebietender Erscheinung, aber etwas einfältigem Ausdruck. »Mit Freuden würde ich mein Leben für die lieben Majestäten hingeben, aber meine Kleider für sie zu Grunde richten zu lassen, das erlauben mir meine Mittel nicht – und die deinen ebensowenig, mein liebes Kind. Das Kostüm von Worth, das du da trägst, liebe Ilma, kostet zwölfhundert Rubel, und wenn die Parade heute stattfindet, kannst du ihm auf ewig Lebewohl sagen.«

Dieses weibliche Klagelied war an eine große junge Dame in einem prachtvollen Kleide von taubenfarbiger Seide gerichtet, die an einem nahen Fenster stand, und die Sprecherin war die Gräfin Vassili, eine der drei Hofdamen, die die Zarin« begleiteten. Die jüngere Dame war ihre Tochter Ilma, die jüngste der gleichen Zahl von Ehrendamen.

Das junge Mädchen wandte sich mit einem leisen Lachen nach ihrer Mutter um, und in ihrer Stimme lag ein Ton nervöser Spannung, als sie antwortete: »Was liegt denn an einem Kleide mehr oder weniger, wenn man ein paar Stunden der Aufregung erlangen kann? Tagelang sind wir im Zuge eingepfercht gewesen, und nun sieht's so aus, als ob wir unsern Aufenthalt in Wien auch wieder verbringen sollten wie die Tiere in einer umherziehenden Menagerie.«

»Ums Himmels willen, Kind, laß nur niemand hören, daß du so sprichst,« entgegnete die entsetzte Mutter. »Das klingt ja beinahe wie Hochverrat! Außerdem hast du doch immer ein Gegengift gegen die Langeweile zur Hand,« fügte sie mit einem Kichern hinzu, das bedeutungsvoll sein sollte, und wies mit ihrem kurzen, dicken Zeigefinger auf eine Gruppe plaudernder Herren, zu der auch Boris Dubrowski gehörte.

»Man ist doch kein Dienstmädchen, das seinem Bräutigam immer heimlich die Hand drückt,« antwortete Ilma kalt, indem sie sich wieder nach dem Fenster umdrehte. Eine unkindliche Tochter war sie keineswegs, aber bei ihrer Mutter suchte sie keine Teilnahme, einfach weil sie wußte, daß sie dort keine finden würde. Während der ganzen langen Eisenbahnfahrt von Petersburg her und bei dem nahen Verkehr, wie ihn das stete Beisammensein mit sich brachte, wäre es einer jeden von der Natur mit den einfachsten Mutterinstinkten begabten Frau klar geworden, daß zwischen Ilma und Dubrowski eine sich immer erweiternde Kluft bestand und daß die einstmals so zärtlichen Liebenden hoffnungslos auseinander trieben. Allein die Gräfin Vassili war durch ihr Hofgeklatsch und ihr Plappern von »unsern lieben Majestäten« viel zu sehr in Anspruch genommen, als daß sie hätte merken sollen, wie sich Boris, wenn es nur immer möglich war, verdrossen abseits hielt, und wie sich Ilmas stolzes Herz gegen eine solche Behandlung empörte.

Da ihre Mutter nicht sehen konnte oder wollte, was unter ihren Augen vorging, war es einem Mädchen von Ilmas zurückhaltendem Wesen nicht möglich, sie aufzuklären, und sie fühlte, daß es noch zeitig genug sei, ihrer Mutter Augen zu öffnen, wenn der Bruch nicht länger zu verheimlichen war. Für jetzt richteten sich alle Anstrengungen ihres von Natur starken Willens darauf, sich zu beherrschen und so die Unannehmlichkeit zu vermeiden, die Verlobung mit Boris während der kaiserlichen Reise aufzulösen. Und doch war sie entschlossen, ihm seine Freiheit zurückzugeben, so wie er darum bat – und auch ohne auf diese Bitte zu warten, sobald sie wieder in Petersburg waren.

»Olga Palitzin kann ihn haben. Sie hat ihn behext, und sie mag ihn nehmen,« sagte Ilma wohl hundertmal am Tage bei sich.

Aehnliche Gedanken gingen ihr durch den Kopf, während sie jetzt am Fenster wartete, aber sie wurden durch ein lautes Lachen der Offiziere unterbrochen.

»Aber meine Herren, das ist gar nicht nett von Ihnen, daß Sie an einem so langweiligen Tage Ihre Witze für sich behalten,« rief die Gräfin Vassili ihnen zu.

»Wir zählten die Häupter unsrer Lieben,« antwortete einer der Flügeladjutanten, »und wir finden, daß, natürlich mit Ausnahme der großen Tiere, die jetzt zu feierlicher Beratung versammelt sind, und des allgegenwärtigen Restofski, Paul Volborth der einzige Abwesende ist. Da meinte jemand, er sei abgerufen worden, um die Sache mit dem Wetter in Ordnung zu bringen.«

»Gut, wirklich sehr gut,« antwortete die Gräfin lachend. »Ihr macht schlaue Anspielungen auf die Ueberredungskünste unsres lieben Paul, aber ihr würdet euch hüten, ihm das ins Gesicht zu sagen, denn er würde den Spieß umkehren und die Lacher auf seine Seite bringen.«

»Ich finde, daß sich Herr Volborth in der letzten Zeit nicht zu seinem Vorteil verändert hat,« sagte Ilma, die, wie sie das immer that, am Gespräch teilnehmen wollte, um die allgemeine Aufmerksamkeit nicht auf ihren persönlichen Kummer zu lenken. »Es ist manchmal schwierig, in dem ernsten, gedankenvollen Geschichtschreiber den Schmetterling unsrer Petersburger Gesellschaft wiederzuerkennen.«

»Das kommt von den Sorgen des Amtes, mein gnädiges Fräulein,« entgegnete der grauköpfige Graf Woronzoff, der Kammerherr. »Hat ein Mann eine Regierungsanstellung, so ist ein wenig Zerstreutheit verzeihlich, selbst wenn sie vielleicht auch nur gemacht ist, um den Anschein zu erwecken, daß seine dienstlichen Pflichten schwer auf ihm lasten.«

»So wird es wohl sein,« antwortete Ilma munter. »Herr Volborth heuchelt Hingabe an seine Pflichten, und das werde ich ihm bei erster Gelegenheit geradezu ins Gesicht sagen.«

Soweit seine Kenntnis reichte – denn niemand als der Zar, Fürst Lobanof und der Generaladjutant Baron Freedericks kannte Volborths wirklichen Auftrag – hatte der Kammerherr recht. In diesem Augenblick war der erste Beamte der dritten Sektion durch seine Pflichten vollauf in Anspruch genommen, und seine Hingabe an diese war durchaus nicht erheuchelt. Er war im Begriffe, sich von seinem eigenen Herrscher und dem Kaiser von Oesterreich zu verabschieden, und bei ihm waren Fürst Lobanof, General von Freedericks und Restofski.

»Gott sei dafür gedankt,« sagte der Minister des Auswärtigen, als er die Thür des kaiserlichen Allerheiligsten hinter sich schloß, »und Gott sei für das Wetter gedankt, das den Vorwand lieferte. Ich will dem Gefolge mitteilen, daß die Parade auf morgen verschoben und daß das feine Gefieder der Damen gerettet ist.«

Der alte Diplomat, der gesund und rüstig wie ein Mann von vierzig Jahren war, setzte sich eilig nach dem Teile des Schlosses in Bewegung, wo die Gäste untergebracht waren, aber nach wenigen Schritten überholte ihn Volborth.

»Verzeihen Sie, Excellenz, allein ich möchte gern erst eine kleine Abmachung treffen, bevor das Gefolge von dem Aufschub in Kenntnis gesetzt wird,« sagte Volborth. »Herr General,« fügte er hinzu, als sich der Generaladjutant und der scheinbare Hauptvertreter der dritten Sektion zu ihnen gesellten, »ich glaube, daß jetzt, nachdem die Parade abbestellt ist, im gewöhnlichen Verlaufe der Dinge Hauptmann Dubrowski für den Rest des Tages dienstfrei sein würde, nicht wahr?«

»Ja,« antwortete General von Freedericks.

»Darf ich dann bitten, daß Sie das Dienstroster abändern und ihn zum persönlichen Dienst bei Seiner Majestät befehligen?«

Der Generaladjutant machte eine gleichgültige Bewegung der Zustimmung, denn es gehört zu dem eisernen System der Polizeiherrschaft, daß die Forderungen der Sektion ohne Widerrede und Bemerkungen von allen Behörden ausgeführt werden. Da sie die engste Umgebung des Zaren betraf, war diese Forderung jedoch so ungewöhnlich, daß Fürst Lobanof seine Ueberraschung nicht verbergen konnte.

»Nun, was soll denn das heißen, Herr Volborth?« rief er aus. »Beim Stabe ist hoffentlich alles in Ordnung? Unsre Reisegefährten sind doch wohl sämtlich über jeden Verdacht erhaben?«

»In diesem Falle handelt es sich mehr um eine Vorsichtsmaßregel, als um einen Verdacht,« antwortete Volborth ausweichend. »Ich habe keine Veranlassung, die treue Gesinnung irgend eines Gliedes des Gefolges zu bezweifeln, aber ich muß mich auf mein Vorrecht berufen und jedes weitere Eingehen auf meine Gründe für diesen Schritt ablehnen.«

Des Fürsten Lobanof Antwort bestand in dem Achselzucken, das von Paris in Rußland eingeführt worden ist, und seine klugen Züge nahmen einen wunderlichen Ausdruck an.

»Ihr Herren von der Sektion beansprucht bei jeder Gelegenheit dieser Art das Vorrecht,« sagte er, »und ich überlasse es Ihnen, den Damen die ersehnte Mitteilung auf Ihre eigene Weise und in dem Ihnen am geeignetsten erscheinenden Augenblick zu machen.«

Als sich der Inhaber des wichtigsten Ministeriums der Welt nach diesen Worten entfernte, um sich in seine Gemächer zu begeben, verbeugten sich die drei Herren, und Volborth wandte sich sofort dem Generaladjutanten zu.

»Herr General,« sagte er eilig, »ich würde Ihnen sehr zu Danke verpflichtet sein, wenn Sie den Aufschub der Parade unsern Gefährten mitteilen wollten. Kommen Sie in fünf Minuten, und wenn ich mir einen Wink erlauben darf, so treten Sie so eilig ein, als ob Sie eben von Ihren Majestäten kämen. Dann verständigen Sie auch Dubrowski, daß er sofort zum persönlichen Dienst bereit sein solle. Es ist durchaus erforderlich, daß ich im Saale bin, wo das Gefolge versammelt ist, wenn Sie ihm diesen Befehl geben, doch dürfen wir natürlich nicht zusammen eintreten. – Restofski, was Sie zu thun haben, wissen Sie ja – unablässiges Suchen nach der Tschigorin unter der Oberleitung des Chefs der Wiener Polizei, der Sie jetzt in seinem Bureau erwartet.«

Anna Tschigorins bekannt gewordener Aufenthalt in der Stadt war es nämlich gewesen, was den Aufschub in Wirklichkeit veranlaßt hatte. Beim Empfang am vorigen Tage hatte Restofski die berüchtigte Nihilistin im Gedränge am Bahnhofe flüchtig gesehen, und soeben hatten die Ratgeber des Zaren eine halbe Stunde versucht, diesen zu überreden, den Regen zum Vorwand einer Aenderung des Programms zu benutzen. Ihr schwer errungener Sieg über die kaiserlichen Bedenken war eine große Beruhigung für Volborth, denn die Thatsache, daß die schöne Teufelin, die bereits einen russischen Polizeichef erschossen hatte, in Wien war, hatte ihn belehrt, daß eine schreckliche Verschwörung bestand, und er sagte sich, daß er die ihm unbekannten Pläne des Feindes am besten dadurch durchkreuzen könne, daß die Festlichkeiten für den Zaren so oft als möglich abgeändert wurden. Außerdem wollte er einen gewissen Versuch machen.

Restofski nickte verständnisvoll und verschwand, während der Generaladjutant und Volborth ihren Weg durch die vornehmen Hallen nach ihrem eigenen Flügel fortsetzten, wo sie sich trennten, indem sich Freedericks nach seinen Zimmern und Volborth nach dem Saale begab.

Bis zu dem Augenblick, wo er den Thürgriff drehte, war seine Stirn von sorgenvollen Gedanken verdüstert, als er jedoch eintrat, nahm er das leise Lachen, das ihn grüßte, mit liebenswürdiger Miene entgegen und trat wie zufällig zu der Gruppe, bei der Dubrowski stand.

»Nein, ich bin nicht wegen des Wetters zu Rate gezogen worden,« erwiderte er auf die neckischen Fragen nach seinem Thun und Treiben während der letzten Stunde. »Ich hatte in der Einsamkeit meines Zimmers einige rückständigen Arbeiten zu erledigen.«

Die Gräfin Vassili war nahe genug, daß sie diese Antwort hören konnte.

»Ach, gehen Sie doch, Herr Volborth, damit kommen Sie nicht durch,« zischelte sie mit der Geschicklichkeit, unbequeme Dinge zur Sprache zu bringen, die zur Domäne thörichter Frauen gehört. »Alle Welt denkt, Sie seufzten unter den Sorgen Ihres Amtes, aber ich glaube das nicht. Meiner Ansicht nach stecken Sie bis über die Ohren in Ränken – einer nihilistischen Verschwörung oder einer ähnlichen Abscheulichkeit.«

Obgleich er innerlich die alte Dame zu allen Teufeln wünschte, weil sie ihn in dieser leichtfertigen Weise mit einem Gegenstand in Zusammenhang brachte, den aus den Gesprächen und den Gedanken des Gefolges fernzuhalten, er sich die größte Mühe gegeben hatte, war er ihr trotzdem dankbar für die Andeutung, daß eine Veränderung in seinem Benehmen bemerkt worden war, und er beschloß, mehr auf sich zu achten.

»Meine liebe Frau Gräfin,« antwortete er, indem er in humoristischer Weise den Erschrockenen spielte, wobei er seine Gesichtsmuskeln vollkommen in der Gewalt hatte, »bitte, erheben Sie ja nicht so furchtbare Anklagen, wenn etwa unser Freund Restofski zugegen ist. Ich freue mich, daß er augenblicklich durch Abwesenheit glänzt, sonst würde er mir für den Rest der Reise seine Spione auf die Fersen setzen, und das wäre sehr unangenehm, besonders in Paris, wo ich mich ausgezeichnet zu unterhalten hoffe. Wenn Sie unbedingt eine Beschäftigung für mich erfinden müssen, warum kehren Sie denn den Spieß nicht um und beschuldigen mich, zur Sektion zu gehören? Das wäre viel gütiger, weil ungefährlicher für den Gegenstand Ihrer Sorgen.«

Diese Rede war ein Strohhalm, den er auswarf, um zu sehen, aus welcher Richtung der Wind wehte, und ihre Aufnahme zeigte ihm, daß die scherzhafte Anklage der Gräfin keinen ernsten Hintergrund hatte. Volborths Verfahren war eine Mischung von Schlauheit und Wagemut, und es war bezeichnend für dieses Verfahren, daß er sich nicht scheute, seine geheime Aufgabe kühn, wenn auch im Scherze, zur Sprache zu bringen. Das Lachen über die Widersinnigkeit, die in der Annahme lag, daß er entweder ein Nihilist oder ein Polizeispion sei, war allgemein, mit einer Ausnahme: Ilma Vassili stand noch immer am Fenster, und Volborth merkte, daß sie ihn ernst und forschend ansah.

Sofort erinnerte er sich, daß ihn die junge Ehrendame im Anfang der Reise einmal im Gespräche mit Restofski gesehen hatte. Sonst war er sehr vorsichtig gewesen und hatte jeden offenen Verkehr mit seinen Untergebenen von der Sektion vermieden, aber an einem der Haltepunkte mußte Restofski ihn unbedingt wegen etwas zu Rate ziehen, und als Volborth das verabredete Zeichen erhalten hatte, war er heimlich aus seinem Salonwagen in den geschlichen, worin die Polizeibeamten fuhren. Zufällig war Ilma in demselben Augenblick vorübergegangen. Vom Scharfsinne dieser jungen Dame hatte er eine sehr hohe Meinung, und er dachte jetzt darüber nach, ob sie nicht etwa »zwei und zwei zusammenreime«.

Weiteren Mutmaßungen wurde durch den Eintritt des Generals von Freedericks ein Ende gemacht, der das Gefolge davon in Kenntnis setzte, daß die Parade auf den folgenden Tag verschoben sei, und daß der Zar von der Schmelz sofort nach dem Bahnhofe fahren und nach Kiew abreisen werde. Diese Mitteilung wurde mit allgemeiner Befriedigung aufgenommen, der auch Volborth Ausdruck lieh, ohne sich merken zu lassen, daß er Dubrowski unausgesetzt beobachtete.

Als er diese Abänderung des Programms vernahm, warf der junge Offizier einen Blick nach der Thür und machte eine halbe Wendung dahin, woraus man schließen konnte, daß er den Wunsch hatte, den Saal zu verlassen. Wenn das wirklich seine Absicht war, so schob der Generaladjutant ihr indes rasch einen Riegel vor.

»Hauptmann Dubrowski,« sagte General von Freedericks, »Seine Majestät haben die Absicht, sich heute nach Schloß Lainz zu begeben, in der Hoffnung, etwas jagen zu können, falls sich das Wetter bessert. Da Sie der beste Jäger im Gefolge sind, kommandiere ich Sie zur Begleitung, und Sie werden sich sofort im Vorzimmer Seiner Majestät melden.«

Ilma hatte ihre Blicke von Volborth auf ihren abtrünnigen Geliebten gerichtet, und sie nahm wahr, daß ein Schatten des Verdrusses über sein Gesicht flog, allein die militärische Zucht behielt die Oberhand, und Boris, der die Herrschaft über sich rasch wiedergewonnen hatte, nahm den Befehl anscheinend erfreut auf.

»Zu Befehl, Herr General, ich werde sofort gehen,« erwiderte er. »Darf ich mir eine Minute Zeit nehmen, um ein – ein kleines – kleines Briefchen zu kritzeln?«

Die andern Mitglieder des Gefolges waren jetzt schon eifrig damit beschäftigt, Pläne für den Tag zu machen, und der Zwischenfall der Kommandierung des Adjutanten wurde nicht beachtet. Nur Ilma sah, wie ein rascher, fragender Blick in General von Freedericks' Auge aufflammte. Dieser Blick flog zur Volborth hinüber, der in anscheinend gleichgültigem Gespräche mit dem Grafen Woronzoff begriffen war. Ein Bruchteil einer Sekunde verging, und dann gab der Generaladjutant die erbetene Erlaubnis.

Hierauf zog Boris ein Taschenbuch hervor, riß ein Blatt heraus und schrieb einige Zeilen mit Bleistift darauf; dann sah er sich um und seine Augen fielen auf Volborth, der sich etwas vorbeugte.

»Aha, Paul, Sie sind der Mann, den ich suche,« rief der Flügeladjutant. »Von Ihrer Gutmütigkeit hoffe ich, daß Sie einem unglücklichen Sklaven des Dienstes einen Gefallen thun werden. Hier habe ich ein Telegramm aufgesetzt, das ich selbst aufgeben würde, wenn ich Zeit hätte. Wollen Sie es für mich abschicken, lieber Freund?«

Mit gefällig zustimmender Miene streckte Volborth die Hand nach dem Papiere aus, aber ehe er es ergreifen konnte, indes seine gierigen Augen bereits die Aufschrift und die Worte: »Parade auf morgen verschoben« gelesen hatten, trat Ilma zwischen die beiden Herren.

»Aber warum willst du denn Herrn Volborth damit behelligen, Boris?« fragte das junge Mädchen ruhig. »Ich gehe jetzt nach der Kunstgalerie und werde diese kleine Besorgung mit großem Vergnügen für dich übernehmen.«

Mit einer höflichen Verbeugung und einer Miene, als ob es ihm gleichgültig sei, wie es das in der That auch war, trat Volborth zur Seite, denn er hatte sich ja schon vergewissert, daß Dubrowski sein Versprechen hielt, die Abänderung des Programms Olga Palitzin mitzuteilen. Für den jungen Offizier dagegen war die Lage ziemlich schwierig, und er errötete bis zu den Haarwurzeln. Die von Ilma angebotene Gefälligkeit zurückzuweisen, wäre unhöflich, und ihr ein Telegramm an ihre Nebenbuhlerin zur Besorgung zu übergeben, wäre eine Beschimpfung des jungen Mädchens gewesen.

»Tausend Dank euch beiden,« stammelte er, »aber wenn ich mir die Sache recht überlege, will ich das Telegramm lieber überhaupt nicht abschicken.« Bei diesen Worten riß er das Blatt in kleine Stücke, die er in die Brusttasche seines Waffenrocks schob, und verließ das Zimmer.

Die Folge seines unerwarteten Weggangs war, daß Volborth und Ilma einander gegenüberstanden, wobei in dem leicht geröteten Antlitz der Ehrendame ein Ausdruck des Frohlockens, im Gesicht Volborths dagegen ein freundliches Lächeln erschien. Beide ahnten, daß der eben vorgefallene Auftritt der Anfang eines Kampfes zwischen ihnen sei, und Ilma war der Meinung, sie habe dadurch, daß sie ihren Gegner verhindert hatte, das Telegramm an sich zu nehmen, den ersten Sieg errungen. Wie ein echtes Weib vergaß sie die Vorsicht so weit, daß sie sich nicht enthalten konnte, ihm das »unter die Nase zu reiben«.

»Sie sind wohl etwas enttäuscht, daß Sie dieses Geschäft nicht für Herrn Hauptmann Dubrowski besorgen können?« fragte sie in einem leicht herausfordernden Tone.

»Im Gegenteil, mein gnädiges Fräulein, ich freue mich sehr, daß mir das erspart geblieben ist,« entgegnete Volborth zuvorkommend. »Meine Zeit ist so kostbar, und da ich aus der Zerstörung des Telegramms wohl schließen darf, daß es nicht wichtig war, bin ich froh, daß ich keinen unnötigen Weg nach dem Börsenplatz zu machen brauche. Allerdings mag es vielleicht für die Dame, der es zugedacht war, eine größere Wichtigkeit haben, allein es liegt mir gar nichts daran, der gefällig zu sein.«

Das war ein geschickter Stoß, wobei weibliche Eifersucht als Waffe diente, und er traf.

»Dame?« rief Ilma aus. »Sie haben also die Aufschrift gelesen?«

»Ja, ich habe den Namen erhascht. Es war an die Fürstin Palitzin in Petersburg.«

Ilma biß sich auf ihre volle rote Lippe, daß fast das Blut hervortrat, allein Volborth trug nicht das mindeste Bedenken, Schmerz zu bereiten, wenn es seinen Zwecken diente.

»Vielleicht,« fügte er hinzu, »war es das, was Hauptmann Dubrowski in die Verlegenheit setzte, woraus er sich eben in so plumper Weise gezogen hat.«

Sein Zweck war erreicht: er hatte sie ärgerlich gemacht.

»Ich verstehe Sie nicht, mein Herr,« versetzte Ilma hitzig. »Wenn Sie damit andeuten wollen, ich hätte mich nur erboten, das Telegramm zu besorgen, um Hauptmann Dubrowski in Verlegenheit zu setzen, so ist das einfach eine Beleidigung. Ich hatte einen ganz andern Grund.« Bei diesen Worten segelte sie an Volborth vorbei und zum Zimmer hinaus.

»Sie sind eine kluge Dame,« sagte Volborth bei sich, während er ihr nachsah, »aber wenn ich auch nicht weiß, was Sie eigentlich im Schilde führen, habe ich doch in diesem kleinen Scharmützel die Oberhand behalten. Diese Entrüstung klang echt, und sie hat mir zum wenigsten verraten, daß Ihr eifriges Verlangen, das Telegramm zu nehmen, nicht aus Eifersucht auf die Palitzin hervorging. Das will sehr sorgfältig überlegt sein, meine liebe junge Dame. Es scheint mir, als ob Sie eine Größe in meinen Plänen werden wollten, mit der man sehr rechnen muß.«

Hierauf verließ er den Saal und begab sich nach seinem eigenen Zimmer, wo er sich einen Sessel ans Fenster rollte, eine Cigarette anzündete und die sich jetzt allmählich verlaufende Menschenmenge in der Ringstraße betrachtete. Erst als sieben braune Stümpfe in der Aschenschale an seiner Seite lagen, hatte er eine Lösung gefunden, die ihn einigermaßen befriedigte.

»Das muß es sein,« murmelte er, »sie liebt ihn immer noch, trotz der schlechten Behandlung, die er ihr angedeihen läßt, und wenn sie mich überdies im Verdacht hat, zur Sektion zu gehören, glaubt sie vielleicht, daß die plötzliche Kommandierung zum Dienst mein Werk gewesen sei. In dem Falle wollte sie das Telegramm nicht ihrer eigenen Zwecke wegen in die Hände bekommen, sondern nur verhindern, daß es in die meinen fiel.«

Allein im Widerspruch mit dieser Anschauung kam ihm der Gedanke, daß Ilma, selbst wenn sie sicher gewußt hätte, daß er ein Polizeibeamter war, ihm kein besonderes Interesse für Boris zugeschrieben haben würde, es sei denn, sie hatte Gründe, zu glauben, daß ihr treuloser Liebhaber ein solches Interesse verdiente.

»Wenn das so ist, kann ihre Handlungsweise eine ernstere Bedeutung haben,« überlegte er. »Sie kann die Absicht gehabt haben, nicht nur Dubrowski zu decken, sondern auch einen Plan zu vereiteln, worin sie ihn verwickelt glaubt.«

Wie er die Sache auch drehen und wenden mochte, er konnte zu keiner bestimmten Schlußfolgerung gelangen. So suchte er denn die Angelegenheit für den Augenblick zu vergessen und fuhr nach dem Polizeiamt, wo er bis spät in den Nachmittag hinein saß und Berichte von den österreichischen und russischen Fahndern in Empfang nahm, die die Stadt nach Anna Tschigorin durchsuchten. Sein nächster Untergebener, Restofski, erschien zuletzt mit der Nachricht eines völligen Mißerfolges.

»Na, wir haben wenigstens den Trost, daß der Tag ohne ›Ereignis‹ hingegangen ist,« sagte dieser. »Die Leute, die mit nach Lainz geschickt waren, haben nichts Verdächtiges bemerkt. Seine Majestät sind soeben in die Hofburg zurückgekehrt, und hier sollte er doch wenigstens sicher sein.«

»Hm, Sie vergessen den russischen Chor heute abend,« antwortete Volborth nachdenklich. »Ich wollte, Franz Josephs internationale Höflichkeit hätte uns diese Sorge fern gehalten.«

»Deshalb brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen,« erwiderte Restofski. »Es ist mir gelungen, ein Verzeichnis unsrer Landsmänninnen zu bekommen, die die Probe abgehalten haben, und ich habe sie alle persönlich gesehen. Sie sind sämtlich ungefährlich.«

Für den Abend war nämlich im Privattheater der Hofburg ein Konzert angesetzt, das mit der russischen Nationalhymne, gesungen von in Wien lebenden Russinnen, beginnen sollte.

Da es Zeit war, sich in den Gesellschaftsanzug zu werfen, kehrten die beiden Polizeibeamten einzeln nach der Hofburg zurück. Restofski wollte hastig etwas essen und sodann seine Untergebenen für die Festlichkeit einteilen und unterweisen, während Volborth an dem Diner des russischen und österreichischen Gefolges teilnehmen mußte, das dem Konzert vorausging. Bei Tische bemerkte er, daß Ilma in ausgezeichneter Laune war, oder sich den Anschein gab, es zu sein. Sie neckte Boris wegen seines unerwarteten Dienstes, als ob keine Wolke zwischen ihnen schwebe, und plauderte munter über ihre Erlebnisse in der Kunstgalerie, aber in all dieser Fröhlichkeit lag etwas Fieberhaftes, das, in Verbindung mit einem andern Umstand, Volborth viel zu raten aufgab. Er bemerkte nämlich, daß sie, lange nachdem sie Platz genommen hatte, jedesmal, wenn ein Diener eintrat, verstohlene Blicke nach der Thür warf, als ob sie jemand erwarte, der nicht kam, und das war um so seltsamer, als mit einer Ausnahme, die sämtlichen Mitglieder des Gefolges gegenwärtig waren. Diese Ausnahme war Restofski.

»Was kann das schöne Rätsel mit meinem würdigen Amtsbruder zu schaffen haben?« überlegte Volborth, als wohl zum zwanzigstenmal ihre Blicke nach der sich öffnenden Thür flogen, um sich sofort wieder zu senken, als nur ein Diener eintrat.

Nach Schluß des Mahles wurden die russischen Gäste und das österreichische Gefolge von einem Kammerherrn in den Konzertsaal geführt. Die Bühne lag am oberen Ende, war aber noch durch den Vorhang verhüllt, doch als die glänzende Menge eintrat, flammten die elektrischen Lichter auf und zeigten die mit Flaggen geschmückten Wände, während der Saal selbst durch prachtvolle Blumen- und Pflanzengruppen in eine Feenhalle verwandelt war. Die ersten Stuhlreihen zunächst der Bühne wurden für die kaiserlichen Herrschaften freigelassen, während sich die übrigen Sitze rasch mit neugierigen Höflingen füllten.

Plötzlich – ein Zeichen, daß Franz Joseph und seine Gäste nahten – stimmte das Orchester die süßen Klänge der österreichischen Nationalhymne an, langsam hob sich der Vorhang und zeigte die Damen, die das Russenlied singen sollten. Jetzt standen sie noch in zwei Reihen geordnet an beiden Seiten der Bühne, aber es war bekannt, daß sie auf ein gegebenes Zeichen nach der Rampe zu einschwenken und so eine Reihe bilden würden, die den Zuhörern gegenüberstand.

In dem Augenblick, wo sich der Vorhang hob, waren Volborths Blicke auf Restofski gerichtet, der gerade einem Bedienten einen Brief abnahm. Während er seine Augen dem schöneren Bilde auf der Bühne zuwandte, streifte sein Blick Ilma, die zwei Reihen vor ihm saß und mit unsagbarem Entsetzen Restofski anstarrte, so daß sich Volborth veranlaßt sah, sich seinem Untergebenen wieder zuzuwenden, und nun bemerkte er, daß dessen Ausdruck, während er den Brief las, das Spiegelbild des Schreckens der Ehrendame war.

In diesem Augenblick erhob sich die Versammlung und wandte sich mit ehrerbietiger Verbeugung dem Mittelgange zu, durch den die hohe Gestalt des Kaisers von Oesterreich nach vorn schritt, wobei er die liebliche Zarina führte. Ihm folgte der bleiche junge Zar mit der Kaiserin Elisabeth am Arme, und nun drehte sich Volborth wieder nach der Bühne um.

Dort am hinteren Ende der Reihe der Sängerinnen, an einer Stelle, die sie nach Ausführung der Schwenkung gerade in die Mitte der Reihe dem Zaren gegenüber und ganz in seine Nähe bringen mußte, stand eine schöne Frau, bei deren Erblicken selbst die eisernen Nerven Volborths zuckten. Wie die andern der Chorsängerinnen war sie im Gesellschaftsanzug, hielt ihr Notenblatt in der Hand und ihre Augen bescheiden gesenkt – mit Ausnahme eines kurzen Aufflammens, als sich die kaiserlichen Herrschaften ihren Sitzen näherten.

Eine blonde Perücke und viele Schminke machten sie fast unkenntlich, so daß Volborth sie nur an den Augen erkannte – aber diese wilden Augen waren die Anna Tschigorins, der Nihilistin.

*


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