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Eine Weihnachtsbescherung.

(1889)

 

[2] [3]

Nu lassen Sie's aber gut sein, Herr Wachtmeister! 's ist ein staatiöses Bäumchen, 'ne Prinzeß könnte damit zufrieden sein. Wenn die Selige 'runtersehen könnte –

Glauben Sie nicht, daß sie's kann, Webern?

Natürlich kann sie's und wird sie's, und zumal am Heiligabend, Herr Wachtmeister. Erscheinen kann sie uns ja nicht, denn mit dem Spiritus, womit sie jetzt die Geister beschwören, ist's doch bloß Humburg, und was Christenmenschen sind, die glauben nicht dran. Denn warum? Erst am jüngsten Tage sollen wir wieder auferweckt werden und bis dahin unser Schläfchen machen, steht in der heiligen Schrift. Aber träumen thun sie doch wohl, die armen Seelen, na und Denen, die Gott lieben, giebt er's im Traum. Da wird er's der Rosel doch wohl auch geben, daß sie das Weihnachtsbäumchen sieht, das ihr lieber Mann ihr geputzt hat. So meine ich, Herr Wachtmeister. Aber nun trinken Sie Ihren [4] Kaffee. Ich habe ihn freilich in die Röhre gestellt; aber der alte Ofen ist wie'n alter Mensch, dem geht das bischen Wärme bald aus, wenn nicht immer wieder nachgelegt wird, und draußen friert's Stein und Bein, und Sie haben noch einen weiten Weg, Herr Hartlaub.

Bloß noch das Pfefferkuchenherz, Weberken. Das gehört dazu, ohne das wär's nicht complet. So eins hab' ich ihr bei unserm ersten Weihnachten an den Baum gebunden, und denn alle die zehn Jahre, und 's wär' kein Heiligabend gewesen, ohne das Herz, und immer was Anders hab' ich ihr 'reingesteckt, 'mal einen silbernen Fingerhut, 'mal eine Broche, das letzte Mal die kleine Uhr, immer was Andres und Theureres, denn wir kamen ja so sachtchen in bessere Umstände; das Herz aber war immer aus demselben Laden, und die Mandeln und das Citronat saßen auf demselben Fleck. Heute hab' ich Nichts drangesteckt; der arme Narr könnte ja keinen Spaß mehr dran haben, der braucht keine Broche mehr und hört keine Uhr mehr schlagen in seiner Ewigkeit, und das Geld dafür soll lieber ein armer Mensch kriegen. Meinen Sie nicht, Webern?

Ja ja ja, Herr Wachtmeister. Wie Sie's machen, so ist's recht. Aber nun trinken Sie auch Ihren Kaffee. 's ist schon Sieben. Der Kirchhof wird sonst geschlossen.

O deßwegen, Frau Nachbarin – da eilt's nicht. Der Kirchhofsverwalter ist mein guter Freund, der hat manche Flasche Gilka von mir besehen. Wenn ich um [5] Mitternacht anklingelte und sagte: Ich muß partu noch in dieser Nacht einen Blumentopf auf das Grab von meiner Rosel pflanzen, Herr Liborius! – er schnitte nicht 'mal ein Gesicht. Aber wenn Sie meinen, Webern – mir ist wirklich ein bischen flau zu Muthe, habe seit Zwölf keinen Bissen gegessen und nicht 'mal geraucht. Denn so 'nen Baum putzen, dazu muß ich meinen Kopf zusammennehmen und meine groben sieben Finger. Sonst war's der Rosel ihr Geschäft. Die konnte Alles. So Eine kommt nicht wieder. – –

Dieses Zwiegespräch wurde in einer geräumigen, aber niederen Dachkammer geführt, in welcher ein mannshoher schwarzer Kachelofen nur noch gerade so viel Wärme verbreitete, daß man den Hauch des eignen Mundes nicht sah, während die Eisblumen an den Scheiben des einzigen Fensters schon wieder die schönsten glitzernden Blätter entfalteten. Im Uebrigen sah es, so viel die kleine Lampe mit der grünlackirten Glocke erkennen ließ, recht wohnlich aus bei dem Wachtmeister Fritz Hartlaub, nicht sowohl durch sein Verdienst, als weil die gute dicke Frau, die breitspurig, die Hände gegen die Schenkel gestemmt, auf der wollenen Decke des Feldbettes saß, ihm sein bischen Mobiliar in sauberem Stande hielt und die Oeldruckbilder an den Wänden, welche den Kaiser, den Fürsten Bismarck, Moltke, Werder und einige andere große Generale darstellten, fleißig mit einem großen Schwamm bearbeitete. Die eine Wand [6] war abgeschrägt, und in der tiefen Fensternische stand ein altes braunes Nähtischchen mit einem Arbeitskörbchen, daneben in einem blankgeputzten Messingrähmchen die Photographie einer vierschrötigen Frau im Hochzeitsstaat, ganze Figur, die Hände in weißen Handschuhen, das Gesicht mit derben, gutmüthigen Zügen ganz von vorn. Ein vertrocknetes Myrtenzweiglein war um das kleine Gestell gewunden, ein silberner Fingerhut stand aufrecht wie eine kleine Schildwache davor. Darüber aber, an der Nischenwand, hing ein Vogelbauer, in welchem ein Zeisig jetzt den Kopf unter den linken Flügel geduckt lautlos auf seiner Stange saß.

Der Inhaber dieses bescheidenen Quartiers stand in der Mitte des Gemachs vor einem viereckigen, mit einem verblichenen Teppich bedeckten Tische, auf welchem das mehrerwähnte Christbäumchen seine mit bunten Wachskerzchen besteckten, mit Ketten aus Goldpapier umzirkten, hie und da von einer vergoldeten Nuß durchfunkelten Zweige ausbreitete. Es reichte so dicht an die niedere Zimmerdecke, daß die oberste Spitze ihre grünen Nadeln umbiegen mußte. Sein Herr aber hätte sich nicht auf den Zehen emporrecken dürfen, ohne mit dem Scheitel den losen Kalk abzustoßen. Die stramme Gestalt steckte in einem sauber gebürsteten Waffenrock, auf dessen linker Brustseite neben etlichen Kriegsdenkmünzen das eiserne Kreuz befestigt war. Auf den breiten Schultern saß ein massiver militärisch frisierter Kopf, Schnurr- [7] und Backenbart genau nach dem Vorbilde des alten Kaiser Wilhelm zugestutzt und schon sichtbar angegraut, während das braune Kopfhaar und die frische Gesichtsfarbe noch keine Spur frühzeitigen Alterns zeigte. Er hatte die starken blonden Augenbrauen dicht zusammengezogen, wie Jemand, der ein schweres Werk mit dem Aufgebot seiner ganzen Geisteskraft zu verrichten hat, obwohl es nur galt, unten am Stamm des Bäumchens ein handgroßes Pfefferkuchenherz mit einem Bindfaden zu befestigen. Seine großen Hände waren freilich um so unbehülflicher, da an der Linken die drei Mittelfinger fehlten. Ein breiter Streifen von schwarzem Leder verdeckte die Lücke, oder lenkte vielmehr den Blick sofort darauf hin. Im linken Mundwinkel hing dem eifrig Arbeitenden eine kurze Pfeife, die schon seit mehreren Stunden nicht in Brand gesetzt worden war. Denn, Webern, hatte er gesagt, während ich den Baum putze, darf sie nicht brennen. 's ist, wie wenn ich im Dienst hätte rauchen wollen. Alles mit Art.

Nun war der letzte Knoten geknüpft, der Künstler trat einen Schritt zurück und betrachtete mit schwermüthiger Zufriedenheit sein Werk.

Jetzt aber den Kaffee! sagte die Frau und stand auf. Da setz' ich Ihnen den Stuhl an die Kommode, und dann trinken Sie, und hernach, wenn Sie wiederkommen – Sie müssen wissen, ich bin heut Abend unten allein; mein Sohn, der Wilhelm, ist bei seiner Braut. Na, sie ist ja [8] ein ordentliches Mädchen, was auch Gemüth und Manierlichkeit hat, und die Eltern haben sie eigens zu mir geschickt, ich sollt' doch auch den Heiligabend bei ihnen sein, sie hätten so schöne Karpfen und Mohnpielen. Aber die alte Webern ist auf keinem Ohr taub, trotz ihrer Sechzig, und daß so ein Ziegeleibesitzer nicht gerade unglücklich drüber ist, wenn die Mutter von seinem künftigen Schwiegersohn, dem Ingenieur, ihre Feste nicht mitfeiert und er sie vorstellen muß: Madame Weber, approbirte Hebeamme – nicht wahr, Herr Wachtmeister, um das zu merken braucht man kein Sonntagskind zu sein. Aber Sie essen ja nicht. Die Weihnachtsstolle habe ich selbst gebacken – sie ist so schön aufgegangen – kosten Sie bloß!

Frau Nachbarin, sagte der Mann, der vor der Kommodenecke saß und tiefsinnig mit dem Löffel in dem braunen Trank herumruderte – es ist mir nicht nach Stolle zu Muthe. Vorm Jahr um die Zeit – ich muß immer denken –

Vom Denken wird man nicht warm, Herr Wachtmeister, und Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.

Wohl, wohl, Webern! Aber wissen Sie, wie ich am vorigen Heiligabend auch so hier saß – ich war erst vor vierzehn Tagen eingezogen, mein Kopf war noch nicht recht wieder beisammen – daß ich den Abschied hatte nehmen müssen nach dreißig Dienstjahren, das konnt' ich [9] nicht hinunterwürgen – es war ja mit Ehren, weil der Tolpatsch, der Gefreite, wie er mir seinen neuen Revolver zeigen wollte, mir die drei Finger weggeknallt hatte, und Krüppel kann unser Kaiser nicht brauchen – aber dennoch, so vom königlich preußischen Wachtmeister zu 'nem simplen Kassenboten bei der Bank degradirt zu sein – 's giebt einem invaliden Soldaten 'nen Riß, Webern, und der war noch ganz frisch damals am ersten Heiligabend ohne die Rosel. Und sie war erst drei Monat unterm Rasen, und ich wußt' mir ohne sie so wenig zu helfen, wie'n Dreimonatskind ohne Muttern. Und da kamen Sie herauf, Weberken, und brachten mir das Packet, das Sie in ihrem Wäschspinde gefunden hatten, noch auf ihrem Krankenbett von ihr eingewickelt und zupitschiert, und mit ihrer festen Hand hatte sie die Adresse draufgeschrieben: »An meinen lieben Mann zu Weihnachten, wenn ich bis dahin nicht wieder auf sein sollte. Rosalie Hartlaub.« Wissen Sie noch, Webern?

Wie sollte ich nicht, Herr Wachtmeister! Aber Sie dürfen nicht zu viel dran denken, es regt Sie auf, und der Kaffee wird noch kälter.

Kalter Kaffee macht schön! sagte die Rosel, wenn ich ihr zuredete, wie Sie jetzt thun, sie aber hatte immer noch was Wichtigeres zu besorgen, als ihr eignes Frühstück oder Vesper. Na, geholfen hat's ihr blutswenig. Die Schönheit drückt sie nicht, sagte der Rittmeister, als sie eben in die Kaserne zu mir gezogen war, aber ein [10] forsches Frauenzimmer scheint sie zu sein, manierlich und reputierlich, und das ist die Hauptsache für 'ne Soldatenfrau. Nu sehen Sie nur zu, daß sie Appell kriegt, Hartlaub, dann kann man gratuliren. – Er hatte Recht, der Herr Rittmeister, gratuliren konnte man mir, denn an Appell hat sie's nicht fehlen lassen. Und Nichts hatt' ich an ihr auszusetzen, als daß sie die zwei kleinen Mädchens in die Welt setzte, die fürs Lebenbleiben zu mickerig waren, und als das dritte kam, sich selbst auf französisch empfahl, ohne mir noch gute Nacht zu sagen. Sie wissen's am besten, Webern, Sie waren ja bei ihr, wie sie plötzlich den Kopf gegen die Wand kehrte und nicht wieder zu sich kam, grad' wie'n Soldat, der 'ne Kngel mitten ins Herz kriegt. So was kommt nicht wieder, Nachbarin – nicht wieder – nicht wieder –

Er drückte die Augen zu, um die Tropfen zurückzudrängen, die unter den hellen Wimpern vorquollen, und seine derbe Hand rührte blindlings immerfort in dem Kaffeetopf herum.

Es ward eine tiefe Stille in der Stube. Nur der Zeisig fing plötzlich an, wie dadurch aufgeschreckt, hin und her zu flattern.

Ja freilich, sagte endlich die dicke Frau, die ein wenig fröstelnd die Arme unter ihrem Umschlagetuch übereinander gelegt hatte und mit einer Art mütterlicher Ueberlegenheit auf den in sich zusammengesunkenen starken Mann herabsah. Nichts kommt wieder, Herr Wacht [11]meister, auch mein Seliger ist nicht wiedergekommen und mein Riekchen, aber immer was Neues kommt, und in meinem Geschäft merkt man das am besten. Sie schütteln den Kopf, Herr Nachbar. Die kleine Menschheit, der ich ins Leben helfe, kann Ihnen ja auch Ihre Rosel nicht ersetzen. Aber leben müssen wir darum doch, und wer noch so in seinen besten Jahren ist, wie Sie, soll unsern Herrgott nur machen lassen, wer weiß, was der noch für ihn im Sack hat.

Der pensionirte Soldat antwortete nicht gleich. Er trank aber den Kaffeetopf in einem langen Zuge aus, wischte sich dann den Schnurrbart und that einen mächtigen Seufzer.

Er mag mir noch bescheren, was er will, murmelte er vor sich hin; eine Weihnachtsbescherung von meiner Rosel kann er mir nicht mehr verschaffen. – Schönen Dank für Ihren Kaffee, Webern, die Stolle nehmen Sie nur wieder mit, Süßes ist nicht für mich.

Er wandte sich nach der Zimmerthür, wo seine Dienstmütze und der alte Soldatenmantel an einem Haken hingen. Als Kassenbote trug er beides nicht. Die Direction hatte ihm einen eigenen Anzug für seinen Ausgeherdienst machen lassen.

Schön, sagte die Frau, sputen Sie sich nur, und hernach, nicht wahr? – ein großes Tractement finden Sie nicht bei mir, aber einen guten Punsch und was Kaltes, daß man den Heiligabend doch nicht so gottlos allein versitzt.

[12] Entschuldigen Sie mich, meine verehrte Freundin, sagte er langsam, ohne sie anzusehen. Wenn ich meine Bescherung abgeliefert habe, werde ich am Ende wohl ein Glas Warmes nöthig haben, aber viel reden dazu – nein, Webern, 's ist mir gegen die Natur. Ich werde mich irgendwo in einen einsamen Tabagiewinkel postiren – heute ist ja nirgends was los in so Localen – und eine stille Erinnerungspfeife rauchen, bis mir die Augen zufallen. Es geht wirklich nicht, Webern, so gut es von Ihnen gemeint ist. Der Riß, wissen Sie, fängt sonst wieder an zu brennen, ich bin gern unter zwei Augen mit mir, wenn ich merke, es steigt in mir auf, was ich vom Weibe in mir habe. Nichts für ungut, meine verehrte Freundin!

Nu, wie Sie wollen, brummte die Hebeamme achselzuckend. Jeder nach seiner Façon, wie der alte Fritze zu sagen pflegte. Aber dann warten Sie noch einen Augenblick, ich habe Ihnen noch was zu geben.

Sie steuerte mit etwas unbehülflichen Schritten an ihm vorbei, während er schon den Mantel umhing, und er hörte sie die Treppe hinunter vor sich hin räsonniren. Was sie noch wollte, darüber machte er sich keine Gedanken. Er war wieder vor das Tannenbäumchen getreten und starrte in das grüne Gezweig, hie und da ein schiefes Kerzchen geradebiegend.

Als die Thüre wieder ging, sah er wie geistesabwesend auf. Seine dicke Freundin trat ein wenig keuchend [13] ein, sie trug etwas in ihrer Schürze, das sie jetzt hervorzog.

's ist nur eine Kleinigkeit, damit Sie doch auch wissen sollten, daß Heiligabend ist. Sie sollten's neben dem Punschglas finden, wenn Sie mir hernach die Ehre gegeben hätten. Da – und sie zog zwei Päckchen heraus – ein bischen Varinas, von Ihrer Lieblingssorte – und da ist auch eine neue Pfeife dazu. Für 'nen königlichen Kassenbeamten ist das verschmauchte alte Möbel da nicht mehr anständig. Machen Sie man keine Worte von wegen danken, 's ist nicht der Rede werth, aber mit was Besserem ist Ihnen ja nicht beizukommen, Sie hängen ja so sehr an Ihrem alten Kram, weil er Sie an allerhand erinnert. Hier aber ist noch was – das ist nicht von mir – Sie können 's aber gut gebrauchen, denn die alten, die ich Ihnen kürzlich gewaschen habe – du meine Güte! da sitzt ja ein Stopf neben dem andern. Wenn man sie scharf ankuckt, gehn sie von selbst auseinander wie Spinneweben.

Sie holte ein Packet aus ihrer Schürze, das sie ihm mit einer sichtlichen Verlegenheit hinhielt. Wie er das Papier auseinanderwickelte, kam ein halb Dutzend schöner silbergrauer Strümpfe zum Vorschein, mit rothen Bändchen zierlich zusammengebunden.

Er hatte vorhin den Tabak und die Pfeife mit einem gerührten Brummen und stillem Kopfnicken auf den Stuhl gelegt, das Packet hielt er kopfschüttelnd in der Hand.

[14] Nicht von Ihnen, Weberken? Von wem kommt es denn?

Sie strich die Schürze wieder glatt, und eine leichte Röthe färbte ihre runden weißen Wangen, die trotz ihrer Jahre noch wenig Falten zeigten.

Nu, sagte sie, schwer zu rathen ist es wohl nicht. Von wem soll es sein, als von meiner guten Freundin, der Hannchen Hinkel, die das Strumpf- und Wollenwaarengeschäft nebenan in der Lilienstraße hat. Sie wissen ja, Herr Wachtmeister, daß sie große Stücke auf Sie hält, von wegen Ihres eisernen Kreuzes, und weil Sie die Rosel so gut gehalten haben und ein so respectirlicher, proprer und adretter Mann sind. Wie ich ihr sagte, Sie würden bald neue Socken brauchen, da hab' ich gerade frische Waare bekommen, liebe Webern, sagte sie, von einer ganz neu erfundenen Wolle. Bitten Sie den Herrn Wachtmeister, die einmal zu probiren, mit einer schönen Empfehlung von mir und als ein kleines christkindliches Angebinde, und wenn er mir die Ehre geben wollte, morgen als am ersten Feiertage auf einen Löffel Suppe mit Ihnen, – ich habe nur noch eine Gans, aber es würde mir sehr angenehm sein –

Sie stockte plötzlich und wurde noch röther, und es war, als ob sie den Blick fühlte, den er fest auf sie gerichtet hielt, denn sie wandte das Gesicht ab und seufzte einmal auf, wobei sie ihr Tuch fester um die runden Schultern zog.

[15] Der Zeisig im Bauer fing hell an zu zwitschern. Das schien den Mann im Soldatenmantel aus seinem Hinträumen aufzurütteln.

Nehmen Sie die Strümpfe nur wieder an sich, Webern, sagte er nachdrücklich, aber nicht unfreundlich, und ich ließe der Madame Hinkel schönstens danken, aber Präsente nähme ich nicht als von guten Freunden, wie z. B. Sie, Frau Nachbarin, eine sind, und Gänsebraten äße ich auch nur bei Leuten, wo ich wie zu Hause wäre, außer für mein Geld in der Speisewirthschaft, und – das sagen Sie ihr von sich aus – sie sollte sich nur die Mühe sparen. Sie wäre gewiß eine recht gute Frau, aber ich – na, Sie wissen schon ich dächte nicht daran mich zu verändern, dafür wär' ich zu alt, und ein alter Invalide dürfte kein junger Esel mehr sein, das sagen Sie Ihrer guten Freundin, und übrigens darum keine Feindschaft, und für den Varinas und die schöne Pfeife bedank' ich mich vielmals, und jetzt muß ich fort.

Er drehte sich nach dem Tisch um, da sie ihm das Packet nicht abnahm, und legte die schöne silberglänzende Liebesgabe so hastig auf eine freie Ecke, als ob sie ihm in den Fingern brennte. Dann zog er seine schweren Fausthandschuhe an.

Die Frau aber schüttelte auf einmal alle Verlegenheit ab und trat dicht an ihn heran.

Sie sind ein rechter alter Bär! sprudelte sie hastig heraus. Nun ja, man braucht kein Prophete zu sein, [16] um zu wissen, was die Frau Hanna im Sinn hat, aber despectirlich ist es doch weiß Gott nicht, wenn ein anständiges Frauenzimmer von 36 Jahren, die ihren Mann christlich begraben hat und keine Kinder, ein bischen herumkuckt, wer ihr wohl beistehn möchte, ihre Geschäfte zu versehen und ihr Gesellschaft zu leisten in ihrer Alleinigkeit. Denn es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, und wenn ich meinen Wilhelm nicht gehabt hätte, würde ich dem Postoffizianten und dem chirurgischen Instrumentenmacher, die mich heirathen wollten, wohl auch keinen Korb gegeben haben. Sie aber machen ein Gesicht, wie wenn man Ihnen Baldrian statt Lagerbier eingeschenkt hätte. Nehmen Sie mir's nicht übel, Herr Nachbar, 's ist sündhaft, wie Sie die gute Frau behandeln. Erst kommen Sie in ihren Laden und kaufen bei ihr, und wenn Sie oft genug mit ihr geschwatzt haben, daß sie hat merken können, Sie sind nicht bloß ein frischer und strammer Mensch trotz Ihrer 45, sondern auch 'ne Seele von einem Menschen, und jede Frau wäre gut versorgt mit Ihnen, dann thun Sie, als ob's ein himmelschreiendes Unrecht wäre, wenn eine ehrbare, alleinstehende appetitliche Wittwe Sie auf eine Gans einladet und Ihnen Socken schenkt für Ihre vor Paris erfrorenen Zehen. Können Sie läugnen, daß Jeder in Ihren Verhältnissen heilfroh sein müßte, sich so in die Wolle zu setzen und auf seine alten Tage, die ja nicht ausbleiben werden, solch eine hübsche und adrette Pflegerin und Lebensgefährtin zu haben? [17] Und obendrein – wenn mein Wilhelm heirathet, will er, daß ich meine Praxis aufgebe und zu ihm ziehe und bloß noch meinen Enkelkindern in die Welt helfe. Was fangen Sie dann an, da Sie sich nicht mal 'nen Knopf annähen können und keine Menschenseele sich um Ihre alten zerrissenen Socken annimmt? Ist Ihnen die Madame Hainichen etwa nicht hübsch und jung genug dazu?

Ich wäre ja blind, wenn ich das behaupten wollte, erwiderte er etwas kleinlaut. Von dieser Madame Hinkel hätte mein Rittmeister gewiß nicht gesagt: die Schönheit drückt sie nicht – wie von der Rosel. Und Appell wollte ich ihr auch wohl noch beibringen. Aber wie gesagt, Webern: es geht nicht. Ein Invalide bin ich nun einmal –

Um die lumpigen drei Finger! Sie spaßen, Nachbar. Fürs Militär mögen Sie damit nicht mehr taugen, und wenn Sie sich eine Prinzeß an die linke Hand antrauen lassen sollten, möcht's auch damit hapern. Aber eine gut bürgerliche Wollen- und Strumpfwaarenhändlerin – die sieht nicht auf aparte Meriten, und wenn Sie nicht wirklich staarblind sind auf beiden Augen, müssen Sie einsehen –

Frau Nachbarin, unterbrach er sie, Excüse, wenn ich Ihnen für Ihren guten Willen schlecht danke, aber daß Sie's übers Herz bringen können, am heutigen Abend, da ich diesen Baum eben auf das Grab meiner Rosel tragen will – ich sage nichts weiter, Webern, aber [18] gerade Sie, die sie gekannt hat – Sie sagten selbst, nicht die Zehnte beträgt sich in ihrer schweren Stunde so tapfer – und jetzt kommen Sie mir mit Socken von einer neu erfundenen Wolle und einer Weihnachtsgans wie – nichts für ungut – der leibhaftige Versucher, der unserm Heiland die Herrlichkeiten der Welt vom Berge herunter zeigte? – Dies, meine geschätzte Freundin, hätte ich bei Ihrer Delicatesse nicht von Ihnen erwartet, und wenn ich nicht wüßte, wie gut Sie's mit mir meinen – Also leben Sie wohl für heute, und morgen sind wir wieder die Alten. Gute Nacht, Weberken!

Er griff mit der rechten Hand nach dem Tannenbäumchen, setzte sich mit der unbehüflichen Linken die Mütze schief auf und schritt, der verdutzten Frau gutmüthig zunickend, aus der Thüre.

* * *

Kaum aber war er auf dem Treppenabsatz des dritten Stockwerks angelangt, wo an einer niedrigen Thür, jetzt in der Dunkelheit freilich unlösbar, der Name seiner alten Freundin stand: »Karoline Weber, approbirte Hebeamme«, so stockte ihm der Fuß, und er besann sich, ob er nicht wieder hinaufklimmen und mit etlichen guten Worten die offenbar gekränkte redliche Seele versöhnen sollte. Gut hatte sie's doch mit ihm gemeint, auf ihre Weise. Was konnte sie dafür, daß [19] das nicht seine Weise war? Und ihr Kaffee war gut gewesen, und die Stolle gewiß auch, und daß er nicht für das Süße war, dafür konnte sie ja nicht. Und wenn sie wirklich hier auszog, war er dann nicht freilich ganz verlassen und verloren und hatte Niemand, ihm seine Strümpfe zu stopfen? Sie hatte Recht, er brauchte Jemand, der nach ihm sah und ihn proper hielt, wie es die Rosel gethan hatte, und neue Strümpfe brauchte er auch. Aber mußte es gerade die Frau Hannchen Hinkel sein, gleich eine neue Frau Wachtmeisterin oder Frau Kassenbotin? Daß die Weiber doch alle, selbst die Besten, das verdammte Kuppeln nicht lassen können! Mehr als einmal hatte sie ihm schon nach dem Laden in der Lilienstraße hingewinkt, und er hatte den Dummen und Taubstummen gespielt und es ihr nicht weiter übelgenommen. Aber so ein Wink mit dem Zaunpfahl, an dem sechs Paar wollene Socken hingen – und gerade heut am Heiligabend – das war ihm denn doch zu bunt, und wenn sie ihn jetzt für einen alten Bären verschrie – nur zu! Er wollt's auch sein, wenigstens was das Brummen betraf, wenn er's auch nicht zum Kratzen oder Beißen kommen ließ – aber merken sollte sie sich's. – Himmelkreuz –! er wollte seine Ruhe haben, und die arme Selige sollte sich nicht in ihrem kalten Bett herumdrehen müssen, wenn sie dahinterkam, was für Absichten man auf ihren Fritz Hartlaub hatte, ohne daß er mit einem Donnerwetter dazwischen fuhr und das nach ihm [20] ausgeworfene Netz zerriß, aus wie feinen Fäden einer neuerfundenen silbergrauen Wolle es auch gewoben war.

Also umfaßte er mit seiner Bärentatze das Stämmchen des Christbaums nur um so fester, tastete mit der verstümmelten Linken an der Wand entlang und schritt vorsichtig den dunklen Stiegenflur hinab, daß die morschen Holzstufen unter seinem kriegerischen Tritt erkrachten.

Wie er auf die Straße hinauskam, pfiff ihm ein schneidender Ostwind ins Gesicht. Das focht ihn aber wenig an, außer daß er das Bäumchen dagegen zu verwahren suchte, damit keine der kleinen Kerzen abgeknickt würde. Es schlug acht Uhr von den Thürmen der Stadt, die Straße aber war trotz des klingenden Frostes, der den festen Schnee unter den Sohlen knirschen machte, noch belebt, wie sonst kaum am hellen Mittag, alle Läden erleuchtet, und aus den Häusern hüben und drüben schimmerte und glitzerte die Pracht der lichterfunkelnden Christbäume, da zu dieser Stunde die Bescherung überall im vollen Gange war. Fritz Hartlaub hielt sich aber nicht damit auf, die Ausstellungen hinter den Schaufenstern zu mustern, oder gar durch die Scheiben der Erdgeschosse in die Familiengeheimnisse fröhlicher Menschen hineinzuspähen. Sein Bäumchen fest vor sich her tragend, die Nase im Mantelkragen, schritt er taktmäßig in seinen Gedanken dahin, die linke Faust in die dicken Mantelfalten eingewühlt, da der Frost ihm ein Gefühl verursachte, als ob die Spitzen der drei abgeschossenen Finger [21] ihm absterben wollten. Obwohl heut Jedermann mehr als sonst mit sich selbst zu thun hatte, blieb doch Mancher stehen und sah der mächtigen Soldatenfigur nach, die um Haupteslänge die Meisten überragte und so tiefsinnig das bunte, mit Goldpapierketten und Kerzchen prangende Weihnachtsbäumchen dicht vor der Brust hielt, als präsentire er damit das Gewehr vor dem Christkindchen selbst.

Er dachte sich Nichts dabei, daß er an der nächsten Ecke in die Lilienstraße einbog. Er hätte auch ein paar Straßen weiter »rechtsum« machen können, ohne den nächsten Weg nach dem Friedhof zu verfehlen. Aber er wich um so früher dem Ostwind aus, der ihm durch den dicken Handschuh schnitt; und warum sollte er die Lilienstraße meiden, die ihm nichts zu Leide gethan hatte? Es war eine stille, anständige Straße, obwohl nur kleine Leute darin wohnten. Aus einem Hause hörte er Gesang; Kinder standen um den Weihnachtsbaum und sangen ein Lied, das sie in der Schule gelernt hatten. Das könnten meine Mädel jetzt auch, wenn die armen Würmer nur ihre ersten Zähne durchgebissen hätten! dachte er, indem er ohne hinzuschauen vorüberschritt. Er hatte immer eine große Vorliebe für Kinder gehabt. Nun sann er darüber nach, warum die, so ihm die Rosel geschenkt, so armselige Dinger gewesen waren, die gleich wieder ansgemustert werden mußten. Ihre Mutter war doch ein so »forsches Frauenzimmer« und er – so ein Ge [22]waltsmensch! Was half's, sich den Kopf oder das Herz darüber zu zerbrechen? Vielleicht holten sie's im Himmel nach, und ihre Mutter half ihnen dabei, und wenn er selbst einmal hinaufkäme, würden ihm zwei Backfisch-Engel entgegenspringen und ihn Papa! anreden.

Dumme Gedanken das! corrigirte er sich selbst. Sie würden ihn ja nicht kennen, und überhaupt, ob's da droben so menschlich zuginge –

Auf einmal stand er still. Ueber die Straße hinüber sah er einen Laden schimmern, von mäßiger Breite und Höhe, und nicht mit einer einzigen stolzen Spiegelscheibe prangend, sondern mit einem bescheidenen altmodischen Schaufenster, hinter welchem jedoch allerlei weiße oder hellfarbige Sächlein lockten, zierlich geordnet und mit kleinen Papieren besteckt, auf denen die Preise standen. Das zeigte ihm nicht bloß der Lichtschein, der von zwei Gasflämmchen im Innern ausgestrahlt wurde, sondern eine Straßenlaterne gerade vor dem sauberen einstöckigen Hause, über dessen Thür eine hellblaue Tafel hing mit der Inschrift in Goldbuchstaben: Woll- und Strumpfwaaren-Geschäft von Johanna Kinkel.

Es war als läge ein Zauber in diesen Buchstaben, die doch so ganz bescheiden in die Winternacht hinausglänzten. Der Mann im Mantel drüben auf der anderen Seite der Straße mußte sie unverwandt betrachten, ja er sagte den Spruch, zu dem sie sich zusammenfügten, ein paar Mal laut vor sich hin, als läse er ihn zum ersten [23] Mal, und entdeckte heut eine tiefe Weisheit in dem Halbdutzend Worte. Ohne zu wissen, was er that oder wollte, stapfte er jetzt durch den Schnee, der am Rande des Fahrwegs zusammengeschaufelt war, und betrat unter der Laterne weg den Bürgersteig drüben dicht vor dem Schaufenster. Es stand sonst Niemand davor, wie vor anderen Läden. Wer in Woll- und Strumpfwaaren seine Christbescherung machte, hatte sich wohl in den Tagen vorher versorgt, und so hübsch die gestrickten Jäckchen, gehäkelten Tüchlein, Decken, Socken, Handschuhe und Pulswärmer aufgeschichtet und ausgebreitet lagen, einen müßigen Weihnachtswanderer konnte diese Schaustellung schwerlich fesseln. Auch der Mann mit dem Bäumchen schien kein sonderliches Interesse daran zu haben. Er drückte die Nase dicht an die viereckige Scheibe und mußte mit der linken Faust alle Augenblicke den feuchten Schleier wegwischen, mit welchem sein Hauch das Glas überthaute. So nur konnte er zwischen zwei gestickten Kinderröckchen hindurch, welche die Prachtstücke des Schaufensters bildeten, in das Innere des Ladens spähen. Was er darin entdeckte, war freilich der Mühe werth, trotz der eisigen Nachtluft hier auf offener Straße eine kleine Rast zu machen, auch wenn man sich in den Laufgräben vor Paris die Zehen erfroren hatte.

Nicht die Fülle der »Wollen- und Strumpfwaaren« freilich, die an den drei Wänden des länglichen Raums in größter Ordnung aufgespeichert waren, auch nicht der [24] Ladentisch von hellpolirtem gelbem Holz und die Wage aus blankem Messing oder das eiserne Oefchen dort in der Ecke, ein so tröstlicher Anblick am frostklirrenden Heiligabend sein rothglühendes Thürgitter sein mochte. Aber hinter dem Ladentisch in einem hochlehnigen Rohrsessel, gerade unter der einen Gasflamme, saß ein weibliches Wesen mit einem Gesicht wie Milch und Blut, die etwas niedrige Stirn von hellblondem Haar eingerahmt und dies wieder von einem rosafarbenen Kapuzchen aus leichtflockiger Zephyrwolle, dessen Zipfel frei auf die runden Schultern herabhingen. Nur die behagliche Fülle der Gestalt, die in einem mit grauem Pelz verbrämten losen Jäckchen steckte, verrieth, daß die Inhaberin wohl schon seit einiger Zeit »die Linie passirt« haben mußte. Das Gesicht aber, zumal in dem warmen goldigen Flackerschein der Gasflamme, hätte man für das sommerlich aufgeblühte Antlitz einer glücklich verheiratheten Frau gehalten, über dessen Flor noch keinerlei Ehestürme hingeweht wären. Die Farbe der Augen war nicht zu erkennen, da sie sich auf ein Büchlein hefteten, das auf dem Ladentisch lag. Aber wie hübsch war es anzusehen, wie die Flügel des stumpfen Näschens hin und wieder zitterten, wenn bei einer ergreifenden Stelle des alten vergriffenen Leihbibliothekromans ein Seufzer den athmenden Busen hob, und wie allerliebst bewegten sich die vollen Lippen, die manchmal eine besonders schöne Stelle halblaut vor [25] sich hin zu sprechen schienen. Sie hatte den einen Arm auf den Ladentisch gestützt, eine zarte Locke fiel ihr über die kleine runde Hand, manchmal zog sie die etwas dunkleren Brauen zusammen, und dann wieder lächelte sie, daß zwei Grübchen in den vollen Wangen erschienen und kleine blanke Zähne einen Augenblick vorblitzten. Die Geschichte, die sie las, schien zu Ende zu gehen, in ungeduldiger Hast wandte die freie Hand die letzten Blätter um; als sie den Deckel zuklappte, legte sie sich mit dem Ausdruck großer Befriedigung in den Sessel zurück, sah ein Weilchen in die Gasflamme empor und öffnete den weichen rothen Mund gleich darauf zu einem ganz unverstellten Gähnen, wie Jemand, der sich unbelauscht glaubt. Aber auch diese Geberde, die sonst nicht für die anmuthigste gilt, ließ ihr nicht übel, zumal dabei das Innere ihres rosigen Mäulchens und die kleinen Eichkatzenzähnchen zum Vorschein kamen und der weiße, volle Hals, dessen frische Haut gegen das graue Pelzkrägelchen höchst appetitlich sich abhob.

Wenn dies Alles eine wohleinstudirte Komödie gewesen wäre, um den Zuschauer draußen auf der Straße zu fesseln, hätte sie es nicht geschickter anstellen können. Doch war es unmöglich, durch die aufgestapelten Schätze ihres Wollen- und Strumpfwaarenlagers hindurch in dem dunklen Schatten vor dem Schaufenster draußen überhaupt nur eine menschliche Figur zu erkennen, geschweige den betrübten Wittwer zu vermuthen, der zu [26] dieser späten Zeit ihren Laden nie betreten hatte. Wie sie sich also gab, entsprach es ihrer unbekümmerten behaglichen Natur, die selbst in unbewachten Augenblicken sich auf nichts Häßlichem ertappen ließ.

Diese Erkenntniß, wenn auch nur als ein dumpfer sinnlicher Eindruck, bemächtigte sich auch des biederen Wachtmeistergehirns, in welchem es immer wunderlicher von streitenden Gedanken wogte und wirbelte, je länger die Augen in das helle, warme Lädchen hineinstarrten. Wider Willen stellte die ehrliche Seele einen Vergleich an zwischen der lebendigen Gegenwart und den liebsten Erinnerungen. Wenn man gerecht sein wollte, mußte man gestehen: neben dieser von Kopf bis Fuß untadligen kleinen Person da in dem Rohrsessel hätte die Selige sich wie eine grobe Magd ausgenommen. Was war ihre Nachthaube gegen dieses Kapuzchen, ihre derbe Hand gegen das weiche kleine Patschchen, das sich um den Bart gehen zu fühlen auch der Großtürke für eine absonderliche Wonne gehalten hätte. Wenn die Rosel gähnte, worin sie stark war, verzog sie den Mund mit den nicht sonderlich gepflegten Zähnen zu einer unförmlichen Höhle und reckte die starken Arme hoch über den Kopf. Auch hatte sie nie die geringste Lust bezeigt, ein Buch in die Hand zu nehmen. Ein paar Hefte einer illustrirten Zeitschrift, die sie bei ihrem Gatten vorgefunden, nahm sie an langweiligen Feiertagen wohl auf den Schooß und betrachtete die Bilder, ohne die geringste [27] Wißbegier, was sie wohl bedeuteten. Ihr Wachtmeister war ein Lehrerssohn und hielt etwas auf Bildung, wenn auch nur militärische. Er wurde nicht müde, ein paar alte Handbücher über Kriegswissenschaft und eine populäre Schrift über den französischen Krieg zur Hand zu nehmen, und hätte es gern gesehen, wenn die Rosel Interesse dafür gezeigt hätte. Die las aber höchstens einmal in einem alten Kochbuch, und freilich war sie eine perfecte Köchin gewesen, und als solche hatte er sie im Hause des Obersten kennen und schätzen lernen. Der Dienst nahm ihn auch zu sehr in Anspruch, um sich ernstlich mit der ferneren Bildung seiner Frau zu befassen. Jetzt aber, da er Invalide geworden war und nach dem Schluß seiner Bank freie Zeit hatte, war's ihm doch pläsirlich gewesen, mit der Webern einen vernünftigen Discurs führen zu können. Wenn das aufhören sollte, wie würde er die langen Abende herumbringen? In Gesellschaft eines weiblichen Wesens freilich, das in der Leihbibliothek abonnirt war und gewiß eine Menge hübscher Geschichten wußte – –

Aber das war ja sündhaft, so etwas sich auszumalen, am heutigen Abend in das fremde Weibergesicht so wie verhext zu schauen, während die arme Selige draußen auf ihr Weihnachtsbäumchen wartete. Nein, die Webern sollte nicht Recht behalten! Lieber allein bleiben und sich zu Tode langweilen, als seiner Rosel untreu werden, die ihr Lebenlang ihm kein ungutes Wort gesagt, keine [28] böse Stunde gemacht hatte, als da sie ihm ihre kalte zitternde Hand zum Abschied reichte und kaum noch verständlich sagte: Adjö, Fritz, und vergiß mich nicht – »mir« hatte sie eigentlich gesagt – und im Tischkasten liegt noch eine Düte mit Zucker, und vergiß nicht – wenn du Nachts 'raus mußt – den wollnen Shawl – Ach Gott und Vater, in deine Hände – –

Das waren ihre letzten Worte gewesen, und jetzt stand ihr Fritz und äugelte nach einer fremden Wollen- und Strumpfwaarenhändlerin, bloß weil sie ein weiß und rothes Gesicht hatte und zwei Grübchen darin! Eine Schande war's, wie er sich aufführte, und was mußten die Vorübergehenden denken, daß er hier schon eine Viertelstunde Maulaffen feil hielt – und wenn ihn vollends Jemand erkannt hätte – –

Er drückte die Mütze, die sich beim Anlehnen an das Fenster verschoben hatte, tiefer in die Stirn, zog den Mantel dichter um die Schultern und wollte eben mit einem stillen Seufzer, theils über seine Verirrung, theils weil es ihm doch etwas sauer ward, sich das Gratisschauspiel zu versagen, seinen Weg wieder aufnehmen, da rührte sich drinnen die gefährliche Person, die während seiner stillen Gewissensprüfung ein wenig eingeschlummert war, fuhr in die Höhe, wobei sie sich mit den weißen Fäustchen die Augen rieb, und stand plötzlich resolut auf. Das rosawollene Kopftuch war ihr in den Nacken gefallen, und man sah nun den hübschen, [29] mit blonden Flechten umsteckten Kopf frei auf den rundlichen Schultern. Auf dem nächsten Kirchthurm schlug es halb Neun. Sie horchte und schien etwas verdrießlich darüber, daß die Zeit bis zum Ladenschluß so langsam verging. Dann holte sie von einem Tisch hinten in der Ecke eine Schüssel herbei, die sie auf den Ladentisch vor sich hinstellte und mit zerstreuter Miene beschaute. Es war ein künstlicher Aufbau von Früchten und Süßigkeiten, aus einem Kranz von Feigen, Datteln und Traubenrosinen erhoben sich als die Krönung des Gebäudes drei kleine dunkelrothe Apfelsinen, in deren Mitte ein Blumensträußchen prangte. Den Rand der Schüssel füllten Makronen, Weihnachtsgebäck und verzuckerte Mandeln, und unter all den Herrlichkeiten lag eine mit goldnem Schnörkelwerk verzierte Karte, auf der einige Worte standen, die der Späher auf seinem Posten draußen trotz seines eifersüchtigen Bestrebens nicht zu entziffern vermochte.

Denn es war nicht zu bezweifeln: der zierliche Aufbau rührte von einem Verehrer her, der seinen Gefühlen hier den verführerischsten Ausdruck gegeben zu haben glaubte. Welchen Erfolg er damit gehabt, war an der Miene der Beschenkten nicht zu erkennen. Sie fuhr fort, das süße Kunstwerk nachdenklich zu betrachten, hie und da ein Makrönchen oder eine Dattel, die herausgerutscht war, dem Plan des Ganzen wieder einzufügen, davon zu naschen aber schien sie durchaus [30] keine Lust zu haben. Nur ein Rosinchen pflückte sie träumerisch vom Stiel und steckte es zwischen die Zähne, die daran nagten bloß zum Spiel.

Die Rosel hätte in derselben Zeit eine ansehnliche Verheerung in der verlockenden Bescherung angerichtet. Sie war keine Näscherin; aber dergleichen Präsente pflegten sich nicht lange in ihrem Schrank zu halten, und selbst das Pfefferkuchenherz am Christbaum war schon am zweiten Feiertage verschwunden.

Gleichviel! Der Geschmack wie der Appetit ist verschieden. Was konnte die Rosel dafür, daß sie –

Aber da ging die Klingel an der Ladenthür. Ohne daß die Schildwache draußen es bemerkt hätte, war ein kleines Mädchen vorbeigehuscht, hatte die Thür aufgeklinkt und stand jetzt in seinem dünnen schwarzen Mäntelchen, ein Tüchlein um den frierenden Kopf gebunden, vor der Inhaberin des Wollen- und Strumpfwaarengeschäfts.

Der Handel war bald gemacht. Eine verspätete Weihnachtsgabe konnt' es nicht sein, die paar Strähnen dunkler Wolle, die das Kind verlangt hatte, waren wohl nur neuer Vorrath für eine Arbeit, welche selbst am heiligen Abend fortgesetzt werden sollte. Die Verkäuferin warf, indem sie das kleine Packet einwickelte, einen stillen mitleidigen Blick auf ihre späte Kundin, deren mageres rothes Händchen die paar Geldstücke schüchtern auf den Ladentisch legte, während die eingesunkenen Augen in [31] dem schmächtigen Gesicht nach der herrlichen Fruchtschüssel wanderten. Als sich aber das Kind mit einem leisen Gutenacht! gewendet und schon die Thür wieder erreicht hatte, wurde es durch einen Ruf der Frau au der Schwelle festgehalten. Es kam dann zögernd, wie wenn es seinen Ohren nicht traute, an den Ladentisch zurück, und jetzt griff die Gutherzige mit einem wunderhübschen Lächeln die größte der drei Apfelsinen heraus, daß der künstliche Berg ins Wanken kam, hielt sie dem erstaunten Kinde hin und gleich mit der anderen Hand von den Feigen und Makrönchen, so viel sie fassen konnte. Als das völlig versteinerte arme Ding erst nicht zu begreifen schien, daß dies Alles ihm gehören sollte, zog seine Wohlthäterin es dicht heran, suchte in dem Mäntelchen nach den Taschen, die zum Glück nicht die schmalsten waren, und stopfte sie beide mit sichtlichem Vergnügen voll, bis Nichts mehr hineinging. In das vor Glück und Staunen offene Mäulchen schob sie dann noch eine große glänzende Feige, nickte der über und über erglühenden kleinen Armuth zu und ging gleichmüthig wieder zu ihrem Sessel zurück, während das Kind so eilfertig sich davonmachte, als ob es die ganze unverhoffte Bescherung gestohlen hätte.

Der rauhe Krieger draußen, der keinen Blick von diesem artigen Auftritt verwandt hatte, ließ ein Brummen tiefster Befriedigung vernehmen. Aber so sehr ihn dieser neue Einblick in das gute Gemüth der Verführerin er [32]wärmt und erquickt hatte – jetzt konnte ihn Nichts mehr hier festhalten, die Rosel wartete schon zu lange. Er nickte unwillkürlich durch das Fenster einen Gruß, der an der Ahnungslosen freilich unbeachtet vorbeiglitt, faßte sein Bäumchen wieder fest in die Faust und schritt gesenkten Hauptes die einsame Straße hinunter.

*

Er war fest entschlossen, nun alle seine Gedanken einzig auf sein nächstes Vorhaben zu richten. Aber was half es ihm, daß er immer größere Schritte machte und die Augen nicht von dem Pfefferkuchenherzen wandte! Neben ihm trippelte ein allerliebster Spuk in einer Kapuze von rosa Zephyrwolle und loser Jacke mit grauem Pelzbesatz, so leibhaftig und unentrinnbar – er getraute sich nicht zur Seite zu schielen, er war überzeugt dann auch das hübsche runde Gesicht zu sehen, am Ende gar sich anreden zu hören. So grimmig kalt es war, trat ihm doch der Schweiß in großen Tropfen auf die Stirn, die Zunge klebte ihm am Gaumen; er blickte ein paar Mal wie hülfeflehend zum Himmel empor, wo der Mond in voller Pracht schimmerte und die Sterne daneben funkelten und flimmerten. Da glaubte er von zwei hellen bläulichen Pünktchen sich anlachen zu sehen, die genau einem gewissen Augenpaar glichen, und drückte mit einem dumpfen Soldatenfluch die Augen fest zu, um von der [33] ganzen Hexenwirthschaft Nichts mehr zu gewahren. Das verschlimmerte aber nur die Sache, denn nun stand sie erst recht vor seinem inneren Sinn, in Lebensgröße, mit dem guten Lächeln um die Lippen und in den hübschen Händen die Orange und die Süßigkeiten, die sie der kleinen Kundin in die Taschen des Mäntelchens stopfte. Er verwünschte seinen Leichtsinn, durch die Lilienstraße gegangen zu sein. Nun bog er wieder links ab und war froh, von Neuem den scharfen Wind zu spüren, der sein erhitztes Gesicht unsanft umschnob, so daß ihm bald der Bart von harten Eiszapfen starrte. Wer ihm das gesagt hätte, als er das Bäumchen putzte, daß er es in so sündhaften Gedanken nach dem Ort seiner Bestimmung tragen würde! Ihm war, als müsse jeder Vorübergehende ihm ansehn, wie ihm zu Muthe war, und ein Hohngelächter aufschlagen. Seiner Rosel hatte er Appell beigebracht, und nun waren seine eigenen Herzschläge wie unbotmäßige Recruten, die auf das Commando nicht hörten und von Subordination Nichts wissen wollten.

Endlich aber war die Vorstadt mit ihren langen, öden Gassen durchschritten, und draußen über das todtenstille Feld sah er schon von Weitem die hohe, dunkle Mauer des Friedhofs ragen, nach der er hinstrebte wie nach einem geweihten Bezirk, wohin kein Hexenspuk ihm folgen könne. Als er das eiserne Gitterthor erreicht hatte, durch dessen Stäbe er die weißüberschneiten Gräber [34] mit ihren Kreuzen und Denkmälern in langen friedlichen Reihen sich hinstrecken sah, athmete er tief auf, stellte das Bäumchen einen Augenblick auf den Boden und trocknete sich mit seinem Tuch Gesicht und Hals, wie wenn er den Weg, wie so manchesmal, in greller Sommerglut zurückgelegt hätte. Er wartete noch ein paar Minuten, bis das Herzklopfen nach dem stürmischen Lauf sich beruhigt hatte. Dann zog er die wohlbekannte Glocke neben der Eingangspforte.

Es rührte sich lange Nichts in dem Häuschen, das der Pförtner bewohnte. Auch drang kein Lichtschimmer durch die Ritzen des Fensterladens, obwohl es kaum neun Uhr sein konnte. Zweimal noch mußte der späte Gast die melancholische Glocke in Bewegung setzen, dann erst hörte er die Thür aufschließen und sah den alten Mann, tiefvermummt in einen dunklen Mantel, eine gestrickte Nachtmütze auf dem spärlichen grauen Haar, eine Laterne in der Hand, aus der schmalen Thür treten. Wie ein im Schlaf gestörter Haushund knurrte er ingrimmig vor sich hin. Als er aber die Laterne in die Höhe hielt und das Gesicht vor dem Gitter beleuchtete, stutzte er erst einen Augenblick und fragte dann in etwas minder unwirschem Ton, was Teufel der Herr Wachtmeister zu nachtschlafender Zeit noch hier zu suchen habe.

Lassen Sie mich 'rein, Herr Liborius, gab der Andere mit unsicherer Stimme zur Antwort. Hab' noch was auf meinem Grab zu thun. Soll Ihr Schade nicht sein, Herr Kirchhofsverwalter.

[35] Der kleine Graue betrachtete ihn und das Bäumchen, das der gute Freund ihm durch das Gitter zeigte, mit unverhohlenem mitleidigem Hohn.

Sind Sie bei Trost, Wachtmeister? sagte er achselzuckend. Wollen Sie wirklich das Ding da Ihrer Seligen aufbauen, als ob Sie ihr damit ein christkindliches Pläsir machen könnten? Meinen Sie denn, so eine arme Seele ästimirte noch den Heiligabend und röche gern Fichtennadeln, Wachslichte und Pfefferkuchengewürz? Es sind ja heut Nachmittag Viele gekommen mit Kränzen und Blumensträußen und haben ihre Gräber decorirt, na, das mag noch hingehn, 's is mehr für ihr eignes Gemüthe, daß sie sich sagen können, sie haben auch an die armen Tröpfe gedacht, die heut Abend keinen Schluck Punsch zu kosten kriegen. Aber so'n completten Weihnachtsbaum – nee, Herr Wachtmeister, wie haben Sie sich so was einfallen lassen können? Und klingeln mich damit aus dem ersten Schlaf, der meine ganze Weihnachtsbescherung ist!

Soll Ihr Schade nicht sein, Herr Liborius, wiederholte Der draußen und streckte seine freie Hand, die einen harten Thaler hielt, durch die Eisenstäbe. Da, Freundchen, nehmen Sie, 's ist gerne geschehn, und nu lassen Sie mich 'rein; das Andere ist meine Sache.

Na, wie Sie meinen, brummte der Pförtner, indem er sacht das Geldstück in Empfang nahm. Die Geschmäcker sind verschieden, und Sie sind ja sonst ein braver [36] Mann. – Dabei schloß er die kleine Pforte auf. – Aber sehen Sie, Herr Wachtmeister, Sie haben noch nicht so Vielen unter die Erde geholfen, wie ich, da haben Sie noch so curiose Begriffe von einem todten Menschen. Sie sind – nehmen Sie mir das nicht übel – wie'n Kind, das die erste Puppe geschenkt gekriegt hat. Die wird behandelt ganz wie'n lebendiger Mensch, eingewiegt und gewaschen und gefuttert, als ob sie was davon hätte, – bis das Kind endlich merkt, 's is Alles bloß seine eigne Einbildung, und frißt dann die ganze Mahlzeit, die es dem Porzellankopf angerichtet hat, selber auf. Nicht, daß ich Sie beleidigen möchte, Herr Wachtmeister. Aber sehen Sie, wenn Einer tagtäglich so ein Grab umrajolen sieht, und ist Nichts drin als das bischen Staub und Moder und Gebein, und sieht dann, wie die »tieftrauernd Hinterbliebenen« so'n Grab ankucken, wie wenn's eine Chambre garnie oder Landwohnung wäre, in die sich so'n armer Sterblicher eingemiethet hätte, weil er das Wagengerassel und den Straßenlärm satt bekommen hat, aber man könnte noch ganz gut sich mit ihm unterhalten, und er röche die Blumen, die man ihm zum Präsent macht, – na, wenn einer das glaubt, so mag man ihm ja den Spaß nicht verderben, so wenig wie man einem kleinen Mädchen sagt, daß seine Puppe bloß ein lederner Balg ist mit Sägemehl ausgestopft. Von Ihnen aber, Herr Wachtmeister, hatt' ich immer gedacht –

[37] Was Sie von mir denken, Herr Liborius, ist mir verdammt egal, murmelte der Andere, jetzt da er in dem geweihten Bezirk war, jede Rücksicht auf den Mann, der den großen Schlüssel dazu hatte, verschmähend. Lassen Sie mich nur meiner Wege gehen. Ich brauch' Ihre Laterne nicht, um zu wissen, wohin ich will!

Meinetwegen! raunte der kleine Thürhüter. Wir haben ja auch Mondschein. Gute Verrichtung, Herr Wachtmeister!

Er nickte ihm zu mit der Miene eines Weisen, der gewohnt ist, Fünf gerade sein und unschädliche Narren gewähren zu lassen. Fritz Hartlaub hatte ihm schon den Rücken gewandt und stapfte mit harten Tritten den Gang entlang, den Kopf tief in den Mantelkragen geduckt. Wer zu dieser Stunde hier gewandelt wäre ohne ein trauerbeschwertes Herz, nur dem Eindruck der stillen weißglitzernden Gräberstätte hingegeben, hätte trotz der Schauer der Winternacht wohl gedacht, daß unter den reinlichen Decken da unten gut ruhen sei. Es war so hübsch, wie die bereiften Trauerweiden und Lebensbäume zwischen den blanken Grabsteinen ihre weißen Zweige breiteten und die knieenden oder aufstrebenden Engel auf den vornehmeren Monumenten, vom bläulichen Mondzwielicht umspielt, die zarten Aermchen erhoben, oder ihre Palmenzweige geschultert zwischen den gefalteten Händen hielten. Hie und da lag auch ein frischgrüner Kranz von Stechpalmen, Lorbeer oder Fichtenreisern auf einem der dicküberschneiten Hügel, und vor diesem oder jenem katho [38]lischen Grabkreuz flimmerte hinter blauem oder rothem Glase ein ewiges Lämpchen. All das würdigte der schwerfällig dahinschreitende Mann im Soldatenmantel keines Blicks. Er verließ bald den mittleren Hauptgang und wandte sich seitwärts in den entlegneren Theil des Todtenfeldes, wo längs der Umfriedung eine Reihe schmuckloserer Gräber erkennen ließ, daß hier den ärmeren Menschenkindern, den Todten zweiter und dritter Klasse ihre Ruhestatt angewiesen worden war. Er machte sich auch keine Gedanken darüber, daß nicht einmal vorm Tode Alle gleich seien. An Respect vor Rangunterschieden war seine bescheidene Seele gewöhnt. Hätte er selbst es doch auch mit weiteren dreißig Dienstjahren nie zum Offizier bringen können.

Nun endlich war er angelangt, wohin er wollte. Das Grab seiner Rosel lag dicht an der Mauer, jetzt sehr zu seiner Zufriedenheit, da er hier vor dem scharfen Winde völlig geschützt war; denn auch ein paar hohe Lebensbäume auf den Nachbargräbern hielten die Zugluft ab. Es war wie die Hügel neben ihm mit einer dicken, makellosen Schneedecke eingehüllt, aus welcher das Kreuz schwarz aufragte, aus Gußeisen in der genauen Form des »eisernen Kreuzes« auf einem kleinen steinernen Pfeiler sich erhebend. So hatte der trauernde Wittwer sich's selber ausgedacht, da er Willens war, dereinst sich zu seiner guten Frau betten zu lassen, und das wohlverdiente Ehrenzeichen sollte andeuten, daß ein [39] rechtschaffenes Soldatenherz hier von allen Dienststrapazen ausruhe. An der Fläche der Kreuzarme stand in Goldbuchstaben die Inschrift: »Hier ruhet in Gott Rosalia Hartlaub« – (darunter das Datum des Geburts- und Todesjahres) »und ihr getreuer Gatte« –

Wann der zweite Name dazu geschrieben werden würde, konnte Niemand sagen. Als der Wittwer das Grabkreuz bestellte, dachte er, es würde nicht allzu lange dauern. Wie er heut in strotzender Kraft und Frische die Inschrift las, schien es ihm selbst fast wunderlich, daß sie einmal auch ihm gelten sollte.

Er that wieder einen tiefen Seufzer, fegte dann mit der behandschuhten Rechten den Schnee von der Mitte des Hügels ab, wobei ein dünnes Gespinnst von dunklen Epheublättern zum Vorschein kam, und pflanzte mit einem kräftigen Druck das kleine Brett, in welches das Tannenstämmchen eingekeilt war, in die Lücke zwischen den Ranken. Da stand nun das grüne Gewächs und reichte mit dem Wipfel bis an die Höhe des Kreuzes. Es nahm sich stattlich genug aus. Wenn die Rosel es sehen konnte, mußte sie ihre Freude daran haben. Aber konnte sie es sehen? Wo war sie in dieser Stunde? »Das bischen Staub, Moder und Gebein da unten« – der kaltblütige Pförtner, der davon Bescheid wissen mußte, hatte' am Ende Recht: da unten war die Rosel nicht. Am Ende war sie irgend wo, wo sie selbst nicht empfand, was mit ihrem armen Rest vorgegangen war und welchen [40] Weg ihr guter verwittibter Lebensgefährte einschlug, wenn er so recht ungestört an sie denken wollte. Ob sie aber nicht auf irgend einem der zahllosen Sterne die »Chambre garnie« oder ein Sommer- und Winterquartier bezogen hatte, schöner und luftiger, als ihre Wohnung in der Kaserne, von dem engen Logis unter dem Hügel da gar nicht zu reden?

Diese zweifelnden Gedanken kreuzten hin und her durch das helldunkle Gehirn des betrübten Mannes, bis ihm endlich alles Denken verging. Aber zu seiner eigenen Bestürzung ward er inne, daß sich die gerührte Stimmung, die ihn bei seinen früheren Besuchen hier stets überkommen hatte, heute trotz des besten Willens nicht einstellen wollte. Er suchte vergebens, sich das Bild der Entschlafenen, durch die Erinnerung an all ihre trefflichen Eigenschaften verklärt, in der Seele wachzurufen – es blieb ein dunkler Umriß, ohne gegenwärtige Lebensfülle, fast nur ein Name und ein Schatten, der immer nebelhaftere Formen annahm, je eifriger er ihn heranzulocken strebte. Statt dessen aber – er erschrak, da er sich's endlich nicht mehr verläugnen konnte – war ganz heimlich der gefährliche Spuk aus der Lilienstraße ihm wieder auf den Leib gerückt, und zu seiner bittersten Beschämung mußte er erleben, daß er, während er, um sich dagegen zu waffnen, die Inschrift vom Kreuz ablas, den Namen der Anderen beständig mit sanftem Schmeichelklang in seinem Ohre summen hörte.

[41] Nein! So durfte es nicht fortgehn! Er, ein Soldat von dreißig Dienstjahren, sich unterkriegen lassen von einem schlauen Feinde im Unterrock, als ob ihm nicht bloß die drei Finger an seiner linken Hand, sondern der bekannte Muskel unter seiner linken Rippe weggeschossen wäre? Sich wie ein großes Wickelkind in Zephyrwolle einspinnen lassen und am Ende gar hinterm Ofen des Strumpfwaarenlädchens seine Tage müßig verhocken und Nichts weiter verrichten, als Abends Kassensturz halten und die Tageseinnahmen in ein Büchlein kritzeln? Himmelkreuzschockschwerenoth – das das ruhmlose Ende eines kgl. preußischen Wachtmeisters, der das eiserne Kreuz und die Kriegsmedaille von 66 trug und an den hübschesten Französinnen ungerührt vorbeigegangen war, als an der seelenverderblichen Brut des Erbfeindes? Und das Alles bloß, um nicht die Neige in seinem Lebensbecher einsam auszunippen, was freilich ein schlechtes Vergnügen war, aber immerhin besser, als sich frisch einschenken zu lassen von einer Mundschenkin, die ihm böse Augen machen würde, wenn er sie in der Zerstreuung Rosel statt Hannchen riefe? Und das würde unfehlbar geschehen. Denn hatte ihn die Selige nicht kurz vor ihrem letzten Athemzug gebeten: Fritze, vergiß mir nicht! und hatte er ihr je etwas abschlagen können? Nein, und tausendmal Nein: was der neunmalkluge Liborius auch spotten und achselzucken mochte: die Rosel wußte noch Bescheid um ihn, sah ihm, wie bei ihren [42] Lebzeiten, durch Mantel und Waffenrock gerade ins Herz, und es war eine Sünde und Schande für ihn, was sie in dieser Stunde alles darin hatte sehen müssen. Fort mit dem blauäugigen, rothbäckigen Frauenzimmer, das sich da eingeschlichen hatte, wo Niemand wohnen durfte, als eine einzige, leider zu früh verewigte Person, die zwar nicht die Schönste ihres Geschlechts gewesen war, aber eine richtige Wachtmeisterin, bis in ihr letztes Stündlein ihm so treu, wie er selbst seinem obersten Kriegsherrn, und die nicht einen Augenblick daran gedacht haben würde, wäre er vor ihr gestorben, ihm einen Nachfolger zu geben, und wenn der Hauptmann selbst seine Augen auf das forsche Frauenzimmer geworfen hätte.

Auf einmal wurde ihm so leicht ums Herz, wie einem Teufelsbeschwörer, der durch kräftige Exorcisation eine Legion unsauberer Geister in die Hölle zurückgebannt hätte. Er nahm die Mütze ab, faltete die Hände und betete halblaut ein Vaterunser, ohne sich was Anderes dabei zu denken, als daß jetzt irgend etwas Geistliches am Platze sei. Sodann zog er ein Schächtelchen Zündhölzer aus der Tasche und zündete die Wachslichter am Baum eins nach dem anderen sorgsam an, was ihm auch gelang, da ja der Wind durch die Mauer und das Grabkreuz abgewehrt wurde. Wie er damit fertig geworden war, stand er in stiller Betrachtung vor dem hellfunkelnden Weihnachtsbäumchen, [43] dessen Glanz auch die Inschrift am Krenz wie frisch vergoldet erscheinen ließ. Es war nun ganz friedlich in seinem Innern, und er empfand nicht einmal, wie der scharfe Frost seine erfrorenen Zehen angriff, da er im Schnee unbeweglich stand. Ringsum war eine so tiefe Stille, fast hätte man die Engel singen hören hoch oben im Sternenäther, ihre alte ewige »frohe Botschaft.«

Was war aber das? Was für ein Ton durchbrach plötzlich diese himmlischen Accorde, sehr an irdisches Weh gemahnend, ein Winseln und Wimmern hinter einem der benachbarten Grabsteine hervor, wo bisher nichts Lebendiges sich geregt hatte? Es verstummte dann wieder, um mit einem verstohlenen Aechzen und Stöhnen von Neuem einzusetzen, und näherte sich langsam, bis es endlich so nah erklang, daß es den einsamen Mann vor dem brennenden Bäumchen aus seiner tiefen, wehmüthig feierlichen Versunkenheit emporriß. Als er jetzt die Augen von dem bunten Kerzengeflimmer weg zur Seite wandte, sah er zu seinem Erstaunen einen kleinen zottigen Hund, der, wie es schien, auf vier erfrorenen Pfoten mühsam sich heranschleppte, am ganzen Leibe zitternd und das Maul wie ein Verschmachtender weit geöffnet, die glanzlosen, von dichtem weißem Haar umstarrten Augen fest auf das Weihnachtsbäumchen gerichtet, wobei sich der schwerarbeitenden Brust jenes klägliche Winseln wieder entrang, bis der arme Gesell das Grab der verewigten [44] Wachtmeisterin erreicht hatte und dicht neben dem Tannenstämmchen zusammenbrach. Er erschütterte im Hinsinken die nächsten Kerzen und hätte vielleicht einen Brandschaden an seinem grauen Fell erlitten, wäre dieses nicht so starrend von Eis gewesen, daß kein Feuer zünden konnte. Offenbar hatte der Lichtglanz das völlig abgemagerte arme Thier kurz vor seinem letzten Aufstöhnen noch einmal zum Leben erweckt und angetrieben, der Wärme nachstrebend, sich zu den Füßen des unbekannten Mannes ein festlicheres Sterbelager zu suchen.

Einen Augenblick nur betrachtete der trauernde Wittwer unthätig dies erlöschende Leben. Dann bog er sich zu dem stillen Kameraden nieder, dessen weißzottige Brust nur noch in schwachen Zuckungen arbeitete, strich ihm über den zitternden Kopf und befühlte die starr ausgereckten mageren Beine. Himmelkreuz –! wetterte er dabei in den Bart. Da hockt die alte Eule, der Liborius, in seinem Käsich und paßt so wenig auf die Thüre, daß so ein armes Vieh hereinkann und, wenn ihm das Thor vor der Nase zugesperrt wird, elendiglich verhungern und verfrieren muß. Aber wart, Kleiner, du sollst nicht umsonst dir gerade dies Grab zu deinem letzten Ruhekissen ausgesucht haben. Muß es gleich Matthäi am Letzten sein? I Gott bewahre! So lange der Mensch noch japsen kann, muß er nicht verzweifeln. Aber im Schnee sich wälzen wie die [45] Russen ist nicht für Jedermann. Komm, Kleiner, wir wollen uns ins Trockne und Warme bringen. Nur sachte! Zur Kinderfrau hab' ich ohnehin die schönsten Gaben gehabt, und meine eigenen haben nur leider nicht davon profitiren wollen. Na, flenne nur nicht! Sachtchen, sachtchen!

Er hatte während dieser vor sich hin gemurmelten Ansprache den Hund, der keinen Widerstand leistete, aufgehoben und machte sich eifrig daran, die Eiskrusten von seinem Fell mit dem Tuch abzureiben, wobei er ihm warm in das flehend verzerrte Gesicht hauchte. Nicht lange, so spürte er, daß die schon wie im Todeskampf zuckenden Glieder sich beruhigt lös'ten und das zitternde Herz mäßiger klopfte. Er schlug den Mantel um das wehrlose Geschöpf, das nur noch von Zeit zu Zeit einen wimmernden Ton ausstieß, wie ein Kind nach heftigem Weinen, wenn es in Schlaf versinkt, und fuhr fort, mit der rechten Hand den kleinen Körper kräftig zu frottiren. Dabei fühlte er jetzt erst deutlich, daß er kaum mehr als ein behaartes Knochengerüst im Arm hatte, und plötzlich richtete er sich in die Höhe und sagte: Da ist Noth am Mann! Wenn er mir wirklich nicht erfriert, so verhungert er mir. Ich muß machen, daß ich ihn nach Hause schaffe.

Sofort wandte er sich zum Gehen und war schon ein Dutzend Schritte von dem Grabe entfernt, als er sich besann, daß es sich nicht wohl schicke, so ohne Um [46]stände seine Weihnachtsbescherung im Stich zu lassen. Nu, sagte er dann, ich kenne sie ja, sie nimmt es mir nicht übel, daß ich jetzt vor Allem zusehe, wie der Kleine was Warmes in den Leib kriegt. Sie hätte es nicht anders gemacht, und wenn sie mich jetzt sehen könnte – nicht wahr, Rosel, wir brauchen nicht viele Worte drum zu machen. Und nu gute Nacht, und laß dir was Angenehmes träumen, wo du auch sein mögest, und verlaß dich drauf, Fritze vergißt dich nicht, und ein Hundsfott will er sein, wenn er sich je wieder mit Wollen- und Strumpfwaaren –

Er vollendete diesen Monolog nicht, denn der Hund, der endlich zum Leben wieder aufzuwachen schien, rührte sich so ungeberdig und ängstlich unter dem Mantel, daß sein Lebensretter Mühe hatte, ihn zu beschwichtigen. Es gelang nicht eher, als bis er ihm erlaubt hatte, durch einen kleinen Schlitz die Nase zu stecken und dann und wann daneben ins Freie zu blinzeln. Nun lag er ergeben in sein Schicksal in dem warmen, kräftigen Menschenarm und fühlte das warme Menschenherz an seine mageren Glieder pochen und verfiel, während er in rüstigem Schritt dahingetragen wurde, allmählich in einen ohnmachtähnlichen Schlummer.

Der Mann aber, der ihn trug, blieb noch einmal stehen und blickte nach dem Grab an der Mauer zurück. Da loderte eben eine Feuersäule in die Höhe: die niedergebrannten Kerzen hatten die Ketten aus Goldpapier [47] entzündet, die harzigen Nadeln waren mit in Brand gerathen, und da kein Wind die Flammen aus ihrer Richte bog, brannte das ganze Bäumchen wie eine ruhig gen Himmel strebende Fackel als das schönste Todtenopfer, das an diesem Abend wohl auf irgend einem Friedhof von frommen Händen dargebracht worden war.

*

So schön feierlich sich's ausnahm, – der es gestiftet, konnte nicht warten, bis es ganz verglüht und verglommen war. Er hastete mit seiner Last unterm Mantel dem Ausgang zu, und erst, als er ganz nahe an dem Pförtnerhause war, wurde sein Schritt zaudernder. Der Gedanke fuhr ihm durch den Kopf: Wie, wenn das arme zitternde Thier, das sich zu dir hingeflüchtet, diesem Menschen, dem Nichts heilig ist, gehörte, der es vielleicht geprügelt hat, daß der verschüchterte Wicht lieber draußen erfrieren, als zu seinem harten Herrn zurückkehren wollte? Wer die Todten nicht respectirt, was macht sich der aus den Lebenden, Mensch oder Vieh? Und doch, wenn er ihn reclamirt – sein Eigenthum kannst du ihm nicht vorenthalten. Am Ende aber ist er froh ihn loszuwerden. Kusch dich, Kleiner! – Er gab ihm einen sanften Schlag auf die zitternde schwarze Nase, daß der kleine Strobelkopf sich scheu unter den Mantel zurückzog, und klopfte dann leise an den Fensterladen.

[48] Ist's Ihnen endlich doch ein bischen klamm geworden, Herr Wachtmeister? sagte der kleine alte Mann, der sofort in der Thür erschien und mit seiner Laterne vorausleuchtend dem Thore zuschritt. 's Wetter wird übrigens umschlagen, in meinem Regenhäuschen ist die Frau wieder draußen, geben Sie Acht, wir kriegen nasse Feiertage. Aber was haben Sie denn da für'n dickes Packet unterm Mantel? Sie werden sich doch keinen Klumpen Erde zum Andenken mitgenommen haben?

Nur zum Spaß klopfte er dem beladenen Manne auf den linken Arm. Ein schwaches Winseln kam aus dem Versteck unterm Mantel hervor, und gleich darauf bohrte sich die schwarze, feuchte Nase wieder zwischen den Falten durch.

Herr meines Lebens! rief der Pförtner und fuhr mit der Laterne in die Höhe, das ist ja, meiner Seel' – wo haben Sie denn den Köter aufgetrieben?

Gehört er Ihnen, Herr Liborius? fragte Fritz Hartlaub mit seiner höflichsten Stimme, bereit, in Unterhandlungen über den Findling einzutreten, denn er sah das Gitterthor noch verschlossen und sich in der Gewalt dieses gemüthlosen Menschen.

Gott bewahre! knurrte der Andere, das fehlte mir noch, zumal es streng verboten ist, Hunde auf den Kirchhof mitzubringen. Der da – denn ich kenne ihn wieder, ein ruppiger Rattenfänger – vor drei Tagen schlich er sich hier ein – sie begruben einen jungen [49] Menschen, der sich aus Verliebtheit den Tod angethan hatte – kein Begräbniß erster Klasse, können Sie denken – na, und weil bloß so ein Stücker fünf bis sechs Menschen mitgingen, drückte ich ein Auge zu, wie auch der Schnauz hinterdreinzottelte. Hernach aber, als Alle weg waren – glauben Sie, daß ich das dumme Thier in Gutem oder Bösem dazu bringen konnte, auch nach Hause zu gehn? Es wollte partu von dem frischen Grabe nicht weichen, knurrte mich an und fletschte die Zähne, wenn ich es beim Halsband packen wollte, und als ich einen Stock holte, kniff er aus und wir jagten uns eine Viertelstunde lang um die Grabsteine herum, bis mir der Athem ausging. Am Ende dauerte er mich wieder. So 'ne unvernünftige Creatur hat manchmal mehr Attachement als ein Mensch, sagt' ich mir, und der Köter und sein Herr passen gut zusammen, da sie beide vor Liebe sich aus der Welt weggewünscht haben. Meinetwegen mag er seinen Willen durchsetzen. Bei 13 Grad Kälte wird er's ohnehin nicht lange treiben. Na, und Sie wollen sich mit ihm beladen, Herr Wachtmeister? Er crepirt Ihnen unterwegs, bis Sie nach Hause kommen. Er hat drei Tage nichts zu fressen gekriegt, und hören Sie nur, er röchelt ja schon!

Darum wollt ich eben bitten, daß Sie mich geschwinde wieder 'rauslassen. Das Uebrige werd' ich schon besorgen.

Na, wie Sie wollen. Des Menschen Wille ist sein [50] Himmelreich. Aber Sie werden sehen, Sie schleppen sich ganz umsonst mit dem Kameraden. Gute Nacht, Herr Wachtmeister, und vergnügte Feiertage!

Gute Nacht!

Damit trat der barmherzige Samariter aus dem Kirchhofspförtchen ins Freie und eilte mit so gewaltigen Schritten davon, als wäre das Gespenst des jungen Selbstmörders hinter ihm her, die kostbare Last, die er unterm Mantel trug, ihm wieder abzujagen.

*

Um die Zeit saß in ihrer einsamen Stube neben dem Kochofen, der eine behagliche Wärme ausströmte, die gute dicke Frau, die heut ihren Heiligabend ohne ihren Sohn und den Hausgenossen vom vierten Stock feiern mußte, aber auf ihrer weißen, faltenlosen Stirn stand keine Runzel des Unmuths. Vielmehr sog sie mit offenbarem Wohlgefallen den kräftigen Duft aus einem porzellanenen Punschnapf ein und ergab sich unter allerlei tiefsinnigen Betrachtungen in ihr Schicksal, was sie für Zwei gebraut hatte, allein auszuschlürfen. Der Teller mit ihrem bescheidenen Nachtmahl war bei Seite geräumt, ein großer Honigkuchen, von dem sie langsam Stück um Stück abbröckelte, lag neben dem dampfenden Glase, eine alte vergriffene Bibel hatte sie vor sich auf den Knieen, aber die Hornbrille, durch welche sie das Weihnachtsevangelium [51] zu lesen gedachte, war hoch auf die Stirn zurückgeschoben, und ihre Gedanken gingen über das Buch hinaus, wer weiß, wohin.

Am wenigsten wohl zu ihrem Wilhelm und seinen Bräutigamsfreuden, die ihn ihr heute entzogen. Denn sie war ein praktischer Charakter, ohne unnöthige Sentimentalitäten, und als ihr einziger Sohn sich verlobte, hatte sie ihn sogleich für sich selbst verloren gegeben. Dagegen den Freund vom vierten Stock gab sie noch nicht auf. Er ziert sich wohl noch ein bischen, sagte sie sich im Stillen. Na und die Rosel war ja auch eine rechtschaffene Frau und hielt ihn gut, und daß er noch von keiner Zweiten hören will, macht ihm am Ende keine Schande. Die Mannsleut' heut zu Tage sind selten so nachträglich und schielen schon beim Begräbniß unter dem Trauergefolge herum, welcher von den guten Freundinnen oder Cousinen der Seligen der Krepp am besten steht. Aber daß er darum Zeitlebens alleine hocken will – so'n Mann in den besten Jahren – und da in der Lilienstraße könnte er ein Leben haben wie Gott in Frankreich – 's ist ja der helle Wahnsinn! Na, so'n stämmiger Baum fällt nicht auf einen Schlag, und heut Abend wird er sich vielleicht einen solchen Mordsschnupfen bei seiner Rosel holen, daß er so bald nicht wieder hinaus will.

Sie that einen langen Zug aus dem Glase und schnalzte mit der Zunge, als sie es leer auf den Tisch [52] stellte. So gut ist er mir nie gerathen, sagte sie, indem sie die Haubenbänder unter dem gerötheten Kinn lockerte. Er könnt's auch brauchen, nach der frostigen Geschichte. Aber wenn er hartköppig ist – sein eigener Schade!

Indem sie eben das Glas von Neuem füllte, hörte sie einen wohlbekannten Schritt die Treppe heraufkommen und an ihrer Thür einen Augenblick stillhalten. So früh hatte sie ihn nicht zurückerwartet. Er wollte ja irgendwo in einem stillen Kneipenwinkel den Rest des Abends verdämmern. Ob es ihn doch nach ihrem Punsch gelüstet hatte, dessen Verdienste stets willig von ihm anerkannt worden waren? Nein, er stapfte weiter an ihrer Stube vorbei und die Stufen zu seiner Mansarde hinauf. Vielleicht schämte er sich nur, daß er nun doch die Einsamkeit nicht ertrug, und sie thäte ein Werk der Nächstenliebe, wenn sie ihm halben Wegs entgegenkäme. Aber erst sollte er noch Zeit haben, sich droben in der graulichen Einsamkeit umzusehen und zu erkennen, daß die Nachbarin unten nur sein Bestes gewollt hatte.

Sie setzte eben das Glas wieder an die Lippen, da klang oben von Neuem die Thür, und sie hörte ihn wahrhaftig wieder heruntersteigen. Das ging ja rascher, als sie hatte hoffen können. Und richtig, er klopfte jetzt bei ihr an und wartete kaum ihr Herein! ab, da stand er schon vor ihr, ohne Mantel freilich, aber die Mütze noch auf dem Kopf, was seinen gewohnten artigen Manieren gröblich widersprach.

[53] Wie wunderlich sah er aus den Augen, die irgend was am Boden zu suchen schienen! Und kein »guten Abend!« nur ein stilles Kopfnicken. Und er konnte eine ganze Weile keinen Athem finden.

Was haben Sie denn, Herr Nachbar? fragte sie, ihn betroffen von Kopf bis Fuß musternd. Ist Ihnen nicht wohl? Haben Sie einen Geist gesehn?

Er schüttelte hastig den Kopf.

Sie könnten mir einen Gefallen thun, Webern. Kommen Sie mit mir 'rauf. Ich habe Jemand mitgebracht.

Jemand mitgebracht? Ich habe doch bloß Ihren Schritt auf dem Flur gehört.

Ich habe ihn tragen müssen, er konnte nicht laufen, weil er sich die Füße verfroren hatte. Sie müssen mir helfen, ihn wieder zu sich bringen, Sie wissen ja besser Bescheid mit so was –

Er sah sie flehentlich an. Die gute Seele, so erschrocken sie war, stand schon auf ihren breiten Füßen und nahm ihn beim Arm.

Was sagen Sie, Wachtmeister? Sie haben ihn 'raufgetragen? Nein, so was lebt nicht! Wer ist es denn? Wie sind Sie denn zu ihm gekommen?

Sie werden schon sehn, Webern. Aber kommen Sie, nehmen Sie noch was mit, er ist halb verhungert.

Da die Punschterrine! Das wird ihm gut thun, daß er erst wieder aufthaut. Und von meinem Abendessen [54] sind noch ein paar Reste da – Fleisch hab' ich freilich nicht mehr.

Aber Milch, Webern, wenn Sie noch ein paar Schluck Milch im Vorrath hätten. Punsch ist nicht seine Sache, und ob er Fische isst, weiß ich nicht. Kommen Sie nur geschwind mit der Milch, das Andere findet sich.

Und ohne ihre Antwort abzuwarten, rannte er wieder aus dem Zimmer und die dunkle Stiege hinauf.

Die gute Frau faßte sich nach der Stirn. War ihr Freund denn bei Trost, daß er den erfrorenen Menschen mit kalter Milch statt mit heißem Punsch wieder beleben wollte? Am Ende aber – wenn's nun ein Kind wäre, irgend ein armer Wurm, den eine herzlose Mutter ihm vor die Füße gelegt – bei seiner Gutmüthigkeit hatte er sich's natürlich aufhalsen lassen, statt auf die Polizei damit zu gehen – na, am Ende war's auch bei ihm – und ihr – besser dran; sie hatte ein Herz für kleine hülflose Menschenkinder, das wußte er ja, das brachte ihr Geschäft ja schon mit sich –

Und so vor sich hin denkend und murmelnd war sie zu ihrem Küchenschrank gelaufen und hatte ihr Milchtöpfchen hervorgeholt. Im nächsten Augenblick leuchtete eine Spiritusflamme unter einem Blechpfännchen auf, und die bläulichweiße Flüssigkeit fing an sich zu erwärmen.

Sie steckte noch allerlei zu sich, was für ein hungerndes und frierendes Wickelkind heilsam sein konnte, ergriff [55] dann das Pfännchen mit der heißen Milch und eilte, ohne ihre Haube fest zu binden, die Treppe hinauf.

Als sie bei ihrem Nachbarn eintrat, sah sie ihn vor dem kleinen Kachelofen knieen und mit großem Eifer in die Scheiter blasen, die auch alsbald in Brand kamen. Es war sonst noch dunkel im Zimmer, er hatte sich die Zeit nicht genommen, die Lampe anzuzünden. Im Bett aber, mit der wollenen Decke zugedeckt, über die noch ein Federkissen geworfen war, lag etwas Dunkles, von dem nur eine unruhige Regung erkennen ließ, daß es lebendig war.

Da bin ich, keuchte sie, als sie sich nach dem Tisch hingetastet und, was sie trug, darauf abgelegt hatte. Wo haben Sie ihn denn gefunden? Stecken Sie doch vor Allem die Lampe an. Herrgott, Sie zittern ja am ganzen Leibe, ich fühl' es im Dunkeln. Seien Sie mir nicht ängstlich, so ein kleiner Mensch hat ein zähes Leben. Na, endlich brennt der alte Docht. Nu lassen Sie mal die Bescherung sehen. – Gerechter Gott im Himmel, das ist ja kein kleiner Junge, wie Sie sagten, das ist ja ein – Hund!

Sie sank vor Ueberraschung, zu der sich ein heimlicher Aerger gesellte, auf den Stuhl am Bett und ließ die Hände wie gelähmt auf ihre dicken Kniee fallen.

Allerdings ist es nur ein Hund, hörte sie jetzt Fritz Hartlaub sagen, in dem Tone, in welchem man für einen Hülflosen und Verkannten Partei ergreift. Wenn [56] Sie kein Herz für so eine Creatur haben, die doch auch von Gott geschaffen ist, so verzeihen Sie, daß ich Sie heraufbemüht habe. Lassen Sie die Milch hier und verfügen sich selbst wieder zu Ihrem Punsch. Ich werde mich dadurch nicht abhalten lassen, dem armen Burschen Beistand zu leisten, bis er wieder auf den Beinen ist. Denn sehen Sie, das ist meine Weihnachtsbescherung, die hat mir die Rosel zugedacht gehabt, und auf ihrem Grabe, als ich eben das Bäumchen angezündet hatte, ist dieser Hund an mich herangekommen, und wenn so'n Thier sprechen könnte, hätte es gesagt: deine Selige jammert es, daß du so alleine bist, und sie läßt dich schön grüßen und schickt mich, damit ich dir ein bischen Gesellschaft leiste. Ich habe nicht so'ne glatte Haut, wie gewisse Frauenzimmer in Woll- und Strumpfwaarengeschäften, aber man kann auch unter einem struppigen Fell ein gutes und getreues Herze haben und damit Amen! – So hätte er sagen können; ich aber habe auch ohne das verstanden, wie's gemeint war, und jetzt geben Sie mir gefälligst die Milch, ich will sie in die Untertasse gießen und sehen, ob er die Kraft schon wieder hat, die Zunge danach auszustrecken.

So nachdrücklich war diese Rede unter dem martialischen Schnurrbart hervorgekommen, daß die betroffene Zuhörerin es gerathen fand, nicht das kleinste Wort, das Zweifel oder gar Spott ausgedrückt hätte, darauf zu erwiedern. Sie raffte sich vielmehr diensteifrig auf, [57] um bei dem Liebeswerke behülflich zu sein, und hielt die Untertasse dem warmgebetteten Patienten selbst unter das Kinn, während sein Retter vorsichtig die Milch hineingoß. Sie mußten eine Weile warten, bis der eingefrorene Geruchsinn in dem kalten schwarzen Naschen aufwachte. Dann aber that sich ein blaßrothes Zünglein ans dem verlechzten Maul hervor und fing zitternd an, am Rande der Schale zu lecken. Nicht lange, so rappelte sich das Klümpchen unter der wollenen Decke mit einiger Mühe, aber doch erfolgreich in die Höhe, der struppige Kopf streckte sich vor, und die Zunge that ihr Geschäft so begierig, daß bald der letzte Tropfen aus dem Milchkännchen versiegt war.

Pros't Mahlzeit! brummte der rauhe Krieger, indem er mit der großen Hand dem wackeren Trinker sacht über den Kopf strich. Nun, denk' ich, sind wir durch! Wer Milch säuft, ist noch kein todter Hund. Justement so hab' ich meinem Rittmeister – damals war er erst Secondeleutnant – die Lebensgeister wieder angeblasen nach der Schlacht bei Le Mans, wie er mit der Kugel in der Schulter kreideweiß neben seinem todten Gaul lag, bloß mit dem Unterschied, daß es keine Milch war, sondern Cognac aus seiner eignen Feldflasche. Na, das ist nun der einzige Unterschied zwischen Thier und Menschen, im Geistigen sind wir ihnen über. Aber meinen Sie nicht, Weberken – (das Kosewort zeigte, wie guter Laune er plötzlich gegen die alte Freundin [58] wieder geworden war) – nach der Suppe sollte der Braten kommen? Hätten Sie etwa noch von Mittag –

Nicht für einen hohlen Zahn, Herr Wachtmeister, ich bedaure wirklich. Es kamen ein paar Bettelkinder, denen gab ich, was mein Wilhelm übrig gelassen hatte. Aber vielleicht thun's ein paar Semmelbrocken. Sein Magen ist ja ohnehin noch schwächlich.

Verzeihen Sie, werthgeschätzte Freundin, aber was ein richtiger Hundemagen ist, der kommt erst wieder zu sich, wenn er Fleisch zu verarbeiten kriegt. Und am Heiligabend ihn mit Brod abspeisen – ich müßte mich ja schämen. Wenn er noch Pfefferkuchen möchte – aber damit ist ihm nicht beizukommen. Sie bleiben wohl einen Augenblick bei ihm. Ich bin gleich wieder da.

Er rannte zur Thür hinaus, ohne erst den Mantel umzuhängen. Nach zehn Minuten trat er richtig wieder ein, ganz heiß vom eiligen Gang, in der Hand ein großes Papier, aus welchem er allerlei kalte Fleischstücke nahm. Das haben sie mir drüben im Speisehaus gegeben, sagte er. Salz habe ich auch gleich mitgebracht Nun kann das Tractement losgehen.

Doch war die Liebesmüh einstweilen noch umsonst. Das rauhe schwarze Mäulchen schnappte zwar nach dem Bissen, der ihm vorgehalten wurde, ließ ihn aber wieder fallen und öffnete sich zu einem langen und herzhaften Gähnen, wobei der Kopf wieder auf das Kissen fiel. [59] Er ist noch zu schwach, sagte die Wärterin, die Decke ihm wieder über den Hals ziehend; er braucht jetzt nur Schlaf in seinem warmen Nest. Wenn er sich erst ein bischen durchgewärmt hat, wird der Appetit schon kommen.

Meinen Sie, Webern? Na, dann wollen wir ihn schlafen lassen. Wie alt mag er wohl sein?

Wie alt? Ich versteh' mich nicht so accurat auf junge Hunde wie auf kleine Kinder, aber viel über ein oder anderthalb Jahr wird er schwerlich sein. Ob er schon zimmerrein ist –

Danach frag' ich vorläufig nicht, antwortete Fritz Hartlaub in etwas gereiztem Ton. Einstweilen lebt er, das ist die Hauptsache. Sehn Sie, Webern, er schläft wahrhaftig schon.

Und schnarcht wie 'ne alte Säge. Sie werden Ihre liebe Noth haben mit dem Stubenburschen.

Die Rosel schnarchte auch. Das hat mich niemals gestört.

Na, eine Nacht kann man's ja aushalten.

Eine Nacht? Wie meinen Sie das?

Sie wollen ihn doch nicht behalten?

Wenn er mich behält – er ist ja herrenlos, Webern, und eben darum hat die Rosel ihn mir beschert. Sie müssen wissen –

Nun erzählte er ihr die Geschichte von dem jungen Selbstmörder, von dessen Grab der Kleine nicht hatte [60] weichen wollen. Die Frau, so gute Gründe sie hatte, nicht zu wünschen, daß eine andere Gesellschaft, als die sie ihm zugedacht, auf die Dauer sich hier oben einnistete, wurde doch ein wenig gerührt. Sie streichelte dem Schläfer jetzt selbst den Kopf und sagte: Na, wie Gott will! Er scheint einen guten Charakter zu haben. Treue ist doch kein leerer Wahn, sagt Schiller. Wissen Sie denn, wie er heißt?

Wie sollt' ich wohl? Der Liborius wußt' es nicht, und sein früherer Herr ist ja stumm wie's Grab. Aber ich weiß schon, wie ich ihn nennen werde, wenn er mir nicht durchbrennt, sobald er wieder zu Kräften gekommen ist.

Wie wollen Sie ihn denn nennen?

Strubbs soll er heißen. So hieß der Pudel von meinem Rittmeister, den die Rosel so gern hatte, und der ein sehr anständiges und kluges Thier war. Finden Sie den Namen nicht ganz passend, Nachbarin?

Gewiß, sagte die Frau ernsthaft und stand auf, und nun will ich Ihnen und Ihrem Strubbs eine gute Nacht wünschen, und wenn Sie noch was brauchen sollten, wecken Sie mich nur. Immer noch besser, ich steige noch einmal Ihre Treppe, als daß ich in der Weihnachtsnacht zu einer meiner Kundinnen gerufen werde.

Sie nickte dem Wachtmeister wieder ganz freundschaftlich zu. Als sie aber schon die Hand auf der Thürklinke hatte, hörte sie ihn noch einmal rufen: Was meinen [61] Sie, Webern, verträgt er's wohl, wenn hier geraucht wird? Ich habe noch keinen Schlaf und möchte Ihre schöne neue Pfeife einweihen.

Aber Wachtmeister, erwiederte die Frau kopfschüttelnd, Sie haben doch gedampft wie'n Schlot, als die Wiege neben dem Bett Ihrer Rosel gestanden hat. Wollen Sie nun Umstände machen mit so 'nem vierbeinigen Wickelkind? Nehmen Sie mir's nicht übel, Sie sind ein bischen schwach im Kopf, weil Sie nichts im Magen haben. Ich werde Ihnen noch ein Glas Punsch bringen. –

Er machte denn auch wirklich keine Umstände, rauchte seine Pfeife, trank den Punsch und trat nur behutsam in seinen Pantoffeln auf, wohl noch eine Stunde lang, wobei er immer, so oft er an dem Bett vorbeikam, einen zufriedenen, väterlich würdigen Blick auf den kleinen Schläfer warf. Als die Pfeife ausgeraucht und seine Augen von dem starken Trank schwer geworden waren, zog er sich leise aus, löschte die Lampe und schob sich, indem er seinen Bettkameraden behutsam näher an die Wand rückte, unter die Decke. Er empfand mit großer Befriedigung, daß von dem zottigen Fell Wärme ausströmte, und das kleine Herz, das er sanft befühlte, klopfte in regelmäßigen Schlägen. Keine fünf Minuten vergingen, so erklang durch die Mansarde das friedliche Duett zweier Schläfer, deren Athemzüge im schönen Einklang einer Terz vernehmlich aus- und eingingen.

*

[62] Am folgenden Tage, dem ersten Weihnachtsfeiertage, bekam keiner der Hausgenossen den neuen Einwohner zu sehen. Mittags freilich erschien der Wachtmeister in seiner Speisewirthschaft, sputete sich aber mehr als gewöhnlich, obwohl der festtägliche Küchenzettel zu längerem Verweilen einlud, und ließ sich dann in der Küche eine mitgebrachte Schüssel mit Suppe und Fleischabfällen anfüllen, »für einen kranken Hund«. Derselbe schien aber in der Genesung starke Fortschritte zu machen. Denn als am Nachmittag die Frau Weber von ihrem Weihnachtsschmause in der Lilienstraße zurückkehrte und bei ihrem alten Freunde anklopfte, sich nach dem Befinden des Patienten zu erkundigen, sprang dieser ihr mit Bellen entgegen, etwas schwankend noch auf den erfrorenen Pfoten, übrigens ohne die hippokratische Miene von gestern, mit wohlgekämmtem Fell und glattfrisirtem Haupt, und leckte in dankbarer Erinnerung an die gestern bewiesene Mildthätigkeit seiner noch immer etwas unwirschen Gönnerin die Hand. Sie wolle Strubbs jetzt zu sich nehmen, wenn der Herr Wachtmeister einen Spaziergang machen möchte. – Aber davon wollte dieser nichts wissen. Er sei ganz guter Dinge hier oben und langweile sich durchaus nicht.

Mit einem stillen Seufzer empfahl sich endlich die wackere Frau, nachdem er ihr versprochen hatte, morgen Nachmittag zum Kaffee zu ihr zu kommen. Das Brautpaar werde da sein, und natürlich könne er Strubbs mitbringen. Pünkt [63]lich um 3 Uhr. Sie hätte von ihrer künftigen Schwiegertochter einen großen Napfkuchen zum Präsent bekommen.

Als der Nachmittag des zweiten Feiertags erschienen war und der so freundlich Eingeladene sich und seinen kleinen Kameraden »proper« gemacht hatte, nahm er das Hündchen auf den Arm, um ihm das beschwerliche Treppenhinabrutschen zu ersparen, und verließ sein Zimmer, das ihm jetzt erst traulich und wohnlich geworden war. Da stockte plötzlich sein Fuß auf der untersten Stufe, dicht vor der Thür seiner alten Freundin. Denn im nämlichen Augenblick erschien auf dem Flur des dritten Stockwerks eine nur zu wohlbekannte weibliche Gestalt von mittlerer Größe, zierlich angethan in einem warmen modischen Wintermäntelchen, einen Hut mit blauen Sammetblumen auf dem blonden Haupt, die kleinen Hände in einen braunen Muff vergraben. Die eine derselben fuhr eilig heraus, als der Treppenabsatz erreicht war, schlug den silbergrauen Schleier zurück und streckte sich dem Entgegenkommenden dar, der wie zur Salzsäule erstarrt keinen Schritt vorwärts bewegte.

Guten Abend, Herr Wachtmeister, erklang eine weiche Stimme aus dem runden Hütchen hervor. Ich freue mich, Sie einmal wiederzusehen und, wie es scheint, in bestem Wohlsein. Ich glaube, wir gehen Einen Gang.

Sie irren sich, Madame, kam es aus dem martialischen Schnurrbart hervor. Ich bin nur eben – ich wollte mir nur ein bischen die Füße vertreten –

[64] So? Da haben Sie Recht, Herr Wachtmeister. 's ist gerade noch recht lebhaft auf den Straßen, genießen Sie das letzte bischen Weihnachtssonnenschein, Sie bringen dann einen besseren Appetit mit für den Kaffee der Frau Weber. Schade, daß ich gestern nicht die Ehre haben konnte – aber ich habe schon gehört, Sie haben ein Pflegekind bekommen, das konnten Sie nicht im Stich lassen. Na, ein andermal, nicht wahr? Aber lassen Sie doch einmal sehen – das ist ja ein ganz reizendes Thier, und gutartig scheint er auch zu sein –

Sie streckte bei diesem Wort die Hand in dem wollenen Handschuh nach dem Hunde aus, in der Absicht, ihm sanft den Rücken zu krauen. Sofort erhob Strubbs ein heftiges Bellen, und das Schöpfchen an seinem Vorhaupt sträubte sich drohend.

Nee, sagte sein Herr, indem er ihm beruhigend den Hals klopfte, sparen Sie die Mühe, Madame. Er kann das Cajoliren und Schönthun nicht leiden, er wittert immer gleich Absichten, und wenn er Katzenpfötchen sieht, wird er wild. Uebrigens reizend ist er auch nicht grade, wie Sie zu äußern die Güte hatten. Die Schönheit drückt ihn wahrhaftig nicht, aber ein forscher Hund ist er und treu wie Gold, und das, Madame, ist für Menschen und Thiere die Hauptsache. Meine Selige hat ihn mir am Heiligabend beschert, nun werden wir uns das Leben miteinander so angenehm wie möglich machen, wenn's auch nicht oft Gänsebraten giebt, und heute machen [65] wir unsre erste Promenade, bloß die Treppe hinunter trag' ich ihn noch, weil er schwach auf den Beinen ist, hernach muß er laufen. Wann er genug haben wird, weiß ich nicht. Darum bestellen Sie, wenn ich bitten darf, ein schönes Compliment an Madame Weber, und sie möchte uns entschuldigen, wenn wir nicht zu ihrem Kaffee kämen. Ich wüßte ja, sie hätt's auf ihre Manier recht gut gemeint, aber straf' mich Gott, es ginge nicht, alte Verpflichtungen gingen vor, sie sollte sich weiter keine Mühe geben – sie wird schon wissen, was ich damit meine. Und jetzt empfehl' ich mich Ihnen, Madame. Vergnügte Feiertage!

Er faßte militärisch mit drei Fingern der rechten Hand an die Mütze, drückte mit der linken dem noch immer kläffenden Hündchen sanft die Schnauze zu und schritt ruhig an der sehr betroffen zu Boden blickenden hübschen Frau vorbei die Treppe hinab. – –

In die Lilienstraße hat er seit diesem Tag keinen Fuß mehr gesetzt.

Endvignette

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