Hildegard von Bingen
Heilwissen
Hildegard von Bingen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vom Aderlass

Wenn die Adern des Menschen voll Blut sind, müssen sie von schädlichem Schleim und dem Saft ihrer Verdauung durch einen Einschnitt gereinigt werden. Wenn aber die Ader eingeschnitten wird, erbebt das Blut wie in plötzlicher Angst, und was dann zuerst herauskommt, ist kein reines Blut; Eiter und Blutverdauung fliessen gleichzeitig aus, und darum hat der Aderfluss verschiedene Farben, weil er Eiter und Blut ist. Wenn diese aber ausgeflossen sind, kommt reines Blut, und dann ist mit dem Aderfluss aufzuhören. Wer sich aber zu Ader lässt und gesund und kräftig ist, der soll so viel Blut lassen, wie ein starker durstiger Mann in einem Zuge Wasser trinken kann; wer schwach ist, nur so viel, wie ein Ei von mässiger Grösse fassen kann. Denn übermässiger Aderlass schwächt den Körper … mässiger aber entfernt die bösen Säfte und ist dem Körper gesund … Wer stark, gesund und dick ist, lasse alle drei Monate zur Ader … und zwar bei abnehmendem Monde am 1., 2., 3., 4., 5. oder 6. Tag nach Vollmond … Der Aderlass ist alten Leuten zuträglicher als jungen, weil das Blut der Greise mehr mit Eiter vermischt ist als das Blut junger Leute. Der Mann kann aber, wenn es nöthig ist, schon im 12. Lebensjahr zur Ader lassen … aber doch nur soviel, wie zwei Nussschalen fassen können; das thue er einmal im Jahr bis zum 15. Lebensjahr; von da an … wenn er gesund ist, lasse er soviel Blut, wie ein dürstender Mann Wasser in einem Zuge trinken kann, wie oben gesagt ist, bis zu 50 Jahren. Nach dem 50. Jahr, wo im Manne Blut und Schleim abzunehmen und sein Fleisch zu wachsen beginnt, lasse er nur einmal im Jahr zur Ader und vermindere den Durchschnitt des Maasses der Blutentleerung, und das thue er bis zu 80 Jahren. Später aber nützt ihm der Aderlass nichts mehr, sondern ist schädlich, weil die Lebenskraft des Blutes schon eingetrocknet ist; ausser wenn eine grosse Aufwallung und ein Aufbrechen der Säfte in ihm erfolgt, und dann lasse er dieser Noth wegen ein wenig zur Ader. Weil aber nach dem 80. Lebensjahr die Adern des Mannes dahinschwinden und ein Aderlass ihm nicht gesund ist, so errege er durch Kräuter, wie Schwarzdistel und dergleichen, Blättern an seinem Körper, damit die schädliche Säfte zwischen Fleisch und Haut ausfliessen, wenn die Pusteln aufbrechen. – Ein Weib … wird den Aderlass bis zum 100. Lebensjahr ausdehnen, weil sie es wegen der schädlichen, eitrigen Säfte nöthiger hat als der Mann. Das beweist auch die monatliche Reinigung. Wenn sie durch diese nicht von schädlichen, eitrigen Säften gereinigt würde, dann würde sie ganz und gar anschwellen und könnte nicht leben. Nach dem 100. Jahr aber lasse sie nicht mehr zur Ader …, wenn sie aber dann nocht schädliche Säfte in sich spürt, erzeuge sie Pusteln an denselben Stellen, wo auch Erhitzungen (cocturae) am Menschen gemacht zu werden pflegen. – Man muss wissen, dass in der Cephalica mehr Flüssigkeit ist als in der Mediana oder Epatica, weil der Cephalica mehr Adern mit Flüssigkeit anhaften als der Mediana oder Epatica: darum ist es heilsamer an der Cephalica den Aderlass vorzunehmen als an den anderen Adern. Denn wer viel Schleim im Kopf oder auf der Brust hat oder wem der Kopf so brummt, dass ihm davon das Gehör etwas verringert wird, lasse an der Cephalica zur Ader; doch hüte er sich vor zu reichlicher Blutentleerung, damit nicht seine Augen davon verdunkelt werden; denn einige bis zu den Augen reichende Aederchen haften ihr an, so dass bei starker Blutentleerung auch diese leer werden und dem Menschen das Augenlicht schwindet.


 << zurück weiter >>