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Ein Familienhaus.

(1910)

 

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Aus dem Zuge, der am Nachmittag von Süden her in Kissingen anlangte, stieg ein älterer Herr, der sich sogleich nach einem Wagen umsah und dem Kutscher das Haus nannte, wohin er gefahren sein wollte. Dieselbe Adresse gab er auch einem Kofferträger, dem er anbefahl, von den drei Koffern nur den kleinsten ihm nachzubringen, die beiden andern sehr schweren aber im Depot zu lassen. Dann stieg er ein, stellte seine Handtasche neben sich, und der leichte Wagen rollte in die Stadt hinein.

Kissingen ist, wie man weiß, einer der anmutigsten Badeorte im Deutschen Reich, am Fuß mäßiger Waldberge hingelagert, von der hellen Saale durchströmt und seiner verschiedenen Heilquellen wegen im Sommer von einem bunten Völkergemisch belebt. Zumal an einem sonnenklaren Junitage macht die Einfahrt in die sauberen, breiten Straßen, die für den Empfang der Fremden sich mit blanken Spiegelscheiben herausgeputzt haben, einen gar anheimelnden Eindruck, obwohl sie keine besonderen Ansprüche auf architektonische Reize erheben können.

Auch der Herr, der eben angekommen war, ließ mit offenbarem Wohlgefallen seine Augen nach allen Seiten herumgehen. Doch lag in seinem Blick nicht der Ausdruck des neugierigen Vergnügens, mit dem man einen erfreulichen Anblick zum erstenmal begrüßt. Vielmehr leuchtete darin die warme Freude, wie man sie beim Wiedersehen eines lieben alten Bekannten empfindet, dessen gutes Gesicht sich wohl konserviert hat.

Er selbst hatte sich in den zehn Jahren, seit er zuerst hier gewesen, nur wenig verändert. Nur sein buschiges Haar, das ein kleiner Strohhut bedeckte, war grau geworden, die dichten Brauen aber über den lebhaften braunen Augen waren noch so schwarz wie damals, und das feine, glattrasierte Gesicht zeigte keine Spur frühzeitigen Welkens oder einer Krankheit, für die er in den hiesigen Quellen Heilung gesucht hätte. Er mochte nahe an sechzig sein, war aber ausgesucht sorgfältig gekleidet, in einem dunkelblauen Rock von leichtem Stoff und einer weißen Weste, die keine Spur der langen, staubigen Eisenbahnfahrt trug.

Der Wagen bog, als er den Kuranlagen sich näherte, die mit ihren Kolonnaden und Trinkhallen nur von Fußgängern betreten werden, nach rechts ab und rollte bald über die Brücke unter der der schmale Fluß ohne Eile dahinfließt, dann lenkte er wieder nach links und hielt endlich am Fuß des Altenbergs, vor dem Eingang zu einem tief verschatteten Garten, aus dessen Hintergrunde ein langgestrecktes einstöckiges Haus hervorsah.

Die Hausfrau und ein langer Bursch in einer Leinwandjacke empfingen den Fremden, als er ausstieg, die Dame mit lebhafter Freundlichkeit, der Diener mit einem stillen Grinsen, in dem die dankbare Erinnerung an gute Trinkgelder sich erkennen ließ. Ihr Zimmer, Herr Konsul, ist bereit, sagte die Wirtin. Es ist mir eine besondere Freude, daß ich wieder die Ehre haben soll, den Herrn Konsul zu beherbergen. Trag die Handtasche hinauf, Martin, und spute dich dann, das Gepäck des Herrn Konsuls von der Bahn zu holen.

Das sei schon besorgt, sagte der Fremde, der der Frau herzlich die Hand schüttelte. Ich freue mich, liebe Frau G., Sie wiederzusehen und so frisch und wohl, als hätte ich Sie gestern verlassen, obwohl Sie, seit Ihre Tochter sich verheiratet hat, die ganze Last allein tragen müssen. Auch das liebe Kissingen ist das alte geblieben, nur die große Fichte vor meinem Balkon hat sich noch ansehnlich in die Höhe gestreckt. Aber Sie wissen, ich liebe den Schatten in meinem Zimmer, wenn durch die Zweige nur noch ein paar Sonnenstrahlen hindurchdringen. Und Ihr Faktotum, der Martin, ist auch noch da und scheint wahrhaftig auch noch gewachsen zu sein. Guten Tag, Martin! (Er bot ihm die Hand.) Es ist recht, daß Ihr dem Hause treu geblieben seid.

Er schüttelte lächelnd den Kopf, als die Frau ihn fragte, ob sie ihm Kaffee hinaufschicken solle, sie habe auch von der Sorte, die er damals getrunken. Keinen Eichelkaffee mehr, liebe Frau! Ich komme diesmal nicht als Patient, sondern nur, um den Ort wiederzusehen, dem ich meine Wiederherstellung verdanke. Übrigens habe ich schon im Speisewagen meinen Kaffee getrunken und bedarf nichts mehr als frisches Wasser, dann will ich mich gleich draußen ein wenig umsehen.

Er fand in seinem geräumigen Zimmer, am Ende des oberen Stocks, jedes Möbel und sonstige Gerät noch am alten Ort, ein schöner Blumenstrauß stand auf dem Tisch, als er auf den Balkon hinaustrat, drang ihm aus den dunklen Zweigen die Stimme einer Amsel entgegen, gerade wie sie ihm vor zehn Jahren täglich geklungen hatte. Die Augen wurden ihm feucht. Er atmete tief auf. Endlich wieder daheim! sagte er leise vor sich hin.

*

Bald darauf verließ er das Haus und ging über das Sträßchen hinüber nach den Waldwegen des Altenbergs, die ihm so wohlbekannt waren. Doch auch das grüne Laubdach, das ihn empfing, war hochwipfliger geworden, als vor zehn Jahren, und hier fand er sich hin und wieder nicht zurecht. Er setzte sich auf eine Bank und genoß den tiefen Frieden dieser Waldeinsamkeit, die selten von einem Spaziergänger gestört wurde. Alle Kurgäste waren zu dieser Stunde drüben im Kurgarten versammelt und lauschten der Musik, die aus dem Pavillon weit hinüberklang. Eichkätzchen schwangen sich in den Ästen über ihm, die Sonne verbreitete ein goldnes Zwielicht unter den dichten Zweigen, der fremde Ankömmling saß in tiefes Träumen versunken und zeichnete mit seinem Stock Figuren auf den Weg, die er aufstehend wieder vermischte.

Er spürte nun doch ein Verlangen nach Speise und Trank, und als er die Höhe des Bergwaldes erreicht hatte, wandte er sich nach rechts, wo ein Weg nach einem Restaurant am freien Rande des Altenbergs führte, das er in guter Erinnerung hatte. Hier lag das sogenannte Schweizerhäuschen, eine Reihe von offenen Sälchen, vor denen eine Gartenanlage mit Tischen und Stühlen sich ausbreitete. Wie oft hatte er hier gesessen und bei seinem Glase Bier in die rötlich überhauchte Abendlandschaft hinausgeblickt!

Heute war die Stätte noch leer, zu dieser frühen Stunde saß nur hier und da ein einzelner Gast an einem der gedeckten Tische. Doch aus dem kleinen Hause, worin die Küche lag, trat eben eine große, schlanke Frau, die einer Kellnerin eine Weisung gab. Er erkannte sofort die liebenswürdige Wirtin, mit der er gute Freundschaft gehalten hatte, und auch sie stutzte nur einen Augenblick, dann trat sie rasch auf ihn zu und bewillkommte ihn mit herzlicher Freude, setzte sich zu ihm, fragte, wie es ihm all die Jahre ergangen, erzählte von ihrem Leben, das noch geschäftiger geworden war, seitdem sie das Hotel hinter dem Schweizerhäuschen erbaut hatten, und rief dann ihre Kinder herbei, zwei schönäugige, kleine Mädchen von zehn und acht Jahren und einen muntern Buben, die der Mutter ähnlich waren und den Freund des Hauses zutraulich begrüßten.

Nachdem er sich eine Stunde hier aufgehalten und seinen Hunger gestillt hatte, nahm er, da der Garten sich nun mit Gästen zu füllen begann, Abschied, mit dem Versprechen, bald wiederzukommen. Wie lange er hier bleiben würde, wisse er noch nicht. Er sei jetzt aus dem Amt getreten und wie der Vogel auf dem Zweig. Sein Ziel aber sei die Stadt, in der er geboren worden. Nach der habe er endlich ein Heimweh gefühlt, da er ihr vierundzwanzig Jahre fern geblieben.

Dann ging er langsam den steilen Weg hinab, der ihn in gerader Richtung zu seinem Quartier zurückführte. In seinem Zimmer war's schon ganz dunkel. Er zündete aber die Lampe nicht an, sondern stellte einen Stuhl auf den Balkon hinaus, auf dem er sich müde niederließ Denn er spürte doch schon seine Jahre und hatte einen langen Reisetag hinter sich. Nun aber, da er rauchend in der Abendkühle saß und die Stille ringsum genoß, überkam ihn eine große Ruhe, wie einen Schiffer, der sich nach langer, wechselvoller Fahrt im Hafen sieht.

Seine Eltern hatte er verloren, als er eben zur Universität abgegangen war. Doch das Vermögen, das sie ihm hinterlassen, war so ansehnlich, daß er sich nicht genötigt sah, ein Brotstudium zu ergreifen. Es zog ihn zu den Naturwissenschaften, besonders Botanik und Mineralogie, und nachdem er an verschiedenen Universitäten studiert hatte, ging er auf Reisen. Daß ihn außer den unbeseelten Gebilden und Gewächsen der Erde auch die Menschen, die auf ihr wandelten, interessiert hatten, unter den letzteren auch die Frauen, bedarf kaum einer ausdrücklichen Versicherung. Auch war er ein hübscher junger Mensch, dem es nicht an leichten Erfolgen bei dem schönen Geschlecht fehlen konnte, zumal er eine sanfte Stimme hatte und den ruhig eindringenden Blick des Naturforschers, der auf weiblicher Anmut weilte wie auf einer seltenen Blume oder einem glänzenden Mineral, was die Damen stets für eine stille Huldigung nahmen. Doch sein Herz wurde nur selten durch dies gleichsam wissenschaftliche Interesse berührt, und außer ein paar flüchtigen Abenteuern hatte er sich von allen leidenschaftlichen Fesseln freigehalten, als er im dreißigsten Jahre sich als Privatdozent in einer mitteldeutschen Universitätsstadt niederließ.

Hier war er nun die nächsten Jahre fast ausschließlich damit beschäftigt, die Früchte seiner Reisen zu ordnen und in einem Buche niederzulegen, das ihm den gebührenden Rang in der wissenschaftlichen Welt eintragen sollte. Da ereignete sich's, als er in den Herbstferien einmal seine Vaterstadt wieder besuchte, obwohl er nur wenige Jugendbekannte dort noch finden konnte, daß er sich in ein schönes Gesicht aus einem ihm ganz fremden Hause vergaffte und zum erstenmal etwas empfand, das ihn wie ein Lebensschicksal im Innersten erschütterte.

Als er nach langem Kampf erkennen mußte, daß das überschwengliche Glück, das ihm hier zu winken schien, da auch das Mädchen ihm ebenso innig zugetan war, am Widerstand der Eltern eine unüberwindliche Schranke fand – die streng katholische Mutter war nicht zu bewegen, ihr einziges Kind einem Protestanten zu geben –, entschloß er sich in tiefem Schmerz, allen Glücksträumen für immer zu entsagen und im Verkehr mit der Natur seinem verödeten Dasein noch Wert und Reiz abzugewinnen.

Doch nach Hause zurückgekehrt, empfand er, daß es ihm unmöglich war, die unterbrochene Arbeit an seinem Buch wieder aufzunehmen. Auch eine Krankheit, in die er verfiel, trug dazu bei, ihm seine einsame Studierstube verhaßt zu machen und ihn zu einer Luftveränderung zu bestimmen. So ging er zum zweitenmal auf Reisen, diesmal in weite Fernen, nach Indien, China und Japan, nicht mehr ein fröhlicher Wanderer, wie das erste Mal, da er die fremde Welt mit jungen Erobereraugen betrachtet hatte, doch von Jahr zu Jahr stiller in seinem Gemüte und dankbar für den wachsenden Reichtum an Kenntnissen und die Vertiefung seiner geistigen Natur.

Endlich des Umtriebs müde geworden und nach Europa zurückgekehrt, doch in Sorge, ob er das rauhere deutsche Klima nach der langen Entwöhnung noch ertragen könne, machte er an der Riviera halt und ließ sich, da ein unterwegs gewonnener Freund ihn dazu beredete, in Nizza nieder, vorläufig ohne eine äußere Tätigkeit. Nach einiger Zeit aber wurde eine solche ihm Bedürfnis, und da ihm auf die Verwendung einflußreicher Bekannter die Stelle als deutscher Konsul angeboten wurde, besann er sich nicht, sie anzunehmen.

Das war vor etwa sechzehn Jahren geschehen, während deren er seine neue Heimat nur bei kleineren Ausflügen nach Spanien und Italien verlassen hatte, ein einziges Mal nach Deutschland, da ihm sein Arzt eine Badekur in Kissingen verordnet hatte. In der letzten Zeit aber hatte er schmerzliche Verluste durch den Tod seiner nächsten und vertrautesten Freunde erlebt, und plötzlich war ihm ein Heimweh gekommen nach deutschen Bergen und Tälern, deutschen Gesichtern und deutscher Sprache, obwohl er auf seinem heimatlichen Boden keine nahen Verwandten und Freunde seiner Jugend mehr zu finden hoffen konnte und denen, die ihm etwa noch begegnen würden, entfremdet war. Durch Briefe war er während seiner Weltreisen mit ihnen nicht im Zusammenhang geblieben, deutsche Zeitungen zu lesen hatte er vermieden, und auch über das fernere Schicksal des Mädchens, das er geliebt, war keine Nachricht zu ihm gedrungen.

Nun saß er auf seinem dunkeln Balken gegenüber der hochaufragenden Fichte und befand sich in einer seltsamen Stimmung, hinter ihm ein abgetanes Leben und vor ihm eine Zukunft, in der keine deutliche Gestalt, weder Wünsche noch Sorgen vor ihm auftauchten. Doch in dieser gleichsam neutralen Mitte zwischen zwei Existenzen fühlte er sich von einem tiefen Frieden erfüllt, behaglich wie der Zuschauer im Theater, der den geschäftigen Tag mit all seiner Mühsal hinter sich hat und nun vor dem herabgelassenen Vorhang sitzt, der Dinge harrend, die da kommen sollen.

*

Als er am andern Morgen aufwachte, war diese freundliche Stimmung noch in ihm lebendig. Sie wurde noch erhöht, als der lange Martin ihm das Frühstück brachte und auf die Fragen des Herrn Konsul treuherzig Bescheid gab, erzählte, daß er inzwischen geheiratet habe und sein ältester Junge schon in die Schule gehe. Sein französischer Diener in Nizza hatte ihn nie mit Familienangelegenheiten unterhalten, da er ein windiger Patron war, den sein Herr nur darum behielt, weil er wußte, daß er schwerlich etwas Besseres finden würde.

Der kleine Koffer war gestern abend noch gebracht worden. Die großen nachkommen zu lassen, fiel dem Besitzer nicht ein, sie enthielten allerlei, was ihm nur bei längerem Aufenthalt unentbehrlich war, alles übrige, seine Bibliothek und die naturhistorischen Sammlungen, war in Nizza zurückgeblieben und sollte erst nachgeschickt werden, wenn er darüber im klaren wäre, wo er seinen dauernden Wohnsitz aufschlagen würde.

So entnahm er dem Kofferchen einen leichteren Sommeranzug und rüstete sich zum ersten Morgenausgang. Als er die Treppe hinuntergestiegen war, sah er ein junges Mädchen aus einem Zimmer des Erdgeschosses heraustreten, gefolgt von einer älteren Person in der Kleidung einer Dienerin. Er stutzte bei ihrem Anblick. Etwas in diesem zarten Gesicht, das ein Zug stillen Leidens noch anziehender machte, erinnerte ihn an ein Wesen, das er seit Jahren zu vergessen gesucht hatte, ohne daß es ihm gelingen wollte. Auch die leise Bewegung des blonden Kopfes, mit der das Fräulein seinen höflichen Gruß erwiderte, als sie an ihm vorüberging, ihr Gang mit kleinen Schritten und selbst die Stimme – sie sagte ihrer Begleiterin ein paar leise Worte –, war das nur eine Täuschung seiner Phantasie, die durch die heimatliche Umgebung erregt ihm alte Bilder vorspiegelte?

Er glaubte es selbst, da die Züge des jungen Gesichts mit denen, die er in der Erinnerung trug, doch nicht übereinstimmten. Auch an der kleinen Tafel, an der die Namen der Hausbewohner verzeichnet waren, las er hinter der Nummer des Zimmers, aus dem die beiden getreten waren, einen ihm ganz fremden Namen: Fräulein Erna Flamm mit Bedienung. Vor seinem, den er ausdrücklich nur als Doktor Firmian eingeschrieben hatte, stand doch wieder der »Konsul«, von dem er nicht weiter Gebrauch zu machen gedachte. Die Wirtin hatte nicht verschweigen wollen, welch angesehenen Gast ihr Haus beherbergte.

Nachdenklich ging er nun hinaus und wandte sich zunächst nach dem Kurgarten, wo er sich an dem Gewimmel um die Brunnenhalle eine Weile ergötzte und die Kostüme der Damen studierte, Vergleiche anstellend mit denen der Französinnen an der Riviera, die nicht immer zum Vorteil der deutschen Damen in ihren Morgentoiletten ausfielen. Seiner jungen Hausgenossin ward er nicht wieder ansichtig. Vom Rakoczy ließ er sich nur einen halben Becher füllen, trank ein wenig davon und goß den Rest als Spende für die Götter aus, in dem dankbaren Gefühl, daß er diesen Heiltrank nicht mehr nötig hatte. Dann verließ er das Gewühl und wandelte, nachdem er in die Verkaufsläden einen Blick geworfen, ins Freie, wo sich die schöne schattige Allee, dem Lauf des Flusses folgend, bis zur Saline hinaus erstreckt.

Hier wehte vom Wasser herauf eine etwas kühlere Luft, auch begegneten ihm nur wenige frühe Spaziergänger, und auch der kleine Dampfer, der zwischen den umbuschten Ufern langsam dahinfuhr, war nur von einer kleinen Schar von Kurgästen besetzt, die draußen ihre Bäder zu nehmen pflegten. All das wiederzusehen, erfreute dem einsam Wandelnden das Herz. Ihm war, als wären diese letzten zehn Jahre dahingegangen, ohne ihn älter zu machen, und er hätte mit dem Rakoczy einen Trunk aus dem Jungbrunnen getan.

Er war bis zur Hälfte des Weges gekommen, als er aus einem niedrigen Häuschen, über dessen Tür auf einem kleinen Schilde das Wort »Kurmilch« stand, die beiden Frauengestalten treten sah, die ihm schon vorher unten an der Treppe seines Quartiers den Weg gekreuzt hatten. Das Gesicht der Jüngeren war etwas frischer und blühender als vorhin, der Ausdruck aber noch ganz so schwermütig und verschlossen, so daß er seine erste Regung, das Fräulein ohne weiteres als Hausgenosse anzureden, unterdrückte und nur freundlich nickend den Hut zog. Sie erwiderte diesen Gruß, wie den ersten, mit einem Blick, der keine Neigung zu näherer Anknüpfung verriet, und beide schlugen unverweilt den Rückweg nach der Stadt wieder ein.

Während des ganzen übrigen Tages trat immer von Zeit zu Zeit das Bild des anmutigen Fräuleins vor ihn hin, obwohl er an einen Zusammenhang ihrer Erscheinung mit seinen Erinnerungen nicht mehr glaubte. Als er aber am Abend zum Schweizerhäuschen wieder hinaufstieg und sein erster Blick unter der Menge der hier im Freien Versammelten auf die beiden wohlbekannten Gesichter fiel, konnte er sich doch nicht des Gedankens erwehren, daß dies dreimalige Zusammentreffen etwas bedeuten möchte, dem er sich nicht entziehen sollte.

Da kaum noch ein Tisch frei war, näherte er sich dem, an dem das Fräulein mit ihrer Dienerin saß, und fragte, ob sie ihm gestatten wolle, sich zu ihnen zu setzen. Dies wurde ihm durch ein stummes Kopfnicken gewährt, und er selbst war auch eine Weile diskret genug, keine weitere Unterhaltung anzuknüpfen. Erst als er sein mäßiges Abendessen eingenommen hatte, während das Fräulein ihre Milch und die schweigsame Begleiterin ihr Glas Bier vor sich stehen hatten, sagte er, er werde sich nun wohl verabschieden müssen, da er, wenn er seine Zigarre rauche, sie zu belästigen fürchte.

Rauchen Sie nur, erwiderte das Fräulein. Hier im Freien macht es mir nichts, und alle andern Plätze sind besetzt.

Er dankte und zog seine Zigarrentasche heraus, die er aus dem Orient mitgebracht hatte, und als die Dienerin sie offenbar bewunderte, reichte er sie ihr hin und erzählte, wo er sie gekauft hatte. Hieran knüpfte sich ein kleines Gespräch, da die Alte, die übrigens einige Bildung verriet, ein paar naive Fragen tat, während Fräulein Erna Flamm nur dann und wann ein Wort dazugab.

Wir sind ja Hausgenossen, mein Fräulein, sagte endlich der Konsul. Ich hoffe, Sie werden unter unserm Dach ebenso rasch und vollständig Ihre Gesundheit wieder erlangen, wie ich vor zehn Jahren. Ihre Milchkur, die Sie ja schon am Morgen beginnen, wie ich gesehen habe, und die herrlichen Bäder werden wohl nur zur Unterstützung Ihrer Natur zu dienen haben, die in solcher Jugend bei der nötigen Ruhe und Pflege sich am besten selbst zu helfen pflegt.

Das Gesicht des Mädchens überflog eine leichte Röte.

Es wird doch nicht so leicht sein, wie Sie denken, sagte sie. Ich habe ein Herzleiden, das der Arzt ziemlich ernst nimmt. Er hat mich an einen befreundeten Kollegen hier in Kissingen empfohlen, der Spezialist ist, der gibt die beste Hoffnung, doch urteilt er freilich nur nach den äußeren Symptomen und kennt meine Verhältnisse nicht.

Die Wirtin des Schweizerhäuschens, die einen Rundgang bei den Gästen machte, um überall nach dem Rechten zu sehen, trat jetzt an den Tisch der drei Hausgenossen heran, begrüßte sie und erkundigte sich freundlich nach dem Befinden des Fräuleins.

Ich habe mir abgewöhnt, zu klagen, war die Antwort. Übrigens ist es so schön hier, daß sich alles leichter ertragen läßt. Aber es wird kühl, wir müssen nach Hause. Komm Christine, und gute Nacht, liebe Frau!

Sie grüßte auch den Konsul mit einem Neigen des Kopfes, und die beiden machten sich auf den Heimweg.

Die Wirtin setzte sich zu dem Konsul.

Das arme liebe Fräulein, sagte sie, den Fortgehenden nachblickend, sie dauert mich so! Sie ist nun schon vierzehn Tage hier, doch ihr Zustand ist noch immer der gleiche. Es scheint, daß ein Herzenskummer mit im Spiel ist, doch habe ich nicht gewagt, darauf hinzudeuten. Sie ist die Tochter einer Dame in L..., der Witwe eines Bankdirektors, der aber die Seinigen nicht in glänzenden Verhältnissen zurückgelassen zu haben scheint. Die Tochter, wie ich von einem Bekannten hörte, gibt Klavierunterricht, vielleicht hat sie sich dadurch übermäßig angestrengt und die Herzschwäche sich zugezogen. Nun aber ist die Mutter selbst so leidend, daß sie ihre Tochter nicht hierher hat begleiten können. Vielleicht gelingt es Ihnen, ihr Vertrauen zu gewinnen, oder Einfluß auf ihren Gemütszustand. Jeder, der sie sieht, muß wünschen, daß ihr geholfen werde.

*

Das zu vermögen hätte nun auch den menschenfreundlichen alten Herrn sehr gefreut. Doch schien dazu keine Aussicht zu sein. Das in sich verschlossene Fräulein wich jeder Gelegenheit, mit ihm wieder ins Gespräch zu kommen, mit sichtbarer Beharrlichkeit aus, und so vergingen drei Tage, in denen er ihr schwarzes Hütchen und das blonde Gesicht darunter nur von weitem auftauchen und sofort wieder verschwinden sah. Am Sonntagmorgen, als er sie mit ihrer Dienerin aus der katholischen Kirche kommen sah, konnte sie es nicht vermeiden, an ihm vorüberzugehen. Doch hatte sie in Mund und Augen einen so weltabgekehrten Ausdruck, wie wenn ihre Seele noch in ihre Andacht versenkt wäre, daß er es für ungehörig hielt, sie durch eine Anrede zu stören.

Doch an demselben Tage gegen Abend traf er sie wieder. Er war den Bergwald hinangestiegen, bis zum sogenannten Juliusturm auf der letzten Höhe. Da er des Steigens entwöhnt war, hatte der Gang ihn ermüdet Er ruhte daher eine Weile auf einer der Bänke droben, sich an dem Blick in die Gegend drunten weidend, bis er sich zum Rückweg aufmachte. Dabei geriet er in einen der Seitenpfade, auf denen ihm von den Badegästen, die nach dem Aussichtspunkte strebten, niemand begegnete. Auf einer einsamen Bank aber fand er, in ein Buch vertieft, das Fräulein, das ihm hier nicht ausweichen konnte.

Sie war ohne ihre Begleiterin und überhörte seine Schritte, bis er dicht vor ihr stand. Da sah sie mit einem leichten Erschrecken auf und zog ihr dünnes Tuch fester um ihre Schultern, als wollte sie sich darin gegen einen Angriff verschanzen.

Er aber schien diese Gebärde nicht so zu deuten, sondern sagte ganz unbefangen: Sie müssen mir schon ein Plätzchen auf Ihrer Bank gönnen, verehrtes Fräulein. Ich habe mich müde gegangen und muß einen Augenblick ruhen. Doch werde ich Sie nicht lange stören.

Dann, als er sich gesetzt hatte: Es ist so schön still hier, man vergißt ganz, daß man in der Nachbarschaft eines so übervölkerten Badeortes sitzt. Recht ein Platz, um sich in ein Buch zu vertiefen und seinen Gedanken darüber nachzuhängen. Was Sie aber lesen, scheint keine gewöhnliche Damenlektüre zu sein, kein Roman. Ein so großes Format und so ernsthafter Einband lassen auf ein wissenschaftliches Werk schließen. Darf ich wissen, was es ist?

Eine Geschichte der Reformation, sagte sie einfach und reichte ihm das Buch, dessen Titel er aufmerksam las. Dann gab er es ihr zurück.

Ich kenne es nicht, habe es aber rühmen hören. Es soll gründlich, aber zugleich populär sein. Was mich aber wundert – verzeihen Sie mir das offenherzige Geständnis – ich sah Sie heut früh aus der Messe kommen, und nun finde ich Sie hier mit einem protestantischen Buch, am heiligen Sonntag, eine Katholikin – denn das sind Sie doch gewiß?

Sie nickte, leicht errötend.

Es ist doch wohl keine Sünde, ein Geschichtsbuch zu lesen, auch wenn es ein Andersgläubiger geschrieben hat. Das Buch hat mir jemand geliehen, der nicht von meiner Konfession ist. Wir sprachen von dem, was uns trennt, ich wußte von dem Stifter der Reformation nicht mehr, als was ich in der Schule von ihm erfahren hatte, das war gehässig und verdammte ihn ohne jede Schonung. Er war ja der Feind unserer Kirche, und gegen Feinde glaubt man nicht gerecht sein zu müssen. Da wünschte der, mit dem ich stritt, mir eine bessere Meinung beizubringen und gab mir das Buch.

Und – hat er seinen Zweck erreicht?

Sie besann sich einen Augenblick.

In bezug auf Luthers Person allerdings, sagte sie. Zwar kann ich es ihm noch immer nicht verzeihen, daß er sich gegen die Autorität der Kirche aufgelehnt, so viele Seelen ihr abtrünnig gemacht und den traurigen Riß in die Welt gebracht hat. Aber an seinem redlichen frommen Charakter, seiner unerschütterlichen Überzeugung, daß sein Werk ihm von Gott befohlen worden sei, kann ich nicht mehr zweifeln. Nur dies Werk selbst – wieviel Sünde und Unheil hat es in die Welt es gebracht! Kann eine Glaubenslehre sich für heilig und von Gott eingesetzt ausgeben, die durch einen Greuel befleckt worden, wie die Verbrennung Servets durch Kalvin, eine himmelschreiende Missetat, und das Entsetzlichste dabei, daß selbst ein Melanchthon, der stets wegen seiner milden Frömmigkeit gerühmt wurde, diesen Frevel im Namen der Religion gutheißen konnte?

Sie hatte sich so in Eifer geredet, daß ihre Wangen glühten und ihre blauen Augen in einem dunkeln Glanz leuchteten

Mein teures Fräulein, sagte er nach einem kurzen Schweigen, Sie berühren da den wundesten Punkt in der Geschichte nicht nur der Reformation, sondern des Christentums überhaupt. Sehen Sie, das ist ja eben das Traurigste und Wundersamste, was die Weltgeschichte uns als Rätsel darbietet, daß gerade die Religion, die das Evangelium der Liebe den Menschen gebracht hat, einen Haß und eine tödliche Feindschaft unter ihnen stiften sollte, von denen in keiner anderen Religion, mag sie noch so roh und fanatisch sein, etwas Ähnliches zu finden ist. Und freilich ist es auch wieder kein Wunder, und für das Rätsel findet sich leicht eine Lösung. Denn in keiner andern Religion haben die Priester eine ähnliche Herrschsucht entwickelt, in keiner die Theologie mit hochmütigem Anspruch auf den Alleinbesitz der Wahrheit den schlichten Glauben so tief verfälscht und durch erbitterten Kampf der widerstreitenden Lehrmeinungen eine solche Entzweiung der Menschen hervorgerufen. Das gilt aber in gleichem Maße für beide Konfessionen, nur daß die katholische Kirche, da sie über größere Machtmittel gebot, die Opfer ihrer Ketzergerichte mit größerer Grausamkeit zu Tode brachte und ihre Inquisition dem einen Scheiterhaufen des unglücklichen Servet Tausende von Autodafés gegenüberstellte.

Es war eine Weile still zwischen den beiden auf der Waldbank. Dann sagte das Fräulein mit etwas schüchternem Ton der Stimme: Sie sind Protestant, Herr Konsul?

Nein, liebes Fräulein.

Also Katholik?

Ebensowenig.

Dann aber – sind Sie doch wenigstens Christ, wenn auch »konfessionslos«?

Sie müssen mich nicht mißverstehen, wenn ich sage, daß ich an Christus glaube als an die höchste Verkörperung edler reiner Menschlichkeit und den Verkünder der Heilsbotschaft der Liebe. Was die Lehre von Gott und der Erlösung durch den Tod seines Sohnes betrifft, wie sie in dem Neuen Testament überliefert ist – aber darüber muß ich mich etwas näher erklären – wenn Sie Ansichten, die Ihnen sehr fremd erscheinen werden, überhaupt anhören mögen.

Oh, machte sie, alles, was meinen armen suchenden und nach Wahrheit schmachtenden Verstand erleuchten kann, ist mir eine Wohltat. Halten Sie mich nicht für ein engherziges, auf sein alleinseligmachendes Kredo pochendes Geschöpf. Vielmehr, wenn Sie wüßten, wie sehr ich – –

Sie brach ab. Er ließ ihre rätselhafte Andeutung fallen und sagte: Nun denn, ich muß Ihnen eine Schwäche meiner geistigen Anlage gestehen: es ist mir unmöglich, ein Wort nachzusprechen, mit dem ich keinen Sinn verbinden kann. Was glauben heißt, etwas als wahr und wirklich anerkennen, was meiner Vernunft widerspricht und für mich keine begreifliche Vorstellung ist – das habe ich nie begriffen. Auch nicht, wenn man mir gesagt hat, das Heil meiner Seele hänge daran. So zum Beispiel, um nur eins anzuführen, das Dogma von der Trinität, das auch dem armen Servet bei dem redlichsten Willen widerstrebte. Drei Personen, die doch eine sein sollen – um das zu verstehen, bin ich zu wenig mystisch veranlagt. Und so geht es mir mit den meisten andern Glaubenssätzen, die unverstandene, unverständliche Worte für mich bleiben, nicht zum wenigsten der gute Rat, man müsse, wenn man den Glauben nicht in sich fühle, um die Gnade bitten, ihn zu erlangen. Zumal für einen Menschen, der sich von früh an bei seinem Studium der Natur überzeugt hat, daß das Weltall im Größten wie im Kleinsten von unwandelbaren Gesetzen beherrscht wird, wie soll der sich einbilden, durch einen frommen Wunsch, dessen Wünschbarkeit ihm nicht einmal einleuchtet, in seinem innersten Wesen verwandelt zu werden? Aus einem Vernunftwesen in einen Träumer, dem sich alle Grenzen der Begriffe in einem schwärmerischen Gefühl, einer mystischen Stimmung verwischen? – Aber ich will davon aufhören. Nichts liegt mir ferner, als irgend jemand darin irre zu machen, daß der Weg, den er zu seinem Seelenfrieden eingeschlagen hat, der rechte sei. Nur damit Sie verstehen, weshalb ich zweifle, ob ich mich einen Christen nennen darf, da ich mich nur an das Sittliche der überlieferten Lehre halte, nicht an das Dogmatische darin, habe ich Ihnen das alles gesagt.

Sie saß unbeweglich und sah mit einem sehr ernsten, fast traurigen Blick vor sich hin. Es rührte ihn, wie er in dem lieblichen Gesicht den Ausdruck eines schweren Bemühens sah, sich in eine so fremde Gedankenwelt hineinzuversetzen.

Dann sagte sie endlich, stockend, doch wie wenn sie ein Argument gefunden hätte, das nicht zu widerlegen sei: Sie sprechen sich die Fähigkeit zu glauben ab. Aber können Sie das so unbedingt? Glauben Sie nicht an Gott?

Liebes Fräulein, versetzte er, Sie fragen wie Gretchen, doch Sie erinnern sich wohl auch, was Faust antwortete. Ich hätte Ihnen so ziemlich dieselbe Antwort zu geben, obwohl sie nur eine ausweichende ist. Denn sie spricht nur von einem »ewigen Geheimnis«, das den »Allumfasser, den Allerhalter« umgibt, den man nur im Gefühl erfassen kann, mit einem Namen, der nur Schall und Rauch ist. Je tiefer ich mich bei meinem Studium in die Natur versenkt habe, die immer und überall geheimnisvoll bleibt, desto klarer habe ich erkannt, daß ich den Geist, der durch das Weltall weht und die unendliche Fülle der Erscheinungen in sich faßt, wohl mit einem Namen nennen, mit diesem Namen aber nur den Begriff des Unbegreiflichen verbinden kann. Die Religionen aller Zeiten und Völker haben sich damit nicht beruhigt, sondern diesem Allwesen, da der endliche Verstand das Unendliche nicht zu denken vermag, eine Menge endlicher Eigenschaften beigelegt, die es über die menschliche Beschränktheit erheben und in allem vollkommener erscheinen lassen sollten. Darunter sind so widersprechende, wie Allgüte, Allgerechtigkeit, die kein frommes Bemühen mit den Drangsalen und Leiden der vernünftigen und unvernünftigen Kreaturen in Einklang bringen kann. Nun, und da hab' ich darauf verzichtet, das Welträtsel lösen zu wollen, und mir streng versagt, hinfort den Namen Gottes »unnützlich zu führen«. Es täte mir leid, wenn Sie dies Bekenntnis trostlos nennten. Denn das mögen Sie glauben, daß es dem Menschen an Trost nicht fehlt, der, weil sein innerstes Gefühl es ihm verbürgt, nie aufhört, an das Gute zu glauben und an die tägliche Erlösung vom Übel, wenn er, wie es auch im »Faust« heißt, »strebend sich bemüht«.

Ein feierlicher Glanz lag in seinen Augen, als er diese Worte sprach. Er stand auf, da er von unten her die Dienerin des Fräuleins herauskommen sah, die sich um ihre junge Herrin, da sie so lange ausblieb, Sorge gemacht hatte. Ich will Sie nun verlassen, sagte er freundlich. Ich fürchte fast, meine Ketzereien werden Sie noch im Schlaf stören, und kann nur wiederholen, daß jeder am besten weiß, was ihm not tut, und sich darin nicht soll irre machen lassen. Also gute Nacht, teures Fräulein, und bleiben Sie mir trotz alledem freundlich gesinnt!

Er bot ihr die Hand, die sie, ernst zu ihm aufblickend, ergriff. Dann ging er langsam den schon im Abenddämmer liegenden Waldweg hinunter.

*

Als er eine Strecke weit hinabgestiegen war und die Bank, auf der er gesessen, aus dem Gesicht verloren hatte, blieb er stehen, lüftete den Hut und fuhr sich über die Stirn.

Was hast du angerichtet, Franz Firmian! sagte er kopfschüttelnd vor sich hin – (er hatte sich in seinen langen Einsamkeiten, vor allem auf Reisen, angewöhnt, sich in Selbstgesprächen zu ergehen, und redete sich dann mit seinem vollen Namen an). Legst diesem fremden jungen Fräulein eine Generalbeichte über deine Gottes- und Weltanschauung ab, die der eifrigen Katholikin so unverständlich sein muß wie Chinesisch! Fehlte nur noch, daß du dich ihr als Agnostiker vorgestellt hättest, womit sie so wenig hätte anfangen können wie mit deinem Bekenntnis, nicht um etwas bitten zu können, dessen Wert du nicht einsiehst. Denn ein guter, fester Glaube ist ihr doch das Höchste, und wer ihn entbehrt, der Mitleidwürdigste. Und nun bekümmert sich das liebe Kind um deine verlorene Seele, zu allem, was das arme Herzchen sonst noch bedrücken mag. O Franz Firmian, bist du mit deinen sechzig Jahren noch nicht klüger geworden? Nun hast du dir den angenehmen Umgang mit diesem liebenswürdigen Mädchen verscherzt, denn gewiß wird sie dir jetzt ausweichen, wie einem Menschen, von dem man fürchtet angesteckt zu werden. Oder vielleicht versucht sie, dich zu deinem Heil bekehren zu wollen, das gibt dann wieder Debatten, die zu nichts führen. Warum hat mich auch die Neugier getrieben, mich zu erkundigen, was sie lese! Nein, ich muß mir eine Lehre daran nehmen. Nie wieder eine solche Torheit!

Er setzte dann seinen Gang fort und ging geradenwegs nach seinem Quartier, nicht wie an den früheren Abenden zum Schweizerhäuschen hinauf. Am Ende würde er dort Fräulein Erna Flamm wieder begegnen. In seinem Zimmer angelangt, ließ er sich etwas zu essen bringen, und als er damit fertig war, zündete er eine Zigarre an, und nahm den dicken Band von Montaignes Essays zur Hand, den er überall mit sich führte. Doch auch diesem werten Freunde, den er um seiner unerschütterlichen voraussetzungslosen Ruhe willen verehrte, gelang es nicht ganz, das unmutige Nachgefühl jenes Gesprächs in ihm zu ersticken.

Am andern Morgen überlegte er, daß es das beste sein würde, abzureisen. Was er hier gesucht, die alten Erinnerungen an eine Zeit der Genesung aufzufrischen, hatte er erreicht. Er mußte nun fortfahren, sich an andern Orten umzusehen, wo er Hütten bauen könnte, zunächst wohl versuchen, ob seine Vaterstadt ihm wieder heimisch werden möchte, trotz des Schicksals, das ihn daraus vertrieben.

Noch ein letztes Mal wollte er sich das Menschengewühl um die Trinkhallen ansehen, ein paar Stücke des Morgenkonzerts sich vorspielen lassen und einen Becher aus jener eiskalten Quelle trinken, die das sogenannte Maxwasser hervorsprudelt, und nach der er sich an manchem tropisch schwülen Tage in Indien und Japan gesehnt hatte.

Doch trieb ihn ein ausbrechender Gewitterregen bald in sein Zimmer zurück. Dort schrieb er ein paar Briefe, packte seinen Koffer und studierte das Kursbuch, aus dem er ersah, daß er vor dem Nachmittagszuge um ein Uhr nicht fortkommen konnte. So ergab er sich in sein Schicksal und griff wieder nach dem Montaigne, als ein leises Klopfen ihn aufblicken machte. Auf sein Herein! tat sich die Tür auf, und seine junge Hausgenossin trat etwas schüchtern grüßend herein.

Verzeihen Sie, Herr Konsul, sagte sie, daß ich bei Ihnen eindringe, ohne vorher anfragen zu lassen, ob Ihnen ein Besuch auch nicht unwillkommen wäre. Ich sehe, ich habe Sie im Lesen gestört und will mich rasch wieder zurückziehen

Er sprang auf und ging ihr freundlich entgegen.

Sie stören mich nicht im mindesten, mein verehrtes Fräulein. Ich lese nur, um über die nächsten müßigen Stunden hinwegzukommen, da ich gleich nach Tische abreisen werde. Es freut mich, Sie vorher noch einmal zu sehen und Abschied von Ihnen nehmen zu können.

Er führte sie zu dem kleinen Sofa und setzte sich selbst auf einen Stuhl ihr gegenüber. Es fiel ihm auf, daß ihr Gesicht leicht gerötet war und die Augen einen flackernden Glanz hatten, wie wenn sie fieberte. Doch fand er sie noch reizender als bei den früheren Begegnungen.

Ich fürchte, sagte er, Sie haben eine unruhige Nacht gehabt, und am Ende ist unser Gespräch schuld daran gewesen. Ich bedaure das sehr. Sie sollen ja jede Aufregung während der Kur vermeiden, und ein so schwieriges Thema, wie das, worüber wir miteinander verhandelt haben –

O Herr Konsul, unterbrach sie ihn, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, wenn unser Gespräch mich auch bis zum Morgen um den Schlaf gebracht hat. Alles, was Sie gesagt haben, hat mir zwar zu denken gegeben, aber ich war Ihnen nur um so dankbarer dafür, denn das Vertrauen, das ich gleich beim ersten Begegnen zu Ihnen gefaßt habe, ist dadurch nur bestärkt worden, obwohl der Inhalt dessen, was Sie sagten, mir nicht ganz verständlich war. Aber daß Ihnen das Höchste im Leben Güte und Liebe ist, daß Sie darin Ihre Religion sehen und die Seelenstärke besitzen, in Ihrem Gewissen Trost für alles Versagte zu finden, das hat mir einen tiefen Eindruck gemacht, mich irre gemacht in meinem bisherigen Glauben, es sei kein anderes Heil als in dem, was Gott uns durch seinen Sohn offenbart hat. Sie müssen nämlich wissen: ich bin in meiner Zuversicht zu dem, was man mir als alleinseligmachend vorgestellt hat, ohnehin schon ein wenig erschüttert worden, mein Gewissen, so redlich ich seine Stimme zu hören suche, sagt mir nicht klar, was ich zu tun oder zu verwerfen habe. Und nun seh' ich eine höhere Fügung darin, daß ich Sie kennen lernen durfte, ein so unbegrenztes Zutrauen zu Ihrem Geist und Charakter fassen konnte. Es fehlt mir nicht an Menschen, die mich lieb haben und glücklich zu sehen wünschen. Aber die Wege zum Glück, die sie mir weisen, gehen auseinander. Die inneren Kämpfe, die mich das gekostet hat, haben mich krank gemacht. Ich weiß, daß keine Brunnenkur mir helfen kann. Aber wenn sich ein weiser und erfahrener Mensch, der über diesem Zwist erhaben ist, meiner annehmen – mich beraten wollte – Die Stimme versagte ihr, die Augen gingen ihr über. Der Ausdruck des lieben Gesichts, das wie das eines hilflosen Kindes zu ihm aussah, rührte ihn tief.

Mein liebes Fräulein, sagte er, sanft ihre Hände streichelnd, die zusammengefaltet in ihrem Schoß lagen, ich danke Ihnen von Herzen für Ihr Vertrauen, und Sie mögen glauben, soweit mein eigenes Verständnis reicht, werde ich Ihnen wie ein väterlicher alter Freund zu Hilfe kommen in Ihren Herzenssorgen und Zweifeln. Sprechen Sie sich offen aus; jedenfalls, auch wenn ich nicht gleich zu raten wüßte, wird es Sie erleichtern, und an meinem guten Willen, zu helfen, dürfen Sie nicht zweifeln.

Sie dankte ihm nur mit einem innigen Blick, trocknete die feuchten Augen und sagte: Sie müssen wissen, ich bin aus einem streng katholischen Hause. Meinen Vater nahmen seine Geschäfte so in Anspruch, daß er außer am Sonntag nicht an seine kirchlichen Pflichten denken konnte. Meine arme Mutter aber ging täglich in die Frühmesse und oft zu ihrem Beichtvater. Sie hat eine schwermütige Natur und suchte Trost für manches Leiden in den Übungen der Religion. Ich darf es ja wohl sagen: sie war nicht so glücklich, wie sie verdient hätte, empfand es tief, daß sie mit ihrem Mann nicht vieles, nicht das Beste teilte, obwohl mein Vater sie gewiß geliebt hat. Das trübte mir schon meine jungen Jahre, da ich an beiden so herzlich hing. Aber ich wußte ja nicht zu helfen, und ich hatte ja auch meine Musik, die half mir über melancholische Stunden hinweg.

Sie haben sich ganz der Musik gewidmet, liebes Fräulein?

Schon seit meinem zwölften Jahre, da mein Lehrer feststellte, daß mein Talent dazu ausreichen würde. Wie sehr es mit meiner innersten Natur verbunden ist, erfahre ich jetzt wieder. Der Arzt hat mir verboten, eine Taste anzurühren, und ich entbehre es schmerzlich. Auch als mein guter Vater starb – vor drei Jahren – fand ich den einzigen Trost darin, der meinen Schmerz ein wenig milderte, während meine Mutter schluchzend aus dem Zimmer gehen mußte, wenn ich zu spielen anfing.

Aber ich will Sie nicht von meiner unbedeutenden Person unterhalten, nur das sagen, worauf es jetzt ankommt.

Ich habe einen jungen Mann kennen gelernt, der gleich in der ersten Stunde einen tiefen Eindruck auf mich machte. Es war in einem Wohltätigkeitskonzert, wo ich etwas von Bach und eine Sonate von Beethoven spielte. Er stand ganz vorn, da er keinen Sitzplatz mehr bekommen hatte. Ich sah, daß er während meines ganzen Spiels die Augen fest auf mich gerichtet hielt, so daß ich mich zusammennehmen mußte, nicht dadurch in Verwirrung zu geraten. Hernach trat er zu mir und sagte mir etwas über meinen Vortrag, nicht bloß lobend, sondern auch über einige Stellen, die ich, wie er fand, nicht ganz richtig aufgefaßt hatte. Ich sah, daß er viel von Musik verstand, fragte ihn, ob er selbst ein Instrument spiele. Nur ein wenig die Geige, aber leider habe er nicht die Zeit, ordentlich zu üben. Er sei Ingenieur und jetzt bei einem Brückenbau beschäftigt

Das war unser erstes Gespräch.

Ich hörte dann seinen Namen: Leonhard Weber, und daß er mit einem alten Fräulein, seiner Tante, zusammen wohne. Die ist, wie ich nachher erfuhr, eine eifrige, etwas wunderliche Dame, eine Protestantin, wie auch ihr Neffe. Denn Sie müssen wissen, die Konfession ist das erste, was einem in unserer Stadt genannt wird, wenn auf jemand die Rede kommt. Die Evangelischen sind weit in der Minderzahl. Doch eben darum betonen sie streng und manchmal schroff ihre Andersgläubigkeit, als ob sie sich zur Wehr setzen müßten, und wir andern tun nichts, die Kluft zu überbrücken. Ist es nicht traurig, daß Menschen, die doch Kinder desselben himmlischen Vaters sind, nicht brüderlich beisammen wohnen und gute Nachbarschaft halten können?

Der Alte nickte vor sich hin. Ja, ja! murmelte er, nur wie für sich selbst, die Religion der Liebe! Und beide glauben, sie seien »erlöst« worden! Und Sie selbst, liebes Fräulein? – –

O ich – ich dachte mit keinem Gedanken daran, ob Leonhards Glaubensbekenntnis sich von meinem unterschied. Ich sah in ihm den besten, edelsten Menschen, und schon nach unserem ersten Wiedersehen wußt' ich, daß er der einzige war, den ich bis an den Tod würde lieben können.

Es fügte sich so, daß er bald nach dem Konzert in unser Haus kam. Er hatte mir von einem Duett zwischen Geige und Klavier gesprochen, das ich nicht kannte. Er würde versuchen, sagte er, ob er den Violinpart noch spielen könne, wenn ich Nachsicht haben wollte. So brachte er die Noten und sein Instrument zu uns, und wir spielten es vom Blatt, und es entzückte mich. Auch meiner Mutter gefiel es, wie auch der Geiger, den sie nicht gekannt hatte. Er ist auch ein Mensch, der auf den ersten Blick und durch das erste Wort jeden für sich einnehmen muß, nicht mit der gewöhnlichen flachen Liebenswürdigkeit, vielmehr gibt er sich eher verschlossen und kühl, aber in seinen Augen liegt ein so lebhafter Geist, und selbst die Heftigkeit, mit der er zuweilen, wo sich's um etwas Niedriges und Ungerechtes handelt, rücksichtslos vorbricht, macht auf jeden den Eindruck, daß er eine vornehme Natur ist. Dazwischen kann er auch heiter, sogar lustig sein wie ein Kind, und dann ist sein Lachen vollends unwiderstehlich.

So lud die Mutter ihn ein, öfter zu kommen und mit mir zu musizieren. Ich kann die nächsten drei Wochen übergehen. Es war die glückseligste Zeit meines ganzen Lebens, und auch die Mutter, die bisher sehr einsam mit mir gelebt hatte, wurde wie verwandelt durch den Umgang mit unserm jungen Hausfreunde, und wenn er einmal ausblieb, gestand sie, daß ihr der Tag unendlich lang werde.

Als wir uns dann verlobt hatten, nach einem Zusammenspiel, das uns beide im tiefsten gerührt hatte, und ich's am Abend der Mutter beichtete, umarmte sie mich mit Thränen der Freude und äußerte ihr Glück weit lebhafter als ich selbst. Dann aber, als wir das weitere besprachen, schien plötzlich alles nur ein Traum gewesen zu sein.

Seltsamerweise war's nie zur Sprache gekommen, wenn wir drei beisammen saßen, daß Leonhard nicht katholisch war. Unter vier Augen war oft davon zwischen uns die Rede gewesen. Er hatte aber nie versucht, mich an meinem Glauben irre zu machen, nur falsche Vorstellungen, die mir über seinen eingepflanzt worden waren, zu zerstören für seine Pflicht gehalten. Dazu sollte auch die Reformationsgeschichte dienen, die er mir lieh. Aber vor der Mutter war davon nie die Rede gewesen.

Und sie selbst hatte nie darnach gefragt. Eine geheime Furcht schien sie davon abzuhalten, zu forschen, wie es damit stehen mochte, als ob sie dann auf die vertraute Gesellschaft dieses Hausfreundes, die ihr so lieb geworden, verzichten müßte.

Wie ich es ihr nun sagte, er sei Protestant, überfiel sie ein tödlicher Schrecken. Es dauerte eine Weile, bis sie sich fassen konnte, doch die Freude, mit der sie die erste Eröffnung erfüllt hatte, war tief getrübt. Sie konnte nicht leugnen, daß sie zu dem Charakter dieses Schwiegersohns das festeste Zutrauen habe, aber daß wir uns im Jenseits nicht wiederfinden würden. …

Ich erlasse Ihnen die Wiederholung all der Sorgen und Zweifel, die ihr Herz bestürmten. Das Ende war, daß sie von mir verlangte, die Zustimmung meines Beichtvaters, der auch der ihre war, einzuholen.

Ich zweifelte nicht daran, sie zu erlangen. Auch in unserer Stadt, obwohl die Konfessionen so streng geschieden sind, hatten gemischte Ehen stattgefunden, und neben der katholischen und protestantischen Schule gab es auch eine Simultanschule. Und der alte Priester, der unser Gewissensrat war, hatte eben darum meine Liebe und mein Vertrauen besessen, weil er duldsam war und selbst unter den protestantischen Geistlichen eine große Achtung genoß.

So ging ich ganz getrost zu ihm, und fand ihn auch wirklich wie ich gehofft hatte. So traurig es sei, daß ich mit meinem Gatten nicht auch in dem übereinstimmte, was des Menschen heiligste Angelegenheit sei, – die Kirche könne einen solchen Bund schon darum nicht ein für allemal verdammen, weil die Hoffnung bestehe, eine fromme und kluge Frau könne mit der Zeit so großen Einfluß auf ihren Mann gewinnen, daß sie ihm die Augen öffne über seine Irrtümer und ihn zur Anerkennung der einzigen Wahrheit zu bewegen vermöchte.

Die Kinder natürlich müßten in der Religion der Mutter getauft und erzogen werden. Sonst könne er seine Zustimmung nicht geben.

Dies letztere machte mir noch Sorge. Doch hoffte ich, mein Verlobter werde, wie es ja üblich ist, mir das Zugeständnis machen, wenigstens die Mädchen katholisch werden zu lassen.

Sie begreifen, wie peinlich es mir war, Leonhard gegenüber diesen Punkt zur Sprache zu bringen. Ich hoffte, er würde das verstehen und mir leicht darüber hinweghelfen. Wie erschrak ich, als er ruhig, aber entschieden erklärte, er werde mir die vollste Freiheit lassen, an allen Glaubenssätzen und kirchlichen Bräuchen festzuhalten, die mir von Kindheit an teuer und zu meinem Seelenfrieden notwendig geworden seien. Darüber hinaus aber irgendeinem Menschen einen Einfluß auf sein Haus, auf die sittliche und geistige Erziehung seiner Kinder einzuräumen, dazu könne er sich nie und nimmer verstehen. Da dies nicht zu vermeiden sei, wenn ein katholischer Priester das Recht habe, über Gewissensfragen der jungen Beichtkinder sie zu belehren, so würde er seine väterliche Pflicht, seine Kinder zu selbständigen Menschen zu erziehen, ihnen die Freiheit des Denkens zu wahren, unverzeihlich vernachlässigen, wenn er sie nicht davor bewahrte.

Oh, Herr Konsul, es war die schwerste Stunde meines Lebens! All mein Glück stand auf dem Spiel, ich fühlte ja, daß er recht hatte, daß seine Ehre ihm gebot, auf diesem Nein zu verharren, und doch, gerade weil ich vor seinem Charakter ebensoviel Verehrung fühlen mußte, wie mein Herz ihn liebte – wenn er mich ebenso unentbehrlich für sein Glück gefunden hätte, mußte er nicht auf einen Ausweg sinnen, um vielleicht nur vorläufig – nur bis wir uns angehörten –

Aber nein, an irgend einen Kompromiß mit seinem Gewissen konnte ich nicht ernstlich denken, wenn ich sein steinernes Gesicht ansah und seine Stimme hörte, die wie ehern klang. Ich konnte nichts anderes hoffen, als meinen Beichtvater vielleicht zur Nachgiebigkeit zu bewegen, wenn er überlegte, daß die Mutter mit der Zeit ebenso Macht über die Seelen ihrer Kinder, wie über die ihres Mannes gewinnen könnte.

Auch diese Hoffnung wurde vernichtet, als ich wieder zu ihm kam. Ich sah es ihm an, daß es ihm schwer wurde, aber er erklärte mir rund heraus, wenn ich das wegen der Kinder nicht feierlich gelobe und doch diesen Ehebund einginge, könne er mir die Absolution nicht erteilen, und ich müsse mich hinfort als aus der Kirche ausgeschlossen betrachten.

*

Es blieb eine ganze Weile still zwischen den beiden, die in dem helldunklen Zimmer einander gegenübersaßen.

Der Regen hatte aufgehört, aber leichte graue Wolken zogen noch am Himmel hin, und die Sonnenblicke dazwischen konnten den dichten Wipfel des hohen Baumes vor dem Balkon nicht durchdringen. … Eine köstliche Frische aber drang zu Tür und Fenster herein.

Mein teures Fräulein, sagte der alte Herr endlich, Sie müssen mir's schon zugute halten, wenn ich mich nur schwer in Ihren Gemütszustand versetzen kann. Ich war immer gewohnt, nur das als maßgebend für mein Handeln zu betrachten, was mir mein Gewissen zu tun befahl. Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal von Kants kategorischem Imperativ gehört haben. Der alte Weise meinte, das Gewissen schreibe uns immer ganz unzweifelhaft vor, was wir tun und lassen sollen. Leider nur sagt es das nicht so ganz »kategorisch«, wenn sich's um einen Konflikt zweier Pflichten handelt. Und doch – zuletzt erinnert man sich, daß man das tun soll, was das meiste Gute bewirkt, wenn es dem Herzen auch schwer fällt. Nun, liebes Kind, ich kann mir ja denken, daß es Ihnen fast unmöglich scheint, Ihrem geistlichen Berater, dem Sie bisher unbedingt vertraut haben, den Gehorsam zu kündigen, zumal wenn er Ihnen droht, Sie würden dann auch den Segen der Kirche verlieren und das ewige Heil Ihrer Seele gefährden. Aber ist nicht auch der Priester ein Mensch, mag er Ihnen auch als der Vertreter der Kirche mit einer höheren Autorität ausgestattet erscheinen? Hat es nicht von jeher auch innerhalb der Kirche Streit gegeben und haben nicht sehr fromme katholische Theologen sogar die Unfehlbarkeit des Heiligen Vaters selbst in geistlichen Dingen bestritten? Wenn nun auch Ihr Seelsorger irrte in dem, was er Ihnen vorhält, und Sie ließen sich von ihm bestimmen, das, was Ihr Herz Ihnen als Ihr Heil und Ihre Pflicht angibt, zu überhören, dazu das Glück eines Menschen, der Ihnen über alles teuer ist, zu vernichten – können Sie da wirklich im Zweifel sein, was Sie tun und lassen sollen? Haben Sie nicht das Wort gehört: du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen? Und wo sind hier die Menschen und wo ist Gott? Sind es nicht Menschen, die sich die Alleinherrschaft über die Menschenseelen anmaßen, und spricht nicht Gott in der Stimme Ihres Gewissens?

Die Bewegung und das tiefe Mitgefühl mit der lieblichen, so schwer kämpfenden jungen Seele übermannte ihn. Er stand auf und trat auf den Balkon hinaus, wo die Vögel wieder zu singen anfingen. Als er dann zu dem blassen Fräulein zurückkehrte, begegnete er ihrem zwar von Thränen schimmernden, aber ruhig zu ihm aufgeschlagenen Blick.

Sie dürfen mir glauben, lieber Herr Konsul, sagte sie, dies alles hab' ich mir auch gesagt, obwohl ich dabei die Sorge nicht los werden konnte, am Ende schmeichelt mir nur mein Herz als das rechte vor, was es am heißesten wünscht. Ich sagte mir auch, auf die äußeren Übungen der Kirche komme es nicht so sehr an, wie auf die innere Treue gegen das, was uns in unserer Religion von früh an gelehrt worden sei. Und daß nicht alles daran göttliche Wahrheit und göttlicher Wille sein könne, hatte ich auch früher schon bedacht. Sollte ein so herrlicher Mensch wie Leonhard der ewigen Verdammnis verfallen, weil er den Heiligen Vater nicht als höchste Autorität in allem, was unser Seelenheil betrifft, anerkennt? Nein, wenn ich ihm vor dem Altar Treue in guten und bösen Tagen bis in den Tod gelobte, müßte ich mich auch in seine Gedankenwelt einleben und seiner Einsicht vertrauen. Also war ich schon entschlossen, wie Sie sagen, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, die seine Kirche regierten, so schwer es mir wurde, diesmal meinem Beichtvater nicht zu gehorchen, den ich so hoch verehre. Aber es war noch eins, was es mir unmöglich machte: die Pflicht gegen meine Mutter.

Ich habe Ihnen schon gesagt, daß sie das rechte Glück in ihrem Leben nicht gefunden hat. Sie hat Trost für das, was ihr auf Erden versagt war, in der Hoffnung auf den Himmel gesucht. In den letzten Jahren ist sie von einem Leiden befallen worden, das sie mit rührender Geduld und Standhaftigkeit erträgt. Sie lebt nur für mich, ihre einzige Freude ist, mich in meinen musikalischen Fortschritten zu begleiten und mich glücklich verheiratet zu sehen, das einzige, was sie noch zu erleben wünscht. Und nun …!

Als ich ihr das Ergebnis meiner Unterredung mit Leonhard und dann den Spruch unseres geistlichen Seelenhirten mitteilte, brach sie in Thränen aus, die lange nicht zu fließen aufhörten. Dann aber sah sie mich mit einem fast feierlichen Glanz in ihren armen Augen an: Es wird so kommen müssen, so schrecklich es ist, du wirst Gott das Opfer dieser Liebe bringen müssen, wie deine arme Mutter es einst gebracht hat.

Ein grimmiger Zug verzerrte das sonst so milde Gesicht des Konsuls.

Das alte Lied! murrte er zwischen den Zähnen. »Opfer fallen hier, weder Lamm noch Stier, aber Menschenopfer unerhört!« Und Sie, ärmstes Kind, Sie haben den Nacken ohne Widerrede dem Opferbeil dargeboten?

Verachten Sie mich nicht darum, versetzte sie schüchtern. Wenn Sie wüßten, wie oft unser Arzt meiner Mutter vorgestellt hat, nur die größte seelische Ruhe, das Fernhalten jeder Aufregung könne ihr Leben noch länger erhalten! Oh, und mir ist nichts teurer in der Welt, als dies Leben. Sie kennen sie nicht. Ich selbst habe sie ja erst kennen gelernt, als sie an ihrem Schicksal schon schwer zu tragen hatte. Aber aus Erzählungen von ein paar ihrer Jugendfreundinnen hab' ich schließen können, welch eine reizende Erscheinung sowohl durch ihr Gesicht und ihre Gestalt als durch ihr heiteres Gemüt und ihre Herzensgüte sie gewesen sein muß. Ich trage hier am Halse das Bild, das sie meinem Vater schenkte, als sie verlobt waren. Wollen Sie es sehen?

Sie drückte auf eine kleine Feder an dem goldenen Medaillon, das an einem Kettchen auf ihre Brust herabhing, löste es von ihrem Halse und hielt es ihm hin. Er warf nur einen Blick darauf. Ein Zittern überlief seine Gestalt, er hielt das Medaillon ein paar Minuten in seiner unsicheren Hand, seine Lippen preßten sich zusammen, seine Augen öffneten sich weit, wie wenn sie etwas Unheimliches sähen, dann gab er das kleine Bild zurück und sagte kaum hörbar: Ich danke Ihnen. Verzeihen Sie … mir ist ein wenig … unwohl … die Luft hier ist so beklommen … ich muß einen Augenblick …

Mühsam stand er auf und ging schweren Schrittes nach dem Balkon. Soll ich Sie allein lassen, verehrter Herr Konsul? rief sie. Ich habe Sie aufgeregt durch diesen langen Besuch … verzeihen Sie! …

Er winkte nur zurück, daß sie bleiben solle. Sie blieb sitzen in peinlicher Befangenheit. Da kam er schon wieder von draußen zurück. Sein Gesicht war ganz ruhig, nur auffallend blaß.

Ich habe dergleichen plötzliche Schwächeanfälle öfter, sagte er. Sie gehen aber rasch vorüber. Es tut mir leid, daß ich Sie dadurch geängstigt habe. Aber es hat wirklich nichts zu bedeuten. Sagen Sie nur alles, was Sie noch auf dem Herzen haben, ich muß nur dabei herumgehen dürfen, höre aber jedes Wort, das Sie sagen werden.

Sie stand rasch auf.

Ich will gehen, sagte sie. Ich bin schon viel zu lange geblieben, und Sie haben doch noch Vorbereitungen zur Abreise zu treffen. Aber es war mir zu sehr Bedürfnis, mein Herz zu erleichtern … ich habe ja keinen Menschen, auch nicht zu Hause, bei dem ich Rat und Hilfe suchen könnte, und zu Ihnen trieb mich's unwiderstehlich … es war wie eine Eingebung von oben … und wenn Sie mir auch keinen Ausweg zeigen konnten … ich gehe so gestärkt und mit Vertrauen auf eine endliche Lösung dieses Zwiespalts von Ihnen … o haben Sie Dank … tausend Dank!

Sie ergriff seine Hand und wollte ihre Lippen darauf drücken. Als sie sich aber dazu herabbeugte, entzog er sie ihr, nahm ihren Kopf in beide Hände und küßte sie herzlich auf die Stirn.

Mein teures Kind, sagte er bewegt, Sie haben recht, es war eine höhere Fügung, daß Sie zu mir kamen und mir Ihr Vertrauen schenkten. Sie sollen es nicht umsonst getan haben, denn ich werde alles daransetzen, Sie auf diesen Herzensnöten herauszuführen zu einem glücklichen Ziel. Lassen Sie mir nur ein paar Tage Zeit. Meine Abreise kann ich freilich nicht aufschieben, aber damit ist nichts verloren, im Gegenteil. Ich wollte sehen, wo ich eine Heimat fände. Vielleicht finde ich sie nun in Ihrer Nähe. Und so beruhigen Sie Ihr liebes Gemüt und trösten sich einstweilen damit, daß Sie einen Freund gefunden haben, der Ihre Sache zu der seinigen machen wird.

Er strich ihr sanft über das weiche blonde Haar, nickte ihr lächelnd zu, und sie verließ das Zimmer.

Als er sich allein sah, sank er auf einen Stuhl, stützte die Ellenbogen auf die Kniee und vergrub die Stirn in seine Hände. Wie lange er so saß, kam ihm nicht zum Bewußtsein, so sehr war er der Gegenwart entrückt, so völlig versunken in längst vergangene Zeit. Darüber, was ihm zunächst bevorstand, dachte er nicht einen Augenblick nach, das stand ihm über allem Zweifel fest. Vor seinem inneren Auge schwebte bei allem, was durch seine Seele ging, nur das Gesicht in dem kleinen Medaillon, das seine junge Freundin ihm gezeigt hatte.

Der lange Martin trat ein, ihn zu erinnern, daß es Zeit sei zum Aufbruch, und den Koffer zum Wagen hinunterzutragen. Als der Konsul ihm sagte, daß er in einigen Tagen wiederkommen werde und daher das Zimmer zu behalten wünsche, nickte der Bursche in sichtbarem Vergnügen, das durch ein großes Geldstück erhöht wurde. Dann fuhr der alte Herr nach einem raschen Abschied von der Wirtin nach dem Bahnhof.

*

Er hatte über den Aufregungen der letzten Stunden ganz versäumt, vor der Abreise noch etwas zu genießen. Nun begnügte er sich mit dem, was er im Restaurant der Bahn in der Eile noch erhalten konnte, und nahm dann sein Billett nach der Stadt, in der Erna zur Welt gekommen war.

Denselben Weg hatte er zu fahren gedacht, da seine eigene Vaterstadt nur eine Stunde weiter nach Westen lag, beides reiche Fabrikstädte in Westfalen mit überwiegend katholischer Einwohnerschaft. Auf der langen Fahrt blieb er in seinem Coupé erster Klasse fast immer allein, rauchend und in seine Gedanken vertieft, in einer etwas erregten, aber heiteren Stimmung, wie ein junger Held auf ein gefährliches Abenteuer auszieht, das er aber mutig zu bestehen gedenkt.

Die letzten Stunden genoß er eines erquicklichen Schlafs, aus dem er um Mitternacht erwachte, als der Zug an seinem Ziele angelangt war. Er ließ sich in ein Hotel fahren, trank noch ein wenig Wein und ging gleich zu Bett, um den unterbrochenen Schlaf traumlos bis an den Morgen fortzusetzen

Der Wirt begrüßte ihn höflich, als er unten im Saale beim Frühstück saß. In das Fremdenbuch hatte er sich nur als Doktor Franz eingeschrieben. Ernas Mutter sollte nicht durch einen Zufall erfahren, daß er in der Stadt war. Aber sein Äußeres und sein ganzes Auftreten ließ den Wirt vermuten, daß er einen Fremden »von Distinktion« vor sich habe. So erkundigte er sich nach seinen etwaigen besonderen Wünschen, machte ihn, da er zum erstenmal hier zu sein gestand, auf einiges Sehenswürdige aufmerksam und fragte, ob er ihm einen Wagen oder einen Führer besorgen solle.

Er liebe es, in einer fremden Stadt sich zunächst selbst seine Wege zu suchen. Er habe auch kein besonderes Geschäft, nur einen gewissen Ingenieur, Herrn Leonhard Weber, wünsche er zu sprechen und bitte um seine Adresse.

Die sagte ihm der Wirt. Doch werde er den Herrn nicht vor Abend zu Hause treffen, da er den Brückenbau leite und die Arbeit erst nach Feierabend verlasse. Auf die Frage, was man in der Stadt von den Fähigkeiten und dem Charakter des jungen Mannes halte, erfuhr er nur das Günstigste. Schon daß man ihm bei der Konkurrenz den Preis unter zehn Bewerbern erteilt und das verantwortungsvolle Werk ihm übertragen habe, zeuge für seine Tüchtigkeit, und im übrigen werde ihm nur Gutes nachgesagt. Er sei zwar Protestant und lebe mit einer alten Dame, seiner Verwandten, ganz abgeschlossen, ohne Verbindung mit den reichen katholischen Familien. Doch die jungen Töchter derselben würden nicht spröde sein, wenn er sich ihnen nähere. Daran scheine er aber nicht zu denken.

Einen Augenblick fuhr es dem Konsul durch den Sinn, ob er auch den Namen von Ernas Mutter nennen solle. Er konnte ihn aber doch nicht über die Lippen bringen, endete das Gespräch und verließ bald das Haus.

An der Stadt, die er nun langsam durchwandelte, fand er wenig Gefallen. Neben den alten sehr schlichten Häusern standen hohe, prunkvolle Gebäude der reichen Fabrikanten mit allerlei stillosem Fassadenschmuck, auch diese vom Ruß und Staub aus den vielen Schornsteinen angeschwärzt. Dazwischen größere und kleinere Kirchen, unter denen nicht eine durch eine feinere architektonische Gestaltung seinen Blick fesselte. Mit einem Seufzer dachte er an alle Herrlichkeiten zurück, die ihm in südlichen Ländern das Herz erfreut hatten. In dieser nur dem Nutzen dienenden, von keinem Hauch der Schönheit geadelten Umgebung für den Rest seines Lebens sich niederzulassen, erschien ihm als eine Unmöglichkeit.

Als er aber durch das Tor geschritten war, wurde ihm leichter und heiterer zumut. Die Landschaft, die sich vor ihm ausbreitete, war durch keine Fabrikgebäude verunziert, zwischen den alten Bäumen zu den Seiten der Straße lagen zierliche kleine Villen, von Gärten umgeben, die zu dieser Frühsommerzeit im schönsten Flor standen, und über deren Blumen kein Dampf und Ruß der Schornsteine sich niederließ, da deren Gebiet auf der entgegengesetzten Seite der Stadt lag. Unter diesen freundlichen Wohnstätten fiel ihm ein etwas zurückliegendes Landhaus auf, das sich auf einer kleinen Anhöhe erhob, im Rücken geschützt durch ein Wäldchen von Eschen und alten Platanen, vorn mit einem Garten umgeben, der aber ungepflegt und verwahrlost schien. Auch waren die Läden sowohl im Erdgeschoß wie in dem einzigen oberen Stockwerk geschlossen, auch die Tür in der niederen Gartenmauer öffnete sich nicht, als er einzutreten versuchte.

Ein Bürger der Stadt, der ihn von dem vergeblichen Versuch zurückkommen sah gab ihm die gewünschte Aufklärung: das Haus gehöre einem der reichsten Fabrikbesitzer der Stadt, der es aber seit Jahren nicht mehr bewohne, da er unweit davon sich eine neue, prachtvolle Villa erbaut habe und daher diesen alten Besitz seiner Familie verfallen lasse.

Ob er sie wohl verkaufen würde? – Es sei wohl möglich. Doch kenne man die Launen dieser Millionäre nicht, die zuweilen der Welt zeigen möchten, daß sie keinen Wert darauf legten, etwas zu Gelde zu machen, was ihnen selbst wertlos geworden sei.

Herr Franz Firmian dankte für die freundliche Auskunft und ging nachdenklich weiter. Er wußte, daß dieser Weg ihn in kurzem zu dem Flusse führen mußte, über den der junge Herr Leonhard seine Brücke zu schlagen übernommen hatte. Er war mit der Absicht gekommen, sich den Verlobten des lieben Fräuleins anzusehen und zu prüfen, ob er sie ihm wohl gönnen möchte. Denn außer dem herzlichen Anteil, den ihre holde Jugend und Schwermut in ihm erregt hatte, war sie ihm ja noch durch eine andere seltsame Verknüpfung der Schicksalsfäden nahe gerückt worden.

Als er nun das Ufer des ziemlich ansehnlichen Flusses erreicht hatte, übersah er die kühne und zugleich zierliche Konstruktion des Baues, der von hüben und drüben auf feste Pfeiler gestützt, in hohem Bogen seine beiden Hälften gegeneinander streckte und ihren Zusammenschluß fast schon erreicht hatte. Eine große Schar von Arbeitern ging und stand, hing und kletterte zwischen den leichten eisernen Gliedern auf und nieder, die Hämmer erklangen, die Feilen zischten dazwischen, der alte Herr ließ seine Augen wohlgefällig in diesem belebten Bilde von einem zum andern gehen und suchte eine Gestalt, in der er den Meister und Leiter des ganzen Werkes erkennen möchte.

Die fand er auch bald. Der schlanke junge Mann dort in der dunklen Joppe mußte es sein, da fast alle Arbeiter in Hemdärmeln waren. Er hatte nur, weil der Tag heiß war, die graue Mütze abgenommen, und man sah seine hohe weiße Stirn unter dem dichten braunen Haar von der Sonne beschienen, ohne daß er es achtete. Sein Gesicht trug den Ausdruck ruhiger Energie, von Zeit zu Zeit gab er eine kurze Weisung, wenn einer der Leute, ehrerbietig fragend, an ihn herantrat, doch hielt er es auch nicht unter seine Würde, gelegentlich mit Hand anzulegen, wenn etwa, um eine Last zu heben, noch eine Manneskraft erfordert wurde.

Das gefiel dem stillen Beobachter. Er fürchtet nicht, seine Hand für die Geige unbrauchbar zu machen, sagte Herr Franz Firmian für sich selbst. Er hatte sich auf ein Bänkchen gesetzt, nahe bei der Hütte, in der eine Art Wirtschafterin hantierte. Niemand nahm von ihm Notiz. Brückenbauen, murmelte er nach seiner Weise zu monologisieren, – ist das nicht eine der menschenwürdigsten Aufgaben? Solche, die sich liebhaben möchten, aber nicht zusammenkommen können, weil das Wasser zwischen ihnen viel zu tief ist –

Er vollendete den Satz nicht. Doch wer sein stilles Gesicht betrachtete, in dem ein eigentümlich warmes Leuchten erschien, und das Geschäft kannte, das ihn hergeführt, konnte die abgebrochenen Worte leicht ergänzen.

Da schlug es auf dem nächstgelegenen Kirchturm der Stadt zwölf. Die Arbeit in dem Eisengerüst stockte, doch verließen nicht alle sogleich den Bau. Nicht wenige sorgten noch dafür, etwas, das sie unter Händen hatten, noch bis zu einem gewissen Punkt fertig zu bringen, ehe sie zu ihrer Mittagsrast in die Stadt gingen, oder sich in der Kantine niederließen Dann schickte sich auch der Bauleiter zum Heimweg an.

Herr Franz Firmian erhob sich und näherte sich ihm. Er stellte sich als einen Fremden vor, der etwas mit dem Herrn Ingenieur zu besprechen wünsche, er wolle ihn jetzt nicht aufhalten, bitte nur, ihm eine Stunde zu bestimmen, in der er ihm Gehör schenken könne.

Das Gesicht des jungen Mannes zeigte keine besondere Regung, weder der Neugier noch des Unmuts, belästigt zu werden. Seine schönen dunklen Augen prüften flüchtig die Person des Unbekannten, die ihm einen sympathischen Eindruck zu machen schien, dann sagte er einfach: Wenn Sie mich in die Stadt begleiten wollen, Herr Doktor, können Sie mir vorläufig sagen, worum sich's handelt. Nach Feierabend steh' ich Ihnen weiter zu Diensten.

Ich bin in dieser Gegend gebürtig, Herr Ingenieur, sagte der Konsul, während sie in die Allee eintraten. Nach langjähriger Abwesenheit in fernen Ländern möchte ich nun in die Heimat zurückkehren und hier meine Tage beschließen. Eine Familie besitze ich nicht, habe aber Hoffnung, mir eine zu gründen, und dazu brauche ich ein Familienhaus, wo wir behaglich und einträchtig miteinander wohnen könnten. Nun ist mir, als ich hier herauskam, das Haus rechts von der Straße auf der kleinen Anhöhe aufgefallen, auch hat man mir gesagt, Besitzer, der es nicht mehr bewohne, werde wohl zu bewegen sein, es zu verkaufen. Freilich, so wie es ist, würde es mir nicht genügen, es müßte wohl um- und ausgebaut werden. Da man mir nun im Hotel Ihren Namen genannt und Ihre Geschicklichkeit gerühmt hat –

Verzeihen Sie, mein Herr, unterbrach ihn der junge Mann, man hat Sie an den Unrechten gewiesen. Einen solchen Auftrag könnte ich nicht wohl übernehmen. Ich bin Ingenieur, nicht Baumeister. Zwar habe ich auf dem Polytechnikum auch den Hochbau studiert, aber noch nie Gelegenheit gehabt, was ich weiß, praktisch auszuüben. Bei einer Eisenbahn, die ich zu bauen hatte, mußte ich auch die Bahnwärterhäuschen herstellen – (er lächelte dabei, was seinem sonst so ernsten Munde sehr hübsch stand) – aber Sie begreifen, das gibt Ihnen keine Gewähr, daß ich auch den höheren Ansprüchen, die Sie an ein elegantes Familienhaus stellen würden, genügen könnte. Dazu wäre ein Freund von mir besser geeignet, dessen Adresse ich Ihnen gern geben würde.

Diese Antwort gefiel dem Konsul sehr. Er fuhr aber in geschäftsmäßigem Tone fort, der Herr Ingenieur möge sich's noch überlegen. Er habe es nicht auf eine »elegante« Villa abgesehen, mit allem Luxus der modernen Zeit, und was er davon in der Stadt gesehen, habe ihm keine Lust gemacht, sich mit einem der hiesigen Architekten einzulassen. Es solle ein ganz schlichter Bau werden, nur bequem für drei, vier Familien, die beisammen und doch abgesondert leben möchten, hell und sauber, mehrere Badezimmer, ein Sälchen unten, wo man sich zuweilen gesellig zusammenfinden könnte, und so weiter. Es komme vor allem auf das Entwerfen eines geschickten Planes an, dabei werde er seine eigenen Wünsche und Erfahrungen zur Sprache bringen und über das Architektonische seinem Baumeister freie Hand lassen.

Als sie zu dem zurückliegenden Hause auf dem Hügel gekommen waren, blieben sie ein wenig stehen. Auch der junge Ingenieur gestand, daß die Lage anmutig sei, doch könne er nach dem Äußeren nicht urteilen, ob es tunlich sein würde, das Innere nach den Wünschen des Herrn Doktor zu verändern Es würde ihm sehr lieb sein, bemerkte der Konsul, wenn er hierüber bald Gewißheit erlangen könne, nachdem er erst erkundet, ob der Eigentümer sich überhaupt auf einen Verkauf einlassen möchte.

Sie waren inzwischen durch das Tor wieder in die Stadt gekommen, und Leonhard Weber deutete auf eines der nächsten Häuser an der breiten Straße, das nur ein Erdgeschoß und ein oberes Stockwerk hatte und mit seinem hohen alten Dach zwischen den beiden dreistöckigen Nachbarhäusern sich wunderlich ausnahm, wie ein kleiner Mensch, der sich in die Höhe reckt, um zwischen Größeren nicht ganz zu verschwinden Es hatte aber fünf Fenster in der Front, das mittelste war zu einem dreieckigen Erker umgebaut, der zierlich mit zwei schmalen Fensterchen aus der Fläche vor-sprang.

Das Haus hat schon lange meiner Familie gehört, sagte der Ingenieur, ich wohne seitdem Tode meiner Eltern darin mit einer Tante, für die habe ich das Erkerchen angebracht, sie geht wenig aus, da sitzt sie nun in ihrer freien Zeit gern mit ihrer Handarbeit dort hinter den Fenstern und sieht, was auf der Straße vorgeht. Sie ist mir eine zweite Mutter.

Eben hatten sie die Haustür erreicht, da öffnete sich oben eins der Erkerfenster, und das Gesicht eines alten Fräuleins erschien, die Augen mit einer großen silbernen Brille bewaffnet. Kommst du endlich, mein Junge? tönte eine helle Stimme herab. Wo hast du so lange gesteckt? Es geht auf halb eins, und das Essen wird schlecht.

Ich hatte noch zu tun, liebe Tante, rief der Neffe hinauf, und mit dem Herrn hier etwas zu besprechen. Nur noch fünf Minuten, Wir werden gleich fertig sein.

Keine Minute länger, Leonhardchen! kam es von oben. Bringe den Herrn doch mit. Ich habe gerade einen Fisch, der reicht für drei.

Sie hören, Herr Doktor, sagte der junge Mann etwas verlegen lächelnd, wie streng ich gehalten werde. Aber wenn Sie es nicht verschmähen, die Einladung anzunehmen –

Er hatte gehofft, der alte Herr werde dankend ablehnen. Dem aber kam es ganz erwünscht, die neue Bekanntschaft auch im Hause fortzusetzen, dazu hatte ihm das gute Gesicht der Tante mit den frischen roten Bäckchen und lebhaften schwarzen Augen sehr gefallen, und er erklärte, was er noch zu sagen habe, wolle er gern oben im Erkerzimmer vorbringen.

Das war ein ziemlich weiter und hoher Raum, in dessen Mitte ein Tisch mit zwei Gedecken stand, eine kleine Dame daneben, die dem Neffen zunickte und dem fremden Gast eine höfliche Verbeugung machte. Herr Doktor Franz – meine Tante Fräulein Rose Dornblüth! stellte der Ingenieur vor. Der Konsul erklärte mit wenigen Worten, welches Anliegen ihn zu dem Herrn Neffen geführt habe, was der alten Dame große Freude zu machen schien. Er könne keinen Besseren finden als ihren Leonhard, bemerkte sie, mit einem Blick mütterlichen Stolzes zu ihm hin. Er habe nur den einen Fehler, daß er zu bescheiden sei. Wenn er sich mehr geltend machen wollte, wäre er längst unter den ersten seiner Kollegen in der Stadt.

Indem trug ein sauber gekleidetes Dienstmädchen die Suppe herein und brachte auf einen Wink der Herrin ein drittes Kuvert. Sie müssen vorlieb nehmen, Herr Doktor, sagte Fräulein Rose Dornblüth, ich war auf einen verehrten Gast nicht vorbereitet.

Franz Firmian erklärte heiter, er sei für die Einladung sehr dankbar, fürchte nur, dem Fisch zu viel Ehre anzutun, da er den ganzen Vormittag sich umhergetrieben und einen rechtschaffenen Hunger mitgebracht habe. – Dann würden sie sich an Brot und Butter halten, und Eier seien auch vorrätig. Ein Schelm gebe mehr, als er habe.

Dies alles wurde mit der heitersten Miene vorgebracht, und in der ersten Viertelstunde fühlte sich der fremde Gast so heimisch in diesem Hause, als hätte er hier schon ein Stück der Familie gefunden, die zu suchen er nach Deutschland zurückgekehrt war. Der junge Mann freilich sprach nicht viel, die Tante aber fand an ihrem Gast offenbar Wohlgefallen und fragte ihn auf eine unbefangene, doch nicht zudringliche Art nach seinem Leben und Reisen aus, während sie ihm vorlegte und selbst von den einfachen Gerichten nur wenig auf ihren Teller nahm.

Er erzählte, daß er aus Kissingen komme und auf dem Wege nach seiner Vaterstadt hier Station gemacht habe. In Kissingen habe es ihm wieder sehr gefallen, auch habe er's besonders gut getroffen, da er der Hausgenosse eines liebenswürdigen jungen Fräuleins gewesen sei, mit der er bald vertraut geworden Vielleicht sei sie auch Fräulein Dornblüth bekannt, da sie ja aus derselben Stadt sei. Er nannte den Namen, Erna Flamm, mit gut gespielter Nachlässigkeit, und schien auch den Eindruck, den er auf die beiden ihm gegenüber machte, nicht zu bemerken. Das liebe Kind, sagte er, sein Zustand geht mir so zu Herzen. Der Arzt weiß, wie es scheint, nicht recht, was er daraus machen soll, ein organisches Herzleiden scheint es ja nicht zu sein und ist vielleicht nur durch übermäßiges musikalisches Studium entstanden, wie wenigstens die Wirtin in Kissingen wissen wollte. Nun, in solcher Jugend treibt ja allerlei rätselhafter Spuk in Blut und Nerven sein Wesen, und wenn sie nun eine Weile ganz ruhig lebt, in schöner heiterer Luft und Umgebung – ich habe ihr geraten, nach Italien zu gehen, etwa in einer Pension in Rom sechs Wochen zuzubringen – die Mittel dazu besitzt sie ja, denn es ist ordentlich wie eine Himmelsfügung, daß sie gerade jetzt eine so ansehnliche Erbschaft gemacht hat.

Eine Erbschaft? warf die Tante ein und sah den Erzähler durch ihre runden Brillengläser erstaunt und ungläubig an, Davon wüßte man doch auch, wenn es wahr wäre.

Es ist erst in den letzten Tagen ihr selbst bekannt geworden. Ein verschollener alter Onkel hat ihr sein bißchen Vermögen vermacht, immerhin etwas über zweimalhunderttausend Francs. Nun braucht sie sich nicht länger mit Klavierstunden ihre armen Nerven zu zerrütten.

Er hatte dies hübsche Märchen mit der unbefangensten Miene von der Welt zum besten gegeben, den jungen Mann dabei aber unbemerkt im Auge behalten Dessen ernste Stirn hatte sich verdüstert, der Mund zusammengepreßt. Weiter aber verriet kein Zug des Gesichts, was in ihm vorging. Doch jetzt stand er hastig auf.

Sie müssen mich entschuldigen Herr Doktor, wenn ich Sie verlasse. Wir halten beim Bau gerade an einem kritischen Punkt, der meine ganze Aufmerksamkeit erfordert. Wegen Ihrer Wünsche stehe ich, wie gesagt, gegen Abend Ihnen wieder zu Diensten.

Er verneigte sich und ging nach der Tür.

Du hast ja noch zehn Minuten und kannst unmöglich satt sein! rief die Tante ihm nach. Er hörte nicht darauf, nahm seine Mütze von dem Stuhl, auf den er sie geworfen, und stürmte hinaus.

*

Das alte Fräulein sah ihm kopfschüttelnd nach.

Der Hitzkopf! brummte sie zwischen den welken Lippen. Sie müssen darum nicht schlecht von ihm denken, Herr Doktor, als hätte er keine Lebensart. Nur wenn an eine gewisse Saite in seinem Herzen gerührt wird – und das haben Sie unwissentlich getan – dann gibt es einen schrillen Klang. Der arme Junge, das beste Herz und der klarste Verstand – aber, mein Gott, wenn sich's ums Lebensglück handelt! …

Ich muß es Ihnen nur erklären, Herr Doktor, es ist mit einem Wort gesagt: das Mädchen das Sie in Kissingen kennen lernten und liebgewannen, ist seine Braut – wenn er sie noch dafür halten darf! Seine Mutter kenne ich seit langen Jahren und hatte immer etwas Zuneigung zu ihr. Sie war das reizendste Wesen, das man sehen konnte, noch viel schöner als ihre Tochter, doch Freundinnen konnten wir nicht werden, weil sie ebenso streng katholisch war, wie meine Eltern protestantisch. Sie stammt ja aus L... und kam erst hierher als jungverheiratet. Ihr Mann war sehr reich, ihre Eltern scheinen sie nicht gefragt zu haben, ob sie auch eine rechte Liebe zu ihm hätte, und sie machte auch nicht den Eindruck, eine sehr glückliche junge Frau zu sein, obwohl ihr Mann sie, wenigstens anfangs, auf Händen trug und ihr jeden Wunsch erfüllte. Später, als das kleine Mädchen gekommen war und die Mutter kränkelte und nicht mehr imstande war, ein großes Haus zu machen, wandte ihr Mann sich von ihr ab und suchte bei andern, was sie ihm nicht sein konnte. Er war kein schlechter Mann, aber schwach und hatte außerdem eine Leidenschaft für hohes Spiel. So kam's, daß er auch in seinem Vermögen zurückkam, und als er starb, vor drei, vier Jahren, war nur so viel noch übrig, daß die Seinigen nicht gerade Hunger leiden mußten.

Die einzige Tochter – nun, Sie haben sie ja selbst kennen gelernt. Sie ist ganz so brav, wie sie hübsch ist, hat gleich, sobald sie nach dem Tode des Vaters erfuhr, wie die Lage war, angefangen, Klavierstunden zu geben, um die Mutter etwas sorgenfreier zu machen. Sie ist ja auch gut katholisch, aber keine Kopfhängerin, und wie mein Junge mir sagte: Ich hab' mich mit der Erna Flamm verlobt, war ich sehr erfreut, dachte auch an nichts Arges, das von der zweierlei Konfession kommen könnte, und jetzt – o du meine Güte! Gott weiß, wie das noch ausgehen wird!

Sie müssen nämlich wissen, Herr Doktor …

Ich weiß schon, verehrtes Fräulein, fiel ihr der Konsul ins Wort. Lassen Sie mich nur gestehen, daß ich schon von dem lieben Fräulein alles erfahren habe, was Sie mir noch sagen könnten. Und nehmen Sie mir's nicht übel, daß ich ein bißchen Komödie gespielt habe. Es lag mir daran, den jungen Mann als ein Unbekannter mir darauf anzusehen, ob ich ihm diese Braut auch gönnen könnte, die mir sehr ans Herz gewachsen ist. Nun, darüber hab' ich keinen Zweifel mehr. Ihr Herr Neffe hat das Examen, das ich mit ihm angestellt, vorzüglich bestanden und auch sonst gefällt er mir so gut, daß ich wohl begreife, wie sehr er erst einem jungen Mädel gefallen muß.

Das will ich meinen! – rief das alte Fräulein lebhaft mit einem mütterlichen Stolz, der den Konsul belustigte. Er ist ganz das Bild seines Vaters, der nur leider meine ältere Schwester hübscher fand als mich, sonst wäre Leonhardchen mein Sohn geworden. Aber das hilft alles nichts. Denn so sehr er verliebt ist und seiner Frau nichts in den Weg legen wird, ihrem Glauben treu zu bleiben – in betreff der Kinder wird er hartköpfig bleiben und jetzt erst recht, da er gehört hat, die Erna sei plötzlich zu einer großen Erbschaft gekommen. Wenn er jetzt nachgäbe, würd' es ja so aussehen als hätt' ihn das elende Geld dazu verführt, was ihm ja ganz gleichgültig ist. Er verdient genug, um eine Frau zu ernähren, und wenn ich einmal zum Sterben komme, ist alles sein, was ich besitze. Nee, Herr Doktor, da kennen Sie meinen Jungen schlecht, wenn Sie das von ihm denken konnten. Ich sah's gleich, wie's aus seinen Augen blitzte, als Sie von dem verschollenen Onkel erzählten. Und da auch die Erna auf ihrem Sinn bleiben wird, wegen ihres fanatischen Beichtvaters …

Wissen Sie das so gewiß, mein Fräulein? sagte der Konsul sehr ruhig. Ich wenigstens hatte den Eindruck, sie tue es mehr der Mutter wegen und würde mit sich reden lassen, wenn sie nicht fürchtete, die leidende Frau möchte es nicht überstehen, ihr Kind sich auflehnen zu sehen gegen ein Verbot ihrer Kirche.

Und wenn es so wäre, lieber Herr? Dann wäre es ebenso hoffnungslos. Ich hab's erfahren. Wie mein Junge mir sagte, Ernas Beichtvater besteht darauf, daß die Kinder katholisch werden, hab' ich mir ein Herz gefaßt und bin hingegangen, der Mutter ins Gewissen zu reden. Ich dachte, für dein Leonhardchen kannst du dich ja wohl ein bißchen demütigen, so sauer dich's ankommt, zu bitten daß man in Gnaden einwilligen möchte, sich einen solchen Prachtjungen zum Schwiegersohn gefallen zu lassen Aber wie ich mich bei Mama Flamm melden lasse, wird mir der Bescheid, die gnädige Frau sei verhindert, mich zu empfangen. Nicht einmal die Ausrede mit Unwohlsein war ich ihr wert. Kurzweg »verhindert«! Na, ich stecke meine Blamage ein, und der verzweifelte Junge redet mir auch zu, einen zweiten Versuch zu machen und schriftlich anzufragen wann seine künftige Schwiegermutter zu einer wichtigen Besprechung für mich zu Hause sein würde. Darauf umgehend ein kurzes Billett: ich möchte ihr und mir eine Unterredung ersparen, die zu keinem Ergebnis nach meinen Wünschen, die sie ja kenne, führen würde. Ihr blute das Herz, daß sie mir keine andere Antwort geben könne, indessen eine heilige Pflicht … und so weiter.

Nun bitte ich Sie, heilig soll die Pflicht sein, zwei gute junge Menschen voneinander zu reißen und das Herz blute ihr! Kann ein Stein zu bluten anfangen? Oh, und dies ihr sogenanntes Herz ist versteinert durch Pfaffengerede, als ob der liebe Gott nicht vor allem das Glück seiner Kinder im Auge hätte, sondern nach welcher Formel ihre Nachkommenschaft getauft werden würde.

Er antwortete nicht sogleich. Dann sagte er ruhig: Nun, liebe Verehrteste, auch Ihnen scheint das ja nicht ganz gleichgültig zu sein. Aber freilich, es handelt sich nicht um die bloße Formel, sondern um das, was sich daran knüpft, und ich verstehe, daß Ihr Neffe in die Erziehung seiner Kinder niemand mit dreinreden lassen will. Nur denken auch Sie milde von den Schwächen der armen Frau und üben Duldung gegen sie. Denn trotz alledem verzweifle ich gar nicht daran, daß der Stein in ihrer Brust doch noch zum Schmelzen kommen wird.

Glauben Sie das wirklich? rief die kleine Dame, deren gutes Gesicht sich gerötet hatte, und stand auf, da die Erregung sie nicht ruhig sitzen ließ. Nun dann geschehen noch Zeichen und Wunder! Dann kommt die alte Marienkirche eines Tages zu unsrer Pfarrkirche zu Besuch und fragt, ob ihre beiden Glocken nicht einträchtiglich ein Duett läuten sollten. Nee, verehrter Herr, Frau Mathilde Flamm kennen Sie nicht. Wenn aber wirklich das Mirakel stattfände, zum drittenmal wird Rose Dornblüth sich nicht wegwerfen, den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun, sondern sie wird ruhig abwarten, ob jetzt die künftige Schwiegermama ihres Jungen sich herabläßt, ihr eine Visite zu machen, und wenn sie nicht kniefällig um die Ehre bitter, ihre Tochter Herrn Leonhard Weber zur Frau geben zu dürfen …

Kniefällig? unterbrach sie Herr Franz Firmian. Tun Sie's wirklich nicht billiger? Steht nicht geschrieben daß mehr Freude im Himmel sei über einen Sünder, der Buße tue, als über neunundneunzig Gerechte? Kommen muß sie natürlich zu Ihnen, aber Ihr gutes Herz wird fühlen wie schwer es ihr wird, und Sie werden sie aufheben, ehe sie vor Ihnen niederfällt. Nicht wahr, meine verehrte Freundin?

Das alte Fräulein sah ihn ernsthaft an, doch offenbar etwas geschmeichelt durch den vertraulichen Namen, den er ihr gab.

Das ist ja alles Schnickschnack, sagte sie kopfschüttelnd. Wir reden von etwas, das nie geschehen wird. Ich sehe, Sie möchten sich gern einen Kuppelpelz verdienen, hier aber wird alle Liebesmüh' umsonst sein. Jedenfalls war es mir sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, und wenn das mit dem Auftrag für meinen Jungen nicht etwa auch nur Komödie war …

Damit hat es schon jetzt seine volle Richtigkeit, sagte der Konsul und stand auf. Für das andere wollen wir den Himmel sorgen lassen, der ja, wie beide Konfessionen einmütig glauben, sich des Wohls und Wehs der armen blinden Menschenkinder liebevoll annimmt.

*

Mit einem herzlichen Händedruck, als wären sie alte Bekannte, hatte sich Herr Franz Firmian von Fräulein Rose Dornblüth verabschiedet. Als er aber aus dem Hause getreten war, blieb er eine gute Weile regungslos vor der Tür stehen, den Blick tiefsinnig auf seine Stiefelspitzen gerichtet.

Sein erster Gedanke war gewesen jetzt sofort an seine zweite Aufgabe zu gehen, die schwerere, deren Gelingen ihm nicht so sicher war. Doch sagte er sich, indem er seine geheime Zaghaftigkeit vor sich selbst verleugnete, die Stunde sei nicht gut gewählt. Wahrscheinlich halte Ernas Mutter jetzt ihre Siesta, und durch einen so aufregenden Besuch darin gestört zu werden, müsse auf ihren leidenden Zustand nachteilig wirken. Auch das grelle Tageslicht schien ihm zu einem fast märchenhaften Wiedersehen nach so langen Jahren keine passende Beleuchtung. So entschloß er sich, den Abend abzuwarten und zunächst den Besitzer des einsamen Hauses aufzusuchen dessen elegante Villa der freundliche Bürger ihm am Vormittag gezeigt hatte.

Er fand ihn noch zum Glück, da er eben im Begriff war, sich wieder nach seinem Kontor in der Stadt zu begeben. Da sich's aber, als der Konsul seinen Namen nannte, herausstellte, daß sie von Nizza her gemeinsame geschäftliche Beziehungen hatten, war auch das, was Franz Firmian hergeführt hatte, bald zu einem erwünschten Abschluß gediehen. Zu einem vorläufigen wenigstens. Der Preis machte keine Schwierigkeiten, da der jetzige Besitzer sein Eigentum, das er nicht mehr benutzte und doch unterhalten mußte, gern los sein wollte. Erst aber wünschte der Käufer es etwas gründlicher zu besichtigen, weshalb der Besitzer ihm den Schlüssel einhändigte und seinen eigenen Gärtner ihm mitgab, da er selbst nicht die Ehre haben könne, den Herrn Konsul zu begleiten, weil die Nachmittagspost auf ihn warte.

Zu seiner Freude fand der Konsul, als er das Haus vom Keller bis unter das Dach durchwanderte, daß es durchaus, mit dem nötigen Auf- und Ausbau, seinen Ansprüchen an das zu gründende »Familienhaus« genügen würde. Ja als er, an einem der so lange verschlossenen Fenster stehend, hinausblickte und zu beiden Seiten die frischen grünen Baumwipfel und ihm zu Füßen das verwahrloste Gärtchen sah, das neu zu pflanzen eine freundliche Mühe sein würde, überkam ihn schon etwas von dem erquicklichen Gefühl des Friedens, das er sich von der Zukunft unter diesem Dache, umgeben von Menschen, die ihm teuer wären, versprach.

So entließ er den Gärtner mit der Bestellung an seinen Herrn, er habe alles nach Wunsch gefunden, und einem so reichen Trinkgeld, als sei es nicht die Belohnung für den kleinen Dienst, sondern eine Caparra, das Drangeld, das bei Kaufabschlüssen üblich ist.

In sein Hotel zurückgekehrt, fühlte er sich doch ein wenig ermüdet nach den mancherlei Erlebnissen dieses Tages, streckte sich auf seinen Diwan und verschlief ein paar Stunden bis der rasselnde Omnibus, der neue Gäste von der Bahn brachte, ihn weckte. Es war Abend geworden, aber die Junisonne schien ihm noch ins Zimmer. Nun hatte er keinen Vorwand mehr, länger zu säumen.

Doch als er den Weg nach dem Hause einschlug, wo er den verhängnisvollen Besuch machen wollte, blieb er ein paarmal stehen. Mönchlein, Mönchlein, sagte er laut vor sich hin, du gehst einen schweren Gang. Aber Gott helfe dir, du kannst nicht anders!

So nahm er den Hut ab, strich sich über die Stirn und setzte ihn mit entschlossener Gebärde wieder auf.

Das Haus, in dem seine alte Flamme wohnte, war ein großes dreistöckiges Gebäude, das sie nach dem Tode ihres Mannes hatte verkaufen müssen, da es mit Hypotheken überlastet war. Sich selbst hatte sie nur eine kleine Wohnung im Entresol vorbehalten, hinten hinaus nach einem Garten gelegen, dessen Benützung der jetzige Besitzer ihr eingeräumt hatte.

Dem Konsul klopfte stark das Herz, als er an der Klingel zog, nachdem er noch ein paar Minuten vor der Tür sich gesammelt hatte. Ein Dienstmädchen öffnete, die gnädige Frau sei zu Hause, empfange aber nicht gern zu dieser Zeit. Wen sie melden solle? – Sagen Sie nur: ein alter Freund.

Gleich darauf wurde er gebeten, einzutreten, durchschritt einen engen Vorplatz und öffnete dann, ohne anzuklopfen die Tür zu einem Zimmer, das noch von einer rosigen Dämmerung erhellt war.

*

Die Frau, die auf einer Chaiselongue am Fenster geruht hatte, ließ bei seinem Eintritt das Buch, in dem sie gelesen, sinken und erhob sich mit etwas müder Haltung. Sie hatte eine schlanke, trotz ihrer fünfzig Jahre noch jugendliche Gestalt, auch ihr feines blasses Gesicht trug jenen fast mädchenhaften Ausdruck, den Frauen zuweilen bewahren, die mehr leidend als handelnd durchs Leben gegangen sind. Besonders rührend war der Blick ihrer Augen mit den edelgeformten breiten Lidern, unter denen sie wie suchend und unsicher hervorsahen. Ihr reiches Haar war ergraut, doch mit einem silbernen Glanz, und sie schien Wert darauf zu legen, es zierlich zu frisieren

Das alles sah Franz Firmian auf den ersten Blick, das alles erkannte er wieder, und was die Zeit an der geliebten Gestalt verändert hatte, verschwand vor seinen leise überfließenden Augen, die seinen Jugendtraum wieder vor sich hintreten sahen. Er war unfähig, ein Wort vorzubringen, hielt den Hut zitternd in der Hand und blieb an der Tür stehen, die er hinter sich geschlossen hatte.

Wollen Sie die Güte haben, mein Herr, mir zu sagen, mit wem ich die Ehre habe – hörte er jetzt die Frau sagen. Das Mädchen hat mir nur gemeldet: ein alter Freund. Verzeihen Sie, daß ich Sie nicht gleich erkenne. Meine Augen sind schwach geworden, und es ist nicht mehr tageshell im Zimmer.

Noch immer kam kein Laut von dem seltsamen Besucher. Nach einer kurzen Pause schien die Frau ungeduldig zu werden. Mein Herr, sagte sie, ich muß wirklich bitten …

Mathilde! klang es jetzt von der Tür her. Die Frau fuhr zusammen.

O Gott! hauchte sie – ist es möglich? Die Stimme! …

Sie trat an die Chaiselongue zurück, mit der Hand nach der Lehne tastend, die Augen starr auf den unbeweglichen Mann gerichtet wie auf ein Gespenst. Jetzt tat er endlich ein paar Schritte vorwärts und sagte, sich mühsam fassend: Ich bin es, Mathilde! Deine Augen, auch wenn sie nicht getrübt wären, würden mich kaum wieder erkennen. Meine Stimme aber, sehe ich, hat dein Herz nicht vergessen. Hab' ich dich erschreckt? Verzeih – ich mußte kommen – ich konnte nicht länger – das Heimweh wurde zu stark – aber um Gottes willen …

Er sah, wie sie taumelte und auf das Ruhebett zurücksank, und stürzte zu ihr hin. Was ist dir? rief er. Soll ich gehn? Soll ich das Mädchen rufen?

Sie hatte die Augen geschlossen, doch nur ein paar Sekunden Dann schüttelte sie den Kopf und bemühte sich aufzustehen, konnte es aber nicht. Es ist nichts, hauchte sie. Bleib! Es geht vorüber. Bitte – setz dich! Nur noch einen Augenblick – bis ich mich gefaßt habe!

Er hatte einen Stuhl zu ihrem Fenster hingerückt, so saßen sie stumm einander gegenüber, jedes in dem Gesicht des andern nach den Schicksalen spähend, die sie fern voneinander erlebt hatten.

Ist es denn wahr? sagte sie endlich ganz leise. Mein Traum soll in Erfüllung gehen? Ich soll dich noch einmal sehen, ehe ich die Augen für immer schließe? Oh, wie ich meinem Gott dafür dankbar bin! Und du bist gekommen, weil dich's nach Hause trieb und auch – zu mir! Lieber, liebster Freund, wie glücklich hast du mich gemacht!

Eine zarte Röte stieg ihr bei diesen Worten in das blasse Gesicht, sie streckte unsicher, wie immer noch zweifelnd, ob er auch in Fleisch und Blut vor ihr säße, die schmale, weiße Hand nach ihm aus, die er ergriff und zitternd an seine Lippen drückte.

Ja, sagte er endlich, ich hielt es nicht länger aus in der Fremde. Ich mußte kommen und sehen, wie viel ich von allem, was ich einst hier besessen, noch wiedergewinnen könnte. Von dir … ich hatte mir alle Nachrichten eigensinnig ferngehalten … daß du … dich verheiratet haben würdest, setzte ich voraus … wenn du gestorben wärst, hätte auch ohne Traueranzeige das Herz mir's gesagt. Wie ich dich aber finden würde … ob ich wagen dürfte, noch einmal vor dich hinzutreten … das mußte ich erfahren. Und wußte auch, ich mochte es finden wie ich wollte … hier in der Heimat würd' ich bleiben, solange ich noch atmete. Und jetzt … jetzt find' ich dich so  … noch immer, wie ich dich in meinem Herzen getragen … dein Gesicht  … deine liebe Stimme … und auch du sagst, daß es dich glücklich mache … o meine arme Freundin, deine Augen sollen nun wieder hell werden und noch heitere Tage sehen!

Das Aufleuchten der Freude in ihren Augen, als er so innig zu ihr gesprochen hatte, schwand plötzlich, und ein schwerer Seufzer hob ihre Brust.

Heitere Tage? Auf die habe ich für alle Zeit verzichtet. Für mich ward der Verzicht mir nicht schwer. Ich habe mit meinem Leben abgeschlossen. Aber für das einzige Wesen, das mir noch als ein Trost geblieben ist nach so vielem Kummer, für das hofft' ich noch auf ein schönes Lebensglück, an dem auch ich dann mich hätte freuen können. Und daß mir diese Hoffnung nun geschwunden ist …

Die Stimme versagte ihr. Sie drückte ihr Tuch gegen die Augen, die sich mit Thränen füllten.

Meine geliebte Freundin, sagte er, auch diese Thränen werden hoffentlich versiegen und die heiteren Tage dennoch kommen. Ich kann deine Stimmung ja begreifen, ich habe dein Kind durch eine seltsame Fügung in Kissingen kennen gelernt und so vollständig ihr Vertrauen gewonnen, daß sie mir alles gesagt hat, was euch beiden das Herz beschwert.

Sie hob in großer Bewegung den Kopf und sah ihn fragend an.

Du hast sie gesprochen? Oh, dann weißt du ja, daß alles hoffnungslos ist. Dies Kind unglücklich zu sehen und nicht helfen zu können, nicht um den Preis meines eigenen Lebens … oh, wenn du sie näher kenntest … wenn du wüßtest, was sie mir all die Jahre gewesen ist, eine Schwester mehr als eine Tochter … und nun sie hinsiechen zu sehen, da sie für den Kampf, der ihr auferlegt ist, nicht Kraft genug hat … o Franz, es ist furchtbar! Und doch, wenn es Gottes Wille nicht ist, daß sie glücklich werden soll an der Seite dieses lieben Menschen, der ihr Herz gewonnen hat …

Gottes Wille? unterbrach er sie lebhaft. Wissen wir kurzsichtigen Menschen was Gott will oder nicht will? Weißt du es, und nicht vielmehr, was Menschen wollen, was in diesem Falle ein Mensch will oder vielmehr nicht will? Und diesem einen räumst du die Macht ein, über das Lebensglück deines Kindes zu entscheiden?

Sie sah traurig von ihm weg und auf den Teppich nieder.

Schone mich! hauchte sie. Wir können uns nicht verstehen. Dieser eine Mensch … für mich und mein Kind ist er der Vertreter des göttlichen Willens. Wenn wir uns auflehnten gegen ihn, würden wir uns von der Kirche trennen, deren Diener er ist … wo fänden wir dann einen Halt in allen Stürmen des Lebens?

Er antwortete nicht sogleich. Er sah kummervoll auf das schöne, ihm so teure Gesicht, das schmerzlich von ihm abgekehrt war. Dann sagte er, so sanft wie man zu einem kranken Kinde spricht: Beruhige dich, liebe Teuerste! Fürchte doch nicht, daß ich dich an dem irre machen möchte, was deine Seele bedarf, um mit ihrem Gott sich einig zu fühlen. Aber auch deine Vernunft ist dir von Gott gegeben und soll dir vorleuchten, wenn Gottes Wege dir dunkel erscheinen. Und wie kannst du, wenn du dich ihrer recht bedienst, recht ruhig nach der Wahrheit trachtest, sagen, daß es keinen Halt für dich gebe, als im unbedingten Gehorsam gegen jedes Wort, das ein Diener deiner Kirche zu dir spricht? Sind nicht unzählige Menschen anderen Glaubens als du, und sie alle gingen ohne sittlichen Halt durchs Leben und schwankten in seinen Stürmen trostlos und führerlos hin und her? Nicht, daß dein Glaube dich beseligt, bestreite ich dir, nur daß er allein zur Seligkeit führe. Und wo ist dieser Glaube zu finden? In deiner Kirche? Aber so göttlich ihr Ursprung sein mag, wie viel Menschenwerk hat daran mitgearbeitet, verschieden in verschiedenen Zeiten? Und ein einzelner Mensch könnte sich vermessen, daß er nach jahrtausendlangem Kampf und Zwist im Alleinbesitz der Wahrheit sei? Allein imstande, alle Rätsel des Menschenherzens zu lösen und jedem Suchenden und Irrenden das eine, was not sei, vorzuschreiben? Und von einem einzelnen Menschen, der den unverbürgten Anspruch erhebt, genau zu wissen, was der Wille Gottes ist, wolltest du das Lebensglück deines einzigen Kindes abhängig machen? O liebes Herz, damals, als es sich um unser Glück handelte und du auch glaubtest, du müssest dein liebstes Glück Gott zum Opfer bringen, da waren es auch Menschen, denen du mehr gehorchtest, als der Stimme Gottes in deinem Herzen. Damals aber war es der Wille deiner Eltern, kein priesterliches Machtwort, dem du dich beugtest. Als ein frommes Kind fühltest du die Pflicht, deine Eltern zu ehren, auf daß es dir wohl gehe und du lange lebest auf Erden. Hat diese Verheißung sich erfüllt? Ist es dir wohl gegangen und wirst du lange leben, wenn dieser Gram an deinem Herzen nagt?

Sie weinte still vor sich hin. Er stand auf und ging ein paarmal durch das Zimmer, aus dem die letzte Tageshelle gewichen war. Dann trat er wieder zu ihr und legte sanft seine Hand auf ihren gesenkten Kopf.

Mathilde, sagte er, ich kann es dir nicht ersparen, zu hören, daß du eine Schuld wieder gutzumachen hast, die du freilich in der Unerfahrenheit deiner Jugend für das Gegenteil, für ein Verdienst halten konntest: daß du dein Herz verstummen hießest und am Altar Worte sprachst, die die Stimme Gottes in dir Lügen strafte. Nun sind zwei Menschen durch diese Lüge um ihr Lebensglück gekommen. Auch ich  … obwohl ich nicht durch die Welt gefahren bin, ohne hin und wieder ein flüchtiges Liebesglück zu genießen, manchmal sogar die Illusion einer wirklichen Liebe … wenn Ernst damit werden sollte und ich mich fragte, ob ich einen Bund für das Leben schließen könnte  … immer trat dein Bild dazwischen. So kann es doch nicht werden, sagt' ich mir … und blieb allein. Das liegt nun hinter uns, wenn es auch nie ganz zu verwinden ist. Aber zwei neue junge Menschenleben stehen auf dem Spiel … sollen die wieder einem falschen Begriff von dem, was Gottes Wille ist, zum Opfer fallen?

Ich habe den Verlobten deines Kindes kennen gelernt und erkannt, daß er ganz so ist, wie eine liebevolle Mutter sich ihren Schwiegersohn nur immer wünschen kann. Ich bin auch gewiß, er wird seiner lieben Frau nichts in den Weg legen, was sie in der Befriedigung ihrer frommen Herzensbedürfnisse stören könnte. Kannst du nun wollen, daß sie trotzdem getrennt bleiben sollen, nur weil ein fremder Mann, der irren kann wie alle Menschen, ob du ihm auch eine höhere Weihe zuschreibst, über die Zukunft der Kinder zu entscheiden sich anmaßt? Wenn er darum ihrer Mutter die Pforte seiner Kirche verschließen will  … scheint er dir dann noch in Wahrheit ein Prediger des Evangeliums der Liebe?

Er verstummte eine Weile und wartete, was sie erwidern würde. Sie richtete sich endlich auf.

Verzeih mir, sagte sie, wenn ich dir nicht gleich antworten kann. Dein Geist ist klarer als meiner, und du hast die Macht, mein Innerstes zu bewegen, alles zu erschüttern, was ich für das Festeste in mir hielt. Habe Geduld mit meiner Schwachheit und laß mir ein wenig Zeit. Doch wenn ich mich auch am Ende zu deiner Ansicht von dem, was meine Pflicht wäre, bekehren sollte … ich bin es ja nicht allein, die hier zu entscheiden hat. Auch Erna … wird sie es über sich gewinnen, nur ihrem Herzen zu folgen, auf die Lossprechung in der Beichte zu verzichten, dann auch auf die kirchliche Einsegnung ihrer Ehe und weiterhin auf den Empfang des Abendmahls in unserer Kirche? Sie hat es immer ernst genommen mit der Übung ihrer religiösen Pflichten. Wird sie selbst an der Seite des Mannes, den sie über alles liebt, nicht doch fürchten, die Gnade Gottes verscherzt zu haben?

Auch darüber kann ich dich beruhigen, versetzte er. Ich habe diesen Punkt im Gespräch mit ihr berührt. Sie hat mir gestanden, daß sie hoffe, sich mit Gott zu versöhnen auch als gehorsame Frau ihres Gatten. Sie fürchte nur, ihrer geliebten Mutter einen so großen Schmerz dadurch zu bereiten, daß am Ende gar ihr Leben bedroht würde. Wenn sie erfährt, daß diese Gefahr nicht besteht  …

Frau Mathilde erhob sich. Ich danke dir, mein teuerster Freund. Ich habe dir das Bitterste angetan, was du im Leben erfahren konntest … und du erweisest mir nun die größte Wohltat, die ich noch im Leben zu hoffen hatte. Aber ich kann noch nichts sagen, die Gedanken taumeln mir durcheinander. Über Nacht werden sie zur Ruhe kommen. Und so wollen wir für heute uns trennen.

Sie bot ihm die Hand, und während er sie gerührt in der seinen hielt, sagte er: Nun noch eins. Ich habe auch Leonhards Tante kennen gelernt, die vortrefflichste Seele von der Welt, und sie war so glücklich über die Wahl ihres Jungen, da sie nicht nur die Braut in ihr Herz schließen konnte, sondern auch für deren Mutter stets eine stille Neigung aus der Ferne gefühlt hatte. Du aber hast sie schwer gekränkt durch deine entschiedene Weigerung, sie auch nur zu sehen oder sie in ihrem Briefe anzuhören. Sie ist wahrhaft aufgebracht gegen dich und erklärte, wenn die Sache überhaupt noch zustande kommen sollte, müßte sie verlangen, daß du zu ihr kommen, Abbitte leisten und um die Hand ihres Neffen für dein Kind werben wolltest. Wie ich sie kenne, wird sie es dir nicht schwer machen, diese Buße zu vollziehen, so eifrig sie sich jetzt gebärdet. Und nun will ich dich verlassen und wünschen, daß dir über Nacht nur gute Gedanken kommen mögen, mit denen du ruhig einschlafen kannst.

Er drückte einen innigen Kuß auf ihre Hand und verließ das Zimmer.

*

Ein glückliches Lächeln schwebt auf seinen Lippen, als er ins Freie trat, und so zögernd und unsicher er gekommen war, so raschen Schrittes wie ein junger Mann schlug er den Weg nach seinem Gasthof ein. Auch die Stadt mißfiel ihm nicht mehr, die hohen Häuser mit ihren gemütlosen Stuckdekorationen schienen ihm auf die bescheidenen Nachbardächer nicht hochmütig herabzublicken, sondern sie gleichsam unter ihren Schutz zu nehmen, und die Geschäftsleute, die hastig an ihm vorbeieilten, lauter gute Menschen zu sein, die sich nach dem Frieden ihres Hauses sehnten. So sehr beglückte ihn das Nachgefühl der Stunde, in der seine Jugend leibhaft wieder vor ihn hingetreten war.

Plötzlich aber stand er still, blickte starr zu Boden und tat einen tiefen Seufzer.

Franz Firmian, sagte er laut vor sich hin, du bist ein großer Tor! Gut, daß dein Ehrgeiz nicht über den Konsul hinausging, denn in der diplomatischen Karriere hättest du's nicht weit gebracht, sondern dich unsterblich blamiert. Diese deine diplomatische Mission hast du täppischerweise völlig verpfuscht. Statt behutsam vorzugehen, die liebe Frau an ihren Vorurteilen nach und nach irre zu machen und ihren Seelenfreund, den Pfaffen, ihr allmählich in seiner wahren Gestalt zu zeigen, bist du mit der Tür ins Haus gefallen und glaubst nun das Spiel gewonnen zu haben, während sie jetzt, wo sie allein geblieben, zur Besinnung kommen wird und sich erinnern, daß sie einem gottlosen Ketzer kein Wort von allem zu glauben braucht. Wer steht dir dafür, daß sie nicht sofort zu ihrem Beichtvater flüchtet, um ihn aufs Gewissen zu fragen, ob sie sich erlauben dürfe, ihm ungehorsam zu sein? Es steckt zu tief in ihr, dies Credo quia absurdum est. Zu lange hat sie Worte nachgesprochen, die keinen Sinn haben, um nicht in dem törichtsten Handeln Sinn und Verstand zu finden.

Aber nein, Franz Firmian, du tust ihr unrecht. Wenn ihr Kopf auch nicht gleich ins reine kommen kann mit einer so schwierigen Aufgabe, in ihrem Herzen ist's hell geworden, das sprach aus ihrer Stimme, mehr als aus ihren Worten. Verlange nur nicht, daß es so rasch gehen soll, gib ihr ein paar Tage Bedenkzeit, aber dann … es müßte mit dem Teufel zugehen …

Er stieß den Stock hart gegen das Pflaster, hob dann aber den Kopf und setzte seinen Weg fort, nicht mehr so beschwingten Fußes wie vorher, doch mit sicherem Schritt.

Den Rest des Tages verbrachte er auf seinem Zimmer hin und her gehend, dazwischen wieder ein paar Seiten in seinem Montaigne lesend, bis er so müde geworden war, daß er zu schlafen hoffen durfte.

Dazu kam er aber erst nach Mitternacht, und als er am hellen Morgen aufwachte, stand die Sorge, wie sich's entscheiden würde, wieder unheimlich vor seinem Geist. Er frühstückte unten im Saal, horchte beständig nach der Tür, ob kein Bote einträte und nach ihm fragte, und ging endlich wieder auf sein Zimmer, nachdem er dem Portier eingeschärft hatte, einen Brief, der etwa für ihn abgegeben würde, unverzüglich zu ihm hinaufzubringen.

So vergingen ihm ein paar Stunden in peinlicher Unruhe. Als es zehn geschlagen hatte, hielt er es nicht länger aus, zumal es schon anfing, heiß und dumpf in seinem Zimmer zu werden. Es war ja auch so aussichtslos, heute schon einen Erfolg seines übereilten Mittlergeschäfts zu erwarten. Ein Gang ins Freie würde ihm wohl tun. Auch konnte er Fräulein Rose Dornblüth aufsuchen und ihr so viel Hoffnung machen, als er selbst trotz aller Bedenken in sich trug.

Da, als er eben den Hut aufgesetzt hatte und den Stock ergriff, hörte er leise an seine Tür klopfen. Herein! rief er hastig und dachte den Kellner mit einer Botschaft eintreten zu sehen. Da ging die Tür auf, und Frau Mathilde trat schüchtern über die Schwelle.

Du selbst … du kommst selbst! O meine Freundin, rief er, das hätt' ich nicht zu hoffen gewagt. Aber komm, setze dich … sage mir  …

Er führte sie zu dem Diwan zwischen den Fenstern und sah jetzt im hellen Tageslicht, was er gestern abend in der rosigen Dämmerung nicht erkannt hatte, daß die langen Jahre ihres unfrohen Lebens nicht spurlos an ihrem Gesicht vorüber gegangen waren. Und doch rührten diese verblichenen Züge, diese immer noch schönen, doch von vielem Weinen ermatteten Augen sein Herz tiefer, als wenn seine Jugendliebe in unverwelktem Reiz vor ihn hingetreten wäre. Und ein stilles, schüchternes Lächeln glänzte auf ihrem Gesicht, als sie jetzt sagte: Ich darf mich nicht niederlassen, du warst im Ausgehen begriffen, und ich will dich nicht aufhalten. Ich komme nur zu sagen, daß ich … gleich heute … die Nacht habe ich kein Auge zugetan … ich wußte, auch wenn ich noch viele Tage zu Gott um Erleuchtung betete, einen anderen Entschluß würde er mir nicht ins Herz geben. … O es ist so furchtbar schwer, das aufgeben zu sollen in seinen alten Tagen, was durch ein langes Leben uns den inneren Frieden gegeben hat trotz aller Schmerzen: die Zuversicht, auf dem rechten Wege zu sein, der zu Gott führt. Wie schwer habe ich in mir kämpfen müssen, bis ich erst erkannte, was mich aus dem Irrsal herausführt: daß jeder Mensch sein eigenes Leben lebt und für sein Tun und Lassen ganz allein vor Gott die Verantwortung übernimmt, da nur er weiß, was zum Heil seiner Seele not tut. Wenn mein Kind anders empfindet als ich, dürfte ich, da es doch eine ernste und gewissenhafte Seele hat, mich ihm widersetzen, wenn es seinen eigenen Weg gehen will? … Da hab' ich mich in aller Frühe aufgemacht, meinen Bußgang, wie du es nanntest, anzutreten, um nicht wieder irre an meinem Entschluß zu werden, und jetzt komme ich eben von dem guten Fräulein, Leonhards Tante, und habe ihr's abgebeten, und wir haben uns eine Stunde lang ausgesprochen wie die besten Freundinnen. O mein teurer Freund, jetzt ist alles gut, und es hat mich gedrängt, dir zu danken, daß du mir geholfen hast, wo mein Verstand und mein eigenes Herz mich im Stich zu lassen drohten!

Die Augen gingen ihr über, sie haschte nach seiner Hand, wie um sie an die Lippen zu drücken, ganz wie ihre Tochter getan hatte, er ließ es aber nicht dazu kommen, sondern schlang die Arme um sie und drückte sie ans Herz.

Meine alte Geliebte, stammelte er, meine einzige Freundin, das löscht allen Kummer, den ich um dich gefühlt, in meiner Erinnerung aus … ich fange noch einmal zu leben an … o und unser Kind und die andern lieben Menschen …

Sie standen eine Weile, sich umschlungen haltend, stumm in übergroßem Glücksgefühl, als wenn sie jetzt erst sich wiedergefunden hätten.

Dann löste sie sich sanft aus seiner Umarmung. Ich will nun gehen  … nein, begleite mich nicht …

Warum bist du so eilig?

Ich fühle, daß ich der Ruhe bedarf … nach dieser Nacht und allem Erlebten. Und dann … sie errötete, was ihr sehr lieblich stand … ich bin etwas schwach, ich bin fortgegangen, ohne zu frühstücken … ich hätte keinen Bissen genießen können …

Wenn es weiter nichts ist …! rief er in fröhlichster Laune, dafür kann Rat werden. Ich lasse dich nicht aus dem Zimmer, ehe du dich gestärkt hast. Nur fünf Minuten …

Er eilte nach dem elektrischen Knopf und gab dem eintretenden Kellner eine Weisung, während die Frau sich auf dem Diwan niederließ, wie im Traum vor sich hinblickend. Ihr Freund nahm dann neben ihr Platz, drückte ihr die Hände und sprach leise in sie hinein, nicht von der Hauptsache, nur vom schönen Wetter und wie gut er im Hotel aufgehoben sei. Als dann der Tee gebracht worden war, ließ er sich's nicht nehmen, sie zu bedienen, ihr einzuschenken … nur ein Stück Zucker, das hab' ich noch behalten seit damals, als ich zum erstenmal am Teetisch deiner Eltern sitzen durfte … Oh, meine Freundin, daß ich dir nun gegenübersitzen darf, nichts mehr zwischen uns … und nun wird es oft so sein … und liebe Gesichter werden am Tische mit sitzen und sich mit uns der Sonne Gottes freuen … Komm, versuche einmal dies Gebäck … oder willst du Honig nehmen?

Ein rasches Klopfen unterbrach ihn. Die Tür wurde aufgerissen, und der Bräutigam, Herr Leonhard Weber, trat hastig ein, ohne das Herein! abzuwarten. Sein Gesicht glühte, seine Augen strahlten. Verzeihen Sie, Herr Doktor, stammelte er, ich mußte kommen, habe vergessen, mich anmelden zu lassen … o Herr Doktor … teure, verehrte Mutter …

Er stürzte zu Frau Mathilde hin und glitt vor ihr auf den Teppich nieder. Die Tante ist selbst zu mir auf den Arbeitsplatz gekommen, mir zu sagen, wie gütig … wie engelsgut Sie zu ihr gewesen sind, und wie nun unserem Glück nichts mehr im Wege steht. Wie soll ich Ihnen je genug danken, wie Ihnen das Opfer vergüten, das Sie mir doch bringen müssen  …

Er ergriff die Hand, die zitternd in ihrem Schoße lag, und drückte in höchster Aufregung seine Lippen darauf. Da hörte er den Alten sagen: Junger Freund, ich finde Ihr ungestümes Betragen zwar begreiflich, aber doch nicht richtig. In solchem Augenblick fällt man einer verehrten Frau, der man sein Lebensglück verdanken soll, nicht zu Füßen, sondern um den Hals und sagt nicht Sie zu ihr, sondern du. Und was das Vergüten betrifft, so ist die Sache sehr einfach: sie verlangt nur, daß Sie ihr Kind so glücklich machen, wie sie's verdient, und das werden Sie hoffentlich zustande bringen. Nun aber, meine verehrten Herrschaften, muß ich bitten, mich zu verlassen. Es ist die höchste Zeit, meine Siebensachen einzupacken, meine Rechnung zu bezahlen und nach dem Bahnhof zu fahren.

Du willst abreisen, so eilig? sagte Frau Mathilde bestürzt und erhob sich vom Sofa.

O Herr Doktor, rief nun auch der junge Mann, ist das Ihr Ernst? Meine Tante hat mir aufgetragen, Sie zu Tisch zu bitten. Sie wäre so glücklich, Ihnen sogleich danken zu können.

Ich bedaure, lieber Leonhard, sagte der Konsul, ich wünsche mir so rasch als möglich einen anderen Dank zu holen. Wenn ich den nächsten Zug nehme, bin ich heut abend noch bei guter Zeit in Kissingen. Ich gönne es keinem Telegraphenboten, zu sehen, wie die frohe Botschaft einer jungen Kranken, die ich sehr liebe, plötzlich zu voller Genesung verhilft. Nein, lieber Freund, Sie dürfen mich nicht begleiten. Für Sie habe ich indessen eine andere Aufgabe. Ich händige Ihnen hier den Schlüssel zu dem bewußten Gartenhaus ein, das Sie mir zu einem Familienhaus umbauen sollen. Bis ich übermorgen mit meiner neuen Tochter zurückkehre, kann die Skizze des Umbaues schon vorliegen … im Erdgeschoß Raum für ein glückliches junges Paar, in der Beletage zwei Wohnungen für eine Mutter und eine Tante, im oberen Stock ein paar Zimmer für einen Familienvater, der sich das Talent zutraut, auf seine alten Tage noch eine fröhliche Kunst zu lernen, l'art d'être grand-père, und keine weiteren Ansprüche an die Hausgenossen macht, als daß sie einträchtig beisammen wohnen, nie über Glaubenssachen reden und jeder dem andern so viel Liebe erweist, wie er ihm an den Augen absehen kann. Sollte einem alten, heimatlosen Weltwanderer dieser Traum nicht noch in Erfüllung gehen? Und wenn es unwahrscheinlich ist, daß jemals die ganze bewohnte Erde ein einziges großes Familienhaus, ein Friedenheim, werden könnte, in welchem alle Völker als oberstes Gesetz Duldung und brüderliche Hilfleistung anerkennen … wäre es nicht des Opfers von Meinungen und Glaubensartikeln wert, wenn schon jetzt hie und da im kleinen ein Anfang gemacht würde?

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