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Die Geschichte von Herrn Wilibald und dem Frosinchen.

(1889)

 

[196] [197]

Es war schönes Weihnachtswetter in München. Der starre Frost der letzten Tage hatte sich gebrochen, der Schnee knirschte nicht mehr unter den Tritten der hastigen Menge, die sich durch die Straßen bewegte, und der halberloschene Mond, der aus dem bleifarbenen Dunst nur trübe vorblickte, kündete Thauwind für die Feiertage an. Auch die Laternen flackerten nur schwach durch ihre feuchtbeschlagenen Gläser mit röthlichzuckenden Strahlen, die nur in der Höhe einen ungewissen Lichtkreis schufen. Gleichwohl war es unten hell genug, um allen irdischen Geschäften nachzugehen. Die glänzend beleuchteten Schaufenster warfen ihren Schein weit über das Pflaster hinaus, und da der Feierabend eben angebrochen war, brannten auch schon in vielen Häusern die Kerzen an den Weihnachtsbäumen, so daß es an manchen Stellen taghell war und, wer Zeit dazu hatte, das Menschengewühl, das sich in lautloser Geschäftigkeit hin und her trieb, so deutlich wie in einem festlich erleuchteten Ballsaal mustern konnte.

[198] Dazu schien aber Niemand aufgelegt von den Hunderten, die, mit Packeten und Körben beladen, eilig ihres Weges gingen. Sonst hätte eine wunderliche Figur, die langsam mitten auf dem Fahrweg dahinschritt, wohl einiges Aufsehen erregt, wenn nicht gar ein Trüpplein muthwilliger Jugend sich nachgezogen.

Es war das ein kleiner Mann in einem dunkeln, bis auf die Knöchel herabreichenden Radmantel, dessen rechten Zipfel er über die linke Schulter geworfen hatte. Auf dem Kopf trug er einen hohen Cylinderhut, schief aufs linke Ohr gerückt, nicht um sich einen verwogenen Anstrich zu geben, sondern weil er die Hände nicht frei hatte, ihn geradezusetzen. Auch sonst war an ihm nicht Alles in der Richte. Sein Rücken wölbte sich in einer beträchtlichen Krümmung, und die rechte Schulter trat merklich höher hervor als die linke. Von vorn war die Ungestalt nicht allzu auffällig. Man sah nur, daß der Kopf etwas ängstlich zwischen den Schultern steckte, das wohlgebildete Gesicht aber mit den lebhaft glänzenden dunkeln Augen und dem schwachen bräunlichen Bart, unter dem, da der kleine Mann häufig lächelte, die blanken Zähne angenehm vorblitzten, machte einen gewinnenden Eindruck. So hätte man ihm auch am hellen Tage keine sonderliche Beachtung geschenkt. Was ihn aber an diesem heiligen Abend auffallend machen mußte, wenn nicht Jeder mit sich selbst zu thun gehabt hätte, war die sonderbare Art, mit der er ein großes Schaukelpferd [199] transportirte. Den Kopf mit dem hohen Hut hatte er unter dem Bauch des ungefügen Spielzeugs durchgesteckt, daß ihm der eine Steigbügel über die Achsel herabhing, der Leib des Thieres mit dem Sattelzeug ruhte auf seinem gewölbten Rücken, während er die geschwungenen Wiegenfüße vorn vor der Brust mit den Händen umspannt hatte und so das Gleichgewicht seiner Last auf das Bequemste herstellte.

Er schien sich auf seinen Einfall, das Pferdchen auf diese Weise fortzuschaffen, etwas zu Gute zu thun. Denn er erwiderte den heiteren Blick, mit dem hie und da ein Begegnender ihn streifte, mit einem vergnügten Lächeln und trug trotz der Schwere seiner Bürde den Kopf so hoch und ließ die Augen so stolzzufrieden umherschweifen, wie ein rüstiger Jäger, der eine erlegte Wildsau sich auf den Rücken geladen hat und die vier zusammengeschnürten Läufe vorn mit starker Faust umschlossen hält.

So hatte er, ohne sich zu übereilen, die Straßen durchschritten, in denen sich die Menge um die Kaufläden drängte, und gelangte jetzt auf den freien Platz vor der dunklen Feldherrnhalle, von dem aus die breite Straße mit ihren schnurgeraden Laternenreihen zum Siegesthor hinunterläuft. Hier umgab ihn plötzlich, da in der via triumphalis keine Läden zu finden sind, eine so tiefe Stille und Oede, daß ihm fast feierlich zu Muthe wurde. Ohne die Last von den Schultern zu heben, stand er ein paar Augenblicke still, zog mit einiger Mühe ein [200] Tüchlein aus der tiefversteckten Manteltasche und trocknete sich Stirn und Gesicht, auf denen trotz der Decembernachtluft große Tropfen standen. Der Hut fiel ihm dabei in den Nacken, zum Glück durch den kleinen Sattel aufgehalten. Immerhin kostete es Künste, ihn wieder zu fassen und an seinen Ort zu setzen, worüber es dem kleinen Manne von Neuem schwül wurde. Es störte ihn aber auch dieser Zwischenfall durchaus nicht in seiner guten Laune. Hopla! machte er, wie ein Reitknecht, der in der Rennbahn sein Pferd antreibt, rückte sich's wieder ins Gleichgewicht und schickte sich an, seinen Weg fortzusetzen, der ihn die lange Straße hinab noch eine gute Strecke über das Siegesthor hinausführen sollte.

Da hörte er dicht hinter sich ein helles Lachen und gleich darauf ein Guten Abend, Herr Wilibald! von einer feinen Stimme, die ihm gar wohlbekannt war. Sofort blieb er wieder stehen und machte eine halbe Wendung, so hurtig es ihm seine Last erlaubte, um sich nach dem Gesicht umzusehen, das neben ihm in dem Schneezwielicht auftauchte.

Ein blasses junges Mädchengesicht mit großen schwärmerischen Augen, soviel sich bei dem unsicheren Laternenschein und unter dem Schleierchen, das bis auf die Spitze der stumpfen kleinen Nase herabreichte, erkennen ließ. Er aber kannte jeden Zug darin. War es ihm doch anderthalb Jahre lang jeden Morgen und Abend begegnet, da es seiner Hausgenossin gehörte. Und doch [201] kam es ihm jetzt fremd vor. Denn der nicht gerade kleine, aber schöngeschweifte Mund, der sich lachend öffnete und die hübschen Zähne sehen ließ, war für gewöhnlich streng geschlossen, oder wurde nur durch ein Lächeln belebt, bei dem die kleine Falte, die sich am linken Mundwinkel eingegraben, kaum verschwand.

Darum sagte Herr Wilibald mit unverhohlenem Erstaunen:

Sie sind es, Fräulein Frosinchen? Sie sind ja ungewöhnlich lustig. Was ist Ihnen denn so Amüsantes begegnet?

O, Herr Wilibald, antwortete das Mädchen, das auf einmal wieder ernsthaft geworden war, verzeihen Sie mir's, es war unartig von mir, so grad hinauszulachen, aber mit dem Pferd am Rücken – wenn Sie sich selber sehen könnten – und der Hut, der Ihnen so schief sitzt – Sie müssen mir's nicht in übel nehmen –

Ja so! unterbrach er sie und lachte nun ebenfalls, da auch sie trotz des besten Willens von Neuem anfing, – ich nehm's Ihnen gar nicht übel. Es muß wohl ein Anblick für Götter sein, aber wahrhaftig, das Lachen ist mir bisher vergangen. Der Gaul hat mich gehörig in Schweiß gebracht, da er mich reitet, statt selbst geritten zu werden. Sehen Sie, in dem Laden, wo ich ihn kaufte, wollten sie ihn mir nachschicken, aber zu uns hinaus ist's weit, und ein Packträger, dem ich den Weg hätte zeigen können, – mein Gott, am Heiligabend ist's [202] schwer, einen aufzutreiben. Da lud ich mir ihn selbst auf den Rücken, damit ich sicher wäre, daß er heute noch richtig ankommt. Die Peitsche, die dazu gehört, steckt in meiner Rocktasche neben einem Bilderbuch. Der Hansel muß doch auch wissen, daß Weihnachten ist und daß Onkel Wilibald mit dem Christkindchen seinetwegen gesprochen hat.

O, sagte das Mädchen eifrig, Tante Frosinchen will sich auch nicht drum anschauen lassen. Da schauen Sie, wie ich bepackt bin. In dieser Stranitze sind Lebkuchen, in dieser Aepfel und Nüsse und ein Kletzenbrod, und das Hauptstück, der warme Kittel, den ich ihm geschneidert hab', liegt zu Hause parat. Aber jetzt will ich Ihnen helfen, das Pferd tragen. Ich nehm' meine Packete in den linken Arm, dann hab' ich die rechte Hand frei, und wenn wir Beide anfassen –

Wo denken Sie hin, Frosinchen! erwiderte er kopfschüttelnd, wobei ihm der Hut vom linken auf das rechte Ohr rutschte. Wer sich freiwillig eine Last aufgeladen hat, muß keinem Andern damit beschwerlich fallen. Und Mutter Natur hat mich auch so gütig ausgestattet, daß der Gaul so bequem und sicher auf meinem erhabenen Rücken ruht, wie ein Ballen oder ein Wasserschlauch auf dem Schiff der Wüste. Sie wissen doch, Fräulein Frosinchen, daß man das Kamel so poetisch benamset hat?

Sie wurde ein wenig roth.

Nein, ich hab' das nicht gewußt, Herr Wilibald. Ich [203] weiß ja überhaupt so wenig, dahinter müssen Sie längst gekommen sein. Ich habe keine so gute Erziehung gehabt wie Sie, der Sie ja ein halber Gelehrter sind. Aber wenn Sie durchaus nicht wollen, so lassen Sie uns wenigstens machen, daß wir nach Hause kommen. Man hat mich im Geschäft noch festhalten wollen, nachdem ich heute schon vier Hüte aufgesteckt hab'; es giebt halt so viel zu thun auf Weihnachten. Aber ich hab' gesagt, ich müss' eben heim zur Bescherung, wenn mir die Extrastunden auch noch so gut bezahlt würden. Sie glaubten, es würde mir beschert werden und ich könnt's nicht erwarten. 's war mir aber nur drum, daß der Hansel nicht schläfrig werden möcht'.

Sie schritt wieder voran die lange einsame Straße hinab, mit kleinen, flinken Füßen auf den morschen Schnee stapfend, während er, ruhig ausholend, mit ihr Schritt hielt, ein wenig hinter ihr, da es ihm Vergnügen machte, ihre zierliche Figur in dem eng anschließenden Jäckchen immer im Auge zu behalten. Sie war nur von mittlerer Größe, so daß sein hoher Cylinder ihr schwarzes Hütchen wohl noch um Handbreite überragte. Aber ihre Schlankheit und der kleine Kopf auf den rundlichen Schultern ließen sie viel größer erscheinen.

Wo kommen Sie denn her, Herr Wilibald? fragte sie nach einem kurzen Stillschweigen. Sie wollten ja zu dem Herrn Hofkapellmeister.

Bei dem war ich auch. Ich würde ja sonst kein [204] Geld für den Roßtäuscher gehabt haben, der mir diese Schaukel-Rosinante aufgeschwatzt hat, theuer genug. Sie ist aber auch von edler Rasse, sehen Sie nur, mit natürlichem Pferdehaar und einem Sattelzeug erster Qualität. Auch reut mich das Geld nicht. Ich habe ja nur darum in der letzten Zeit täglich acht Stunden am Schreibtisch gesessen, um die Arbeit heute noch abliefern zu können. Es war kein Kinderspiel, sechsundfünfzig Bogen, und die Partitur, aus der ich die Stimmen abschrieb, so voll Correcturen und Krakelfüßen. Der Herr Hofkapellmeister machte auch große Augen. Schon fertig, Herr Wilibald? rief er. Sie sind ja ein Hexenmeister, und dabei Ihre unfehlbare Accuratesse, und jede Note wie gestochen. Ein lieber Mann, der Herr Hofkapellmeister. Schade nur, daß er ganz in die neueste Musik verrannt ist, für die ich mich so wenig begeistern kann. Er saß an seinem Flügel und sah gerade wieder eine neue Oper durch. Da ist wieder Arbeit für Sie, sagte er, natürlich nach den Feiertagen. – O, sagt' ich, Herr Hofkapellmeister, unsereins ästimirt die Feiertage nicht so besonders. Notenschreiben ist ja meine Leidenschaft. Da ich selbst nichts componiren kann, macht es mir wenigstens Vergnügen, zu sehen, was Andere zu Stande bringen, obwohl – da unterbrach er mich und lachte: Ich weiß schon, Herr Wilibald, Sie sind ein Reactionär, ein eingefleischter Bach-Anbeter. Nun, über den Geschmack ist nicht zu streiten, und Ihrer ist nicht der schlechteste. Aber sagen [205] Sie einmal, wie sind Sie überhaupt zu Ihren schönen musikalischen Kenntnissen gekommen? Sie sagten mir einmal, daß Sie auf dem Dorf aufgewachsen seien. Aber Sie verstehen sich ja auf die Harmonie, daß mancher Conservatoriumsschüler Sie beneiden könnte. Mehr als einmal hab' ich Sie darauf ertappt, daß Sie einen Schreibfehler in einer Partitur stillschweigend verbessert haben.

Das schmeichelte mir natürlich von so einem Herrn. Und da mußt' ich ihm, wobei er mich zum Sitzen einlud, meine ganze Lebensgeschichte erzählen, wie ich als ein frischer rothbackiger Bub' bei meinem Vater, dem Schullehrer und Organisten im Ansbach'schen, in die musikalische Lehre ging und kein größeres Vergnügen kannte, als auch einmal verstohlen auf der Klaviatur unserer Orgel herumzufingern, wenn ich einen Schulkameraden fand, der für ein paar Aepfel, die ich ihm schenkte, mir ein Stündchen die Bälge trat; und wie ich dann von dem Apfelbaum im Pfarrgarten herunterfiel und als ein armseliges Klümpchen Unglück aufgehoben wurde mit dem verstauchten Rückgrat, und der Dorfbader an mir herumdocterte, bis richtig aus dem »kleinen Verdruß« ein großer geworden war. Und damit war's auch mit dem Schulmeisterwerden, wovon ich geträumt hatte, vorbei, denn meine Stimme blieb verhunzt, ich hätte eine Stube voll wilder Dorfbuben nicht regieren können. Warum ich mich nicht vollends zum Musiker ausgebildet hätte? [206] fragte der Herr Hofkapellmeister. Ja, das war sehr einfach, sagt' ich; wir waren unser sieben, da mußt' ich froh sein, ein bischen Remuneration zu kriegen für meinen Cantordienst, als mein Vater starb und der neue Lehrer nicht im Stande war, den Organisten zu machen. Als aber meine Geschwister fast alle aus der Welt gegangen waren und ich das Bauerngütchen von einem Mutterbruder erbte, der wegen meines Unglücks und meiner Musik einen Narren an mir gefressen hatte, – ich habe es Ihnen ja schon öfters geklagt, daß es da zu spät war, um noch ein regelrechtes Studium anzufangen. Ich wäre doch zeitlebens ein Pfuscher geblieben. Und dann erzählte ich ihm, wie ich mein Gütchen zu Gelde gemacht habe und in die Stadt übergesiedelt bin, um hier endlich viele und gute Musik wenigstens zu hören, und ein vier bis fünf Jahre lebte ich ja herrlich und in Freuden, bis mein kleines Vermögen draufgegangen war. Na, und Sie wissen, wie ich dann in unser Häuschen zog, zu dem Milchmann, dessen Frau damals noch lebte, und mich aufs Notenabschreiben verlegte, womit ich mich wenigstens ehrlich durchbrachte. Und jetzt, da ich die Beschäftigung beim Theater habe, die er mir so anständig honorire, sagt' ich, fehle mir auch nichts, um mit meinem Loose zufrieden zu sein, und ich hätte nur den Wunsch, daß man auch mit mir zufrieden bleiben möchte.

Herr Wilibald, sagte da der gute Herr, der beständig, während ich ihm vorschwatzte, in meinen Abschriften ge [207]blättert hatte, Sie »fischen nach Komplimenten«, wie man zu sagen pflegt. Wer sollte mit solchen Arbeiten nicht zufrieden sein. Um Ihnen aber einen Beweis zu geben, wie hoch auch der Herr Generalintendant Ihren Fleiß und Ihre Kenntnisse schätzt, kann ich Ihnen eröffnen, daß Ihnen ein fixer Gehalt von 200 Mark ausgesetzt ist; natürlich werden Ihnen Ihre Abschriften außerdem nach wie vor besonders honorirt. Dies Fixum soll uns nur Ihre ausschließliche Thätigkeit für die Oper und die Musikschule sichern, denn Sie müssen sich verpflichten, keine anderen Aufträge, als die unseren, anzunehmen. Können Sie sich dazu verstehen, so wird Ihnen die amtliche Ausfertigung Ihres Jahresgehalts allernächstens zugehen, und die Anstellung tritt schon mit dem ersten Januar in Kraft.

Das ist aber einmal schön! rief das Mädchen und blieb aufgeregt stehen. Da sind Sie ja aus aller Sorge, Herr Wilibald. Ein festes Gehalt! Darauf können Sie ja heirathen.

Herr Wilibald blieb stehen. Sein heiteres Gesicht wurde plötzlich sehr ernst, fast traurig.

Warum spotten Sie, Fräulein Eufrosine? sagte er. (Er pflegte sie immer mit ihrem vollen Namen zu nennen, wenn er einmal unzufrieden mit ihr war.) Sie wissen doch – Sie haben doch Augen im Kopf –

Ich verstehe nicht – stammelte das Mädchen und erröthete, während sie die Augen niederschlug und den [208] Rand ihres Schleierchens über die Nasenspitze herabzuzupfen suchte. Warum sollten Sie nicht heirathen, jetzt, da Sie Ihr sicheres Auskommen haben?

Er sah sie scharf an, als ob er prüfen wollte, ob sie ihre ehrliche Meinung ausgesprochen habe. Dann hob er mit sichtbarer Anstrengung das Pferdchen von den Schultern und setzte es vor sich nieder auf den Schnee.

Warum ich nicht heirathe, Kind? Sehen Sie mich gefälligst an. Die Antwort steht mir doch deutlich genug auf den Rücken geschrieben.

Aber, Herr Wilibald – das –!

Ja das, Fräulein Frosinchen! Springt es Ihnen jetzt genugsam in die Augen? Man pflegt wohl zu sagen: Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Wenn Keiner heirathen wollte, als wer kein Päckchen zu tragen hat, würde die Welt aussterben. Meines aber ist ein bischen groß gerathen, und der Pack sitzt an einer so sichtbaren Stelle, daß Jeder sich daran stoßen muß, besonders die Frauenzimmer, bei denen die Toilette, die einer gemacht hat, eine so große Rolle spielt. Ich habe mich längst drein ergeben, daß ich auf meinem Lebensweg den Rucksack immer mit mir schleppen und sogar damit zu Bett gehen muß. Ich weiß ja, daß ich damit nur die Erbsünde zu büßen habe.

Die Erbsünde?

Ganz wörtlich genommen. Denn wäre ich nicht auf [209] den Apfelbaum geklettert, der leider nicht in meines Vaters Garten, sondern in einem fremden stand, so wäre ich nicht heruntergefallen. So bin ich aus meinem Paradiese vertrieben worden, wie Vater Adam, durch das Gelüst nach einer verbotenen Frucht. Es war eine Goldreinette, die am höchsten Zweig hing; ich sehe sie noch immer vor mir.

Aber Vater Adam war verheirathet, wagte das Mädchen halb schalkhaft, halb schüchtern einzuwerfen.

Nun lächelte der kleine Mann schon wieder.

Vater Adam hatte seine Eva schon vorher gefunden, und dann der »kleine Verdruß«, den ihm der verhängnißvolle Apfel eingetragen, saß ihm inwendig. An so was nehmen die guten Frauen keinen Anstoß. Ich aber – glauben Sie, Fräulein Frosinchen, daß ich nicht auch meinen Stolz habe? Ich wäre nicht damit zufrieden, daß sich ein Mädchen in mein Gehalt verliebte und bloß der Versorgung wegen, die nicht einmal die fetteste wäre, die krumme Fünf gerade sein ließe. Und wenn Eine geschmacklos genug wäre, mich so wie ich bin reizend zu finden – an deren gesundem Verstand und richtigen fünf Sinnen müßte ich zweifeln. Nein, liebe Nachbarin, ich muß schon so verbraucht werden und froh sein, wenn hin und wieder ein guter Mensch, wie Sie zum Beispiel, mir ein bischen Freundschaft erweist. Den Gedanken, das edle Geschlecht der Wilibalds fortzupflanzen, habe ich ein für allemal aufgegeben.

[210] Sie standen jetzt schweigend neben einander und sahen Beide auf den Kopf des Schaukelpferdes, zwischen dessen gespitzten braunen Ohren ein artiger schwarzer Mähnenschopf in die Luft starrte. Die wenigen Vorübergehenden verwunderten sich über die sonderbare Gruppe. Ein paar kleine Buben schlichen sich heran und wagten endlich, den Hals des Pferdes zu streicheln.

Da lachte Herr Wilibald.

Lassen Sie uns weitergehen, sagte er, indem er sich seine Last wieder auf den Rücken lud. Wir erwecken sonst die Erbsünde des Neides in diesen jungen Gemüthern. Ja, wenn die Summe meines Gehalts eine Null mehr hätte! Ich habe mir's immer wunderschön gedacht, so am Weihnachtsabend, alle Taschen voll Geld, durch die Stadt zu schlendern, und wo ich ein paar große Kinderaugen in einen hellen Spielzeugladen starren sähe, die kleinen Leute bei der Hand zu fassen und hineinzuführen: Herz, was begehrst du? Mich wundert, daß die Rothschilds sich dies Vergnügen nicht regelmäßig gönnen. Unsereins kann sich's höchstens bei einer Obstbude oder einer Kuchenfrau erlauben, und auch das ist schon der Mühe werth. So ein Kindergesicht zu sehen, das plötzlich dunkelroth wird vor Ueberraschung, wenn die schönen Zwetschen oder Schaumrollen, nach denen ihm das Wasser im Munde zusammenlief, auf einmal ihm in die schmutzigen kleinen Hände gelegt werden – es geht mir nichts drüber. Man kommt sich dabei ordentlich vor, [211] als wäre man noch in der Märchenzeit, wo Zauberer und Feeen armen Kindern ihre heimlichsten Wünsche erfüllten.

Sie sind sehr kinderlieb, sagte das Mädchen nach einer kleinen Pause.

Das bin ich, Fräulein Frosinchen. Denn ich erinnere mich sehr gut, was ich selbst als Kind für unerfüllte Wünsche hatte, und wieviel Schmerzen ich litt, von denen Niemand wußte. Es ist nicht wahr, daß die Jugend die glücklichste Zeit im Leben ist. Wenn ihre Aengste und Kümmernisse auch verhältnißmäßig klein und oft recht kindisch sind – auch der Verstand, mit dem man sich drüber weghilft, ist ja nur klein, und man hat noch nicht die Erfahrung gemacht, daß Alles vergeht, man hält Alles für ewig. Ein großer Mensch wird auch mit seinen großen Leiden viel besser fertig, und wenn er Courage hat, faßt er selbst den leibhaftigen Teufel bei den Hörnern und ringt mit ihm, bis er ihn unterkriegt. Aber so ein dummes, scheues Ding von sechs oder sieben Jahren, das oft nicht genug zu essen bekommt – das sieht überall Gespenster, und wenn Mutter Natur das kleine Volk nicht auch wieder leichtsinnig gemacht und ihm eine gute Heilhaut gegeben hätte – die wenigsten kämen lebendig aus den Kinderschuhen heraus.

Nein, sagte das Mädchen, ich hab's anders gehabt. Ich war immer lustig, so lang ich noch klein und bei der Mutter war. Erst wie ich größer geworden bin und für mich allein leben mußte –

[212] Sie verstummte und schien fast erschrocken, daß ihr dieses Bekenntniß entschlüpft war. Er aber hatte kein Arg dabei.

Mag sein, fuhr er gleichmüthig fort, daß die Mädel noch gedankenloser aufwachsen, als die Buben, und sich daher ihre jungen Schmerzen und Sorgen nicht so zu Herzen nehmen. Auch lassen sie sich ja mit einem bunten Band oder einer Schnur Glaskorallen leicht über Alles trösten, gerade so wie die wilden Völker, die auch immer Kinder bleiben. Verzeihen Sie mir den ungalanten Vergleich, Fräulein Frosinchen; aber es ist etwas Wahres daran. Im Allgemeinen aber bleibe ich bei meiner Meinung: Kinder haben einen Tröster und Erlöser nöthiger, als erwachsene Menschen, und darum schon allein ist die christliche Lehre die beste, weil Christus der einzige von allen Religionsstiftern gewesen ist, der sich mit den Kindern eingelassen und zu Weihnachten ein großes Kinderfest eingeführt hat.

Er hatte sich außer Athem gesprochen und stand einen Augenblick still, die Last ein wenig lüftend, doch ohne sie abzusetzen. Nehmen Sie doch mein Tuch, sagte er, und trocknen mir ein wenig den Schweiß ab; ich bin so unbehülflich mit meiner Bescherung.

Sie that es eifrig und geschickt und stopfte ihm dann das Tuch zwischen seinen Nacken und die Last, die darauf drückte, und wie er nun weiter ging, nickte er ihr zum Dank freundlich zu. Sie wären eine hübsche [213] Veronika gewesen, wenn Sie unserm Herrn Jesus auf seinem Kreuzwege begegnet wären. Sagen Sie, ist es Ihnen nie aufgefallen, daß in keiner der anderen Religionen von der Kindheit ihrer Stifter die Rede ist?

Wieder wurde sie roth. Ich weiß ja so wenig von den anderen Religionen, Herr Wilibald. Sie müssen mir's erklären.

Nun, von den Arabern und Türken haben Sie doch in der Schule gehört, sagte er. Der Mohammed kommt gleich als ein erwachsener junger Mann zum Vorschein und hat auch bald eine Frau. Und gar die griechischen Götter – man erfährt wohl von manchen, wo sie geboren worden sind, aber sie sind dann gleich fertige junge Götter, liegen in keiner Krippe, müssen nicht nach Aegypten flüchten und sich hernach in einer Synagoge von alten Schulmeistern examiniren lassen. Von dem, was junge Menschenkinder Lustiges und Leidiges erleben, wissen sie nichts, daher fällt es nachher auch keinem ein, die Kindlein zu sich kommen zu lassen. Wie's in Indien damit steht, weiß ich nicht, ich habe eben nicht Theologie studiert.

Und doch mein' ich, Sie könnten, wenn Sie nur wollten, besser predigen, als die meisten Pfarrer. Mich wundert nur, daß Sie trotzdem nicht in die Kirche gehen.

Ja, liebes Kind, erwiederte er mit einem Seufzer, das kommt eben daher, weil ich das Beste verloren habe, was einem in der Kindheit beschert ist, den Kinder [214]glauben. In meinem kleinen Geburtsort hätte mich am Sonntag nichts zu Hause gehalten, ich mußte auf dem Orgelchor sitzen, und jedes Wort unseres guten Pastors sog ich so begierig ein, wie ein Wickelkind die Milch der Mutterbrust. Wie ich dann zu reiferen Jahren und zu Verstande kam, habe ich den Katechismus mit anderen Augen studirt und mir die Welt betrachtet, die so viel Räthsel aufgiebt, auf die er keine Antwort hat; nun, und weil auch die Herren auf der Kanzel einem das Wort des Räthsels schuldig bleiben, bin ich es müde geworden, da unten zu sitzen, während sie oben so sicher alle sieben Himmel durchfliegen. Auch spielt man mir gewöhnlich die Orgel zu schlecht. Der liebe Gott, der mir meine musikalischen Ohren gegeben hat, wird mir's nicht als Sünde anrechnen, wenn ich Sonntags mich in mein Kämmerlein einschließe und ein paar Bach'sche Fugen zu seiner Ehre auf meinem Klavier zusammenstümpere.

Nein, Fräulein Frosinchen, fuhr er fort, da sie plötzlich stehen blieb und ihn mit ihren schwermüthigen Augen betroffen ansah, Sie müssen darum nicht glauben, daß ich ein gottloser Mensch sei. Gerade weil ich finde, daß Alles, was wir Gott und göttliches Wesen nennen, über unsere enge Vernunft geht, weil es die Welt umfaßt und ewig ist, wir aber so schwache und kurzathmige Geister sind, wie die Funken, die in einem Herdfeuer aufspringen, gerade aus Respect vor dem Allerhöchsten [215] und Ueberirdischen geht mir's gegen den Mann, wenn ich die guten Leute das Heilige sich zum Kindermärchen machen sehe und höre, wie sie mit ihrem Lallen die großen Geheimnisse auszudeuten meinen. Wer aber brav ist, wie Sie, und ganz andächtig Gott einen guten Mann sein läßt, mit dem kann ich mich sehr wohl verständigen. Uebrigens, wie sind wir nur darauf gekommen? Ich mag sonst so ungern über Religion sprechen, wie über die Musik. Unser innerer Sinn ist so verschieden gestimmt, wie unsere Ohren. Jeder hat den Gott, den er braucht und versteht, und Jeder hängt an den Meistern, die ihm die Seele bewegen. Nein, Sie dürfen mir kein so mißbilligendes Gesicht machen, liebe Nachbarin. Gerade heut, mein' ich, können sich die Menschen, so verschieden sie über all das denken, was vor fast zweitausend Jahren mit dem Kindlein von Bethlehem in die Welt gekommen ist, froh und verträglich die Hand reichen. Wer alle Mühseligen und Beladenen hat erquicken wollen und sich dafür kreuzigen ließ, daß er sein Herz an die Menschheit hingab, gegen den bleibt die Menschheit noch immer tief in der Schuld, wenn sie ihm noch so viel göttliche Ehren erweist.

Aber da sind wir ja ans Ziel gelangt. Ich gestehe, es ist mir eine Wohlthat, daß ich endlich das Dach unseres Häuschens sehe, so gern ich mit Ihnen geplaudert habe. Der Gaul hat meinen Nacken nachgerade schändlich durchgeritten.

*

[216] Das kleine einstöckige Haus lag draußen vor dem Thor. Sie hatten aber erst noch ein gutes Stück an den schönen neugebauten Villen vorbeiwandern müssen, ehe sie in die dunkle Seitenstraße einbiegen konnten, wo Alles noch an die dörfliche Vorzeit dieser jetzt zur Stadt aufstrebenden Gegend erinnerte. Hier war's lustig zu wohnen im Sommer, wenn die Gärten im Flor standen und Schatten gaben. Zur Winterszeit lag der Schnee hier dicker und fester auf den Straßen und Dächern, und die wenigen Laternen waren trügliche Wegweiser für Solche, die nicht ganz ortskundig hier draußen zu thun hatten.

Unserem Paare aber erschien dies einsame Gebiet heimisch und traulich genug, und sie erkannten schon von weitem das Haus hinter dem schmalen Vorgärtchen, dessen Büsche und Beete unter einer hohen glatten Schneedecke verschwunden waren. Gleich bei seiner Uebersiedelung hatte Herr Wilibald sich dort eingemiethet. Denn die Nachbarschaft eines Handelsgärtners und die noch unbebaute Wiese ihm gegenüber bürgten ihm dafür, daß sein empfindliches Ohr nicht durch Klavierübungen und singende Backfische beunruhigt werden würde. Auch die Hausbesitzer sagten ihm zu. Das kleine Grundstück hatte seit vielen Jahren einer Milchfrau gehört, die von hier aus mit ihrem Wägelchen ihre Kunden in der Stadt versorgte. Nach dem Tode ihres ersten Mannes, dem sie eine einzige Tochter geboren, hatte sie ihr Herz [217] an einen nicht gerade reputierlichen Menschen gehängt, einen völlig armen und übel beleumdeten ehemaligen Wilderer, der eine geraume Zeit, da er sich an einem Förster vergriffen, im Zuchthaus seine Jugendsünden abgebüßt hatte und als Knecht zur Besorgung des Hauses und Stalles von der barmherzigen Wittwe in Dienst genommen worden war. Er selbst war schon in den Vierzigen, aber ein rüstiger und stattlicher Geselle, der sich auch als Ehemann und Hausbesitzer nichts Aergeres mehr zu Schulden kommen ließ, als daß er hin und wieder einen Hasen schoß, der sich vom Felde herein allzu nah an sein Krautgärtchen heranwagte. Als dann die Frau mit Tode abgegangen war, führte ihm die Stieftochter das Hauswesen, während er das einträgliche Geschäft seiner Seligen fortsetzte, allerdings mit einer verdrossen herablassenden Miene, wie um anzudeuten, daß er dies verdienstliche, aber unmännliche Gewerbe unter seiner Würde hielt. Ein kurzes Jahr hindurch hauste er dann ganz allein in seinem Häuschen. Die Tochter hatte sich mit einem Handwerker verheirathet. Als aber dieser in seinem Geschäft durch einen Zufall verunglückte, zog die Frühverwittwete mit ihrem Knäbchen, jenem schon mehrerwähnten Hansel, wieder zu ihrem einsamen Stiefvater und lebte still und traurig neben ihm hin, bis auch sie, als ihr kleiner Sohn eben drei Jahre alt geworden war, einer damals umgehenden Volkskrankheit zum Opfer fiel.

[218] Diesen letzten Abschnitt in dem Leben des Hausherrn hatte Herr Wilibald miterlebt und an den drei Personen, die unter einem Dach mit ihm wohnten, seiner menschenfreundlichen Natur nach einen warmen und hülfreichen Antheil genommen. Sein Mitgefühl für die junge Frau übertrug er dann auf das verwaiste Knäbchen, und wer ihn nach dem Begräbniß der Mutter unten in dem Zimmer traf, wo das Bett des Kleinen stand und der Großvater, bei seinen sechsundfünfzig Jahren schon stark ergraut, sich unbehülflich mit der Wartung des Kindes abmühte, hätte kaum bezweifelt, daß der kleine hochschultrige Mann mit der feinen, hellen Stimme, der mit dem Bübchen stundenlang plauderte, ihm sein Essen gab und es endlich zu Bett brachte, der rechte Vater sei.

Er selbst hatte zwei Zimmer des oberen Stockwerks inne, ein dreifenstriges, das die ganze Vorderseite des Hauses einnahm und in welchem sein Klavier, sein Arbeitstisch und ein mit verblichenem Kattun überzogenes Sopha stand, und daran anstoßend ein kleineres Gemach, worin er schlief. Diesem gegenüber, durch einen halbdunklen Flur getrennt, lag ein ebenso großes Gemach, an das eine kleine Küche stieß, beide damals leer und verschlossen, bis vor anderthalb Jahren sich eine Mietherin auch für dieses höchst dürftige Quartier einfand, unser wohlbekanntes Frosinchen. Der mürrische Hausherr, der seit dem Tode der Stieftochter immer menschenfeindlicher [219] geworden war, sich dem Trunk ergeben und damit ein altes Brustleiden genährt hatte, wollte das hübsche junge Fräulein zuerst nicht in sein ehrbares Haus aufnehmen. Er gab ihr unzweideutig zu erkennen, daß er sie nicht für genugsam tugendhaft halte, um seiner Hausherrnreputation nicht zu schaden. Das blasse, sehr einfach gekleidete Mädchen hatte mit kaum zurückgehaltenen Thränen betheuert, sie habe durchaus keinen »Anhang«, sie arbeite in dem Putzgeschäft des Fräulein N. N., wo man sich nach ihrer Moralität erkundigen könne, und wenn jemals ein Herrenbesuch über ihre Schwelle komme, wolle sie sich's gefallen lassen, Knall und Fall aus dem Hause gejagt zu werden.

Das alles brachte sie in so demüthigem Tone vor und blickte dabei mit so lieblicher Freundlichkeit auf den kleinen Hansel, der ihr ein Händchen gegeben und ihre Hand nicht wieder loslassen wollte, daß der bärbeißige Milchmann sich schon halb besänftigt fühlte. Zum Ueberfluß kam Herr Wilibald während der Verhandlung dazu und wußte seinen Miethsherrn zu bewegen, mit dem guten Geschöpf, dem man eine harte Lebensschule im Gesicht ansah, wenigstens einen Versuch zu machen.

Noch am selben Abend bezog das Frosinchen das leere Zimmer im oberen Stock, und die Küche wurde ihr gleichfalls zur Verfügung gestellt. Doch benutzte sie dieselbe nicht, wie die Männer gedacht hatten, als Garderobenkammer, da sie außer dem dunkeln Fähnchen, [220] das sie trug, überhaupt keine nennenswerthen Toilettengegenstände, bis auf ein wenig sehr saubere Wäsche, besaß, sondern gab den verwahrlosten verstaubten kleinen Herd seiner ursprünglichen Bestimmung zurück, indem sie Abends, nachdem sie von ihrer Arbeit in der Stadt zurückgekehrt war, sich ein äußerst dürftiges Mahl selbst bereitete, welches sie auf dem schmalen Küchentisch bei einem winzigen Lämpchen verzehrte. Mittags begnügte sie sich mit einem Brödchen und, je nach der Jahreszeit, etwas Obst, oder ein paar Wurstscheibchen, welche frugalen Vorräthe sie in einer Ledertasche bei sich trug.

Dabei hielt sie nicht nur gewissenhaft ihr Gelübde, keinen Männerfuß je über ihre Schwelle zu lassen, sondern es klopfte auch kein weiblicher Finger jemals an ihre Thür, da sie nach Freundinnenumgang nicht das geringste Verlangen zu tragen schien. Denn auch an Sonn- und Feiertagen, wenn sie in der Frühe ihren Kirchgang gemacht hatte, hielt sie sich einsam zu Hause, Niemand wußte, was sie dann anfing, um die langen Stunden hinzubringen. Es konnte nicht die Armuth sein, was sie zu diesem einsiedlerischen Einsitzen bewog. Sie war eine sehr geschickte, gut bezahlte Arbeiterin, und nach und nach schmückte sie auch ihr Stübchen mit allerlei bescheidenem Kram, frischen weißen Vorhängen, einer Tischdecke und einem billigen Oelfarbendruck, eine einsame Jungfrau in himmelblauem altdeutschem Gewande mitten in einer saftgrünen Wiese darstellend, den ihr ein [221] herumziehender Bilderhändler aufgeschwatzt hatte. Von diesen Herrlichkeiten hatten jedoch selbst ihre Hausgenossen nur eine dunkle Ahnung. Der Milchmann, der an der Wassersucht litt, bemühte sich nie die steile Holztreppe hinauf, und Herr Wilibald konnte nur selten einmal einen Späherblick in das Zimmer seiner Nachbarin werfen, wenn sich ihre Thür zufällig in demselben Augenblick, wie die seinige, öffnete. Da er aber gute Augen hatte und überdies ein gutes Gemüth, das an dem geheimnißvollen Wesen und Weben dieses im Schatten blühenden jungen Geschöpfs einen immer wachsenden Antheil nahm, entging es ihm nicht, daß sein Gegenüber trotz der strengen Arbeit und dürftigen Mahlzeiten nach und nach eine frischere Farbe auf den Wangen bekam und sogar – freilich selten genug – ein Lächeln auf den Lippen, die sich unverkennbar zu röthen anfingen.

Dieses Wunder bewirkte kein Geringerer, als der kleine Hansel. Von der ersten Stunde an hatte er sein mutterloses Herz an die neue Hausgenossin gehängt, die freilich für die mancherlei Bedürfnisse eines so jungen Kindes ein feineres Verständniß hatte, als selbst der gütige Onkel Wilibald. Daß ihre Tagesarbeit Tante Frosinchen so lange in Anspruch nahm, trug nur dazu bei, die zärtliche Hingebung des kleinen Burschen an seine Freundin zu steigern, da er den ganzen Tag bis zum Feierabend auf sie zu warten hatte. Kaum aber [222] betrat sie das Vorgärtchen, so rannte er ihr unaufhaltsam entgegen, und es verstand sich von selbst, daß sie ihn auf den Arm nahm, küßte und die Stiege hinauf trug. Da verlangte er nichts Besseres, als um sie herumzutrippeln, wenn sie ihre Lampe anzündete, sich in ein Hausjäckchen steckte und den Suppentopf auf dem Herde zurichtete. Beim Essen hockte er dann auf einem Schemel ihr gegenüber, ließ sich hin und wieder ein Bröckchen in den Mund stecken und plauderte mit ihr in seinem Kauderwelsch, von dem sie besser als Onkel Wilibald jede Silbe verstand.

Dieser, der trotz seiner Gutherzigkeit sich einer gewissen Eifersucht nicht erwehren konnte, hätte gern dann und wann in der Küche drüben sich zu Gast geladen. Aber die unverbrüchliche Hausregel wurde auch auf ihn angewandt. Die Thür blieb ihm versperrt, er konnte nur, wenn das Frosinchen den Kleinen zu Bett brachte, wie zufällig aus seinem Schlafzimmer tretend, ihr im Flur begegnen und dort mit kluger Behutsamkeit sie durch ein Gespräch zu fesseln suchen. Das gelang ihm auch in der Regel so gut, daß sie oft den Kleinen auf ein im Flur stehendes altes Tischchen setzte und sich daneben auf dem ausgemusterten Rohrstuhl niederließ, um die anziehenden Reden des von ihr scheu verehrten Hausgenossen behaglicher zu genießen. Es kam wohl vor, daß Hansel, der noch durchaus nicht so bildungsbedürftig war, wie sie, darüber einschlief. Dann lehnte [223] sie seinen kleinen Blondkopf an ihre Schulter, umfing ihn mit dem Arm und horchte nun um so andächtiger auf Alles, was Herr Wilibald ihr erzählte.

Es waren keine »Staats- und gelehrten Sachen«, von denen er sie unterhielt, auch nur selten Stadtgeschichten oder was sich in den Nachbarhäusern etwa ereignet hatte. Auch nach ihrem früheren Leben und ihren Verhältnissen fragte er nie mehr, nachdem sie ihm einmal mit einer fliegenden Röthe auf den Wangen gesagt hatte, sie habe kein Glück in der Welt gekannt und wolle nichts Anderes, als in aller Stille so fortleben. Er hatte aber eine eigene Art, die wir schon bei dem Geplauder der Beiden auf ihrem Weihnachtsgang belauscht haben, von zufälligen geringfügigen Anlässen sich in höhere Regionen zu erheben und sich über Gott und Welt in einem feierlich-schlichten Phantasiren zu ergehen, das oft genug für ihr Verständniß zu hoch war, aber eine beschwichtigende und erhebende Wirkung auf ihr beklommenes Gemüth ausübte, ähnlich wie sein Phantasiren auf dem Klavier, womit er sich nach angestrengter Arbeit zu erholen liebte. Daß sie dann hinter der Thüre saß, die sein großes Zimmer von ihrem Stübchen trennte, und begierig jeden Ton in sich sog, nur zuweilen aufseufzend, wenn die Töne sie mit schwermüthiger Wonne erfüllten, hatte sie ihm nie gestanden, und er selbst ahnte nicht, wie dankbar sie ihm für diese verstohlene Herzerquickung war, und wie ihr die einsamen Sonntage nur [224] darum nicht lang wurden, weil auch er dann sich etwas mehr Muße gönnte und stundenlang seine Bach'schen Präludien und Beethoven'schen Sonaten spielte. Obwohl sie ein Kind des Volks und ohne alle musikalische Vorbildung war, hätte sie diese häuslichen Concerte nicht hingeben mögen für die rauschendste Militärmusik in einem hellbeleuchteten Sommergarten mit der flottesten jungen Gesellschaft.

*

Wo werden wir ihm denn aber aufbauen? sagte Herr Wilibald, während sie jetzt auf das dunkle Haus zugingen. Vorige Weihnachten bescherten wir ihm ja unten beim Großpapa. Sie entsinnen sich noch, Fräulein Frosinchen, wie ungemüthlich es war. Der Alte, der wieder halb umnebelt war, knurrte uns an, als ob wir zum Stehlen, nicht zum Bringen, bei ihm eingebrochen wären. Seit ihm die Beine angeschwollen sind und er sein Geschäft hat aufgeben müssen, kommt er sich vor, als müsse er noch einmal sitzen, und die alte Zuchthäuslerstimmung ist wieder in ihm aufgewacht. Damals war zum Glück noch die Kathi bei ihm, das gute dicke Trampelthier, das ja auch Hansel's Mutter zu Tode gepflegt und den Kleinen so treu versorgt hat. Seitdem er Die in einem seiner Wuthanfälle mißhandelt und weggejagt hat, hat's ja keine ordentliche Person mehr bei ihm ausgehalten. Denn das fahrige junge [225] Ding, die Loni – nun, Sie kennen sie ja – zu ihren anderen Tugenden hat sie noch eine starke Neigung zu allem Süßen. Denken Sie, von dem Kuchen, den ich neulich dem Hansel mitbrachte, hat das arme Kerlchen kaum die Hälfte zu essen gekriegt – er hat mir's selbst geklagt –, und Ihre schönen Düten würden den zweiten Feiertag wohl nicht mehr erleben, wenn Sie sie unten ließen. Es wäre vielleicht das Beste, setzte er zögernd hinzu, wir zündeten das Bäumchen, das ich gestern besorgt, in Ihrem Zimmer an. Da hätten Sie die Bescherung immer im Auge.

Nein, nein, Herr Wilibald, erwiderte sie eifrig und erröthete, so daß er es selbst unterm Schleier und bei dem schwachen Laternenlicht der einsamen Straße sehen konnte. Bei mir ist's unmöglich. Sie wissen ja –

Wegen der Hausordnung? Nun, die brauchte ich ja nicht zu verletzen. Sie ließen nur die Thüre offen, ich stellte mir einen Stuhl vor die Schwelle und betrachtete mir die Herrlichkeit ganz gemüthlich von außen, wie Moses vom Berg in das gelobte Land schaute. Oder wollen Sie lieber mir die Ehre geben? Am Heiligabend und in Hansel's Gesellschaft machen Sie wohl mal eine Ausnahme.

Sie bebachte sich einen Augenblick. Das Beste wird sein, sagte sie dann rasch, wir machen's im Flur; das Bäumchen wird auf den Tisch gestellt, das Andere legen wir drum herum, und über das Schaukelpferd hängen [226] wir ein Tuch, daß es ihm erst gar nicht in die Augen fällt, bis er sich an den andern Sachen satt gefreut hat, dann giebt's noch erst die größte Ueberraschung. Meinen Sie nicht auch?

Sie haben Recht, sagte er. Das Richtige liegt auch diesmal genau in der Mitte. 's ist ein bischen klamm im Flur, aber der Hansel wird sich warm freuen und wir mit ihm, und wenn wir in beiden Zimmern brav heizen und die Thüren auflassen, bringen wir's wohl auch draußen bis auf zehn Grad. Erst müssen Sie natürlich soupiren. Ich putze indessen den Baum.

Ich koche heute nicht, versetzte sie. Ich habe schon in der Stadt zu Mittag gegessen, damit es für die Bescherung nicht zu spät würde. Es kann gleich angehen. Und da sind wir ja endlich.

Sie standen wirklich vor dem Häuschen, das mit seinen fünf schwarzen Fenstern sie unwirthlich genug anblickte. Mit einem Seufzer der Erlösung lud sich der kleine Mann, nachdem er sich mühsam durch die enge Gitterthür des Vorgärtchens gewunden, seine Last von den Schultern und trocknete sich die Stirn. Aber er machte noch nicht Miene, die Schwelle zu betreten.

Fräulein Frosinchen, sagte er, Sie haben mich vorige Weihnachten gescholten, daß ich mir die Freiheit nahm, Ihnen eine ganz unbedeutende Kleinigkeit zu verehren. Ich habe Ihnen versprechen müssen, Ihnen nie wieder was zu schenken. Sie wußten, daß ich mir mein Leben [227] sauer verdienen mußte. Aber die Verhältnisse haben sich geändert, ich bin ein gemachter Mann, also ein Anderer, als der Ihnen jenes Versprechen gab. Daher halte ich mich für berechtigt, Ihnen heut zur Feier des Tages ein ganz lumpiges Präsent zu machen. Da – und er holte etwas sorgfältig Eingewickeltes unter dem Mantel hervor – nehmen Sie dies geringe Andenken ohne Widerrede von mir an, als ein Zeichen meiner großen Hochachtung vor Ihnen, und halten Sie sich nur ja nicht damit auf, mir danken zu wollen. Wenn ich anfangen wollte, Ihnen zu sagen, wie viel ich, seit Sie im Hause sind, Ihnen schuldig geworden bin – und wie Ihre immer gleiche Freundlichkeit – ein einsamer Kauz, wie ich bin und bleiben werde – Sie erlassen mir das Weitere – denn wirklich, es würde zu weit führen, wenn ich –

O Herr Wilibald, unterbrach ihn das Mädchen, das mit zitternder Hand das Packetchen hielt und in höchster Verwirrung vor sich nieder sah – nein, das ist zu viel, viel zu viel Güte, die ich gar nicht verdiene, und nun schäme ich mich erst recht! Denn was ich Ihnen zugedacht hatte, eine so ganz werthlose kleine Handarbeit – Sie sollten nur daraus sehen, daß ich kein undankbares Herz habe und Alles, was Sie für mich gethan haben – und wie Sie mich nicht zu gering achten, sich mit einer so einfältigen Person zu unterhalten über so viel schöne Gedanken – da nehmen Sie's, aber sehen [228] Sie's erst an, wenn ich nicht dabei bin. Sie werden über meinen ungeschickten guten Willen doch nur die Achseln zucken.

Damit hatte sie ein kleines Päckchen in Seidenpapier aus der Tasche gezogen und drückte es ihm hastig in die Hand, indem sie zugleich auf die Hausthür zuschritt.

Liebes Frosinchen, sagte er, und seine Stimme klang leise und bewegt, Sie sind – Sie haben das beste Herz von der Welt. Das Achselzucken ist meine Sache nicht, auch wenn die meinen nicht schon von Natur hoch genug wären. Wissen Sie, daß Sie mir die erste Weihnachtsfreude gemacht haben, die ich seit dem Tode meines guten Vaters erlebt habe? Ich danke Ihnen tausendmal. Und jetzt, nachdem wir Beide uns hier unter freiem Himmel beschert haben, lassen Sie uns unserm Kleinen seinen Weihnachtsbaum anzünden.

Sie hatten sich die Hände gegeben und herzlich gedrückt. Dann öffnete Herr Wilibald die unverschlossene Hausthür und trat, das Pferdchen unterm Arm, auf den Zehen in den dunkeln Flur. Wir müssen uns ganz sacht vorbeischleichen, flüsterte er ihr zu. Er soll nichts von uns hören und sehen, bis der Aufbau fertig ist. Es rührt sich auch nichts in der Stube des Großpapas, der Alte scheint zu schlafen, und der Hansel ist am Ende auch eingenickt, da er sich langweilte, der arme Kerl. Von dem unnützen Ding, der Loni, natürlich keine Spur, die wird mit irgend einem Schatz in die [229] Stadt entwischt sein, sich die Läden zu beschauen. Um so besser; so sind wir ungestört. Aber Sie müssen mir wirklich helfen, den Pegasus die Stufen hinauf zu beflügeln. Die Stiege ist zu schmal, um ihn in der Quere zu tragen.

Sie hatte schon Hand angelegt, und so schlichen sie, das Pferdchen zwischen sich in der Schwebe haltend, durch das kalte, dunkle Haus die steile Treppe hinauf und setzten es oben leise nieder. Da ließen sie es stehen, und Jedes ging in seine Wohnung, die Thür hinter sich zuziehend.

Sobald sie aber allein waren, zündeten sie eilig ihre Lämpchen an und schälten die Angebinde, die sie von einander empfangen, aus der Verpackung heraus. Herr Wilibald hielt ein ledernes Brieftäschchen in der Hand, in dessen Innenseite sich eine zierliche Stickerei aus Seiden- und Goldfäden befand, einen Kranz von Lorbeer- und Eichenblättern darstellend, der um eine goldene Lyra geschlungen war. Die schmalen Finger Frosinchens hatten manchen langen Sonntag zu thun gehabt, bis sie das kleine Kunstwerk zu Stande gebracht. Sie aber fand eine kleine Schachtel, in welcher auf rosafarbener Baumwolle eine zierliche Granatbrosche lag. Hinter derselben war eine flache Glaskapsel angebracht, die ein Miniaturhaarlöckchen einschloß, und ein Zettel lag in der Schachtel mit der Aufschrift: Der treuen Pflegemama von ihrem kleinen Hansel zum Andenken.

Der hinterlistige Freund hatte dieses einfache Schmuck [230]stück schon vor seiner Anstellung besorgt, also noch bevor er »ein gemachter Mann« geworden war, und hatte den Bruch seines Versprechens, ihr nichts zu schenken, damit beschönigen wollen, daß er es im Namen des Kleinen ihr in die Hände spielte. Denn es war ihm aufgefallen, daß sie nie auch nur den bescheidensten Goldzierath, wie ihn jede Magd sich gönnen darf, an ihrem Kleide oder an den feinen Handgelenken trug, und als er sie einmal darum befragt, hatte sie verlegen geantwortet, sie habe einmal all ihr bischen Schmuck verkaufen müssen und seitdem immer nöthigere Ausgaben gehabt. Jetzt aber war sie so freudig bestürzt über das Kleinod, das in seiner Einfachheit wirklich sehr hübsch war, daß sie ohne alle Nebengedanken sich wie ein Kind nur mit der Gabe beschäftigte und sogar den Geber einen Augenblick darüber vergaß. Geschwind trat sie vor ihren kleinen Spiegel, steckte sich die Nadel vor und lachte sich an, als sie sah, wie gut sie sie kleidete. Dann aber fiel ihr aufs Herz, daß sie sich noch gar nicht recht bedankt hatte, und sie öffnete ihre Thür, um den Nachbar ihre Freude sehen zu lassen. Da trat er zu gleicher Zeit aus seiner Kammer drüben, das Brieftäschchen in der Hand. Es ist zu schön! riefen sie wie aus Einem Munde, und mußten über das Zusammentreffen lachen, und näherten sich dann halb verlegen einander, um sich nochmals die Hand zu drücken, während Jedes vergebens sich auf eine ausführlichere Dankrede besann, die nicht zu Stande kam.

[231] Wir sind aber schlechte Pflegeeltern! rief endlich der kleine Mann mit drolliger Heftigkeit. Schämen sollten wir uns, daß wir großen Kinder über den eigenen Weihnachtsfreuden unseren Kleinen vergessen, der unten frieren und hungern wird, wenn er nicht drüber eingeschlafen ist. Geschwind, kleine Mama, stellen Sie Ihre Lampe dort auf den Kasten, und ich trage den Baum heraus. Die Lichter hab' ich schon aufgesteckt. Nun müssen wir noch die Aepfel und Nüsse anhängen.

Das ging hurtig genug von Statten, da das Frosinchen nur solche Nüsse gekauft hatte, in denen bereits ein mit einer Schleife versehenes Hölzchen steckte. Während er die kleinen goldenen Kügelchen zwischen den Tannenzweigen befestigte, versah sie die Aepfel, die gleichfalls auf der einen Backe einen schönen Flecken von Goldschaum trugen, mit Fäden am Stengel und legte einen nach dem andern ihrem Gefährten hin, der die Decoration im Ganzen besorgte. Dabei wechselten sie nicht das leiseste Wort. Nur manchmal berührten sich in der Hast der Arbeit ihre Hände, und hin und wieder flog ein vertrauter Blick herüber und hinüber, voll heimlicher Vorfreude auf das kleine Fest, das sie bereiteten.

Nun stand der Baum in seiner vollen Glorie fertig da. Ueber den alten Tisch hatte sie ein weißes Tuch gebreitet, auf welches sie jetzt die Näschereien legte; zur Linken das Bilderbuch und die Peitsche, rechts auf den Rohrstuhl das Kleid, das sie gefertigt hatte. Auf der [232] anderen Seite, dem Sessel gegenüber, mit Herrn Wilibald's Radmantel zugedeckt, stand das Hauptstück, das Schaukelpferd, das erst zuletzt enthüllt werden sollte.

So! sagte der kleine Mann mit unverhohlener Befriedigung. Nun macht sich's wunderschön, nun kann's losgehen. Während Sie jetzt den jungen Herrn heraufholen, werde ich die Lichter anzünden. Den Abend, denk' ich, beschließen wir mit einem feierlichen Thee, in welchen ich mir ausnahmsweise ein bischen Rhum gießen werde. Ich habe mir alles Nöthige von der Loni besorgen lassen. Sie werden sich nicht weigern, Frosinchen, auf diesem neutralen Boden heut Abend mein Gast zu sein und den Weihnachtspunsch zu kosten.

*

Sie nickte ihm lächelnd zu, und er sah ihr nach, wie sie mit gerötheten Wangen die Treppe hinunterhuschte. Auch als sie ihm schon entschwunden war, stand er noch regungslos auf demselben Fleck. Aber der fröhliche Ausdruck seines Gesichts war verschwunden, wie eine Bergkuppe plötzlich fahl und traurig erscheint, sobald der letzte Schimmer des Abendroths erloschen ist.

Ein schwerer Seufzer hob seine eingeengte Brust. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, als ob er ein lockendes, aber gefährliches Traumbild verscheuchen wollte. Dann ging er langsam in sein Zimmerchen, warf ein [233] paar Schaufeln Kohlen in die Ofenglut und holte seinen Handleuchter, um die Lichter am Baum damit anzuzünden. Als er in den Flur zurückkehrte, war seine Haltung müde und gedrückt. Er stellte den Leuchter zwischen die süße Bescherung, als hätte er ganz vergessen, zu welchem Zweck er ihn brauchen wollte. In tiefen Gedanken starrte er zwischen die dunkeln Zweige und brach hie und da mechanisch eine trockene Nadel ab. Dann zog er das Brieftäschchen wieder heraus, besah es von außen und innen mit großem Ernst, seufzte abermals und steckte den Schatz wieder ein.

Nein! sagte er vor sich hin. Nur keine Schwäche, keine Täuschung! Eine Thorheit wär's – und ein Verbrechen obenein! Freilich, sie zu überrumpeln, daß sie in ihrer Engelsgüte an nichts dächte, als was sie mir damit für ein Glück bereitete – eine Hexerei wär's nicht, aber ein Schurkenstreich. Was weiß sie denn von sich selbst, vom Leben, von den Männern! Sie ist nicht vergnügt, weil sie arm ist, und hat vielleicht einmal Einen nicht kriegen können, in den sie sich verliebt hatte. Oder 's ist das Heimweh nach ihrer Mutter. Wenn aber einmal Einer kommt, der ihr bestimmt ist und bei dem sie nicht brauchte eine krumme Fünf grade sein zu lassen, wie bei mir, und sie wäre festgebunden, – ich müßte mir ja die Haare ausraufen über meine Thorheit, daß ich einmal geglaubt, so Einer wie ich könnte es am Ende auch so gut haben, wie Andere, die nicht auf [234] Apfelbäume gestiegen sind. – Nein! die Zähne zusammengebissen und ausgehalten! Es giebt noch ärmere Schacher unter uns Junggesellen!

Nachdem er diesen tapferen Monolog gehalten nicht bloß innerlich, sondern für feine Ohren ganz vernehmlich, da er in seiner Einsamkeit sich gewöhnt hatte, zuweilen mit sich selbst zu plaudern, – besann er sich auf seine nächste Pflicht, die Lichter anzuzünden, und griff eben nach dem Leuchter; da hörte er unten im dunkeln Hausgang seinen Namen rufen.

Es war Frosinchens Stimme, nur halblaut, aber mit einem Ton des Entsetzens, der ihm durch Mark und Bein ging.

Im Nu war er an der Treppe.

Was haben Sie, Kind? Was ist geschehen? rief er hinunter.

O bitte, Herr Wilibald, kommen Sie, ich bin zu Tod erschrocken – bringen Sie das Licht mit – O mein Gott!

Er stürzte die Stufen hinunter, der Luftzug wehte ihm die Kerze aus, unten im dunkeln Hausgang stand das Mädchen, wie todtenbleich sie war, konnte er nicht erkennen, aber ihre Hand, die sich wie Schutz suchend nach ihm ausstreckte, zitterte stark.

Um Gottes willen, was ist Ihnen begegnet? flüsterte er. Haben Sie ein Gespenst gesehen?

Statt aller Antwort zog sie ihn fort nach einer Thür, die halb offen stand. Aber sie trat nicht über die [235] Schwelle. Da, da! hauchte sie und wies mit der Hand nach dem offenen Fenster, durch das von der Straßenlaterne ein schwacher Lichtschein fiel. Neben dem Fenster stand der Großvaterstuhl des Alten, in welchem, seit die geschwollenen Füße ihm das Herumschlurfen selbst im Hause zur Qual machten, der graue Sünder trinkend und stöhnend, fluchend und auf Gott und Menschen lästernd seinen Tag verbrachte. Er war schon lange nicht mehr in sein Bett gekommen, da im Liegen ihm das Athmen noch größere Noth machte. Auch jetzt saß er da, die Kniee mit einer groben Pferdedecke umwickelt, den Kopf aber, mit offenem Munde und halbgeschlossenen Augen, aus denen nur das Weiße vorschimmerte, gegen die Lehne des alten Großvaterstuhls zurückgesunken, die Hände mit ausgespreizten Fingern von sich gestreckt, auf den Armlehnen ruhend. Auf seinem Schooß aber, den kleinen lockigen Kopf an die eingesunkene Brust des Großvaters gedrückt, lag sein Enkelkind, in einem dünnen Nachtröckchen, aus dem die bloßen Beinchen hervorkamen, ein angebissenes Stück Brot in der kleinen Faust, schlafend, aber im Schlummer leise zitternd, da ihn die eisige Nachtluft überschauerte.

Nur einen Augenblick stand Herr Wilibald, vom Schrecken übermannt, regungslos vor der unheimlichen Gruppe. Dann beugte er sich über das schlafende Knäbchen, hob es sorglich von seinem kalten Sitz und drückte es gegen seine Brust.

[236] Rasch eine Decke! raunte er dem Mädchen zu, die sich jetzt ebenfalls hereingewagt hatte und mit leisem Jammern hinter ihm stand. Er ist kalt wie ein Frosch. Noch eine halbe Stunde, und Gott weiß, ob ihm noch einmal die Augen aufgethaut wären.

Sie lief nach dem kleinen Bett, das im Winkel des kahlen, verwahrlosten Zimmers stand, und holte eilig die wollene Decke, unter der das Kind zu liegen pflegte. So, armer Schelm! sagte der kleine Mann, indem er die weiche Hülle um die erstarrten Gliederchen wickelte, nun wirst du besser schlafen. Das gottsträfliche Ding, die Loni! Um nur wegzukommen zu ihrem leichtfertigen Pläsir, hat sie das Bübchen vorzeitig zu Bette gebracht – da sehen Sie, sein Stück Brot hat er kaum angebissen – und wie es ganz finster wurde und der alte Mann zu röcheln anfing – denn es ist kein Zweifel, der Schlag hat ihn schon vor einer Stunde getroffen – da hat's der Kleine vor Angst nicht länger im Bett ausgehalten, ist herausgekrochen und dem Großpapa auf den Schooß, daß der mit ihm plaudern sollte, und wie er keine Antwort bekam, hat er sich endlich frierend und hungernd in Schlaf geweint. Sehen Sie, wie ihm die blanken Tropfen noch an den Wimpern hängen, halb zu Eis erstarrt! Armes, verwaistes Menschenkind! Du sollst dich nie wieder so jämmerlich verlassen fühlen!

Er hielt den eingewickelten Knaben fest an sich ge [237]drückt und küßte ihm die bläulich überhauchten Wangen. Das Kind regte sich ein wenig, hielt aber die Augen noch fest geschlossen.

O, Herr Wilibald, flüsterte das Mädchen, ist der alte Mann denn wirklich todt?

Soviel ich mich darauf verstehe, wird er aus der Flasche dort auf dem Fenstersims nie mehr einen Tropfen trinken. Aber Sie erinnern mich mit Recht, liebes Kind. Es wäre zwar für Niemand ein Glück und für ihn selbst das größte Unglück, wenn er noch einmal aufwachte und noch eine Henkersfrist zu überstehen hätte. Indessen muß ich doch einen Arzt holen. Wir bekämen sonst Geschichten mit der Polizei. Da, nehmen Sie unser Kind und tragen es hinauf und bringen es droben zu Bett. In meinem Vorderzimmer ist geheizt; ich dachte Ihnen heut Abend etwas vorzuspielen, »Vom Himmel hoch, da komm' ich her«, und andere schöne Weihnachtslieder. Damit ist's nun nichts. Aber die Stube ist warm, und auf dem Sopha drinnen kann der Hansel schlafen, wir stellen ein paar Stühle vor. Armer Schelm! Nun ist er heut um seine Bescherung gekommen. Denn wenn er auch noch zu jung ist, um die Feierlichkeit des Todes zu verstehen, und von dem Großpapa nicht viel Zärtlichkeit erlebt hat, – in einem Haus, wo eben ein Mensch den letzten Seufzer ausgehaucht hat, kann man doch keinen Weihnachtsbaum anzünden und Schaukelpferde in Galopp setzen. Wenn der Alte begraben ist, holen wir's nach. Sollte das Kind [238] aufwachen, so können Sie ihm erst eine Tasse Thee geben und dann einen Apfel und einen Pfefferkuchen, damit er wenigstens weiß, daß auch für ihn Heiligabend ist. Aber erst zu Bett, geschwinde! Soll ich Ihnen helfen?

Aber Herr Wilibald! Wie oft hab' ich ihn die Treppe hinaufgetragen! Sehen Sie, er bekommt schon wieder ein bischen Farbe. Soll ich ihn aber nicht lieber gleich in mein Bett legen?

Sie werden die Güte haben, Fräulein Eufrosine, pünktlich nach meinen Anordnungen zu verfahren. Ihre Schwelle, wissen Sie wohl, darf ich nicht betreten, wenn auch unser neuer Hausherr, den Sie da im Arm halten, Ihnen darum nicht kündigen würde, wie sein Vorgänger und Vorfahr, wenn Sie jetzt Herrenbesuche empfingen. Ich muß aber durchaus in der Lage sein, im Wachen und Schlafen nach ihm zu sehen, und will mich in dieser Pflicht nicht genieren lassen, wenn ich Ihnen auch für eine freundliche Unterstützung dabei dankbar sein werde. Jetzt vor allen Dingen aber da hör' ich die ungetreue Dienerin sich ins Haus einschleichen, die soll nun nach dem Doctor springen, während ich unten Wache halte und Sie oben für die Nachtruhe des jungen Herrn sorgen. Sputen Sie sich, liebes Frosinchen! Sie finden alles zum Thee Nöthige auf meinem Tische.

Damit trieb er das Mädchen hinaus und ging der Magd entgegen, der ihr böses Gewissen gerathen hatte, sich, so heimlich sie konnte, in ihre Kammer zu flüchten.

*

[239] Nach einer halben Stunde stieg Herr Wilibald die Hühnerstiege, wie er sie nannte, wieder hinauf und trat, auf den Zehen gehend, um das Kind nicht zu wecken, in sein Stübchen, jenes, das Frosinchens Zimmer gegenüberlag, und in welchem man sich zwischen dem Bett, dem Kleiderschrank und Schreibtisch kaum herumdrehen konnte. Er fand die junge Nachbarin, die noch immer blaß aussah und einen Schimmer von Feuchte um die Augen hatte, an seinem Arbeitstische, der heute abgeräumt war, mit dem Theemachen beschäftigt. Er schläft noch immer? fragte er. – Sie nickte bejahend. – Um so besser! Unten ist auch Alles still. Der Doctor hat einen Gehirn- oder Herzschlag constatiert. An beiden Hauptsitzen des Lebens war's bei dem Alten nicht mehr richtig. Wir haben ihn dann auf sein Bette getragen, da es nicht wohl angeht, ihn so rechtwinklig in die Grube fahren zu lassen, und bis morgen, wo die Seelnonne bestellt wird, ist nun nichts mehr zu thun. Aber lassen Sie mich jetzt meinen Jungen sehen. Es ist doch Licht drinnen?

Sie nickte wieder und folgte ihm in das dreifenstrige Vorderzimmer, wo das Pianino stand und die besseren Möbel, die noch aus der reichlichen ersten Zeit des Inwohners herstammten. Zwei schmale Büchergestelle standen an den Fensterpfeilern, ein Schränkchen mit Notenheften neben dem Instrument. Auch hingen an den Wänden einige nicht schlechte Lithographieen, Porträts großer [240] Musiker der klassischen Zeit, die der »Bach-Anbeter« auf einer Versteigerung erstanden hatte und sehr in Ehren hielt. Ihre Rahmen und das Pianino waren im Winter gewöhnlich bestaubt, da der Raum schwer zu heizen war und Herr Wilibald sich daher fast nur in seinem Schlafstübchen aufhielt. Heute aber hatte Frosinchen, nachdem sie den Knaben auf dem Sopha gebettet, gleich ein wenig nach dem Rechten gesehen, und Alles nahm sich im Handumdrehen hübscher und sauberer aus. Die Lampe war hinter das Kopfende des Schlafenden gestellt, doch war deutlich zu sehen, daß das runde Gesichtchen wieder in gesunder Röthe athmete.

Sie standen Beide eine Weile still hinter der Verschanzung der beiden Stühle und horchten auf den leichten Athem des Schlummernden. Dann ergriff Herr Wilibald die Lampe und beleuchtete vorsichtig von der Seite den Kopf des Kindes.

Sehen Sie, Frosinchen, flüsterte er, er hat auch nicht einen Zug vom Großpapa, sondern sieht seiner guten Mutter gleich. Er wird sich nie an einem Förster vergreifen, und wenn er, was ich nicht hoffe, sich zum Geschäft des Milchmanns berufen fühlen sollte, wird er doch nie so sündhaft viel Wasser in die Milch schütten, wie sein nunmehr in Gott ruhender Ahne leider zu thun pflegte. Ich werde Freude an ihm erleben und nicht so einsam aus dieser Welt gehen, wie ich mir immer mein Schicksal vorgestellt hatte.

[241] Glauben Sie, Herr Wilibald, daß man Ihnen den Hansel lassen wird? Es soll noch ein Onkel oder Großonkel von ihm leben.

Der wird froh sein, wenn Jemand die Güte haben will, ihm diese Sorge abzunehmen. Sobald der Alte beerdigt ist, werde ich die nöthigen Schritte thun, den Knaben rechtskräftig zu adoptieren. Sie scheinen irgend welche Zweifel zu haben, Fräulein Eufrosine, daß ich recht und gut daran thue. Sagen Sie nur frisch von der Leber weg, was Sie dabei Bedenkliches finden.

Er stellte die Lampe weg, beugte sich dann zu dem Knaben hinab und küßte ihn leise auf die Stirn. Dann legte er die Hände auf den Rücken und ging sacht im Zimmer auf und ab, als ob er eine längere Rede des Mädchens erwartete.

Sie stand aber ganz still neben dem Sopha und betrachtete das Kind. Und erst nach einer ganzen Weile sagte sie, kaum hörbar: Er wird einen guten Vater an Ihnen haben. Aber er hat doch keine Mutter.

Herr Wilibald blieb stehen.

Keine Mutter? sagte er mit unsicherer Stimme. Was meinen Sie damit? Die Loni freilich, auch wenn ich sie behalten wollte nach dem, wie sie sich heute aufgeführt hat, – mütterliche Qualitäten besitzt sie nur im allergeringsten Maße. Aber Sie, Fräulein Frosinchen, haben Sie nicht bisher bei dem kleinen Burschen ein bischen Mutterstelle vertreten, und könnten Sie Ihre [242] Hand von ihm abziehen, jetzt, da er's noch viel nöthiger brauchte?

Wieder schwieg sie eine Weile. Dann beugte sie sich auf den kleinen Kopf herab und streichelte ihm sanft das Haar. O ich –! stammelte sie – ich kann ja nicht im Hause bleiben!

Warum nicht, Fräulein Frosinchen?

Ich – es würde doch – nein wirklich, es würde nicht gehen. Und Sie werden nun gewiß heirathen, schon um nicht allein für den Hansel sorgen zu müssen. Da hätten Sie keinen Platz im Hause, wenn ich bliebe.

Sie bückte sich jetzt noch tiefer auf das Bett und steckte die Decke fester, die dem Knaben von der Brust gefallen war. Da hörte sie Herrn Wilibald dicht hinter sich sprechen:

Sind Sie bei Trost, Kind? Kommen Sie! Sehen Sie mir einmal ins Gesicht und sagen Sie mir, ob das Ihr Ernst ist. Aber nein, wir wecken den Kleinen auf mit unserm Schwatzen. Gehen wir ins andere Zimmer. Sie müssen mir eine Tasse Thee geben. Ich bin ganz verlechzt. Solch ein Unsinn! Und Sie sind sonst ein so kluges Mädchen.

Er ging auf den Zehen in sein Schlafstübchen, und sie schlich mit gesenktem Kopf hinter ihm drein. Aber während sie sich mit dem Thee zu schaffen machte, trieb ihn ein rastloser Geist hin und her, in den Flur hinaus, wo im Dunkeln die Lebkuchen und der Tannen [243]baum dufteten, an die Stiege, wieder ins Zimmer zurück, immer die Hände auf dem Rücken, und auch die Tasse, die ihm seine stille Nachbarin eingeschenkt, berührte er nicht. Obwohl der kleine alte Ofen ausgebrannt war und die Thür nach dem Flur offen stand, glühte ihm das Gesicht, und ein paarmal fuhr er sich mit dem Tuch über die Stirn.

Sie war auf einen Stuhl neben dem Theetischchen gesunken und starrte vor sich hin.

Frosinchen, sagte er jetzt und blieb vor ihr stehen, ich habe Ihnen erklärt, daß und weßhalb ich nicht heirathen will. Können Sie im Ernst glauben, was ein Mädchen nicht für meine schönen Augen thun möchte, würde sie jetzt lieber thun, da ich gleich einen vierjährigen Sohn in die Ehe mitbrächte? Aber ich wiederhole Ihnen: Eine, der es überhaupt nur ums Heirathen zu thun wäre – so wenig ich dazu berechtigt bin, mir auf meine persönlichen Vorzüge etwas einzubilden – eine Solche zu nehmen, wäre ich zu anspruchsvoll. Wenn es nicht die Beste wäre – mit der Ersten Besten nähme ich nicht vorlieb.

Warum soll es nicht die Beste sein? kam nun ganz schüchtern von ihren Lippen. Ein Mann, wie Sie, der so gescheit ist und so viel Bildung hat und so ein gütiges Herz – jedes Mädchen müßte ja stolz sein –

Sie scheinen Ihr Geschlecht nicht zu kennen, Frosinchen. Der windigste Patron, wenn er seine geraden [244] Glieder hat und ein recht keckes Lachen unterm Schnurrbart, oder gar in zweierlei Tuch steckt, ein nichtsnutziger Schwerenöther, der nichts weiß und kann, als Weibern den Kopf verdrehen, lassen Sie den sich neben mich stellen, und das beste Mädchen greift blindlings nach ihm und macht mir einen spöttischen oder mitleidigen Knix. Sehen Sie, Kind, Sie selbst, die Sie eine der Allerbesten sind und meine gute Freundin, sagen Sie ehrlich, wenn man Ihnen zumuthete, einen Krüppel, dem die Gassenbuben nachlaufen, zum Mann zu nehmen, würden Sie das nicht für eine Beleidigung halten?

Sie schauerte in sich zusammen und senkte das runde Kinn tiefer auf die Brust. O ich! hauchte sie wieder, von mir kann ja überhaupt nicht die Rede sein.

Warum kann von Ihnen nicht die Rede sein, Frosinchen? Weil Sie ein stolzes Mädchen sind, das sich lieber hart durchs Leben schlagen will, als um Gottes willen einem Krüppel Ihre Hand geben, den Sie zwar achten, aber nicht lieben können, nur um, was man so nennt, versorgt zu sein? Ich nehme Ihnen das wahrhaftig nicht übel, vielmehr, ich schätze Sie nur höher deßwegen. Aber sehen Sie nun wohl, genau so wie Ihnen, geht es all Denen, die ich mir allenfalls zur Frau wünschen könnte. Und wenn Sie daher nur fortfahren wollen, mir ein wenig gut zu sein und den Kleinen lieb zu behalten, – daß böse Zungen darüber schwatzen könnten, darf uns nicht kümmern, und ich, ich [245] verspreche Ihnen feierlich: nie wieder werde ich Ihnen so verfängliche Fragen stellen. Ich werde es still für mich behalten, daß ich Sie – daß Sie mich unendlich glücklich machen durch Ihre Liebenswürdigkeit, und werde immer besser lernen, unsinnige Wünsche zu ersticken, und wenn Sie nur so lange es noch mit mir aushalten, bis wir unsern Jungen aus dem Gröbsten heraus haben, daß wir ihn in die Schule schicken können, und es findet sich dann Einer, der Ihnen gefällt und Ihrer werth ist – ich ich versichere Sie, ich werde mich aufrichtig zu freuen suchen und – aber entschuldigen Sie – ich glaube, der Hansel rührt sich drinnen – ich muß nur einmal –

Er hatte sich mit großer Mühe bezwungen, daß ihm die Stimme bei den letzten Worten nicht versagte, und verließ jetzt eilig das Zimmer. Als er nach einer ziemlich langen Zeit wieder hereintrat, war der Stuhl beim Theetisch leer, auch im Flur kein Frosinchen zu entdecken und die Thür drüben, die den ganzen Abend offen geblieben war, verschlossen.

*

Das Holzwerk in dem alten Häuschen war aber nicht so dicht gefugt, daß nicht durch die Kammerthür drüben ein schmaler Lichtstreifen in den Flur gedrungen wäre, an welchem Herr Wilibald erkannte, das geflüchtete Mädchen habe gar nicht daran gedacht, zu Bett zu gehen, sondern diesen aufregenden, für eine fröhliche Weihnacht [246] so wenig geeigneten Gesprächen sich nur entziehen wollen. Nach dem ersten unmuthigen Gefühl ergab er sich auch darein und fand ihr Betragen heute wie immer sehr schicklich. Was konnte dabei herauskommen, daß sie nach diesen seltsamen Bekenntnissen noch zusammen aufblieben, zumal der Hansel keine Miene machte, aufzuwachen? Mit stiller Resignation betrachtete er den verfrühten Aufbau, sah dann wieder nach dem Lichtstreifen an der Thür, hinter der kein Laut zu hören war, seufzte aus seiner engen, einsamen Brust heraus und begab sich dann auf den Zehen in sein Zimmer zurück, das ihm noch eben durch die hausmütterliche Gegenwart seiner Nachbarin so traulich geworden war und jetzt wieder unwohnlich und nüchtern erschien. Auch der Thee war kalt geworden. Er trank aber doch die Tasse langsam aus, starrte ein Weilchen durch die trübe angelaufenen Scheiben in die todtenstille Winternacht hinaus und schlich sich endlich in das Vorderzimmer. Hier, neben dem ruhig schlafenden Kinde, überfiel ihn das Bewußtsein seiner Hoffnungslosigkeit mit solcher Macht, daß selbst die Nähe des ihm vom Himmel bescherten lieblichen kleinen Gefährten ihn nicht beschwichtigen konnte. Seine Seele lechzte nach Musik. Er öffnete leise das Instrument, setzte sich davor und begann, ganz sacht die Tasten berührend, jenes Weihnachtslied zu spielen, mit dem er so viel lauter und fröhlicher den heiligen Abend zu verherrlichen gedacht hatte.

[247] Als er die schöne alte Melodie ein paarmal durchgespielt hatte und sich zufällig umsah, erblickte er das Knäbchen, das aufgewacht war und auf seinem Lager aufgerichtet mit großen Augen zu ihm hinhorchte. Geschwind war er bei ihm, setzte sich auf einen der Stühle vor dem Sopha und umfing den kleinen Leib mit seinen Armen. Das Kind glaubte offenbar noch zu träumen, da es sich auf einem ungewohnten Lager fand, nicht im Zimmer des Großvaters, sondern Wärme und Helle ringsum, und nachdem es vollends zu sich gekommen war und sich hatte sagen lassen, es werde nun immer hier oben bei Onkel Wilibald bleiben, der Großpapa sei fortgegangen und komme nicht wieder, fragte es mit sichtbarer Verstimmung, ob denn Tante Frosinchen nicht komme, die ihm ein Christkind versprochen habe. – Sie sei schon zu Bett gegangen, da sie geglaubt, der Hansel werde heut nicht mehr aufwachen, und das Christkind habe das auch geglaubt, aber noch etwas für den Hansel zurückgelassen, damit er vorläufig was zu naschen hätte. – Darauf holte der Pflegevater einen Pfefferkuchen und einen rothbackigen Apfel – der Lichtstreifen drüben war noch immer nicht erloschen – und setzte sich wieder zu dem Knaben, auf seine Fragen antwortend und sich immer daran freuend, wie glücklich die jungen Augen leuchteten, während er seinen Schmaus hielt und sich von den Herrlichkeiten, die seiner warteten, erzählen ließ. Herr Wilibald gönnte sich's eigentlich nicht, dies allein mit anzusehen. Aber [248] er konnte sich nicht überwinden, drüben an die Thür zu klopfen, die sich ihm so eigensinnig verschlossen hatte. Auch schüttelte er den Kopf, als Hansel aufstehen und zu Tante Frosinchen hinüber wollte, redete ihm zu, ein braver Junge zu sein und ruhig weiter zu schlafen, und als die Augen wieder kleiner wurden und der Lockenkopf sacht auf das Kissen zurücksank, fuhr er ihm noch einmal liebkosend über die Stirn, ergriff die Lampe und verließ damit das Zimmer.

Sein erster Blick fiel auf etwas Weißes, das nahe an der Schwelle lag: ein beschriebenes Blatt Papier, wohl von seinem Schreibtisch dorthin verzettelt. Als er es aber, ordentlich wie er war, aufhob und betrachtete, – nein, das war nicht seine Schrift – kleine Buchstaben einer etwas ungeübten Hand, vier ganze Seiten, unterschrieben: Eufrosine. Die Lampe zitterte ihm in der Hand, er stellte sie hastig auf den Tisch und setzte sich auf den Stuhl, von dem die Briefschreiberin so verstört aufgesprungen war. Sie mußte diese Epistel eben erst verfaßt und durch die Spalte, die auch an seiner Thür nicht fehlte, ihm ins Zimmer geschoben haben. Aber was hatte sie ihm zu schreiben, das sie ihm nicht zu sagen sich getraute?

Nun las er mit Herzklopfen das Folgende:

»Hochgeehrter Herr Wilibald!

Verzeihen Sie, daß ich Sie noch so spät schriftlich belästige, ich kann aber nicht bis morgen warten und [249] könnte es Ihnen auch dann nicht mündlich sagen, ich würde kein Wort herausbringen, wenn Sie mich dabei ansähen. Ach Gott, es wird mir so schwer! Ich dachte, Sie würden es nie zu erfahren brauchen, denn wenn Sie es wissen, werden Sie nicht mehr so gut von mir denken, wie bisher, und wenn es auch unverdient war, ich war so glücklich, wenn Sie mich manchmal Ihre kleine Freundin nannten, aber es war doch unrecht von mir, daß ich Ihre Güte und Freundlichkeit annahm, die ich nicht werth bin, und nun gar, was Sie mir soeben gesagt haben, ach, hochgeehrter Herr Wilibald, es hat mich so tief beschämt, denn so etwas ist mir nie im Traum eingefallen, ich habe Sie immer so hoch verehrt, ich wunderte mich, wie Sie nur überhaupt mit einer so geringen, ungebildeten Person sich unterhalten mochten, auch wenn Sie sie für viel besser hielten, als sie ist. Daß Sie nun aber gar daran denken konnten, was Sie mir sagten und was ich noch immer gar nicht glauben kann, – nein, Herr Wilibald, es hat mich zu tief beschämt, wenn ich auch weiß, daß es mehr Ihr Mitleid war mit einem einsamen Mädchen, als Sie wissen, was ich meine, – und weil der Hansel doch eine mütterliche Pflege braucht, wenn er sich auch keinen bessern Vater wünschen könnte – aber nein, es ist ganz unmöglich, Herr Wilibald, und nicht, wie Sie glauben, weil man Sie nicht lieben könnte, das würde ja eine viel Bessere, Schönere und Gescheitere als ich thun müssen, wenn sie Sie kennte, [250] wie ich, denn Sie sind ja der Allerbeste und Gütigste und haben so hohe Gedanken und sind doch so wenig stolz, und mir ist immer, wenn ich mit Ihnen zusammen bin, als wäre ich selbst ein besserer Mensch, und fühlte mich immer so glücklich, daß ich kein anderes Glück mir vorstellen könnte, als es möchte immer so bleiben und ich dürfte Ihnen zeigen, wie selig ich war, wenn Sie mir nur einmal die Hand gaben und mich freundlich anschauten. Ach Gott, das wird nun nie wieder so sein. Aber vorher muß es mir vom Herzen. Denn ich will lieber, daß Sie schlecht von mir denken, das heißt, so wie ich es verdiene, als daß Sie traurig werden, weil Sie glauben, ich wüßte das Glück, das Sie mir vorgehalten, nicht zu schätzen und Sie könnten überhaupt ein Mädchen nicht glücklich machen.

Ach, Herr Wilibald, wie soll ich aber anfangen? Sie wissen ja, wie traurig ich war die erste Zeit, als ich hier im Hause wohnte, und daß Sie im Scherz sagten, ich müßte dafür sorgen, daß ich meinem Namen keine Schande machte, denn eigentlich sollte ich ja Frohsinnchen heißen. Das hätte nur zu mir gepaßt, solange ich noch ein ganz junges Schulkind war und meine gute Frau Pathe noch lebte, die reiche Frau Baronin, bei der meine Mutter Kammerfrau gewesen war, bis sie meinen Vater, den Spänglermeister heirathete, und wie ich auf die Welt kam, hielt mich die Frau Baronin über die Taufe, und ich bekam ihren Namen und ein [251] schönes Pathengeschenk, und auch hernach sorgte sie immer für mich, daß ich hübsche Kleidchen bekam, und als ich gefirmelt wurde, schenkte sie mir die Uhr, die ich noch habe, und sagte, sie würde auch später etwas für mich thun, und dann mußte sie plötzlich sterben und nicht lange hernach auch mein guter Vater. Und weil es der Mutter nun hart ging und sie hatte noch meine drei Geschwister durchzubringen, da bin ich in Dienst gegangen, kaum fünfzehn Jahre alt, als Kindermädchen, und kam in ein vornehmes Haus, und lernte allerlei, und die gnädige Frau war mit mir zufrieden, und ich wurde eine Bonne, und hatte einen leichten Dienst. Und wenn der gnädige Herr so brav gewesen wäre wie die gnädige Frau, wäre ich vielleicht noch da, aber sie wurde eifersüchtig, und ich mußte aus dem Haus, und dann kam ich hierher in die Stadt und trat in das Geschäft, aber ich hatte schwere Zeit und schlechten Verdienst und sonst noch – – Sie glaubten, als Sie mich kennen lernten, ich hätte nur den Kummer um meine Mutter, die damals so lange krank war, und der ich nichts thun konnte, als ihr meinen halben Wochenlohn schicken. Nein, Herr Wilibald, es war etwas viel Schlimmeres. Meine liebe Mutter hat der liebe Gott wieder gesund werden lassen, mir aber kann selbst der Allmächtige nicht helfen, denn was geschehen ist, kann auch der liebe Gott nicht ungeschehen machen. Und so muß es denn heraus: ich habe vor drei Jahren ein Verhältniß gehabt, [252] ich war ein dummes junges Ding damals, bildete mir was darauf ein, daß die Leute mich hübsch fanden, besonders Eduard, der noch dazu ein Maler war und es doch verstehen mußte, und er blieb ja auch auf der Straße stehen, als ich mal an ihm vorbeiging, und dann ging er mir nach und redete mich an, ob ich ihm nicht zu einem Bilde sitzen wollte, er müßte die Mutter Gottes malen und hätte kein Gesicht gefunden, das ihm besser dazu paßte, und so gottlose Reden mehr. Und ich war stolz und einfältig und glaubte ihm Alles und kam in sein Atelier, und weil er selbst ein schöner Mensch war und sehr anständig schien und zuerst mich wie eine Prinzessin behandelte, war ich auch ganz sicher, bis ich endlich selbst bis über die Ohren in ihn verliebt war und alle guten Vorsätze und die Ermahnungen meiner armen Mutter vergaß und –

Nun wissen Sie's, Herr Wilibald, und so bitterlich ich jetzt weinen muß, weil mir zu Muth ist, als hätt' ich mein eigenes Todesurtheil unterschrieben, es ist mir jetzt doch leichter ums Herz, denn ich habe zu sehr gelitten, weil ich Sie die anderthalb Jahre immer betrogen habe und Sie hielten mich für ein tugendhaftes Mädchen. Ich habe freilich, nachdem er mich verlassen hatte, die Sünde abzubüßen versucht und mir nicht das Kleinste mehr zu Schulden kommen lassen, und wie ich ihm späterhin zufällig wieder begegnet bin, habe ich, obwohl er wieder mit mir anbinden wollte, kein Wort zu ihm [253] gesprochen, sondern von ihm weggeschaut, wie von einem häßlichen Thier, denn damals kannte ich Sie schon, und so schön er war, mir kam er abscheulich vor, und alle Liebe in mir war ausgelöscht, daß ich nicht einmal begriff, wie ich ihn überhaupt hatte lieb haben können. Aber das hilft alles nichts, den Flecken auf meiner Ehre und auf meinem Gewissen wäscht die Reue und alle Thränen, die ich drum geweint habe, nicht weg; ich kann nie die ehrliche Frau eines Ehrenmannes werden, und wenn ein viel weniger respectierlicher Mann um mich anhalten würde als Sie, ich müßte ihm doch die Wahrheit gestehen, und dann würde er mich stehen lassen, und mit Recht.

Und nun erflehe ich nur die eine Gnade von Ihnen, hochgeehrter Herr Wilibald, daß Sie mir jedes Wort, was ich da geschrieben habe, glauben möchten, und wenn es auch mit Ihrem Wohlwollen vorbei sein muß, daß Sie mich für kein ganz verlorenes Wesen halten, sondern mir zutrauen, ich würde, so lang ich noch lebe, nicht vergessen, daß ich Sie einmal kennen gelernt habe und immer mich so betragen werde, daß Sie es sehen und gutheißen könnten. Einmal, bald nach meinem Unglück, war ich drauf und dran, ins Wasser zu gehen. Ich that es aber nicht, weil ich meiner Mutter den Schmerz nicht anthun und meine Hülfe ihr nicht entziehen durfte. Von jetzt an werde ich zu leben versuchen, um es zu verdienen, daß Sie, hochgeehrter Herr Wilibald, mich ein [254]mal Ihre Freundin genannt haben. Ihnen aber wünsche ich das allerbeste Glück im Leben, wie nur Sie es verdienen und gewiß finden werden, und verbleibe in tiefster Trauer und Ergebenheit auf ewig Ihre

Eufrosine.«

*

Es war todtenstill in dem kleinen Hause. Die Magd unten hatte sich, obwohl sie sich selbst angeboten hatte, bei der Leiche zu wachen, in ihre Kammer geschlichen und war bald eingeschlafen. Aus dem Vorderzimmer, wo der Hansel lag, und gegenüber aus Frosinchens Wohnung drang nicht der leiseste Ton, und nur zuweilen klirrte ein Fensterflügel in Herrn Wilibald's Schlafzimmer, wenn der Thauwind, der immer zudringlicher ums Haus strich, an dem losen Kreuzstock rüttelte.

Aber der kleine Mann drinnen am Tische dachte nicht an Schlafen. Zweimal hatte er den Brief von Anfang bis zu Ende aufmerksam wieder durchgelesen, dann faltete er ihn sorgfältig zusammen und steckte ihn in die neue Brieftasche, die er lange tiefsinnig betrachtete. Es war ihm wieder sehr heiß geworden, und er fühlte eine seltsame Schwere in den Gliedern. Mühsam stand er auf, öffnete einen Flügel des Fensters und lehnte sich weit hinaus. Der Mond war ganz von den hastig ziehenden Wolken verschlungen worden, aber die weiten Schneeflächen leuchteten feierlich zu ihm herauf. Aus einem der Häuser drüben, wo man auch ein Fenster [255] geöffnet hatte, drang ein zweistimmiger Gesang, ein schlichtes Weihnachtslied, auf einem Klavier begleitet. Das that dem einsamen Lauscher unsäglich wohl. Friede auf Erden den Menschen, die eines guten Willens sind! sagte er laut vor sich hin. Dann fing ein Hund an zu bellen, das störte ihm seine schöne Andacht. Er wäre gern hinausgegangen, um nach dem Thier zu sehen, das wohl vor Frost und Hunger heulte. Hatte er aber nicht eine nähere Liebespflicht zu erfüllen, wenn er sich zu den Menschen rechnen wollte, die guten Willens sind? Langsam trat er vom Fenster zurück und zog dann aus seinem Tischkasten einen kleinen Rasierspiegel – einen größeren an der Wand hatte er nie geduldet – und beschaute sich darin. Ist es möglich! sagte er dabei und schüttelte immer noch zweifelhaft den Kopf. Nun warum sollte es nicht möglich sein? Es geschehen noch Wunder auf dieser Erde, und in der Weihnacht sollte nicht auch an mir einmal eins geschehen?

Er legte das Spiegelchen wieder in das Schubfach und schritt wohl zwanzigmal das Zimmer auf und ab. Dann blieb er stehen, reckte den Kopf so gut es ging in die Höhe und sagte: Was du thun willst, Wilibald, thue bald. Ganz leise öffnete er seine Thüre, und richtig, der Lichtstreifen drüben aus der Kammer seiner Nachbarin blinzelte ihn noch immer an. Da trat er festen Fußes in den Flur hinaus und pochte drüben an.

Ein Geräusch erscholl drinnen, wie wenn Jemand [256] jählings in die Höhe führe. Doch erst auf das zweite Klopfen antwortete die wohlbekannte Stimme kaum hörbar: Herein! Da sah er, eintretend, das Mädchen hoch aufgerichtet am Kopfende ihres schmalen Bettes stehen, wo die Müdigkeit sie einen Augenblick übermannt zu haben schien. Denn sie starrte entgeistert, wie aus einem Traum aufgeschreckt, ihm entgegen, die Hände halb flehend, halb abwehrend vor die Brust erhoben, die heftig arbeitete. Um Gottes willen! sagte sie.

Verzeihen Sie, daß ich noch bei nachtschlafender Zeit hier eindringe, sagte er, aber wirklich, ich könnte keine Ruhe finden, und Sie, wie ich sehe – was haben Sie mir für einen herzlich guten Brief geschrieben! Ich muß Ihnen gleich heute noch dafür danken ein solches Weihnachtsgeschenk nein, es macht mich so glücklich – glauben Sie mir nur –

Er trat näher und wollte ihre Hände fassen. Aber sie drückte sich wie entsetzt in hülfloser Angst gegen das Bett und flüsterte: O, Herr Wilibald, können Sie mich so quälen – Sie waren immer so gut zu mir, und doch –

Ja, Kind, sagte er, ich war dir gut vom ersten Tage an, und seitdem ist es immer klarer und wärmer in mir geworden, und dein Brief hat es mir nun vollends verbrieft und besiegelt, daß ich dich bis an mein Lebensende lieber haben werde, als alle Menschen. Nein, sieh mich nicht so erschrocken an, gieb mir deine Hände, ich muß [257] das Blut in ihnen fühlen, damit ich glaube, du seiest kein holder Spuk, wie er mir manchmal im Traum erschienen, sondern ein geliebtes Menschenbild in Fleisch und Bein. Es ist freilich nicht ganz richtig mit dir. Denn was du da geschrieben hast, daß auch du mich so lieb hast, das beweis't keinen guten Geschmack. Aber am Ende, wenn du einmal einen so verdrehten Kopf hast und wirklich ich ihn dir verdreht habe – mein eigner Feind müßt' ich sein, wenn ich nicht in Gottes Namen an dies unverhoffte große Loos glauben wollte. Liebes, einziges Kind, ich danke dir tausendmal, und wenn dir's einmal leid werden sollte, kannst du wenigstens nicht sagen, daß ich dich mit heimlicher Tücke betrogen hätte, meinen größten Fehler trage ich ja sichtbar genug zur Schau, und wenn du dich nicht daran stoßen willst –

Nun hatte er endlich ihre beiden Hände ergriffen und wollte sie an sich ziehen. Aber noch immer starrte sie mit angstvollen Augen ihm ins Gesicht. Haben Sie denn – nicht auch – das Andere in meinem Brief gelesen? flüsterte sie, während eine dunkle Glut ihr in die Wangen schoß.

Das Andere? Gewiß habe ich den ganzen Brief gelesen, mehr als einmal. Aber gerade, was du das Andere nennst, das hat mich aus all meinen Bedenken erlös't. Daß du mir das gebeichtet hast, was du so gut hättest verschweigen können, das hat mich vollends überzeugt, was für einen Schatz ich an dir gefunden habe. [258] Wer der Wahrheit so tapfer die Ehre giebt, weil sie ihm sonst das Herz abdrücken würde, würde es der übers Herz bringen, mir ein Gefühl zu heucheln, das nicht in ihm lebte, bloß um einen elenden äußeren Vortheil zu erlangen? O Frosinchen, wie beklage ich dich, daß du in frühen Jahren so Trauriges erlebt hast! Aber es müßte heut nicht der Tag sein, wo der edelste und mildeste Menschenfreund zur Welt gekommen ist, wenn ich jene alte Schuld dir anrechnen wollte, statt sie deiner unerfahrenen Jugend zu Gute zu halten. Du sagst, du könnest die Erinnerung daran nie verwinden. Aber geht es mir nicht ebenso? Muß ich die Erinnerung an die Jugendsünde, daß ich auf den Apfelbaum des Nachbars gestiegen bin, nicht gleichfalls lebenslang mit mir herumtragen, und noch dazu so mit Händen zu greifen?

O, Herr Wilibald, sagte sie in grenzenloser Verwirrung – das – wie können Sie das nur vergleichen – so was Kindisches und meine Sünde und Schande – nein, nein, Sie sagen das nur, damit ich mich nicht schämen soll, weil Sie so barmherzig sind – aber ich glaub's nicht – Sie können nicht – nie und nimmer –

Was soll ich nicht können, Frosinchen? Gut von dir denken, obwohl du ein schwaches Weib gewesen bist? Und heut am Heiligabend sollte ich das nicht übers Herz bringen, dich lieb zu haben, weil auch dich die verbotene Frucht gelockt hat, wie unsere Mutter Eva, [259] und dein reines Empfinden einen unheilbaren Knick bekommen hat, wie mein Rückgrat? Was aber die Welt von uns denken und sagen mag, darf uns nicht kümmern. Ihr werden wir nöthigenfalls antworten, was der heute geborene milde Richter den Pharisäern sagte, als sie ihm eine Sünderin vorführten, die sich weit schwerer, gegen ein noch heiligeres Gebot vergangen hatte: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie! Schon um dieses Wortes willen muß man es den Menschen zu Gute halten, daß sie ihn vergöttert haben. Nicht wahr, meine geliebte Braut?

Da stürzten ihr die Thränen aus den Augen. Sie umfing den still vor ihr Stehenden mit beiden Armen und drückte ihre Lippen auf seinen wie verklärt lächelnden Mund. Als sie aber nach dem ersten Taumel des Findens und Festhaltens wieder zu Athem kamen, ergriff sie seine Hand und sagte mit einem reizenden Erröthen:

Kommen Sie! Wir müssen unserm Sohn noch gute Nacht sagen. Ich gelobe es Ihnen, ich will ihm eine gute, gute Mutter sein.

Ich weiß es, erwiderte er, ihre Hand leise streichelnd, aber auch eine strenge, hoff' ich, – so oft er sich beikommen läßt, auf fremde Apfelbäume zu steigen.

Endvignette

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