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Seelsorger

(1909)

 

—————

 

Die kleine Stehuhr auf dem Schreibtisch des alten Arztes tat acht Schläge und kündigte damit das Ende der abendlichen Sprechstunde an, in der der Sanitätsrat seiner Armenpraxis oblag, da die Arbeiterbevölkerung, die seinen Rat suchte, nach Feierabend am besten Zeit dazu hatte. Für seine Patienten aus den höheren Kreisen war er am Vormittag zu sprechen und konnte sich auch dann des Zulaufs nicht erwehren, obwohl er neben der hohen Meinung von seiner ärztlichen Einsicht im Rufe stand, verwöhnte und anspruchsvolle Herrschaften nicht eben sanft zu behandeln. Gegen das geringe Volk kehrte er nie das Rauhe heraus und genoß deshalb bei den kleineren Leuten einer unbegrenzten Liebe und Verehrung.

Er hatte ein Rezept geschrieben und reichte das Blatt jetzt der alten Frau, die wartend neben seinem Sessel stand. Nehmen Sie das, sagte er, und lassen's gleich in der Apotheke machen. Es kostet nichts. Morgen seh' ich selber nach. Gute Nacht!

Die Frau bückte sich, seine Hand zu küssen, er zog sie rasch zurück und klopfte ihr auf die Schult. Als sie sich dann mit vielen linkischen Verbeugungen entfernt hatte, stand er auf, fuhr sich über die Stirn mit einem Seufzer der Erleichterung und drückte auf einen elektrischen Knopf.

Gleich darauf trat sein alter Diener ein mit fragender Gebärde.

Bringen Sie mir meinen Gehrock, Friedrich, sagte der Alte, und holen Sie mir dann eine Droschke. Ich muß zu meiner Schwester.

's ist noch jemand im Wartezimmer, Herr Sanitätsrat.

Schicken Sie ihn fort. Er soll morgen wiederkommen, die Sprechstunde ist vorüber. Oder sieht er sehr leidend aus?

Nein, Herr Sanitätsrat. 's ist ein ganz adretter, junger Mann, sagt, er habe Herrn Sanitätsrat bloß eine kurze Frage zu tun.

Nun, so lassen Sie ihn 'rein!

Der Diener verschwand, gleich darauf öffnete er die Tür und ließ einen hochgewachsenen jungen Mann im einfachen, aber sauberen Anzug eines Arbeiters, der eben aus der Werkstatt kommt, eintreten, eine kraftvolle Gestalt, auf den breiten Schultern ein runder Kopf mit buschigem Haar, in dem hübschen Gesicht ein Ausdruck von Trübsinn, der der gesunden Röte der Wangen widersprach.

Er blieb nahe bei der Tür stehen, offenbar in einiger Verlegenheit, und verneigte sich schweigend.

Sie sind's, Emmerich! rief der Arzt. Was führt Sie einmal wieder zu mir und zu so später Zeit? Doch nichts Unliebsames?

Verzeihen der Herr Sanitätsrat, sagte der junge Mann, ich komm' immer erst so spät von der Arbeit weg, ich bin Vorarbeiter geworden, da ist nach Feierabend immer noch so viel vorzurichten für morgen. Der Meister will das Geschäft noch vergrößern, es soll eine ordentliche Möbelfabrik werden, da werd' ich als Werkmeister angestellt.

Das ist ja schön, Emmerich, da kann man Ihnen gratulieren.

Ja, Herr Sanitätsrat, wenn die Karoline das noch erlebt hätte, dann würd's mich auch freuen. Aber so! Es kommt ja auch mal dem Jungen zu gut, dem Karlchen, aber das Beste fehlt denn doch. Es hilft freilich nichts, man muß es nehmen, wie's einem gegeben wird.

Eine kleine Pause entstand. Der junge Arbeiter sah düster zu Boden.

Nun, an dem Kerlchen werden Sie ja wohl Freude haben, sagte der alte Arzt. Er hat sich doch gesund entwickelt?

Freilich, Herr Sanitätsrat, es fehlt ihm nichts, mit seinen vier Jahren halten ihn alle für fünfjährig. Und doch – 's ist eben seinetwegen, daß ich mir erlaubt habe –

Erklären Sie sich, lieber Emmerich. Setzen Sie sich doch. Ich habe zwar nicht viel Zeit –

's ist gleich abgetan, Herr Sanitätsrat. Ich muß nämlich ausziehn, zu Michael, und es ist mir eine Wohnung angeboten worden an der Gartenstraße, soweit ganz wie ich sie brauche, auch die Miete nicht viel höher als meine jetzige, aber ein Bekannter hat mir 'nen Floh ins Ohr gesetzt, es wär' keine gesunde Gegend, bei Hochwasser, wenn der Fluß austräte, käm's bis in die Keller, das bliebe dann in den Mauern sitzen. Da wollt' ich fragen, ob's dem Karlchen nicht etwa schaden könnte. Der Herr Sanitätsrat kennen ja wohl die Gegend, und wenn Sie abraten –

Die Sach' ist nicht so gefährlich, Emmerich. Bloß ein paar Häuser, die besonders tief stehen und sehr alt sind, möchten verdächtig sein. Welche Nummer ist's denn?

Nummer 14, Herr Sanitätsrat.

Ich will mir das Haus einmal ansehn, wenn ich vorbeifahre, und Ihnen dann Bescheid sagen. Aber warum müssen Sie denn ausziehn? Es war ja eine so schöne Wohnung und nahe bei Ihrer Werkstatt.

Der junge Tischler zauderte eine Weile, ehe er mit der Antwort herauskam.

Ja sehen Sie, Herr Sanitätsrat. 's ist 'ne eigne Geschichte. Die Wohnung ist mir ja auch besonders lieb, schon weil ich mit meiner armen Frau drin erst so glücklich war, die ersten zwei Jahre, und dann haben die Stuben ihr ganzes Leiden mit angesehen, und wie tapfer sie's ertragen hat, und nur an das Kind und ihren Mann gedacht, daß denen nichts abgehen sollte. Und der kleine Garten hinterm Haus ist gerade wie für den Jungen gemacht, er kann da mit den Nachbarskindern spielen, und wenn die Christel, seine Wärterin, mal was in der Wohnung zu tun hat, kann ihm da draußen nichts passieren. Und doch –

Ich muß es nun grade 'raus sagen: 's ist wegen der alten Dame, der Hauptmannswitwe, die auf demselben Flur mit uns wohnt, oder eigentlich nicht wegen ihr, sondern wegen Fräulein Lisbeth, ihrer Tochter. Sie haben sie wohl mal gesehen, Herr Sanitätsrat, während der Krankheit meiner Frau, der hat sie alles Liebe und Gute angetan und ihr auch das Kind abgenommen, wenn die Mutter sein lautes Spielen nicht ertragen konnte. Sie hatte ja nicht immer Zeit, Fräulein Lisbeth nämlich, sie ist Lehrerin an der Töchterschule, wo sie Handarbeiten lehrt und auch Singstunden gibt, denn sie hat eine schöne Stimme und hat sich zur Sängerin ausbilden wollen, bis ihr Vater starb, und da konnt' sie nicht mehr dran denken, weil die Hauptmannspension nicht dazu aufreichte. Wenn sie aber aus der Schule nach Hause kam, hat sie sich gleich nach der Kranken umgesehen und den Jungen zu sich hinübergenommen, und er war immer besonders artig bei ihr, obwohl sie ihn nicht verzog. Nun, das ist auch so fortgegangen, die anderthalb Jahre, jetzt erst recht, da die Christel nach dem Tode der Frau alles allein besorgen mußte, Zimmer und Küche und dem Kerlchen seine Kleider, ich aber bin den ganzen Tag in der Werkstatt. Nun aber geht es so nicht länger, so leid mir's tut.

Der alte Arzt sah ihn fragend an. Warum nicht, Emmerich? Haben Sie sich mit dem Fräulein verzürnt?

Eine dunkle Röte stieg dem jungen Manne ins Gesicht.

Er drehte die Mütze zwischen den Händen und hob den Blick nicht vom Boden auf. Endlich sagte er stockend: Im Gegenteil, Herr Sanitätsrat! Das Fräulein ist sich immer gleich geblieben, gegen den Jungen und gegen mich. Aber eben deshalb – – es sind ja erst anderthalb Jahre vergangen, seit mein gutes Weib unterm Rasen liegt – ich selbst hab' mir's erst nicht glauben wollen, daß ich so schlecht und ungetreu sein könnte, aber ich hab' mir's endlich nicht verhehlen können, ich hab' mich in das liebe Mädchen verliebt, und wenn ich sie länger jeden Tag sehen sollte und es ihr nicht sagen, werd' ich der unglücklichste Mensch von der Welt. Und darum muß ich aus dem Hause fort, je eher, je lieber.

Eine Pause entstand. Dann sagte der Alte ruhig: Warum aber wollen Sie es ihr nicht sagen, Emmerich? Wär's nicht das beste für Sie und den Kleinen, wenn Sie wieder eine gute Frau und er eine treue Mutter bekämen?

Das Gesicht des jungen Mannes verdüsterte sich noch mehr, die Brauen zogen sich zusammen, und an dem kraftvollen Munde erschien eine tiefe Falte.

Es wäre wohl schön, brach es endlich dumpf zwischen den Zähnen vor, aber es soll nicht sein. Wenn Sie wüßten, Herr Sanitätsrat – aber ich muß es Ihnen ja wohl sagen. Eine Stunde vor ihrem letzten Atemzug – ich dachte schon, es sei alles vorbei – da hat mein armes Weib, das noch immer bei Bewußtsein gewesen war – ich saß neben ihrem Bette und hielt ihre Hand – auf einmal sagte sie mit ganz klarer Stimme: Versprich mir, Heinrich, wenn du mich wirklich liebst und willst, daß ich ruhig sterben soll – nie wirst du unserm Kinde eine zweite Mutter geben. – Und das – das hab' ich ihr versprochen, und sie hat mir noch mit einem Blick gedankt, und dann ist sie sanft eingeschlafen.

Die Erinnerung an diese Stunde hatte den Witwer so überwältigt, daß er jetzt zu dem Stuhle trat, den der Arzt ihm angeboten hatte, und sich wie erschöpft darauf niederließ.

So saßen die beiden Männer sich stumm gegenüber, wohl fünf Minuten lang. Dann sagte der alte Arzt: Und dies Versprechen denken Sie zu halten, Emmerich?

Der andere fuhr in die Höhe und betrachtete den Alten, wie wenn er etwas Unverständliches gesagt hätte. Mühsam brachte er endlich hervor: Muß ich nicht, Herr Sanitätsrat? Muß man nicht sein Wort halten, um so mehr ein so feierliches, das man einer Sterbenden gegeben hat?

Der Alte wiegte den grauen Kopf nachdenklich hin und her. Muß man wirklich, lieber Freund? Immer und unter allen Umständen? Auch wenn Unglück daraus entstehen sollte, oder gar Verbrechen? Werden Sie nicht sogar den Bruch eines Eides billigen, wenn zum Beispiel ein unbesonnener junger Mensch, der sich in eine Verschwörung eingelassen, einen Schwur getan hat, unbedingt den Rädelsführern zu gehorchen, und nun einen Fürsten oder sonst verhaßten Menschen töten soll, aber sein Gefühl sträubt sich dagegen, so daß er seinem Eide untreu wird? Ich dächte, die unbedingte Heiligkeit des Wortes sei eines der vielen mißverstandenen sittlichen Gebote, die in einzelnen Fällen zu den unsittlichsten Handlungen führen. Das sind nun freilich Gewissensfragen, und jeder Mensch hat sein eigenes Gewissen, oft ein sehr anderes als sein Nachbar. Die Antwort kann jeder sich nun selbst geben, und wie Ihre ausfallen wird, muß ich Ihnen selbst überlassen.

Noch immer blickte der Junge ihn ratlos an.

Ich meine nämlich, fuhr der Alte fort, wenn ein Gewissen so zart beschaffen ist, daß es sich über eine vermeintliche Pflichtverletzung nie beruhigen kann, so daß der Mensch nie wieder sein Gleichgewicht findet, dann wird er gut tun, der inneren Stimme zu parieren, so hart es ihn ankommt. Sie müssen sich eben prüfen, lieber Freund, ob Sie es verantworten können, die Pflicht gegen eine Tote höher zu schätzen, als die gegen die Lebenden: gegen Ihr Kind, Ihr eigenes Lebensglück und wohl auch das Glück des Mädchens, das Ihnen ja, wie es scheint, sehr geneigt ist. Das werden Sie wohl schon bei sich selbst erwogen haben.

O Herr Sanitätsrat, rief der junge Mann jetzt mit einem verzweifelten Ton, wenn Sie wüßten, in wie viel schlaflosen Nächten ich mir darüber den Kopf zerbrochen habe und bin zu keinem klaren Entschluß gekommen! Ich habe mir hundertmal vorgeworfen, es sei bloß, weil ich das Mädchen so liebe, daß ich den Wortbruch begehen wollte und die Sünde nicht achtete, und wenn ich der Versuchung erläge, würde ich mich selbst all mein Leben lang verachten müssen. Und ich war schon drauf und dran, meine Gewissensskrupel dem Pastor anzuvertrauen, der uns getraut und mein armes Weib dann begraben hatte. Das aber hab' ich doch bleiben lassen. Denn mit dem geistlichen Herrn hab' ich eine zu schlimme Erfahrung gemacht.

Wie ich nämlich zu ihm komme, das Begräbnis zu bestellen, empfängt er mich ganz freundlich und fragt nach der Verstorbenen und wie sie gewesen und ob sie auch als fromme Christin gestorben sei. Und ich erzählte ihm von meiner Karoline, und was für ein gutes Weib ich an ihr gehabt und wie ich's nimmer würde verwinden können, daß ich sie so früh verloren hätte, und daß es grausam vom Schicksal sei, daß sie jetzt, wo sie's leichter hätte haben können, nun hätte sterben müssen. Da setzte er ein sehr strenges Gesicht auf und verbot mir, vom Schicksal zu sprechen, das nur ein heidnischer Begriff sei, da alles auf Erden von einer gütigen Vorsehung gelenkt werde, der wir für alles, was wir erlebten, dankbar sein müßten. Und wen Gott liebe, den züchtige er, und meine Frau hätte er in seinen Himmel aufgenommen, gerade weil sie ein so tugendhaftes Leben geführt hätte, und dagegen mich trotzig aufzubäumen, sei Sünde und so schöne Reden mehr.

Ich hab' müssen die Zähne zusammenbeißen, um nicht herauszuplatzen, das verstünde ich nicht, daß ich die Hand noch küssen sollte, die mir eine Wunde geschlagen, und wenn's einer getan, der mächtiger ist als ich, ihm noch für gnädige Straf' danken. So bin ich weggegangen, aber in der Grabrede hab' ich wohl merken müssen, daß er verstanden hatte, wie mir zumute war, denn statt davon zu reden, welch ein braves Weib hier von Mann und Kind habe fort müssen, hat er bloß gegen den Unglauben und die Gottlosigkeit der Menschen gewettert, die mit ihrem himmlischen Vater haderten, weil er nicht alles nach ihrem Wunsch und Willen geschehen lasse. Er ist dann freilich zum Schluß auf mich zugetreten und hat mir die Hand hingehalten. Ich hab' aber getan, als säh' ich's nicht, hab' den Spaten ergriffen und drei Schaufeln Erde auf den Sarg geschüttet. Da ist er zornig weggegangen. O Herr Sanitätsrat, und solch ein unbarmherziger Herr wird ein Seelsorger genannt!

Er hatte sich so in Aufregung und Erbitterung hineingeredet, daß er nicht sitzen bleiben konnte, sondern aufstand und ein paar Schritte nach dem alten Arzt hin tat, der in sich zusammengebückt, leise mit dem Kopf nickend, am Schreibtisch saß.

Verzeihen Sie, Herr Sanitätsrat, sagte er, daß ich so heftig geworden bin und Sie mit meinen Erlebnissen langweile. Aber ich weiß ja, wie anders Sie denken, und daß Sie, obwohl Sie nicht Theologie studiert haben, für mich ein rechter und richtiger Seelsorger gewesen sind. Denn wie Sie am Tag nach dem Begräbnis zu mir gekommen sind, nach dem Kleinen zu sehen, der ein bißchen gehustet hatte, und fanden mich da noch in der tiefsten Verzweiflung, daß ich kaum ein paar Worte reden konnte – Sie haben da gleich gemerkt, wie's um meine arme Seele stand, und haben darin gelesen, mit was für sündhaften und wahnsinnigen Gedanken ich mich herumschlug. Wie Sie das Morphiumfläschchen vom Nachttisch wegnahmen und sagten, das brauchen Sie nun nicht mehr, Emmerich, merkt' ich, ohne daß Sie mir's vorhielten, was Sie meinten.

Ja, Herr Sanitätsrat, Sie hatten's 'rausgekriegt, als ob Sie meiner Seele den Puls gefühlt hätten, daß ich drauf und dran war, ein Ende zu machen, mit mir und dem Kinde, um drüben vor den Herrgott hinzutreten und ihn zu fragen, wozu er drei Menschen, die keine Schuld auf sich geladen, so hart habe strafen wollen. Aber Sie haben mir keine Predigt gehalten über meinen gottlosen Trotz, sondern mir ganz sanft zugeredet, wir alle ständen unter dem Gesetz einer Notwendigkeit, die niemand begreife, und könnten den ungeheuren Druck und das Grauen nur aushalten, wenn wir unsere Pflicht täten und für unsere Nebenmenschen lebten. Das hat mich aus meiner jämmerlichen Trostlosigkeit und Schwäche aufgerichtet, wie eine starke Arznei, die Sie mir eingegeben, jedes Wort hat mir wohlgetan, und ich weiß noch alles, was Sie mir weiter gesagt haben, daß es eine Torheit sei, von dem Geist, der die Welt regiert und den niemand begreift, zu verlangen, daß er an Leid und Freud' jedes geringsten Geschöpfes Anteil nehmen solle, da er selbst an die ewigen Gesetze der Natur gebunden sei. Darüber hatt' ich nie so nachgedacht, da ich keine höhere Schule besuchen konnte und früh in die Lehre kam. Nun aber fiel mir's wie Schuppen von den Augen, und ich schämte mich gar nicht, daß ich in Thränen ausbrach und Ihnen die Hand küßte, was ich meinem eigenen Vater, so dankbar ich ihm war, nie getan hatte.

Nun hielt er inne, von seinem langen Reden erschöpft, trocknete sich die Stirn und stammelte nur noch: Das – das werde ich Ihnen nie vergessen – und nie genug danken können!

Der Alte sah ihn mit einer stillen Rührung an.

Ja, lieber Freund, sagte er, Sie haben ganz recht. Zu einem ordentlichen Doktor gehört auch, daß er ein bißchen Seelsorger ist. Leib und Seele sind so innig verbunden, wenn eins krankt, leidet auch das andere mit. Freilich, wenn einer ein Bein gebrochen hat, bricht ihm nicht gleich auch das Herz. Aber auch dafür muß ein Arzt zuweilen Rat wissen, wenn auch die Diagnose schwieriger ist, als bei einem leiblichen Gebrechen. In Ihrem jetzigen Fall werden Sie aber schon allein die richtige Heilmethode finden, ohne daß ich Ihnen ein Rezept verschreibe.

Er machte eine Bewegung, als ob er seinen Patienten verabschieden wolle. Der aber blieb regungslos stehen.

Ich hab' Sie schon so lange belästigt, Herr Sanitätsrat, sagte er schüchtern, aber wenn Sie die große Güte haben wollen – ich hätte nur noch eine Frage: Was würden Sie selber vor Ihrem Gewissen verantworten können, wenn Sie in meiner Lage wären?

Der Alte wiegte mit einem kaum merkbaren Lächeln den Kopf.

Ja, lieber Emmerich, wie soll ich das wissen? sagte er. Ich habe nie eine Frau besessen, der ich im Leben und Sterben alles hätte zuliebe tun mögen. Vielleicht wär' ich so schwach gewesen, ein übereiltes Versprechen, das ich ihr gegeben, selbst gegen meine bessere Vernunft zu halten. Denn unvernünftig wär's gewesen. Ein Sterbender ist ja gewöhnlich unzurechnungsfähig. Er weiß nicht mehr klar, was er will und darf. Doch wenn es menschlich ist, daß seine Nächsten ihm das Sterben zu erleichtern suchen, indem sie auch auf unvernünftige letzte Wünsche eingehen, so ist es doch unmenschlich, hernach sich an ein Gelübde gegen den Toten zu binden, das für die Überlebenden ein Quell des Unsegens und Verderbens sein würde. Ist man nicht den Lebenden mehr schuldig, als den Toten? Und darf man diesen, wenn sie wirklich in einem Jenseits noch Gedächtnis für das Irdische haben sollten, was sehr zweifelhaft ist, nicht zutrauen, daß sie zur Erkenntnis kommen müßten, ihr letzter Wunsch sei töricht und für ihre hinterlassenen Lieben unheilvoll gewesen? Trauen Sie Ihrer lieben Frau, wenn sie »von drüben« herunterschauen könnte, zu, sie würde so herzlos eifersüchtig empfinden, daß sie es Ihnen nicht gönnte, noch einmal mit einer lieben Person glücklich zu werden, die ihrem Kinde eine verständigere und herzlichere Hüterin und Erzieherin wäre, als eine Dienstmagd!

Der junge Witwer sah ernst vor sich hin. Dann, nach einer kurzen Pause: Jawohl! Das hab' ich mir auch schon gesagt. Aber wenn's auch so wäre – da ist noch etwas, was mich wieder irre macht. Gewiß, das Mädchen, das ich liebe und das mich sehen läßt, sie habe mich auch gern – jetzt freilich ist sie sehr um den Kleinen besorgt, wie man's nur von einer leiblichen Mutter wünschen kann. Aber wer steht mir dafür, daß es so bleiben wird, wenn sie meine Frau geworden ist und hat eigene Kinder bekommen? Und am Ende – ob sie wirklich eine so rechte Liebe zu mir hat, wie meine Selige – ob ihr nicht doch die Versorgung mehr am Herzen liegt, als der Mann, zumal einer, der nicht so gebildet ist, wie sie und ihre Mutter – und meine Fehler hab' ich ja auch –

Dann, als der alte Herr nicht sogleich antwortete, fuhr er etwas zögernd fort, wie wenn er nur widerstrebend sich zu dieser Mitteilung entschließen könnte: Ich hab's nämlich selbst erlebt, was es heißt, die rechte Mutterliebe entbehren zu müssen. Ich war erst sieben Jahr alt, als meine Mutter starb. Dann kam eine Cousine meines Vaters zu uns ins Haus, schon etwas ältlich, aber noch so weit ganz sauber, und tat erschrecklich betrübt über den frühen Tod der Verwandten und voll Mitleid mit dem Witwer, der noch so ein stattlicher Mann war, und weil er sein Geschäft hatte – er war auch Kunsttischler – könnte er sich um sein Söhnchen nicht viel annehmen. Das aber dauerte sie ganz besonders, und sie tat mir so schön, daß es ein Wunder war, wie sie mir dadurch nicht lieber werden konnte. Aber so jung ich war, hatt' ich ein dunkles Gefühl, als komme ihr's nicht vom Herzen, und alles, was sie mir an guten Worten und hübschen Spielsachen schenkte, machte sie mir nicht lieber. Der Vater merkte nichts, sondern ließ sich einreden, kein Mensch meine es so gut mit mir und ihm, wie sie – na, da erreichte sie endlich ihren Zweck, und er heiratete sie.

Er schwieg einen Augenblick. Es war, als durchlebe er dies schwere Schicksal von neuem. Dann schloß er: Ich will sie nicht anklagen. Sie war nicht eigentlich feindselig zu mir, nicht, was man so eine böse Stiefmutter heißt, aber ganz kalt war die frühere geheuchelte Liebe geworden, und auch den Mann machte sie nicht so glücklich, wie sie ihm vorgespiegelt hatte. Man soll die Toten ruhen lassen, ich hab's nur vorgebracht, damit Sie sehen, Herr Sanitätsrat, warum ich jetzt so in Zweifel bin wegen des Fräulein Lisbeth und meines Jungen, obwohl ich ihr nicht von fern eine Falschheit zutraue. Jetzt meint sie's gewiß ehrlich, aber wie gesagt, wer steht dafür, daß ihr Herz sich nicht ändert, und dann – dann würde ich mir ewige Vorwürfe machen, daß ich meinem armen Weibe das Gelübde nicht gehalten habe.

Der alte Arzt stand auf und bot dem jungen Witwer die Hand. Es macht Ihnen Ehre, lieber Freund, sagte er, daß Sie vor allem besorgt sind um das Wohl Ihres Kindes, obwohl Sie das Mädchen so schätzen und lieben. Was ich aber auf Ihren Zweifel antworten soll, weiß ich nicht. Ich kenne das Fräulein nicht, bis auf das flüchtige Sehen, wo sie mir allerdings einen feinen und liebenswürdigen Eindruck machte. Also schlage ich Ihnen vor, Sie bitten sie zu mir zu kommen – morgen ist Sonntag, den Nachmittag bin ich frei – sie mag mir das Karlchen bringen, unter dem Vorwand, ich möchte gern einmal nachsehen, wie der Kleine sich entwickelt hat. Dann kann ich ihr, wie Sie gesagt haben, moralisch den Puls fühlen, ohne daß sie's merkt, und ihr Herz auskultieren, und sage Ihnen dann ehrlich Bescheid über den Befund. Ganz zuverlässig kann er freilich nicht sein, aber so ein alter Leib- und Seelsorger hat immerhin schärfere Augen, als ein verliebter junger Träumer. Gehen Sie nun nach Hause und schlafen Sie ruhig. Ich hoffe, den Umzug in die Gartenstraße kann ich Ihnen ersparen.

*

Am nächsten Nachmittag saß der Sanitätsrat in seinem Zimmer, rauchend und in die Lektüre einer medizinischen Zeitschrift vertieft. Er hielt sich diese Sonntagsstunden immer frei, um hinter den Fortschritten der Wissenschaft nicht zurückzubleiben, und seine Tür war für Patienten verschlossen. Heut aber erwartete er Besuch. Neben der Kaffeetasse auf dem runden Tischchen am Sofa stand ein Teller mit Früchten und kleinen Kuchen, das Fenster war offen, und eine mild durchsonnte Herbstluft strömte herein.

Die Tür öffnete sich, Friedrich brachte eine Karte, darauf stand in zierlicher Schrift »Lisbeth Jung, Karlchen Emmerich.«

Der alte Arzt lächelte, daß auch der Kleine mit angemeldet wurde.

Ich lasse bitten.

Gleich drauf erschienen die Besucher, das schlanke, einfach, aber mit sonntäglicher Zierlichkeit gekleidete Mädchen, den Knaben an der Hand führend, der in seinem blauen Habit mit dem weiß übergeschlagenen Matrosenkragen sehr hübsch und munter aussah.

Der Herr Sanitätsrat haben erlaubt – sagte das Mädchen und verneigte sich anmutig – da kommt Karlchen. Nun, Kerlchen, sag, was der Papa dir aufgetragen hat.

Einen schönen Gruß von meinem Papa an den guten Herrn Tätsrat! sagte das Knäbchen unverlegen und sah mit seinen hellen Augen zu den großen runden Brillengläsern des alten Herrn treuherzig auf.

So, Karlchen, sagte dieser und strich ihm über den blonden Lockenkopf, es ist schön, daß du mich einmal besuchst. Aber du mußt mich nicht Tätsrat nennen, sondern Onkel. Seitdem wir uns zuletzt gesehen haben, bist du sehr gewachsen und hast rötere Backen bekommen.

Ich halte darauf, sagte das Fräulein, daß er viel in die Luft kommt, und geh' täglich mit ihm spazieren. Auch schläft er im Sommer bei offenem Fenster, was seine Christel erst für gefährlich gehalten hat. Nun sieht sie, wie gut es ihm bekommt.

Sie sorgen so liebevoll für ihn, liebes Fräulein!

Es ist ja meine ganze Freude. Herr Emmerich hat ihm ein Kindermädchen geben wollen, ich habe gebeten, ihn mir zu überlassen, weil keine Fremde ihn so lieb haben könnte. Vormittags, wenn ich in der Schule bin und die Christel sonst zu tun hat, ist er bei meiner Mutter. Sie ist schon alt und hat Gicht in den Füßen, so daß sie nicht ausgehen kann, aber sonst ganz rüstig und dabei so heiter, daß ein Kind nicht besser als bei ihr aufgehoben sein könnte. Nachmittags half ich nur eine Singstunde zu geben, dann bin ich frei für den Kleinen. Er macht wenig Mühe, da er sehr brav ist. Er hat ganz die zarte und feine Natur seiner Mutter, der er auch im Gesichte gleicht, nur die Augen hat er vom Vater.

Der Alte hatte mit stiller Rührung zugehört. Die weiche Stimme des Fräuleins stimmte so gut zu dem sanften Blick ihrer braunen Augen.

Kommen Sie, liebes Fräulein, sagte er, wir wollen uns auf das Sofa setzen und den jungen Herrn zwischen uns. Möchtest du wohl einen von den schönen Kuchen essen und eine Aprikose?

Das Kind nickte rasch, sah dann aber zu seiner Begleiterin auf.

Er nimmt nichts, wenn ich es ihm nicht erlaube, sagte das Fräulein. Du darfst aber, Karlchen, alles, was der gute Onkel dir gibt.

Nun saßen die drei behaglich auf dem großen Sofa, und es war hübsch anzusehen, wie der Kleine mit den weißen Zähnchen in die reife Frucht einbiß und dann, ohne daß seine Begleiterin es ihn geheißen, ein winziges Taschentuch hervorzog und sich die feuchtgewordenen Fingerchen abputzte.

Sie haben ihn gut erzogen, sagte der Alte, sein Papa erkennt es aber auch an. Sie glauben nicht, wie dankbar er Ihnen ist.

Sie errötete leicht. Herr Emmerich überschätzt mich. Ich kann so wenig tun, die Natur hat ja schon das gute Beste an ihm getan, und mir ist es die größte Freude, mich um ihn bekümmern zu dürfen. Er ist ja mein ganzes Herzblatt.

Ist in Ihrem Herzen nicht auch noch ein wenig Raum für seinen Vater?

Sie antwortete nicht sogleich, beugte sich zu dem Kleinen herab und nahm ihm ein Krümchen von dem Kuchen, den er aß, vom Kleide.

Der Herr Emmerich ist immer so gut gegen uns, er denkt nur, wie er meiner Mutter eine Freude machen kann, ich weiß, daß er sie sehr schätzt, dafür bin ich ihm so dankbar.

Aber wenn er nun etwas mehr von Ihnen haben möchte, als Dankbarkeit? sagte der Arzt ruhig, mit einem feinen Lächeln, das ihr aber entging. Sehen Sie, liebes Fräulein, es ist ihm nicht recht, daß Sie den ganzen Vormittag nicht bei Karlchen sein können. Er möchte, Sie sollten immer zu Hause bleiben.

Sie verstand nicht gleich.

Es ist doch mein Beruf, sagte sie verwundert. Wir müssen doch davon leben.

O dafür würde er ja sorgen, wenn Sie sich entschließen könnten, ihn ein wenig mehr zu lieben, als bisher. Ich muß es Ihnen nur gerade heraus sagen, er hat mich beauftragt, bei Ihnen auf den Busch zu klopfen, um zu erfahren, ob Sie nichts dagegen hätten, – seine Frau zu werden.

Nun wurde sie dunkelrot.

O Herr Sanitätsrat, stammelte sie kaum hörbar, das ist nicht Ihr Ernst.

Mein und sein voller Ernst. Er glaubt nur nicht, daß Sie ihn so recht ernstlich gern haben, so wie er Sie, er findet sich nicht liebenswürdig genug –

Sie hob lebhaft den Kopf. Oh, sagte sie, ich hätte ihn schon lieb haben müssen, um alles, was er für seine arme Frau getan, wie er sie auf Händen getragen hat, und, obwohl er manchmal heftig sein kann, nie war er's gegen sie und auch nicht gegen den Kleinen. Aber eben deshalb – wie kann ich glauben, daß er je mit einer andern glücklich werden könnte! Nein, es ist nur so eine Laune von ihm, und er würde bald einsehen, daß er sich getäuscht hat.

Es steht so fest in seinem Herzen, liebes Fräulein, und er weiß sich vor jeder späteren Reue sicher, daß er sogar ein großes Opfer bringen will, um wieder durch den Besitz einer lieben Frau ein glücklicher Mensch zu werden. Er hat nämlich seiner guten Frau versprechen müssen, dem Kind nie eine Stiefmutter zu geben. Nun würden Sie freilich nie das werden, was man mit dem Namen an Bösem und Hartherzigem verbindet, so oft mit Unrecht. Aber er kann sich nicht entschließen, sein Wort zu brechen, und darum soll Karlchen zu seiner Schwester gebracht werden, die mit einem Landwirt verheiratet ist, und da soll er aufwachsen, und wenn der Vater ihn manchmal draußen besuch –

Das Mädchen hatte mit glühenden Wangen zugehört und ihre wachsende Erregung kaum zu bemeistern vermocht. Jetzt stand sie plötzlich auf, zog den Kleinen vom Sofa und sagte: Wir müssen fort, Karlchen. Sag' dem Herrn Sanitätsrat adieu und schönen Dank. Wir sind schon zu lange –

Auch der Alte stand auf. Ich begreife nicht, liebes Fräulein – was hat Sie so aufgeregt? Der Vorschlag – den ich Ihnen machen mußte, ist etwas seltsam, aber da es nicht anders sein kann und der Kleine auch bei der Tante gut aufgehoben wäre –

Sie sah ihm gerade ins Gesicht, ihre Augen hatten einen Ausdruck von Schmerz und Empörung, den er ihnen kaum zugetraut hätte, sie war ganz blaß geworden, und ihr feiner junger Mund zitterte.

Können Sie mir's verdenken, Herr Sanitätsrat, stieß sie hervor, daß ich mich im Innersten gekränkt und beleidigt fühle, wenn man mir zumutet, das Kind in die Fremde schicken zu lassen, um die Frau seines Vaters zu werden? Ich habe Herrn Emmerich stets für einen warmherzigen, gewissenhaften Mann gehalten und darum hoch geachtet. Wenn ihm das in den Sinn kommen konnte –, o es tut weh, mich so in ihm getäuscht zu haben!

Sie nahm den Knaben bei der Hand und schickte sich an zu gehen.

Der Alte blieb ganz ruhig. Was also soll ich Herrn Emmerich als Ihre Antwort berichten?

Daß ich einem Manne, der um meinetwillen sich von seinem Kinde trennen könnte, nie angehören würde.

Ist das Ihr letztes Wort?

Gewiß.

So haben Sie die Güte, es mir schriftlich zu geben.

Er nahm sein Rezeptbuch vom Schreibtisch, öffnete es und hielt es ihr hin, zugleich mit einer eingetauchten Feder.

Sie sah ihn groß an.

Warum verlangen Sie das?

Weil er mir's sonst vielleicht nicht glauben würde, daß meine Mission als Freiwerber einen so schlechten Erfolg gehabt hat.

Ohne sich zu besinnen, nahm sie die Feder und schrieb ein paar Zeilen auf das oberste Blatt. Dann schob sie den Knaben zu dem Alten hin, damit er ihm die Hand reichte, verneigte sich mit einer sehr kühlen Haltung und verließ mit dem Kinde das Zimmer.

*

Nicht zehn Minuten waren vergangen, da klopfte es hastig an der Tür des alten Herrn, und auf dessen Herein! trat der Vater des Knäbchens, das eben hinausgegangen war, ins Zimmer.

Der Sanitätsrat, der wieder in seinem Arbeitsstuhl saß und eine neue Zigarre angezündet hatte, sah ihm mit einer belustigten Miene entgegen.

So eilig, lieber Emmerich? sagte er. Ihre Leute sind ja eben erst gegangen. Sie müssen ihnen auf der Treppe begegnet sein.

Ich sah sie aus dem Hause kommen, antwortete der junge Mann, dessen Gesicht erhitzt und aufgeregt war. Ich hatte drüben auf der Straße im Schatten eines Türvorsprungs gewartet, wo sie mich nicht sehen konnten. Es ließ mir keine Ruhe. Aber wie sie nun kam – ihr Gesicht hatte einen so finsteren, zornigen Ausdruck, wie ich ihn nie gesehen hatte. O Herr Sanitätsrat, was haben Sie ihr gesagt? Was hat sie Ihnen geantwortet?

Hm! machte der Alte, alles, was sie gesagt hat, hatte Hand und Fuß. Überhaupt muß ich gestehen, daß ich Ihre Neigung vollkommen begreife. Wäre ich dreißig Jahre jünger und dies liebenswürdige Mädchen wäre mir begegnet, – ich stehe nicht dafür, daß ich mich nicht auch in sie verliebt und bemüht hätte, sie Ihnen abzugewinnen. Freilich wäre auch meine Liebesmüh' umsonst gewesen.

Umsonst?

Denn ich kann es Ihnen nicht verhehlen, lieber Freund, so betrübend es ist: ihr Herz ist nicht mehr frei. Sie hat einen Geliebten, den sie nicht aufgeben würde, auch wenn ein Prinz um sie anhalten möchte

Einen Geliebten? Das ist ja unmöglich. Das wüßte ich doch längst, da ich täglich bei ihr aus und ein gehe.

Und doch ist's so, und sie hat diese Liebschaft sogar vor ihrer Mutter nicht geheim gehalten, und die hat nichts dagegen gehabt.

Und – auch er meint es ernst – und sie wollen sich heiraten?

Das, lieber Freund, wird sie sich wohl vergehen lassen, der Altersunterschied ist zu groß, und noch mindestens zwanzig Jahre zu warten, kann er ihr nicht zumuten. Ich habe ihr aber gesagt, daß sie sich von ihm trennen müßte, um Sie zu heiraten, und das hat sie so in Harnisch gebracht, daß sie nichts mehr von Ihnen wissen will.

Aber es ist Zeit, dem schlechten Spaß ein Ende zu machen, damit Sie nicht ernstlich böse werden.

Und er berichtete in zwei Worten seine Kriegslist und hielt dem völlig Verstörten und Entgeisterten das Blatt hin, auf dem das geliebte Mädchen ihre Absage niedergeschrieben hatte: »Einem Manne, der um meinetwillen sich von seinem Kinde trennen könnte, würde ich nie angehören. Lisbeth Jung.«

Ha, schändlich! rief der junge Mann und warf das Blatt zu Boden! So mich zu verleumden, mir etwas so Abscheuliches nachzusagen, und ich hatte mein volles Vertrauen auf Sie gesetzt! Was soll sie von mir denken, wie konnte sie ahnen, daß Sie sich einen so grausamen Scherz mit ihr und mir machen könnten!

Der Alte bückte sich und hob das Blatt auf. Bewahren Sie sorgsam dies Rezept, lieber Freund, sagte er mit einem gütigen Lächeln. Es wird Sie zu allen Zeiten von dem Argwohn kurieren, als ob Ihr Karlchen an dieser Frau eine Stiefmutter haben könnte. Und nehmen Sie es einem alten Praktikus nicht übel, daß er sich einen Scherz mit Ihnen erlaubt hat. Ein sichreres Mittel hatt' ich in meiner Apotheke nicht vorrätig. Nun aber gehen Sie eilig nach Hause und waschen Sie sich in den Augen Ihrer Liebsten von dem häßlichen Flecken rein, den ich Ihnen angespritzt habe. Ich denke, auch sie wird mir verzeihen, und Sie beide werden darum nicht schlechter von mir denken, weil der alte Seelsorger einmal die alte Jesuitenmoral befolgt hat, daß der Zweck das Mittel heilige.

 

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