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Der Schutzengel.

(1900)

 

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Im Frauencoupé des Schnellzugs, der von Norden kommend die bayerische Grenze überschritten hatte, saß nur eine einzige Reisende, eine ältere Dame in einem leichten Traueranzug, dessen Schnitt bei aller Einfachheit verriet, daß, die ihn trug, der wohlhabenden Klasse angehörte. Sie hatte den mit einem grauen Schleier umwundenen Hut neben sich auf den Sitz gelegt – es war ein heißer Hochsommertag – und den Kopf gegen das steile Polster zurückgelehnt. Wie alt sie sein mochte, war schwer zu erkennen. Das reiche, natürlich gewellte Haar, das ihre edel geformte Stirn umgab, war völlig weiß, mit einem leuchtenden Silberglanz, das Gesicht aber noch durchaus nicht greisenhaft, wenn auch die Wangen erblichen und die zart geschwungenen Lippen welk geworden waren. Besonders schön waren die Augen unter ihren breitgewölbten Lidern, von einer stahlgrauen, fast ins Schwarze gehenden Farbe, nur trübe wie von vielem Weinen. Auch hatte sie die Lider fast immer geschlossen, daß man sie für schlafend halten konnte. Aber ein schmerzliches Zucken um den Mund und der gespannte Zug in den feingezeichneten goldblonden Brauen ließ erkennen, daß schwere Gedanken sie wach hielten.

So war sie stundenlang gefahren, ohne der wechselnden Gegend, an der sie vorüberglitt, die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Erst als jetzt der Zug einer größeren Stadt sich näherte, deren vielfenstrige schmucklose Häuser und hohe Schornsteine schon von ferne über die zum Teil bereits abgeernteten Felder hin sie als Fabrikstadt ankündigten, schlug sie die Augen weit auf und schien aus einem tiefen Traum zu erwachen. Ein Seufzer kam ihr von den Lippen. Dann richtete sie sich mit einem nervösen Zittern auf, griff nach ihrem Hut, den sie hastig aufsetzte, darauf nach dem eleganten juchtenen Handköfferchen in dem Netz über ihrem Haupt. Eine plötzliche Schwäche aber ließ sie, ehe sie ihn herabgeholt hatte, auf das Polster zurücksinken.

Auch dauerte es noch etliche Minuten, bis der Zug, der seine Eile gemäßigt hatte, mit einem langen Pfiff in den Bahnhof einfuhr. Eine bunte Menge erwartete ihn. Als er hielt, lief der Schaffner an der langen Wagenreihe hin und rief laut den Namen der Station. Die alte Dame erhob sich und ließ das bisher geschlossene Fenster nieder. Aber sie brachte es nicht fertig, die Wagenthür zu öffnen. Vergebens rief sie nach einem Schaffner oder Dienstmann, ihr behilflich zu sein und auch das Handgepäck in Empfang zu nehmen. Zehn Minuten Aufenthalt hatte ihr das Kursbuch versprochen. So war noch keine Gefahr im Verzuge.

Endlich aber fing ihre Gefangenschaft doch an, sie zu ängstigen; sie wollte eben alle Kraft ihrer Stimme zusammennehmen, um sich Gehör zu verschaffen, da erstarb ihr plötzlich der Laut in der Kehle. Sie sah eine kleine Menschengruppe auf ihr Coupé lossteuern und hörte einen der Herren rufen: »Da ist ja das Damencoupé und beinahe leer! Nun brauchen wir uns nicht mehr zu überhasten!«

Im nächsten Augenblick näherte sich der Sprecher dem Wagen, öffnete den Schlag und, nachdem er höflich seinen breiten weichen Filzhut gelüftet hatte, stieg er den Tritt hinan und begann, die Taschen, Schachteln und Körbchen, mit denen er beladen war, oben in verschiedenen Netzen unterzubringen.

Die alte Dame, statt nun die geöffnete Thür sich zu nutze zu machen, war einen Schritt zurückgetreten und stand wie in plötzlicher Erstarrung. Sie hatte mit einer Gebärde der Angst den Schleier herabgezogen und blickte unverwandt hinaus auf den Platz vor ihrem Wagen, wo die kleine Gesellschaft sich hingepflanzt hatte. Ihren Mittelpunkt bildete eine reizende junge Frau in einem offenbar ganz neuen, hellfarbigen Reiseanzug, die ein etwa vierjähriges blondlockiges Knäbchen an der Hand hielt. Neben ihr stand eine etwas ältere Dame, die dem Kinde erst hier im letzten Augenblick ein Spielzeug, ein Häschen in grauem Fell auf einem Räderbrettchen, geschenkt zu haben schien. An der anderen Seite der jungen Frau hielt sich ein kleiner grauhaariger Herr mit einer goldenen Brille, der eifrig in sie hineinsprach.

»Vor allem, verehrte Frau, keine leichtsinnigen Streiche, nicht über die Schnur gehauen, die mein Kollege Ihnen nicht allzustraff ziehen wird, und Ruhe, Ruhe und zum drittenmal Ruhe! Die reizende Gegend um N**« – er nannte den Namen eines wohlbekannten Stahlbades – »dürfen Sie in den ersten Wochen nur zu Wagen genießen, und erst, wenn Sie sich brav ausgeführt, streng nach Vorschrift gebadet und getrunken haben, soll Ihnen ein mäßiges Herumkraxeln auf den Waldhügeln in der Nähe gestattet werden. Versprechen Sie mir, ein artiges, folgsames Kind zu sein? Dann sollen Sie sehen, als was für eine rotwangige, von Lebenskraft strotzende kleine Frau Sie uns nach sechs Wochen – aber keinen Tag früher – zurückkehren werden!«

»Wenn ich bis dahin nicht an Langerweile gestorben bin!« versetzte die junge Frau halb lachend mit einem Drohblick gegen den alten Arzt. »Sie sind ein abscheulicher Mensch, Doktor, und leider ist mein Mann so schwach, daß er sich mit Ihnen verschworen hat, mich zu Grunde zu richten. Sechs Wochen in diesem öden kleinen Nest, ohne eine einzige bekannte Seele – als ob es keine Seebäder gäbe, die dieselbe Wirkung haben und nebenbei für allerlei Unterhaltung sorgen! Es brauchte gar nicht Scheveningen oder Trouville zu sein, ich hätte mit Helgoland oder Rügen vorlieb genommen. Aber wir armen willenlosen Geschöpfe – verzeihe, Eduard!« rief sie dem Manne zu, der eben aus dem Coupé wieder herausstieg und sich die Stirn mit einem großen Taschentuch trocknete – »es ist dumm von mir, noch zum Abschied zu lamentieren, ich weiß ja, es muß sein, du könntest dich in eine weitere Entfernung nicht finden, von der Frau vielleicht, aber nicht von Rudi, also muß ich mich in mein Schicksal ergeben!«

»Es giebt noch härtere Schicksale,« bemerkte die Begleiterin lächelnd. »Wie ich deinen Herrn Gemahl kenne, wird er dir täglich einen acht Seiten langen Liebesbrief schreiben und jeden Sonnabend mit dem Abendzug zu dir hindampfen.«

Ueber das breite, gute Gesicht des Mannes, das von einem kurzgeschorenen schwarzen Bart bis fast an die Augen überschattet war, ging ein schwermütiger Zug, während er mit schwärmerischer Zärtlichkeit die junge Frau ansah. Er wollte etwas erwidern, aber der Arzt kam ihm zuvor.

»Wo denken Sie hin, gnädige Frau!« rief er, die Brauen zusammenziehend. »Wollen Sie meine Patientin gegen meine Ordination aufwiegeln? Die Liebesbriefe will ich nicht verbieten, aber Besuche jeden Sonnabend – nichts da! Frau Justine wird sich die ersten drei Wochen als Strohwitwe behelfen müssen. Ob dann eine kurze Visite des Herrn Gemahls gestattet werden darf, wird mein Kollege dort entscheiden. Wenn die Kur gut anschlagen soll, ist alle und jede Aufregung zu vermeiden; Langeweile à discrétion ist die oberste Kurpflicht für so ein nervenzartes Menschenkind, und gegen allzu heftiges Heimweh hilft ja die mütterliche Sorge für den lieben Jungen!«

Der Gatte hatte diese Rede in stiller Ergebung seufzend mit angehört und dabei das Knäbchen auf den Arm gehoben. In der Art, wie er das Kind an sich drückte und mit der großen Hand das kleine Gesicht streichelte, war zu erkennen, wie schwer es ihm wurde, sich von ihm trennen zu müssen. Auch der Kleine klammerte sich mit den Aermchen fest an den breiten Nacken des Papa's und rieb seine rosige Backe an dem rauhen Bartgestrüpp.

»Papa soll mitreisen!« rief er halb weinend. »Rudi will nicht von Papa weg. Mama auch dableiben!«

Dem Manne schimmerte es feucht in den Augen.

»Du hättest doch besser gethan, Liebste, mir zu folgen und die Annette mitzunehmen. Er ist an die Alte gewöhnt; du wirst deine liebe Not haben, allein mit ihm. Sei gut, Rudi! Du kannst die Mama doch nicht verlassen?« – Dann sich wieder zu dem Arzt wendend: »Meinen Sie nicht auch, Doktor, daß es besser wäre – ich könnte die Annette ja heute noch nachschicken – .«

»Daß du mir das hübsch bleiben lässest!« rief die junge Frau. »Ich hätte keine ruhige Stunde, wenn ich mein großes Kind nicht in der Obhut einer verständigen Kinderfrau wüßte, denn unsere Köchin ist ja erst ein halbes Jahr bei uns und weiß noch nicht, was der gnädige Herr bedarf, um sich wohl zu fühlen. Mit dem kleinen Kinde werde ich schon allein fertig werden, das laß nur meine Sorge sein, und in den Stunden, wo ich meine Badekur absolviere, findet sich im Hôtel wohl eine zuverlässige Hüterin, oder ich engagiere gleich eine Bonne für die sechs Wochen. Will Rudi der Mama versprechen, sehr brav zu sein?«

»Rudi beim Papa bleiben! Papa mitreisen!« zeterte der kleine Mann.

Die Mutter nahm ihn dem Vater vom Arm, streichelte seine Locken und sprach ihm leise ins Ohr, worauf das Kind still wurde, lächelte – ganz mit denselben Wangengrübchen, die der Mutter so reizend standen, – und dann sein rosiges Mäulchen gegen ihre volle Wange drückte.

Man konnte nichts Lieblicheres sehen. Der große dicke Mann mußte sich abwenden, um sich verstohlen die Augen zu trocknen.

Von alle dem war der einzelnen Dame in ihrem Coupé kein Wort und keine Gebärde entgangen. Eben trat der Schaffner zu ihr heran und sagte: »Sie müssen hier aussteigen, Madame. Ihr Billet reicht nur bis hierher.«

Hastig holte sie ihr Geldtäschchen hervor und nahm ein Goldstück heraus. »Ich habe mich anders besonnen,« flüsterte sie. »Ich wollte erst morgen weiterfahren, bin nun aber gar nicht ermüdet und möchte gleich heute noch in N** ankommen. Seien Sie so gut, mir ein Billet bis dorthin zu besorgen. Hier ist Geld!«

Der Mann lief eilig nach der Kasse und war hocherfreut, als er mit dem Billet zurückkehrte, den kleinen Dienst mit einem ganzen Thaler belohnt zu sehen. Indessen hatte die Dame, ihren Schleier noch dichter vors Gesicht ziehend, sich an das andere Fenster gesetzt, während die junge Frau einstieg und der Mann ihr das Kind hinaufreichte. Er selbst schwang sich dann noch einmal nach, nahm die Frau etwas ungeschickt in die Arme und küßte drei-, viermal lebhaft ihren Mund. »Aber Eduard!« flüsterte die Umarmte, »ich bitte dich – wenn du mich jetzt erdrückst, kann ich mir freilich die Badereise sparen!«

Er wollte etwas sagen, brachte aber nur unverständliche Laute hervor. Dann hob er das Knäbchen noch einmal auf, küßte es auf Stirn und Augen und sagte: »Sei brav, Rudeli! Mach der Mama Freude. Lebt – lebt wohl! Und vergiß nicht, gleich zu telegraphieren, sowie du angekommen bist!«

Das Signal zur Abfahrt ertönte draußen, der Mann mußte sich sputen, den Wagen zu verlassen, gleich darauf wurde die Thür zugeschlagen. Einen Augenblick noch tauchte das Bartgestrüpp im Fensterrahmen des Coupés auf, die ältere Dame draußen wehte mit dem Taschentuch, der Doktor schwenkte den Hut, dann setzte sich der Zug in Bewegung.

*

Auch die junge Frau hatte ihr Tüchlein zum Fenster hinauswehen lassen und den Knaben auf den Sitz gehoben, daß er dem Papa noch eine Kußhand zuwerfen sollte. Jetzt setzte sie ihn auf das Polster ihr gegenüber, nahm ihm das Strohhütchen ab und gab ihm den kleinen Hasen in die Hand, mit dem er sich sofort eifrig zu beschäftigen anfing. Sie selbst richtete sich in ihrer Ecke häuslich ein, holte ein kleines weiches Kissen aus der Reisetasche, das sie sich in den Rücken stopfte, und nahm nun auch ihr Federhütchen ab, um es oben im Netz unterzubringen.

»Es ist zu heiß,« sagte sie, halb zu der alten Dame gewendet. »Wenn nur niemand mehr bei uns einsteigt. Die drei Stunden könnten einem recht lästig werden, wenn alle Plätze besetzt würden.«

»Ich hoffe, wir bleiben allein!« brachte die alte Dame hervor, mit einer zitternden Stimme, die jedoch der jüngeren nicht auffiel. Sie dachte, diese weißhaarige Frau, die sie nur erst flüchtig angesehen hatte, sei uralt und spreche schon mit einer Greisenstimme. Sie wünschte auch nicht gerade eine lebhaftere Konversation anzuknüpfen; jene ersten Worte waren ihr wie im Selbstgespräch entschlüpft.

Nun machte sie sich daran, aus ihrer kleinen Handtasche allerlei auszukramen, ein Notizbüchelchen, in welches sie etwas einschrieb, einen kleinen Kamm, mit dem sie sich ein paarmal leicht über den dichten blonden Scheitel fuhr, ein Krystallfläschchen mit Eau de Cologne, aus dem sie ihr spitzenbesetztes Taschentuch benetzte. Sie überließ es dann dem Kleinen, der erst daran roch und dann sein Häschen damit abputzte; worauf die Mutter einmal herzhaft gähnte, daß alle weißen Zähnchen in dem roten Munde schimmerten, dann sich in die Ecke zurücklegte und die leuchtenden blauen Augen schloß.

Doch, wie es schien, mehr, um sich auf etwas zu besinnen, als aus Müdigkeit Denn nach fünf Minuten öffnete sie die Augen wieder – sie hatte so merkwürdig breite Lider – und fing an in einem französischen Roman zu lesen, den sie lose unter ihrem Plaidriemen verwahrt gehabt hatte.

Alles, was sie that, schien der alten Dame sehr interessant zu sein, denn, unter dem Schleier scheinbar vor sich hinblickend, verwandte sie kein Auge von ihr. Es war auch in dem Wesen und Betragen der jungen Frau etwas, das Jeden anziehen mußte, ein seltsames Gemisch von der naiven Launenhaftigkeit eines jungen Mädchens, das eben erst in die Welt zu blicken wagt, und der sehr bewußten Selbstherrlichkeit einer verwöhnten jungen Frau, der von allen Seiten gehuldigt wird. Auch in der Art, wie sie mit dem Kinde umging, zeigte sich dieser Gegensatz, da sie es jetzt wie eine Puppe betrachtete, die ihr zum Spielzeug gegeben wäre, dann wieder plötzlich sich auf ihre Mutterpflichten besann und mit einer ernsten Gouvernantenmiene, die ihrem runden, rosigen Gesicht höchst drollig stand, den kleinen Wicht zurechtwies, wenn er sich allzu lebhaft bewegte.

So bemühte sie sich auch, der fremden Reisegefährtin gegenüber eine kühle, würdige Zurückhaltung zu behaupten, um sich durch ihr Entgegenkommen nichts zu vergeben. Doch war es ihr deutlich anzusehen, daß ihr mehr als einmal irgend eine Bemerkung, die sich auf das Land und die kleinen Orte, an denen sie vorbeisausten, bezog, auf den Lippen brannte und nur mühsam erstickt wurde.

Es fiel ihr ordentlich ein schnürendes Band vom Herzen, als sie die alte Dame plötzlich sagen hörte: »Sie haben da ein sehr liebes Kind. Es scheint seinem Papa sehr schwer geworden zu sein, sich von ihm zu trennen.«

»Gewiß,« antwortete sie rasch. »Er vergöttert das Kind, und darum kann es nichts schaden, wenn er es eine Weile hergeben muß. Er verzieht es gar zu arg. Auch die alte Kinderfrau läßt ihm allen Willen. Es ist nicht leicht, ein so lebhaftes Kind richtig zu erziehen,« fügte sie seufzend hinzu, mit einem Nicken des blonden Köpfchens, als ob dasselbe von den schwersten pädagogischen Sorgen erfüllt wäre.

Erst nach einem längeren Schweigen sagte die alte Dame: »Je liebenswürdiger das Kind ist, je leichter ist es zu erziehen, und zu viel Liebe hat nie Schaden gestiftet, wenn nur auch das kleine Herz weich genug geschaffen ist, um es dankbar zu empfinden. Ihr liebes Kind braucht Ihnen keine Sorge zu machen; man sieht ihm an, daß es von guter Art ist.«

Die junge Mutter zuckte leicht die Achseln. »Ich selbst,« sagte sie, »war ein gutartiges Kind, bin aber schlecht erzogen worden, zwischen heiß und kalt beständig hin und her geschüttelt; von meinem Vater, der mich nicht liebte, um jedes kleinste Vergehen rauh angefahren und oft sogar gezüchtigt, von meiner Kinderfrau, derselben, die jetzt mein Kind verhätschelt, ganz unvernünftig verwöhnt! Es ist ein Wunder, wenn ich nicht ganz mißraten bin. Aber um so mehr will ich mich nun bei meinem Rudi vorsehen, obwohl ich der alten Annette das Herz nicht brechen und sie wegschicken konnte. Nicht wahr, Rudeli, du wirst immer hübsch folgsam sein und der Mama keine Sorge machen?«

Der Kleine ließ sein Häschen aus den Händen und sah die Mutter mit großen fragenden Augen an. Er sah allerliebst aus in seinem Matrosenkittelchen von dunkelblauer Leinwand mit dem zurückgelegten Kragen, aus dem der kleine weiße Hals sich jetzt hervorstreckte, während er die schlichten blonden Haare sich aus der Stirne strich.

»Mama muß Rudi aber auch ein Biskuit geben, wenn Rudi brav sein soll,« sagte er, schon ganz mit der Miene seiner Mutter, wenn sie sich ihrer Macht über die Umgebung bewußt wurde.

»Thust du's nicht auch ohne Biskuit, bloß der Mama zuliebe?« fragte diese mit einem raschen Blick nach der alten Dame hinüber.

»Ja!« sagte das Kind, »aber du hast mir versprochen, Mama, wenn ich nicht weinte, weil Papa nicht mitreist, – und Tante Else hat dir ja auch die Düte gegeben und gesagt, Rudi kriegt auch davon!«

Die Mutter lachte und nahm ihn auf den Schooß. »Schelm!« sagte sie. »Man muß sich hüten, dir was zu versprechen; du nimmst einen scharf beim Wort.«

»Wollen Sie mir nicht erlauben, dem Kleinen etwas von meiner Reisechokolade zu geben?« sagte die alte Dame und zog ein Schächtelchen aus ihrer Handtasche »Er ist noch in dem Alter, wo man sein Herz rascher mit einem kleinen Naschwerk gewinnt, als mit den zärtlichsten guten Worten. Und mir liegt viel daran, ihn mir zum Freunde zu machen. Wir werden uns ja in N**, wo ich auch die Kur gebrauchen soll, oft begegnen.«

Sie hatte jetzt den Schleier zurückgeschlagen und nickte dem Kinde freundlich zu, indem sie ihm eines der flachen länglichen Chokoladestückchen darbot, die man Katzenzungen nennt. Der Kleine sah überrascht zu ihr auf, dann zu der Mutter, ob er das Angebotene annehmen dürfe, und erst als diese lächelnd nickte, griff er zierlich mit der kleinen Hand danach, doch ohne das Naschwerk gleich zum Munde zu führen.

»Danke!« sagte er. Er betrachtete ernsthaft die kleinen goldschimmernden Flecken in der braunen Chokolade, dann sah er wieder die Geberin an und sagte: »Was hast du für blankes Haar! Und warum weinst du jetzt auf einmal? Rudi ist ja nicht unartig gewesen.«

In der That liefen der Fremden die schweren Tropfen verstohlen über die Wangen. Sie suchte vergebens ihrer Bewegung Herr zu werden. Als aber das Kind vom Schooße der Mutter herabglitt, zu der Fremden hintrat und mitleidig mit seinem winzigen Schnupftüchelchen ihr die Thränen abtrocknen wollte, brach ein unaufhaltsamer Thränenstrom aus den alten Augen, und sich zu dem Kinde hinabbeugend, suchte sie ihr nasses Gesicht in dem dichten Haar zu verbergen.

In höchster Verwunderung hatte die junge Frau dies mit angesehen, und auch der Kleine war so bestürzt, daß er schon das Mündchen verzog und im Begriff stand, gleichfalls in Weinen auszubrechen, als die Fremde sich faßte und aufrichtete.

»Entschuldigen Sie diesen Ausbruch eines Schmerzes, der Ihnen rätselhaft sein muß,« sagte sie, ihre Augen trocknend. »Aber die Lösung des Rätsels ist einfach: ich hatte ein Kind ungefähr in gleichem Alter wie Ihr lieber Knabe, ein Mädchen, auch so blond und blauäugig, das habe ich – hingeben müssen, ein Verlust, den ich nie verschmerzen konnte, so viel Jahre auch darüber hingegangen sind, und so viele –«

Sie vollendete den Satz nicht. Die Thränen wollten wieder vorbrechen. Sie drängte sie aber tapfer zurück. »Verzeihen Sie,« sagte sie dann nochmals – »ich werde Sie nicht mehr mit meiner trüben Stimmung belästigen.«

»O,« sagte die junge Frau mit einem gutherzigen Blick ihrer Kinderaugen, »thun Sie sich keinen Zwang an. Warum wollen Sie sich nicht das Herz erleichtern? Ich bin ja auch Mutter und verstehe darum, was es für ein ewiger Kummer sein muß, seinen Liebling verloren zu haben.«

Sie strich dem Knaben, der zwischen den beiden Frauen auf den Sitz geklettert war und zierlich mit den weißen kleinen Zähnen die Chokolade zerbiß, liebkosend über das Haar.

»Wenn ich mir vorstelle,« fuhr sie fort – »aber nein, daran darf ich gar nicht denken! Uebrigens – Sie sehen es mir vielleicht nicht an – ich scheine Ihnen gewiß ein recht leichtherziges Glückskind, aber glauben Sie nur, auch ich habe schon viel Schweres erlebt. Nächst dem, was Sie gelitten haben, ist doch wohl das Härteste, was mir auferlegt wurde: die Mutter zu verlieren, und nicht durch den Tod, sondern – durch das Leben.«

Die ältere Dame zuckte leicht zusammen und erwiderte nichts. Wie absichtslos hatte ihre rechte Hand – die Linke hielt das kleine Händchen des Kindes umschlossen – den Schleier halb wieder herabgezogen. Ihre Thränen aber waren versiegt.

Erst nach einer Weile sagte sie mit stockender Stimme: »Sie waren noch sehr jung, als Sie die Mutter verloren? Erinnern Sie sich ihrer noch?«

»Nur ganz schattenhaft. Ich hatte sie über alles lieb, mehr als den Papa und die Annette und all meine Puppen. Sie war auch sehr gut zu mir, und doch hat sie mir das anthun und mich verlassen können!«

Zwischen den sonst so heiteren Augen erschien ein Fältchen auf ihrer glatten Stirn, und der weiche Mund erhielt einen herben Zug.

»Ja, denken Sie,« fuhr sie lebhaft fort, »sie hat mich verlassen und den Papa, um einen andern Mann zu heiraten! Ich war erst sechs Jahr, aber ich begriff doch, wie abscheulich das war, und nie, nie hab' ich es ihr verzeihen können. Vielleicht hatte sie nicht gedacht, daß es den Papa so furchtbar schmerzen würde, daß sie ihm sein ganzes Leben zerstörte. Aber ich sah es gleich mit meinem Kinderverstand, und seitdem war es auch mit meinem jungen Frohsinn vorbei. Es ist wahr, der Papa – er war Offizier, Sie wissen, beim Militär ist man an scharfe Manieren gewöhnt – auch gegen die Mama war er nicht immer sanft, obwohl er sie so leidenschaftlich liebte, daß er ihren Treubruch nie verwinden konnte – aber wenn er sie auch manchmal rauh anfuhr, ich sah, wie sie dann blaß wurde und schweigend aus dem Zimmer ging – in welcher Ehe geht es ganz ohne Sturm ab? Nein« – verbesserte sie sich lächelnd – »die meinige macht eine Ausnahme – mein Bär, wie ich ihn bloß seines rauhen Bartes wegen nenne, brummt kaum einmal, wenn ich etwas Ungeschicktes oder Kindisches thue; aber wenn er sich auch einmal einfallen ließe, das Rauhe herauszukehren, – ich ließe mir natürlich nichts gefallen, er kriegte es zu hören, daß ich keine Lust hätte, seine Sklavin zu sein; nur fortlaufen, zu einem andern Manne hin, ihm einen Scheidebrief schreiben und sogar auf mein Kind verzichten – – o!«

Sie wandte sich mit einer Gebärde der Empörung ab und sah zum Fenster hinaus. Es wurde still in dem heißen Coupé. Der Knabe war friedlich eingeschlafen, den Kopf gegen die Schulter der alten Dame gedrückt, die immer noch seine Hand hielt.

Nach einer langen Pause, in der nur das stoßweise Geräusch des rollenden Zuges zu den offenen Fenstern hereindrang, fing die junge Frau wieder an, mit so nachdrücklichem Ernst, wie man es dem rosigen jungen Gesicht nicht zugetraut hätte:

»Sie werden nun begreifen, gnädige Frau, daß ich guten Grund hatte, zu sagen, auch ich hätte Bitteres erlebt, ja vielleicht das Bitterste, was es geben kann. Jemand, den man lieb hat, durch den Tod zu verlieren, darauf muß man immer gefaßt sein. Aber einen teuren Menschen, ja den teuersten, die eigene Mutter sich vom Herzen reißen zu müssen, weil man sie nicht mehr achten kann, das ist härter als alles! Soll einem Kinde nicht das Bild seiner Mutter lebenslang vorschweben als der Inbegriff alles Guten und Edeln? Und wenn man an ihr irre geworden ist, woran soll man noch glauben, zu welchem Vorbild aufblicken? Damals fühlte ich's noch nicht einmal gleich, wie sehr ich verwaist war. Der Papa freilich konnte mir die verlorene Mutterliebe nicht ersetzen. Er wurde vielmehr so verdüstert und durch sein Unglück verbittert, daß er seinen Gram mich Unschuldige entgelten ließ. Ich sah später auch ein, daß ihm meine Gegenwart den Schmerz nur verschärfte! Ich soll der Mutter sehr ähnlich sein. Darüber hatte ich selbst allerdings kein Urteil, denn der Papa vernichtete alle Photographieen, und selbst ein großes Oelbild der Frau, die ihm das Herz gebrochen hatte, hat er verbrannt. Sie selbst war ihrem zweiten Manne, einem Arzt, gefolgt in dessen Heimat, eine Stadt an der Ostsee, und sie ist nie wieder in unsere Gegend gekommen. Ich weiß zwar, daß sie ein paarmal an den Papa geschrieben und ihn angefleht hat, nur alle Jahre einmal mich sehen zu dürfen. Sie hat nie eine Antwort darauf bekommen. Auch hätte ich ein solches Wiedersehen nicht gewünscht. Was hätt' ich ihr sagen sollen? Daß ich ihr vergeben und sie trotz alledem noch ein bißchen lieb hätte? Das wäre eine Unwahrheit gewesen. Nein, ich habe sie für immer aus meinem Herzen verloren, und als mein armer Papa mir auf dem Sterbebette das Versprechen abnahm, die Mutter nie wiederzusehen, auch wenn er nicht mehr zwischen uns stände, hat es mich gar keine Ueberwindung gekostet, ihm das zu geloben. Ich war damals schon neunzehn Jahr, und in vierzehn Tagen sollte ich Hochzeit halten. Das wurde nun ein paar Monate hinausgeschoben. Die Mama schrieb an mich – sie scheint von allem, was bei uns vorging, beständig unterrichtet gewesen zu sein –; sie bat mich um die Erlaubnis, nicht etwa zur Hochzeit kommen zu dürfen, dieses Glück fürchte sie verscherzt zu haben, nur vorher mich ein einziges Mal zu sehen und mir zu sagen, wie sie mich segne für mein neues Leben. Es war ein schöner und lieber Brief, der mich zu Thränen rührte, ich konnte es nicht übers Herz bringen, ihn unbeantwortet zu lassen, aber ich hatte dem Papa mein Versprechen gegeben, das schrieb ich ihr und bat sie, mir das Halten meines Wortes nicht zu erschweren!

Seitdem denke ich nicht mehr mit so feindseligem Gefühl an die arme Frau, die ihr Vergehen ja auch gebüßt hat. Aber sehen – nein, das möchte ich sie nicht! Ich bin ordentlich froh, daß mein Mann nach unserm jetzigen Wohnort übergesiedelt ist, viel weiter von ihr entfernt als in Berlin, so daß auch ein Zufall uns nicht leicht zusammenführen kann. Sie begreifen: der Frau, der man das Leben verdankt, wie einer Wildfremden, ja schlimmer, wie einer, die an unserm Lebenskummer schuld ist, gegenüberzustehen, mit ein paar gleichgültigen Worten sich von ihr abzuwenden, da sonst ein Kind sich an die Brust seiner Mutter anklammert, wie an die sicherste Zuflucht – das muß entsetzlich sein! Es überläuft mich kalt, wenn ich nur daran denke!«

Sie schauerte in sich zusammen und drückte sich fester in die Polsterecke.

Wieder verging eine geraume Zeit, ohne daß ein Wort zwischen den beiden Frauen gesprochen wurde. Der Kleine schlief ruhig fort, auch während der Zug an den nächsten Stationen hielt und mehrmals die schrille Dampfpfeife ertönte. Erst als sie wieder in rascher, gleichmäßiger Fahrt waren, sagte die alte Dame: »Wie tief ich Sie beklage wegen dessen, was Sie so jung gelitten haben – erlassen Sie mir's, das auszusprechen. Aber das liegt nun hinter Ihnen. Ihr jetziges Leben scheint, nach allem zu schließen, so glücklich zu sein, wie die zärtlichste Mutter es Ihnen nur wünschen könnte. Ein so trefflicher, liebevoller Mann, der Sie auf Händen trägt, ein so liebenswürdiges, holdes Kind –«

»Gewiß,« sagte die junge Frau, »ich wäre undankbar, wenn ich klagen wollte! Mein Mann ist die Güte selbst; daß er ein bißchen schwach ist gegen mich« – und zum erstenmal lächelte sie wieder in ihrer leichtherzigen Weise – »darf ich ihm ja nicht als Fehler anrechnen. Und sonst – er ist der gesuchteste Advokat in der ganzen Stadt und Provinz und soll ein schneidiger Redner sein, wenn er auch mir gegenüber nicht immer das letzte Wort behält. Ich habe ihn geheiratet, ohne eigentlich in ihn verliebt zu sein, weil er so rasend unglücklich war, als ich ihm erst einen Korb gab. Jetzt, zumal da ich das liebe Kind habe, bin ich mit meinem Loose ganz zufrieden. Manchmal freilich, wenn der Mann erst ganz spät aus seinem Schreibzimmer kommt und Rudeli schon lange zu Bett ist, spinne ich so Gedanken, daß ich doch viel versäumt habe, vielleicht das Beste vom Leben, so eine rechte Jugend voll Lust und Lachen und Uebermut, ein bißchen Verliebtheit, flotte Tänzer und schwärmerische Freundinnen, kurz, was so zur richtigen Mädchenjugend gehört! Haben Sie mal die Geschichte von den eingefrorenen Posthornklängen gelesen, die dann wieder anstarrten? So etwas Eingefrorenes steckt in mir, das möchte gern hinaus, und bei einer würdigen Advokatenfrau und Mutter eines hoffnungsvollen Söhnchens hat es weder eine Gelegenheit dazu, noch würde sich's schicken. Darein muß ich mich nun finden, obwohl es schade um mich ist! Ich wäre ganz dazu angelegt gewesen, ein recht ungebundenes Leben in großem Stil zu führen, versteht sich ganz ehrbar und anständig! Noch immer, wenn ich in einem Roman das Wort ›Leidenschaft‹ lese, geht mir ein Stich durchs Herz, und ich werde dann für eine halbe Stunde melancholisch, bis dann mein Junge hereingesprungen kommt und ich ihn nach Herzenslust abküssen kann.«

*

Sie sah wieder mit ernsthaft gefalteter Stirn, was ihr immer einen drollig tiefsinnigen Ausdruck gab, zum Fenster hinaus, wandte sich aber plötzlich um und sagte lächelnd und leicht errötend: »Was werden Sie von mir denken, gnädige Frau! Wir fahren erst eine kleine Stunde zusammen, sind einander nicht einmal vorgestellt, und ich habe Ihnen schon meine ganze Lebensgeschichte erzählt. Wenn ich eine berühmte Frau wäre, könnten Sie danach einen Artikel für das Konversationslexikon verfassen. Und doch bin ich von Natur gar nicht so mitteilsam, am wenigsten krame ich gern meine intimsten Gefühle und Ansichten aus; und es ist auch nicht darum, weil man sich oft unterwegs einer zufälligen Bekanntschaft gegenüber leichter aufschließt, da man weiß, man wird sich schwerlich je wieder begegnen. Aber es ist etwas in Ihrem Wesen, was mich sogleich angezogen und mein Vertrauen erweckt hat. Und so bereue ich kein Wort, das mir über die Lippen gesprungen ist. Nur wär' es hübsch von Ihnen, wenn Sie nun auch mich etwas von Ihrem Leben erfahren ließen. Zunächst – mit wem ich die Ehre habe. Mein Name ist Justine Lindblatt

»Und der meine,« erwiderte die alte Dame mit etwas stockender Stimme, »wenn Ihnen daran liegt, ihn zu erfahren – Marie Herbst. Ich bin Witwe – schon seit drei Jahren – mein Mann war – Naturforscher. Sein Tod, nachdem ich ihn Jahr und Tag in schwerer Krankheit gepflegt hatte, hat mich so tief erschüttert, daß ich seitdem meine frühere Gesundheit nicht wieder erlangt habe. Ich lebe ganz einsam, nur ein paar nahe Freunde sprechen ab und zu bei mir vor. Wenn ich aber einmal die Augen schließe, werde ich keine Lücke zurücklassen. Es giebt Schicksale, die einen Menschen, schon ehe er mit dem Leben fertig ist, aus den Reihen der Lebendigen ausscheiden, wie wenn er in einem Kerker säße.«

Die junge Frau sah sie mit inniger Teilnahme an.

»Sie können ja noch nicht so alt sein, daß Sie ein für allemal mit Wünschen und Hoffnungen abgeschlossen haben müßten. Die Farbe Ihres Haars ist kein Beweis. Ich sehe es an Ihren Bewegungen mehr als an Ihren Zügen, daß Sie vom Greisenalter noch weit entfernt sind! Und das Bad, wohin wir reisen, soll ja ein wahrer Jungbrunnen sein. Sie werden es hoffentlich auch an sich erfahren!«

Die andere warf einen liebevollen Blick auf das schlafende Kindergesicht.

»Ich war eigentlich nicht entschlossen, eine solche Kur zu brauchen,« sagte sie, »nur einer Herzstärkung war ich bedürftig, die ich fern von Hause suchen mußte! Aber Sie haben Recht, ich will sehen, ob ich nicht auch mein Blut ein wenig stählen kann, und da mich zu Hause niemand vermißt, kann ich mich von dem freundlichen Zufall leiten lassen, der mich mit Ihnen und dem lieben Kinde zusammengeführt hat.«

Der Knabe wachte bei diesen Worten auf und glitt von seinem Sitz herunter, stellte sich an der Seite, wo die alte Dame saß, ans Fenster und betrachtete aufmerksam die Gegend, an der sie vorüberfuhren, mit lebhaften Ausrufen über Pferde, Kühe und Schafe auf den Feldern draußen und Fragen nach diesem und jenem, was ihm unbekannt war. Frau Marie Herbst hatte den Arm um sein Hälschen gelegt und plauderte leise mit ihm, den Mund an seiner zarten Schläfe. Die Mutter in der anderen Ecke legte sich bequem zurück, die Füßchen auf den Sitz gegenüber gestreckt. So fielen ihr endlich die Augen zu, und sie verschlief die ganze nächste Strecke bis zu dem Ort ihrer Bestimmung.

»Wo werden Sie absteigen?« fragte sie dann, als der Zug hielt und der Schaffner die Coupéthüre aufriß. »Wenn Sie kein bestimmtes Hôtel im Auge haben, kommen Sie doch mit mir ins Kurhaus! Mein Mann hat dort ein Zimmer für uns bestellt, er ist immer so vorsorglich, und ich denke, auch Sie werden dort gut aufgehoben sein. Wir werden nicht an der Table d'hôte essen, es ist nicht zweckmäßig für das Kind, vielleicht thun Sie sich mit uns zusammen, da Sie auch das Menschengewühl nicht lieben.«

»Sie sind so gut zu mir,« erwiderte die alte Dame, und wieder schimmerte es feucht in ihren Augen »Vielleicht aber wird es Ihnen auf die Länge doch unbequem, eine so alte Frau in Ihrer beständigen Gesellschaft zu haben.«

»Was sagst du, Rudeli?« wandte sich Frau Justine an ihren Knaben, während sie ihn aus dem Wagen hob. »Soll die gute Tante Marie nicht bei uns bleiben?«

Der Kleine strebte zu der Alten empor und faßte sie um den Hals. »Bei uns bleiben!« rief er. »Tante Marie mitfahren! Rudi schöne Geschichten erzählen!«

»Sie sehen, er giebt Sie nicht wieder frei,« sagte die Mutter lächelnd. »Ich fürchte nur, Sie werden ihn auch verziehen, wie der Papa. Aber dafür ist ja immer noch die strenge Mutter da.«

Sie gingen dem Ausgang zu, das Kind zwischen ihnen, jede der Frauen an einer Hand fassend. Als sie in den Omnibus des Kurhauses stiegen, fragte Frau Justine: »Wollen Sie nicht auch Ihren Gepäckschein dem Kofferträger geben?«

Die Andere errötete unter dem Schleier. »Ich habe vorläufig nur das Handköfferchen. Da ich noch ungewiß war, wo meines Bleibens sein würde, ließ ich das größere Gepäck zu Hause, um es mir dann nachschicken zu lassen. Auch trage ich ja nur Schwarz und komme für die nächsten Tage aus mit dem, was ich bei mir habe.«

So fuhren sie durch die schöne, hochwipflige Allee, die vom Bahnhof nach dem Badeörtchen führte. Es war kein berühmtes Weltbad; erst vor einem Jahrzehnt hatte man die Stahlquelle neu analysiert, und Chemiker und Aerzte hatten ihr ein so gutes Zeugnis ausgestellt, daß die Kurvorsteher mit fieberhaftem Eifer darangegangen waren, die bescheidene Heilstätte blutarmer Pfarrerstöchter, nervöser Beamtenfrauen und rekonvalescenter Schullehrer in Ausnahme zu bringen. Eine neue Trinkhalle und Wandelbahn war gebaut, das Badehaus gründlich aufgefrischt worden, auf den Hügeln, die den Ort nach zwei Seiten einfaßten, hatte man Bänke und kleine Pavillons aus Baumrinde angebracht, vor allem war man, mit schweren Opfern der Gemeinde, zu denen auch die Regierung beigesteuert hatte, auf den Bau eines großen, eleganten Kurhauses bedacht gewesen, dessen innere Einrichtung, wie die Plakate in den Wartesälen der Eisenbahn und die Anzeigen in den Zeitungen besagten, »allen Anforderungen der Neuzeit entsprach«. Das Haus war erst vor drei Jahren fertig geworden und die Führung der Wirtschaft einem Schweizer in Pacht gegeben, der schon in Belgien und Paris Hôtels großen Stils geleitet hatte.

Rasch waren nun auch im nächsten Umkreise hübsche kleine Villen aus dem Boden geschossen, in denen Kurgäste, die abseits vom Gewühl zu wohnen wünschten, ein behagliches Unterkommen fanden und in den Lauben und Schattengängen kleiner Gärten von den Strapazen ihrer Badepflichten ausruhen konnten.

Der Knabe war auf den Sitz des Omnibus geklettert und beschaute sich knieend durch das offene Fenster diese fremde Welt. Er sprach kein Wort, überhörte auch eine Frage, die seine Mutter an ihn richtete. Der Papa hatte ihm gesagt, er müsse ihm erzählen, was er unterwegs gesehen habe. Da sah er nun mit großen Augen umher, wie in einem merkwürdigen Traum. Nur als ein paar geputzte Kinder in einem Wägelchen vorbeifuhren, vor das ein kleiner schwarzer Esel gespannt war, stupfte er die Mutter mit einem lauten Freudenruf am Arm und verlangte zu dem kleinen Fuhrwerk hinaus, so daß es schwer hielt, ihn wieder zu beruhigen.

»Es ist seine erste Reise,« sagte Frau Justine lächelnd, indem sie ihn auf ihren Schooß zog. »Dafür benimmt er sich, denk' ich, artig genug.«

»Ich hoffe,« erwiderte die Andere, »wir können die Bekanntschaft dieser Kinder machen, und sie werden Rudichen erlauben, auch einmal in dem Eselwägelchen zu fahren.«

»O Tante Marie, du bist gut!« rief der Kleine und strebte zu ihr empor, sie zu umarmen. In diesem Augenblick hielt der Wagen vor dem Portal des Kurhauses, der Wirt stand unten an der Schwelle und empfing die junge Frau mit großer Ehrerbietung, wie eine fürstliche Person – eine Huldigung, die mehr ihrer Schönheit galt als ihrem Range als Gattin eines simplen Rechtsanwalts – und ließ es sich nicht nehmen, den Knaben aus seinen höchsteigenen Armen ins Haus zu tragen.

Zu seinem größten Bedauern sei es ihm unmöglich gewesen, ein Zimmer im ersten Stock, wie es der Herr Gemahl für sie gewünscht, ihr zur Verfügung zu stellen, ja nicht einmal im zweiten, da in beiden Stockwerken nicht die kleinste Kammer mehr frei sei. Da sie aber den Lift benutzen könne, werde sie wohl nichts dagegen haben, vorläufig, bis unten etwas frei werde – wohl schon in den nächsten Tagen – das schönste und behaglichste Zimmer im dritten Stock zu beziehen, mit Morgensonne und Aussicht auf den Kurplatz! Im übrigen werde er thun, was in seinen Kräften stehe – und damit nötigte er die Frauen in das Glashäuschen des Aufzugs hinein, gesellte sich selbst zu ihnen, den Knaben, der wenig davon erbaut war, immer auf dem Arm, und so fuhren sie durch den dunklen Schacht in die Höhe.

Der Wirt hatte nicht zu viel gesagt. Es war wirklich ein großer, heller Raum, der sie oben empfing, die beiden Fenster mit lichtfarbigen reichen Vorhängen versehen, ein Vorhang von gleicher Farbe schloß den geräumigen Alkoven, in dem das Bett der jungen Frau stand, davor eine kleine Gitterbettstatt für den Knaben. Auch traf es sich gut, daß ein kleineres, einfenstriges Zimmer dicht nebenan frei war, das nun die alte Dame bewohnen konnte.

Die Jüngere war ans Fenster getreten, hatte einen munteren Blick hinausgeworfen und wandte sich jetzt zu dem Wirt um: »Ich denke, wir bleiben hier, auch wenn später unten etwas frei wird. Die Luft hier oben ist reiner, und die Kurmusik hat man nicht in so aufdringlicher Nähe. Nicht wahr, Frau Marie?«

Die Aeltere nickte. »Meine nahe Nachbarschaft soll Sie nicht belästigen. Ich werde immer warten, bis es Ihnen genehm ist, an meine Thür zu klopfen.«

Damit strich sie dem Knaben über die Stirn und ging in ihr Zimmer.

Sobald sie sich allein sah, sank sie auf das Sofa nieder und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Nicht um Thränen zurückzudrängen; die waren versiegt. Aber der Sturm von Gefühlen, den sie während der Stunden der Fahrt in ihrer Brust hatte bändigen müssen, konnte nun freies Spiel haben. »Gott, Gott! Ist es möglich?« kam ihr halb unbewußt von den Lippen. Sie hörte nicht, daß die Thür sich öffnete und der Hausknecht ihren Handkoffer hereinstellte. Erst als das Mädchen kam und fragte, ob die gnädige Frau warmes Wasser wünsche, sammelte sie ihre durcheinander taumelnden Gedanken so weit, um eine Antwort geben zu können. Sie stand dann auf und tauchte ihr heißes Gesicht in das frische Wasser, ordnete ihren Anzug und steckte die silberweiße Flechte, die sich gelöst hatte, wieder fest. Dann saß sie auf dem Stuhl am Fenster und sah in den sonnigen Nachmittag hinaus, zu der langen, auf zierlichen Pfeilern ruhenden Wandelbahn hinüber, an deren Ende sich der schmucke Bau der Trinkhalle erhob. Zwischen diesen Gebäuden und dem Kurhaus liefen zwei Reihen noch sehr junger Kugelakazien hin, an deren schlanken Stämmchen elegante Bänke standen. Zu dieser Stunde saß hier kaum ein oder der andere einsame Mensch, der noch ein nachträgliches Glas Stahlwasser trank. Im Musikpavillon, der gerade die Mitte der Allee einnahm, waren die Notenpulte zusammengerückt, Spatzen umflogen das Kuppeldach, und unten spazierten weiße Tauben, die versprengten Weißbrotkrumen auflesend, mit denen die Kurgäste nach ihrem Frühstück sie zu füttern pflegten.

Ein kleiner Finger klopfte an die Thür zwischen den beiden Zimmern, das Kindergesicht erschien an der Schwelle – ob Tante Marie kommen und mit der Mama und Rudi Thee trinken wolle.

Er sprang dann, als die Tante nickte, herein und zog sie zu der Mutter hinüber. Frau Justine hatte ihr Reisekleid mit einem eleganten Kostüm vertauscht, sie erschien darin noch reizender als vorher, ihre blassen Wangen waren durch die Aufregung des Auspackens ein wenig gerötet.

Auf dem Tisch vorm Sofa stand der Thee, zu dem sie ihre Reisegefährtin aufs liebenswürdigste nötigte. Sie hatte den Schreibtisch und die Kommode bereits mit allerlei kleinen Siebensachen ausgestattet, eine Photographie ihres Mannes neben das Schreibzeug gestellt, einen Blumenstrauß, den ihr der Doktor mitgegeben, in einer Vase daneben, allerlei Spielzeug des Knaben auf einem Schemelchen im Winkel ausgebreitet; das vorher kahle, gemütlose Zimmer sah wohnlich und heimelig aus. Nun mußte die alte Dame auf dem Sofa Platz nehmen, und sie selbst setzte sich auf einen Lehnstuhl an ihre Seite, während Rudi am Tische stehend – »anders thut er's nicht, wenn er frühstückt oder vespert!« – ein großes Glas Milch mit beiden Händen zum Munde führte und nicht eher losließ, als bis er es ganz geleert hatte, tief aufatmend, wie wenn er etwas Schweres glücklich vollbracht hätte.

*

Sie wolle, da es noch früh am Tage sei, gleich jetzt, nachdem sie an ihren Mann telegraphiert, den Arzt aufsuchen, um morgen früh ihre Kur sofort nach Vorschrift beginnen zu können, sagte Frau Justine. Ob Frau Marie sie etwa begleiten und den Doktor ebenfalls konsultieren möchte.

»Ich denke mich ganz ohne Arzt zu behelfen,« erwiderte die alte Dame. »Doch wenn Sie mir Rudi inzwischen anvertrauen wollen –«

»Ich danke Ihnen, aber ich will ihn mitnehmen und von dem Doktor hören, ob er auch für ihn ein bißchen Baden oder Trinken zweckmäßig findet. Er hat mir im Winter zuweilen Sorge gemacht, er erkältet sich so leicht!«

So gingen die Beiden und ließen die Reisegefährtin allein. Sie kehrten aber bald zurück. Der Doktor sei ein freundlicher Herr, der nur der Mutter eine leichte Kur verordnet, den Knaben auf die Stirn geküßt und nachdem er ihn untersucht, seiner Mama Glück gewünscht habe, ein so normal gebildetes Kind zur Welt gebracht zu haben. Dem sei kein Stahlwasser nötig, nur viel frische Luft und Abends, wie er es ja schon gewohnt sei, ein rasches Bad in einfachem Quellwasser!

»Wenn es Ihnen nun recht ist, Frau Marie,« sagte die Jüngere, »nehmen wir einen Wagen und kutschieren ein Stündchen in der nächsten Umgegend herum; ich liebe es, mich an einem fremden Orte gleich zu orientieren, und zum Gehen fühle ich mich zu angegriffen, zumal sich die Luft noch immer nicht verkühlen will.«

Das wurde denn sogleich ausgeführt, und ein leichtes Einspännerwägelchen trug die kleine Gesellschaft erst kreuz und quer durch die Straßen des Ortes selbst, dann ins Freie und Grüne hinaus und auf schattigen Waldwegen eine Strecke weit hügelaufwärts, wo sich die schönsten Blicke in die benachbarten Thäler, zu kleinen Gehöften und einsamen Wassermühlen aufthaten. Rudi, der neben dem Kutscher auf dem Bock sitzen und die Peitsche halten durfte, war überaus glücklich, doch nach seiner Art ohne laute Freudentöne. Die beiden Frauen im Wagen wechselten nur hin und wieder ein Wort. Ueber Beiden lag eine dunkle Traumstimmung

Als die Dämmerung hereinbrach, hielt der Kutscher vor einem Wirtshaus im Walde und fragte, ob die Herrschaften vielleicht hier aussteigen möchten. Der »Rote Hirsch« sei wegen seiner Küche berühmt, und viele Kurgäste wanderten so weit heraus, um hier zu Nacht zu speisen.

Da es schon gegen Sieben war, die Stunde, wo der Kleine sonst seine Milch trank, schlug Frau Justine vor, hier zu rasten und ihren Tag mit einem ländlichen Mahl zu beschließen. Sie fanden den Baumgarten am Hause von Gästen erfüllt, die an kleinen Tischen saßen und die neu Ankommenden scharf musterten. So ließen sie sich in der entferntesten Ecke nieder, wo noch ein Platz frei war, bestellten ein einfaches Essen und für den Knaben eine Schüssel saure Milch, über die er sich mit Begierde hermachte. Aber so hungrig und durstig er war, tauchte er sein Löffelchen doch sehr manierlich in die Schüssel und legte es zuweilen fort, um mit seinen großen Augen die Leuchtkäfer zu verfolgen, die in den Büschen und dem hohen Rasen aufblitzten.

Dann bei der Heimfahrt, zwischen den beiden Frauen sitzend, fiel er bald in Schlaf. Tante Marie hatte ihren Arm weich um sein zartes Körperchen gelegt, und wie der Wagen auf der holprigen Waldstraße sie schüttelte, fühlte sie das warme Blut des Kindes an ihrem alten Herzen. Auch Frau Justine war eingenickt Der Reisetag hatte sie müde gemacht. So saß die alte Frau allein wach unter dem klaren, tiefblauen Nachthimmel, an dem eine glänzende Sternensaat aufblühte, und horchte auf ihr Herz, das lauter und wonniger schlug als die Nachtigall in dem Waldesdickicht an ihrer Seite.

Dieses laute und aufgeregte Herz ließ sich auch lange noch nicht zur Ruhe bringen. Es war weit über Mitternacht, als sie Schlaf fand. Dafür erwachte sie desto später und kam erst, als die Kurmusik unten ein neues lärmendes Stück anfing, zur vollen Besinnung, wo sie war und was sie an diesen Ort geführt hatte.

Sie stand dann hastig auf und machte ihre Morgentoilette so geschwind wie möglich, um sich sogleich nach ihren Reisegefährten umzusehen, als müsse sie sich erst wieder mit eigenen Augen überzeugen, daß sie wirklich Thür an Thür mit dieser Mutter und diesem Kinde wohne. Als es auf ihr Klopfen drüben still blieb, erschrak sie sogar ein wenig. Dann aber, da sie einen Blick in das Zimmer der Frau Justine warf und Rudis Spielzeugwinkel sah, beruhigte sie sich, zog sich an ihr Fenster zurück und sah auf die Allee und zu der Wandelbahn hinunter, die jetzt von einer bunten auf und ab wogenden Menge erfüllt waren.

Vergebens bemühte sie sich, unter dem Gewimmel die beiden teuren Gesichter zu erkennen, und erwog eben, ob sie sich nicht aufmachen sollte, sie unten zu suchen, als sie die Thüre nebenan gehen und Mutter und Kind zurückkehren hörte. Gleich daran trat Frau Justine bei ihr ein.

Das liebliche runde Gesicht war von dem raschen Gange leicht gerötet, doch auch ein Zug von Unmut und Verdruß ließ sich an den gespannten Brauen erkennen.

»Ich hätte klüger sein sollen,« rief sie, indem sie ihr Hütchen vom Kopfe riß, »und Ihr freundliches Anerbieten gestern Abend annehmen, Rudeli zu bewachen, bis er ausgeschlafen hätte und ich von meinem Brunnengang zurückgekehrt wäre! Ich wollte Ihnen keine Unbequemlichkeiten zumuten, zumal ich sah, daß Sie so sanft schliefen. Da weckte ich das Kind ganz gegen meine Gewohnheit, während ich es sonst sich satt schlafen lasse. Und nun war es noch halb müde und unwirsch beim Ankleiden, und ich mußte es draußen mühsam an der Hand nachziehen, während ich meine zwei Becher trank. Dazu die lärmende Musik, die mir auf die Nerven fiel, und dann – das Angaffen von allen Seiten! Ich weiß ja, daß man mich hübsch findet, es wäre kindisch, das verleugnen zu wollen, und ebenso einfältig, sich was darauf einzubilden, wie eine eitle Gans. In unserer Stadt haben sich auch die Menschen daran gewöhnt, und es macht mich nicht mehr verlegen. Aber hier, das Spießrutenlaufen unter lauter fremden Leuten – und ich hatte nicht einmal einen Schleier – nein, schon am frühen Morgen das durchzumachen, ist kurwidrig! Ich weiß auch, was ich thue. Von morgen an bin ich die Erste am Brunnen, stürze meine Becher so rasch hinunter wie möglich und flüchte mich dann in die stillen Anlagen um die Badehäuser am Fluß. Dahin verirrt sich so früh keine Menschenseele. Rudeli aber lass' ich schlafen, bis ich zurückkomme, und wenn Sie mir erlauben, daß die Thür zwischen uns angelehnt bleibt, und ein bißchen hineinhorchen wollen …«

Der Kleine kam jetzt herein, mit drei Wiesenblümchen, die er für die gute Tante gepflückt hatte. Er sah allerdings ein wenig müde und zerstreut aus, aber die nachträgliche kalte Abwaschung in einer kleinen Wanne machte ihn bald wieder munter. Sie frühstückten dann zusammen. Als Frau Justine eine Stunde später zu ihrem ersten Bade ging, blieb Rudi bei Frau Marie zurück, die sich zu ihm setzte und ein Bilderbuch mit ihm studierte. Er war sehr glücklich und zärtlich ausgelegt.

»Weißt du, Tante Marie,« sagte er, »du kannst es noch besser als Annette, und erzählst viel hübschere Geschichten, aber am besten kann es der Papa. Wird er heute nicht zu uns kommen?«

Er kam freilich nicht, aber ein Brief von ihm, den seine kleine Frau, als sie aus dem Bade zurückkehrte, mit einem leisen Achselzucken in Empfang nahm. »Können Sie sich das vorstellen, Frau Marie,« sagte sie, »daß er gleich, nachdem wir gestern abgefahren waren, sich hingesetzt hat, um zu schreiben, einen förmlichen Liebesbrief – unter so alten Eheleuten! – Und Sie werden sehen, er schreibt mir alle Tage. Das ließe ich mir noch gefallen, wenn er nur nicht erwartete, daß auch ich jeden Tag wenigstens vier Seiten an ihn schreiben würde. Als ob ich täglich etwas erlebte! Und eigentlich besteht er auch nicht darauf und sagt immer, ich solle mich nicht mit Schreiben anstrengen, aber ich weiß doch, er ist todunglücklich, wenn einmal einen Tag kein Brief kommt. Nun, zum Glück giebt es Postkarten, und vollends auf Ansichtskarten hat man nicht viel Raum für eine mühsame ausführliche Korrespondenz!«

*

Frau Marie ging dann aus, mußte dem Kinde aber versprechen, bald wiederzukommen. Sie wandelte eine Weile unten in der Akazienallee hin und her, nachdem sie ein Glas am Brunnen gefüllt hatte, das sie langsam austrank. »Es wird doch nicht überflüssig sein, mich ein wenig zu stärken,« sagte sie vor sich hin. »So tiefe Erschütterungen – und wer weiß, was ich noch zu überstehen haben werde!«

Kein Mensch war mehr in der Trinkhalle und unter den Kolonnaden. Es that ihr wohl, mit ihren durcheinander wogenden Gedanken allein zu sein. Zuweilen sah sie nach den Fenstern des dritten Stockes hinauf, hinter denen sie diese beiden teuren Wesen wußte, und einmal erblickte sie den Blondkopf des Knaben, der sich über den Fenstersims streckte, wie wenn er sie draußen suchte. Da litt es sie nicht länger in der verödeten Allee. Sie wandte sich eilig dem Städtchen zu, kaufte dort in einem Spielwarenladen ein paar Schachteln Soldaten und von einer Blumenhändlerin, die ihre Bude im Freien aufgeschlagen hatte, eine Handvoll herrlicher gelber und purpurroter Rosen und kehrte in ihre Wohnung zurück.

»Sie begnügen sich nicht damit, mir den Jungen zu verziehen, Sie haben es auch auf seine Mutter abgesehen,« sagte Frau Justine, als sie ihr den Strauß abnahm. Sie stellte die Blumen in ein Glas mit Wasser, dem Reisestrauß gegenüber, und fuhr dann fort an dem Brief zu schreiben, in welchem sie ihrem Manne über die Reise und ihren ersten Kurtag berichtete. Der Knabe zog seine neue Freundin an den Tisch vorm Sofa, wo sie die Soldaten mit ihm aufstellen mußte. Er plauderte dabei beständig in seiner lieblichen Weise, aber nur halblaut, da er wußte, daß er die Mama nicht stören durfte. Als aber Tante Marie hernach in ihrem Zimmer schrieb, um sich von ihrem Hause kommen zu lassen, was sie für einen längeren Aufenthalt an Garderobe bedurfte, kam er alle Augenblicke zu ihr hereingeschlichen und fragte, ob sie noch nicht fertig sei, um unten im Freien, wie sie versprochen hatte, mit ihm Ball zu spielen.

Mittags speisten sie, wie Frau Justine sich vorgenommen, nicht an der Table d'hôte, sondern eine halbe Stunde vorher an einem kleinen Tische in dem Frühstückszimmer neben dem großen Speisesaal. Nur zwei Gerichte, die sie aus dem langen Menu auswählte. Natürlich hatte auch Tante Marie sich in diese Tischordnung gefügt und ebenso freudig den Vorschlag der Jüngeren angenommen, Abends auf ihrem Zimmer nur Thee und etwas kalte Küche sich bringen zu lassen. Als sie sich an diesem zweiten Abend trennten, nachdem der Knabe von ihnen gemeinschaftlich zu Bett gebracht war, drückte Frau Justine der alten Freundin die Hand und sagte: »Ich bin wirklich ein Glückskind! Ich habe mich vor dieser Badereise so gefürchtet; ich sorgte, ich würde für meinen Jungen am Ende keine sichere Hüterin finden und für mich keine Gesellschaft. Nun habe ich gleich eine so liebe Freundin gewonnen, die für das Kind ein wahrer Schutzengel ist.«

Sie umarmte die ganz Verstummte, deren Augen wieder feucht wurden, und küßte sie herzlich auf die Wange. Die andere stammelte ein paar unverständliche Worte, erwiderte den Kuß aber nicht und verschwand hastig in ihr Zimmer. –

Am anderen Morgen war sie schon aufgestanden und in ihrem Morgenkleide, als die Thür sich behutsam öffnete und die junge Frau den Kopf hineinstreckte. Sie nickte ihr nur zu und deutete in ihr Zimmer zurück. Dann entfernte sie sich mit leisen Schritten, um das schlafende Kind nicht zu wecken. Statt ihrer ging nun Frau Marie zu dem kleinen Bette, nahm einen Stuhl und setzte sich daneben. Der Kleine lag mit rotgeschlafenem Gesicht auf dem weißen Kissen, beide Aermchen über dem blonden Kopf zurückgelegt, im Schlafe lächelnd, daß die Grübchen in den runden, rosigen Backen hervortraten. Er atmete kaum sichtbar, zuweilen verschwand das Lächeln, und die kleine Stirn furchte sich genau wie bei seiner Mutter. Die Hüterin neben ihm mußte sich Gewalt anthun, sich nicht zu ihm hinabzubeugen und ihren Mund auf die geschlossenen Augen und das offene Mündchen zu drücken. Sie faltete still die Hände und verwandte kein Auge von dem holden kleinen Leben.

Darüber verging eine halbe Stunde. Um halb Sieben setzte die Kurmusik unten ein mit dem üblichen Choral. Wie die feierlichen Töne plötzlich durch das offene Fenster hereindrangen, schlug der Kleine die Augen auf, horchte und schaute einen Augenblick noch halb verträumt umher, dann aber, die alte Freundin erkennend, streckte er beide Arme nach ihr aus, und als sie sich zu ihm neigte, umschlang er ihren Hals und ließ sich so von seinem Kissen aufrichten. – Er fragte dann sogleich nach der Mama; als er aber hörte, daß sie bald wiederkommen würde und der Tante Marie aufgetragen habe, Rudi inzwischen aufstehen zu helfen, hielt er sogar geduldig und ohne eine Miene zu verziehen still, als die gute Tante über seine kleinen Glieder mit dem kalten Schwamme hinfuhr, und half dann selbst, seine rosigen Füßchen in die kleinen Strümpfe und Schuhe stecken. Dann stand er am Fenster und spähte nach der Mama hinaus und stürzte ihr entgegen, als sie endlich hereintrat, um ihr zu verkünden, wie brav er gewesen sei.

Auch die junge Frau war heute in besserer Stimmung als gestern. Sie hatte in der Trinkhalle, wo noch wenige Frühaufsteher sich eingefunden, eine Jugendgespielin angetroffen, jetzt die Frau eines kleinen Beamten in ziemlich engen Verhältnissen, die sich unter die geputzte Menge nicht hineinwagte, da sie nur eine sehr bescheidene Kleidung trug. Mit der hatte Frau Justine diese Stunde verplaudert und war mit ihrer Kurpflicht fertig geworden, als die Menschen erst kamen, die sie gestern mit ihrem Angaffen belästigt hatten.

Richtig erschien denn auch während des Frühstücks der tägliche Liebesbrief des Herrn Rechtsanwalts, aus welchem seine Strohwitwe eine Stelle vorlas, die für die freundliche Reise- und Kurgefährtin bestimmt war und dem Knaben einschärfte, seiner gütigen Pflegerin sich dankbar zu bezeigen.

Als die Mutter hernach ins Bad ging, begleitete sie der Kleine an Tante Mariens Hand und spielte draußen Ball mit der Gütigen, bis die Mama wieder erschien.

*

Dies für Blut und Nerven heilsame Stillleben setzten sie ohne sonderliche Abwechselung acht bis zehn Tage fort, mit Spazierfahrten oder, wenn die Hitze nachließ, kleinen Wanderungen gegen Abend, die gewöhnlich durch ein frugales Nachtessen in einer Gartenwirtschaft oder Waldschenke beschlossen wurden. Die Jugendfreundin wurde zuweilen dazu eingeladen, eine durch häusliche Sorgen und viele Kindbetten erschöpfte, eingeschüchterte kleine Frau, die wenig zur Unterhaltung beitrug und bei jeder Erzählung Frau Justinens aus ihrem Leben seufzend zu bemerken pflegte: »Ja, wenn man in glücklichen Verhältnissen ist, kann man sich so etwas erlauben!«

Ihre Gesellschaft war kein Gewinn für die beiden Frauen, und auch Rudi liebte sie nicht. So beschränkte sich der Verkehr mit ihr zuletzt auf die Stunde am Brunnen.

Die Ahnung der jungen Frau bestätigte sich: es wurde ziemlich langweilig auf die Länge, für seine leibliche Kräftigung zu sorgen ohne jede geistige oder gemütliche Erfrischung. Denn auch Tante Marie besaß nicht die Gabe, von hundert interessanten Dingen zu plaudern, außer unter vier Augen mit dem Kleinen, wo sie nie um eine hübsche Geschichte verlegen war. Seiner Mutter gegenüber verhielt sie sich merkwürdig einsilbig. Sie sprach sich selbst darüber aus.

»Die Menschen – und es sind auch nur wenige – mit denen ich umgehe, sind Ihnen fremd, und ich fühle mich auch ihnen gegenüber fast wie eine Fremde, wie wenn ich vor der Zeit dem Leben abgestorben wäre. Es thut mir so leid, daß ich Ihnen keine heitere Gesellschaft sein kann, denn ich merke wohl, Sie bedürften etwas anderes als meinen Umgang. Ich sehe Sie manchmal in eine so tiefe Schwermut versinken, daß selbst ein lustiges Wort Rudis ungehört an Ihrem Ohr vorbeigeht.«

»Machen Sie sich keine Sorge darüber,« versetzte Justine. »Es ist wahr, ich bin an Thätigkeit gewöhnt, meine Wirtschaft fehlt mir hier, dann die vielen Bekannten, die mich überlaufen, und auch für den Jungen habe ich zu Hause mehr zu sorgen, da Annette alt und etwas schwachsinnig wird und ich das Kind ihr nicht so ruhig anvertrauen kann wie Ihnen. Aber das alles ist es nicht! Es ist – ich weiß nicht was. Ich glaube fast, das Alter meldet sich schon – obwohl ich noch gar nicht so recht jung gewesen bin.«

Sie neigte sich, plötzlich wieder in heiterer Laune, zu dem Knaben hinab, küßte ihn auf die Stirn und sagte: »Weißt du etwa, Rudeli, was der Mama fehlt?«

»Papa soll kommen!« rief der Kleine und hing sich an den Hals der Mutter. Diese nahm ihn auf den Arm und lachte, indem sie errötete: »Du dummer kleiner Kerl! Der Papa hat zu arbeiten, der läßt die Mama ja oft ganze Tage lang allein. Rudeli wird es nicht anders machen, wenn er groß geworden ist.«

Frau Marie ging leise aus dem Zimmer, es war ein Regentag, an die abendliche Wanderung nicht zu denken. Frau Justine setzte sich, nachdem sie dem Knaben seine Soldaten gegeben hatte, an den Schreibtisch, um wieder einmal ihrem Manne Nachricht zu geben, was sie seit drei Tagen versäumt hatte. Sie kam aber nicht über die erste Seite. Was hatte sie auch zu berichten? Was erlebte sie? Wofür stärkte sie sich eigentlich durch diese Stahlbäder, da sie für eine stahlfeste Kraft keine Verwendung hatte? Höchstens würde sie noch ein paar Kinder zur Welt bringen, aber auch die würden mit der Zeit groß werden und die Leere ihres Daseins nicht ausfüllen.

Sie schob die Mappe mit dem angefangenen Brief zurück und sann vor sich hin. »Wenn ich nur ein Talent hätte!« seufzte sie halblaut. »Eine Leidenschaft ist mir ja versagt. Aber ein großes, wirkliches Talent, das soll ja Ersatz dafür sein! Thörichte Gedanken! Frau Marie hat Recht, ich sollte dankbarer sein, daß ich den herrlichen Buben habe. Komm, Rudeli, wir wollen einmal eine furchtbare Schlacht aufführen!«

Die alte Freundin trat wieder herein Sie hatte in dem kleinen Buchladen Thackerays » Vanity fair« gekauft, wovon sie neulich Frau Justinen erzählt hatte, als diese ihr von ihrer Vorliebe für die englische Litteratur und ihrer Abneigung gegen die neueren französischen Romane gesprochen hatte. Thackeray kannte sie noch nicht. Nun nahm sie den Tauchnitzband erfreut entgegen, ging sogleich daran, ihn aufzuschneiden, und überließ die schon begonnene Schlacht der guten Tante.

Dann vertiefte sie sich den ganzen Abend bis tief in die Nacht hinein in ihre Lektüre.

*

Fast eine Stunde später als sonst, mit einem ganz verwandelten Gesichte, kam sie am anderen Morgen von ihrem Brunnengang zurück.

»Sie müssen mich entschuldigen, liebe Freundin,« rief sie Frau Marien entgegen, die schon lange mit dem hungrigen Knaben vor dem gedeckten Frühstückstisch saß, »ich bin ganz gegen meinen Willen so lange aufgehalten worden! Denken Sie, eben wie ich in den Anlagen draußen meine halbe Stunde abgelaufen habe und nun eilig die überfüllte Allee kreuzen will, um pünktlich zum Frühstück einzutreffen, höre ich eine bekannte Stimme hinter mir: ›So eilig, gnädige Frau? Darf Ihnen ein alter, längst vergessener Verehrer nicht erst noch Guten Morgen sagen?‹ – Wer war es? Ein junger Leutnant, der vor drei Jahren bei uns in Garnison gestanden und sich in unserem Hause eingeführt hatte als ein entfernter Vetter meines Mannes, ein Herr Gaston von Wendheim, der bei den Chevauxlegers stand. Seine Großmutter war eine geborene Lindblatt gewesen, die weitere Genealogie wurde mir nie recht klar. Nun ging er, auf diese Vetternschaft pochend, ganz zwanglos bei uns ein und aus, und mein Mann sah ihn gern, da er ein lustiger Kamerad war und dabei gutmütig und bis auf einen tollen Leichtsinn ganz anständig. Auch war er ein flotter Tänzer, und auf den Bällen im Casino brauchte ich nicht zu befürchten, sitzen zu bleiben, obwohl ich ihm nur ein paar Tänze geben konnte. Ist es bei Ihnen auch so dumm eingerichtet, daß eine verheiratete Frau, wenn sie auch noch so jung und tanzlustig ist, den jungen Mädchen ja keinen Tänzer wegnehmen darf? Kurz, dieser Vetter Gaston machte mir ein bißchen den Hof, ganz unschuldig, versteht sich! Er ist auch drei Jahre jünger als ich, nannte mich seine mütterliche Freundin und ließ sich von mir mit zerknirschter Miene seine Sünden vorhalten, wenn er irgend einen tollen Streich gemacht hatte, von dem die ganze Stadt sprach. Eigentlich Schlimmes war nie dabei, und daß er für einen gefährlichen Herzenbrecher galt – nun, ein junger Leutnant von zweiundzwanzig Jahren rechnet sich das nicht zum Verbrechen. Er blieb aber nur einen Winter bei uns, dann wurde das Regiment versetzt; wie viele heiratsfähige Töchter ihm nachweinten, davon schweigt die Geschichte! Vetter Gaston hatte versprochen, zuweilen von sich hören zu lassen, aber keine Zeile kam, er hatte natürlich an Andere zu denken, als an seine mütterliche Freundin.

Und nun lasen wir in diesem Winter in der Zeitung, daß unser mauvais sujet von Gaston ein Duell gehabt habe, mit einem Assessor oder sonst einem juristischen Herrn, und habe ihn schwer verwundet, selbst nur einen Streifschuß erhalten und drei Monate Festung. ›Das wird ihn hoffentlich dazu bringen, in sich zu gehen und ein bißchen vernünftiger zu leben,‹ sagte mein Mann. Wirklich scheint er Recht zu behalten! Denn wie der arme Büßer eben vor mich hintrat, schien er mir ganz verwandelt. Nicht bloß, weil er in Zivil war. Sein Gesicht war blasser und magerer geworden, was ihm eigentlich gut steht, sein Schnurrbärtchen stärker, seine Miene viel ernsthafter. Er ist hier auch zur Kur, denn die Festungszeit habe ihn doch stark heruntergebracht. Und nun war er sehr froh, seine gestrenge Frau Cousine hier anzutreffen, und bat mich, auch hier seine Ausführung zu überwachen. Nun, ich werde nicht viel von ihm zu sehen bekommen! Er hat hier noch andere Bekannte, jüngere aus seinen Kreisen, eine Baronin X. – ich habe den Namen nicht verstanden, und ein ebenfalls adliges junges Ehepaar, mit denen er mich gleich bekannt machte. Sie begreifen, daß ich da nicht sogleich loskam. Aber nun wollen wir frühstücken! Ich bin ganz erschöpft von dem vielen Schwatzen.«

Sie legte Hut und Cape ab und setzte sich zu ihrem Kinde. Ihr Gesicht war lebhaft gerötet, in ihren Augen ein flackernder Glanz.

»Papa hat dir wieder einen Brief geschickt, Mammi,« sagte das Kind und reichte ihn mit der kleinen Hand der Mutter hin.

»So?« sagte die junge Frau, indem sie den Brief achtlos an sich nahm. »Wollen Sie so gut sein, liebe Freundin, nach unserem Thee zu klingeln?«

Dann fing sie wieder an, von den neuen Bekanntschaften zu reden, die sie eben gemacht, und dem Vetter ein paar Geschichten nachzuerzählen, die der von der Festung mitgebracht hatte. Frau Marie hörte mit zerstreuter Miene zu und war noch schweigsamer als sonst.

Als sie nach einer Stunde wieder hereinkam, Mutter und Kind zu dem täglichen Bade zu begleiten, sah sie den Brief des Mannes, der Morgens gekommen war, noch unerbrochen auf der Schreibmappe liegen.

*

Sie war heute sehr ungleicher Laune, die reizende junge Frau, antwortete manchmal verkehrt auf eine Frage der Alten, schalt das Kind heftig um ein kleines Versehen und liebkoste es dann wieder so ungestüm, daß der Kleine mitten unter ihren Küssen zu weinen anfing. Dabei sah sie schöner aus als je. Alle Vorübergehenden wandten sich nach ihr um. Eine große, auffallend kokett gekleidete Dame, nicht mehr ganz jung und stark gepudert, die ebenfalls nach dem Badehause ging, grüßte sie mit einem vertraulichen Nicken und sagte etwas zu ihrem Begleiter, einem stutzerhaften Herrn, der lächelnd den Hut zog.

»Ist das der Herr Gaston?« fragte Frau Marie.

»Wo denken Sie hin!« erwiderte Frau Justine. »Die Dame ist die Baronin, von der ich Ihnen gesagt habe, eine Witwe, der Herr neben ihr so etwas wie ihr Verlobter. Sie haben sich hier ein Rendezvous gegeben, ich habe wohl gemerkt aus Gastons Andeutungen, daß es mit ihrer Vergangenheit nicht ganz richtig ist. Was geht es mich an? An so einem Badeort findet man eine sehr gemischte Gesellschaft. Gaston aber – der hat keine so frivole Miene wie der Herr dort! Es geht ihm sehr nahe, daß er seinen Gegner so schwer verwundet hat. Und der Anlaß zu dem Duell war auch nicht etwa eine Tänzerin, sondern ein heftiger politischer Zank, wobei der Andere ehrenrührige Aeußerungen über das Militärsystem that. Wenn Sie Gaston kennen lernen – aber da wartet schon meine Badefrau!«

Die Bekanntschaft mit dem neuen Kurgast sollte heute noch gemacht werden.

Als die beiden Frauen zu Mittag sich eben von ihrem kleinen Tische erhoben, von dessen Fruchtschale Rudeli sich nur zögernd trennte, öffnete sich die Thür des großen Speisesaals, und ein schlanker junger Herr trat rasch herein.

»Was hör' ich, Frau Cousine!« rief er mit einem elegischem Ton. »Sie dinieren hier den Anderen voraus und verschwinden, sobald die Tischglocke läutet? Und ich wollte eben den Oberkellner bestechen, mich neben Sie zu setzen, um während der langweiligen Abfütterung eine Unterhaltung zu haben! Aber Sie müssen mir nun erlauben, in Zukunft an Ihrem Katzentischchen Platz zu nehmen. Wie reizend waren die Mittage in Ihrem gastlichen Hause, wenn auch Vetter Eduard mir manchmal zwischen Fisch und Braten harte Dinge zu schlucken gab!«

Die junge Frau war von einer dunklen Röte übergossen worden, als Gaston erschien. Jetzt aber sagte sie mit ruhiger Stimme: »Erlauben Sie, liebe Freundin, daß ich Ihnen einen Vetter meines Mannes vorstelle – Leutnant Gaston von Wendheim – Frau Marie Herbst.« Dann, zu dem jungen Mann gewendet, der eine nachlässige Verbeugung machte: »Wie kommen Sie hierher, Gaston? Sie sagten mir doch, Sie wohnten im ›Rheinischen Hof‹?«

»Aus dem ich hierher geflüchtet bin, teure Cousine, weil es dort nicht auszuhalten war! Sagen sie selbst: ich saß bei Tische zwischen einem blonden Gänschen von Gutsbesitzerstochter, deren Mama mich um jeden Preis zum Schwiegersohn zu bekommen wünschte, und einem alten Fräulein, das mich für die Frauenbewegung zu interessieren suchte, gegenüber ein alter Konsistorialrat, der kein Wort sprach, mich aber mit Blicken durchbohrte, da er zufällig hörte, daß ich von der Festung kam. Unter solchen Umständen konnte mir selbst eine bessere Küche, als die des ›Rheinischen Hofes‹, nicht bekommen und so bin ich Knall und Fall übergesiedelt, in Ihren dritten Stock hinaus, leider am anderen Ende des Korridors. Aber ich hoffe, Sie erlauben mir dennoch gute Nachbarschaft zu halten.«

Frau Justine hatte ihr rosiges Gesicht in möglichst strenge Falten gelegt. »Gewiß,« sagte sie sehr bestimmt, »wir werden uns ja öfter begegnen, draußen auf der Kurpromenade und in der Umgegend, wo wir jeden Nachmittag uns ergehen. Im Hause aber bedaure ich Ihren Besuch nicht empfangen zu können, ich habe keinen Salon, sondern nur das eine Zimmer, wo ich mit Rudeli schlafe. Und was Ihren Wunsch betrifft, hier mit uns vorauszuspeisen, so kann ich auch den nicht erfüllen! Wir sitzen nicht lange bei Tische, und da bin ich nur Mutter, lege dem Kinde vor und schneide ihm sein Fleisch – von einer amüsanten Unterhaltung, wie sie Ihnen vorschwebt, kann da nicht die Rede sein! Sie werden an der Table d'hôte mehr Ihre Rechnung finden, es sind sehr hübsche Damen hier, und wenn Sie denen ein bißchen den Hof machen, wird Ihre mütterliche Freundin wegen der Badefreiheit durch die Finger sehen. Adieu, lieber Gaston!«

Sie nickte ihm zu und zog den Knaben mit sich fort, während Frau Marie mit einem ernsten Neigen des Kopfes sich von dem sehr verblüfften jungen Herrn verabschiedete.

»Hab' ich's ihm nicht gut gegeben?« fragte Frau Justine noch ganz atemlos vor Eifer, während sie im Lift hinauffuhren. »Solch eine Idee! Sich ganz an uns anzuschließen, damit wir der gesamten Badegesellschaft was zu schwatzen geben! Denn ich kann doch nicht Jedem, dem diese Intimität auffällt, auseinandersetzen, daß seine Großmutter eine geborene Lindblatt war und der junge Leichtfuß daher mein angeheirateter Vetter im dritten oder vierten Grade ist. Uebrigens bin ich überzeugt, daß er sich bei seiner Uebersiedelung zu uns nichts Böses gedacht hat. Er muß nur ein bißchen erzogen werden.«

»Ich fürchte, liebe Freundin, Ihre Erziehung wird nicht viel fruchten. Dem jungen Herrn, so demütig er sich stellt, sieht der Schalk aus den Augen, um nichts Schlimmeres zu sagen. Von der Schwermut wenigstens und der Reue über das Unheil, das seine Kugel angerichtet, habe ich aus seinem hübschen Gesicht nichts entdecken können.«

»Finden Sie ihn also auch hübsch? O, er war viel hübscher vor drei Jahren, so ein blutjunges Bürschchen, nur mit einem Anflug von Bart, und Wangen wie Milch und Blut, dabei schon voller Uebermut und ein schneidiger Offizier! Seitdem soll er ein bißchen sehr flott gelebt haben; ich bin froh, für seine Aufführung nicht mehr verantwortlich zu sein. Aber so lange wenigstens, als wir unter einem 4Dache leben, soll er mir nicht über die Schnur hauen!«

An diesem Tage ließ sich Frau Justinens junger Zögling nicht mehr blicken. Er hatte sich die Abfertigung durch seine mütterliche Freundin offenbar hinters Ohr geschrieben oder grollte ihr wegen der so wenig liebevollen Aufnahme, die seine ehrerbietige Huldigung bei ihr gefunden hatte. Auch wurde sein Name zwischen den beiden Frauen nicht mehr genannt, und Frau Justine schrieb einen Brief an ihren Mann, der doppelt so lang war, als ihre gewöhnlichen, ganze vier Seiten ihrer großen, steilen Handschrift, von der nicht über sieben Zeilen auf die Seite gingen.

Am nächsten Nachmittag aber, als sie in ihrem gewohnten Wägelchen einen der anmutigsten Waldwege hinfuhren, hörten sie plötzlich das Klingen von Pferdehufen hinter sich und sahen gleich darauf die schlanke Gestalt des jungen Leutnants auf einem derben, schwerfälligen Braunen neben ihrem Wagen vorbeitraben. Er lüftete grüßend den etwas schiefsitzenden runden Hut und schien ohne weiteres sich entfernen zu wollen. Dann zog er aber doch die Zügel an, wandte sich im Sattel um und rief: »Guten Abend, meine Damen! Ich will Sie nicht weiter belästigen, nur, da Sie ortskundiger sind, um freundliche Auskunft bitten, ob der Weg nach der Schneidemühle rechts oder links abgeht.«

Seine Stimme klang ganz verändert, nicht so keck und hell wie gestern, sondern wie wenn er sich Mühe geben müsse, überhaupt das Schweigen zu brechen. Auch von seinem Gesicht, das ernster und männlicher erschien, war jeder Hauch von Uebermut geschwunden.

Frau Justine sah ihre Begleiterin fragend an.

»Wir fahren denselben Weg,« sagte sie dann. »Wenn Sie sich neben unserem Wagen halten wollen – aber Sie ziehen wohl ein rascheres Tempo vor?«

»Ich vielleicht,« erwiderte er mit einem trübsinnigen Lächeln. »Ich habe mir den Gaul gemietet, um mir ›Ruhe zu erreiten‹. Da aber auch er seine Ruhe liebt, können wir uns nicht verständigen. Sehen Sie nur, was für eine schwere Maschine mir der Pferdeverleiher aufgeschwatzt hat. Es war freilich gerade nichts Besseres in seinem Stall vorrätig Möchtest du etwa einen Ritt mit mir machen, junger Freund?« wandte er sich an den Knaben, der kein Auge von dem Pferde verwandte. »Sie können mir das Bübchen dreist anvertrauen, Frau Cousine. Hier vor mir auf dem Sattel sitzt er so sicher wie in Abrahams Schoß.«

Dem Kleinen leuchteten die Augen. Er bat so unwiderstehlich, daß die Mutter es ihm nicht versagen konnte. Sie ließ halten, Gaston beugte sich zu dem Knaben hinab und hob ihn zu sich aufs Pferd, ihn mit dem linken Arm festhaltend, während die kleinen Hände in die Mähne griffen. So trabten sie eine gute Weile in mäßigem Tempo neben dem Wagen hin, während der Vetter mit Frau Justine eine ziemlich unbedeutende Unterhaltung führte, immer in einem halb kummervollen, resignierten Ton, wie unter dem Druck eines schweren, geheimnisvollen Schicksals. An Frau Marie sah er beharrlich vorbei. Er schien zu wissen, daß er an ihr eine stille Gegnerin hatte, die sein Spiel durchschaute.

Der ängstlichen Mutter, die anfangs bei jeder lebhaften Bewegung des Pferdes zusammengefahren war, wurde immer leichter ums Herz, da sie ihren Kleinen so sicher geborgen und in hellem Jubel über seinen Ritt auf einem »wirklichen« Pferde sah. So gelangten sie endlich zu dem Waldwege, der von der Landstraße ab nach der Schneidemühle führte. Da gab der Leutnant seinem Pferde plötzlich die Sporen, daß es sich in rascheren Trab und bald in Galopp setzte, und nach fünf Minuten waren die Reiter den nachspähenden Frauen aus den Augen.

Die erste Regung der erschrockenen jungen Frau war, dem Entführer ihres Lieblings nachzurufen. Dann besann sie sich, daß er schwerlich darauf hören werde, und wandte sich zu ihrer Begleiterin: »Da sehen Sie, wie er es treibt! Jedem Einfall läßt er die Zügel schießen und bedenkt nicht die Folgen.«

«Aengstigen Sie sich nicht, Liebe,« versetzte die Andere.«Unserem Kinde wird nichts geschehen. Wenn bei allem, was Ihr Vetter in seinem Uebermut anfängt, für ihn und andere so wenig Gefahr wäre –!«

Wirklich kamen ihnen, nachdem sie noch zehn Minuten in einiger Bangigkeit hingerollt waren und bei der Schneidemühle anlangten, die beiden kühnen Reiter zu Fuß entgegen; das Kind lief auf die Mutter zu und erzählte ihr, es sei himmlisch gewesen, er sei nur so geflogen. Gaston, als er Frau Justinen aus dem Wagen half, küßte ihr mit zerknirschter Miene die Hand: er habe der Bitte des lieben Jungen, rascher zu reiten, nicht widerstehen können, er wolle sich jeder Buße unterwerfen.

»Für diesmal soll Ihre Strafe nur darin bestehen, daß Sie uns zwei alten Frauen bei unserem frugalen Abendessen Gesellschaft leisten.« sagte die junge Frau, ihm mit dem Finger drohend. »Man kann hier nichts haben als einen Eierkuchen und frische oder saure Milch. Sie werden Ihr Souper wohl erst nachher im Casino einnehmen?«

»Ich schwärme für Milch,« erwiderte er, die Hand mit drolligem Ernst aufs Herz legend. »Da ich mit Freund Rudi auf einem Sattel geritten bin, werden Sie mir wohl erlauben, mit ihm aus einer Schüssel zu essen.«

*

Bei der Heimkehr durfte der Kleine, so leidenschaftlich er darum bat, nicht wieder aufs Pferd steigen. Er mußte im Wagen zwischen den beiden Frauen sitzen, sah aber beständig zu »Onkel Gast« hinauf, der, nebenher reitend, sein schwerfälliges Tier zu allerlei widerwilligen Sprüngen zwang, um seine Reitkunst glänzen zu lassen. Der Mond war aufgegangen und beleuchtete seine schlanke Gestalt, zeichnete das hübsche, kecke Profil gegen den Waldhintergrund und ließ die festen weißen Zähne unter dem schwarzen Schnurrbärtchen blitzen. Ein Bild strotzender Jugendkraft, das selbst die gestrenge Frau Marie, so wenig sie dem jungen Herrn hold war, mit widerstrebendem Wohlgefallen betrachten mußte.

Frau Justine schien keine Augen dafür zu haben. Sie lag mit zurückgelehntem Haupt im Wagen, die Lider halb zugedrückt, die vollen Lippen halb geöffnet, wie in einen Traum versunken, der sie der umgebenden Gegenwart weit entrückte. Doch verschwand das Lächeln bald wieder von ihrem Gesicht, das der Mond silberblaß färbte, das Fältchen zwischen ihren Brauen erschien, und der Mund, der heftig die weiche Nachtluft einsog, schien sich dürstend nach einem stärkeren Trunk zu sehnen. Zuweilen schauerte sie leicht zusammen. Die alte Freundin hob ihr die Wagendecke höher über die Brust hinauf. Sie nickte dankbar und schloß dann völlig die Augen.

Eine solche Fahrt wiederholte sich nicht mehr, und auf die Frage des Knaben, wann er wieder mit dem guten Onkel reiten dürfe, antwortete die Mutter, der Papa würde schelten, wenn er es erführe. Im übrigen war von dem Gatten der jungen Strohwitwe nicht viel die Rede, wie auch die Briefe an ihn immer seltener wurden. Frau Justine hatte immer weniger Zeit zum Schreiben. Sie kam jetzt täglich beim Brunnen mit den neuen Bekannten zusammen, von denen sich die schüchterne »Jugendfreundin« mit ihrer dürftigen Toilette fern hielt. So verspätete sich das Frühstück, und die übrige Tagesordnung mußte sich gefallen lassen, gleichfalls vorzurücken. Nachmittags aber durfte sie auf dem Lawn-Tennisplatz nicht fehlen. Gaston war ein berühmter Spieler und hatte ihren Unterricht zur Ehrensache gemacht. Ihre Gegner waren gewöhnlich die Baronin mit ihrem »Freunde« – »eine ganz angenehme Dame,« versicherte Frau Justine, »und sie beträgt sich gegen mich so ausgesucht liebenswürdig, daß es unartig wäre, mit ihr nicht verkehren zu wollen«. Zuweilen nahm auch das junge adlige Paar am Spiele teil. Es gingen allerlei Gerüchte herum, sie seien nicht eigentlich verheiratet. Aber wer ist berufen, all solchen Gerüchten auf den Grund zu gehen? Wenn sie in derselben Stadt mit ihr lebten, würde sie es genauer damit nehmen! Aber hier in diesem »neutralen« Ort die Prüde zu machen, wäre lächerlich und würde sie in den Ruf einer »Landpomeranze« bringen – Ob auch ihr Mann damit einverstanden sein würde? – Gewiß. Der habe das Zutrauen zu ihr, daß sie stets mit sicherem Takt das Rechte thun werde. Und dann schreibe er ja auch in jedem Brief, er wünsche nichts mehr, als daß sie sich gut unterhalten möge, das sei für ihre Erholung wenigstens ebenso wichtig wie die Stahlquelle. Hernach habe sie Zeit genug, in dem einförmigen häuslichen Leben Buße zu thun, wenn Tennisspielen überhaupt eine Sünde wäre!

Die kluge alte Frau hörte diese Reden, aus deren lebhaftem Ton der Beschwichtigungsversuch eines nicht ganz freien Gewissens hervorklang, mit ernster Miene an, ohne ein anderes Wort zu erwidern, als: »Wenn Ihr Mann damit einverstanden ist –!« Auch schien sie sich für die häufigen langen Abwesenheiten der Mutter entschädigt zu fühlen, da nun das Kind noch ausschließlicher ihr angehörte. Einmal nahm sie den Knaben nach dem Tennisplatze mit, wo er sich aber langweilte. »Warum spielt die Mama nicht lieber mit Rudi Ball?« fragte er. Tante Marie war um eine Antwort verlegen, so gut sie den Grund mit Augen sah. Es war wirklich ein hübsches Schauspiel, wie Vetter Gaston in seinem leichten Tenniskostüm, das seinen elastischen Wuchs vorteilhaft hervorhob, sich hin und her schwang, das hübsche Gesicht vom Eifer des Spiels gerötet, mit strahlenden Augen und lachenden Lippen Bravo! rufend, wenn seine mütterliche Freundin seiner Schule einmal besonders Ehre gemacht hatte. Und doch flog ein Schatten über das nachdenkliche alte Gesicht. »Komm, Rudeli,« sagte die treue Hüterin »Hier amüsieren wir uns nicht besonders. Wir wollen sehen, ob du heute vielleicht im Eselwäglein fahren kannst!«

Frau Justine schien es ganz in der Ordnung zu finden, daß der Kleine ohne besonderen Abschied sich entfernte. Nur »Onkel Gast« nickte ihm zu. Und diesen ganzen Tag hatte seine Mutter nur noch eine halbe Stunde für ihn, die auch mit der Sorge für die Abendtoilette ausgefüllt wurde. Eine fremde Sängerin hatte im Saal des ›Russischen Hofes‹ ein Konzert veranstaltet, zu einem wohlthätigen Zweck, da in einem benachbarten Dorf ein Brand ausgebrochen war. Gaston hatte für sie und Frau Marie Billette besorgt: der Kleine, meinte er, könne für den einen Abend wohl der Aufsicht eines Zimmermädchens anvertraut werden. Davon wollte die alte »freiwillige Kinderfrau«, wie der Leutnant sie nannte, nichts hören. Sie bezahlte ihr Billet, blieb aber zu Hause.

Um Zehn sollte das Konzert zu Ende sein, es war kurwidrig, später aufzubleiben. Es schlug aber Elf, dann Zwölf, das Kind schlief längst seinen ruhigen Schlaf, den die gute Tante behütete, immer noch war die Mutter nicht zurückgekehrt. Endlich, eine halbe Stunde nach Mitternacht, wurden in dem sonst schon ganz stillen Hause rasche Schritte und ziemlich laute Stimmen vernehmbar, die sich der Thür von Frau Justine näherten. Die alte Frau hörte, wie diese vor der Schwelle ihre Stimme dämpfte und lebhaft sagte: »Sie sind toll, Gaston! Sie haben zu viel Sekt getrunken!«

»Aber teuerste Cousine,« erwiderte er, »nur einen Augenblick, nur um meinem kleinen Freund in seinem Bettchen einen Kuß zu geben, da seine grausame Mama ihrem armen Vetter eine solche ganz unverfängliche Gunst versagt.«

Und dann die junge Frau: »Still! Sie verlassen mich augenblicklich, und wenn Sie noch einmal vergessen, wie Sie sich mir gegenüber zu betragen haben – Gute Nacht!«

Die Thür wurde behutsam geöffnet, das schwache Licht der Gasflamme ließ den jungen Sünder draußen einen Augenblick sehen, wie er in gespielter Demut sich tief verneigte, dann schloß sich die Thür vor seiner Nase, und Frau Justine trat mit unsicherer Gebärde ein.

»Sie noch auf, liebe Freundin?« sagte sie rasch und errötete noch tiefer. »Aber so war es ja gar nicht gemeint! Wenn Sie ruhig zu Bett gegangen wären und nur die Thür zwischen den beiden Zimmern offen gelassen hätten, so hätten Sie ja jeden Laut des Jungen gehört. Ich – es ist wohl ein bißchen spät geworden – wahrhaftig, schon über Zwölf! Aber es war keine Möglichkeit, früher loszukommen Das Konzert freilich – an dem haben Sie nicht viel verloren. Ein sehr mäßiger Kunstgenuß, die Stimme schon ausgesungen, sehr fragwürdige Schule und affektierter Vortrag. Das Beste waren die paar Klavierstücke, die die polnische Gräfin – Sie wissen, die immer im Rollstuhl fährt – zwischen dem Gesang zu hören gab, und auch die Bachsche Chaconne, die der Freund der Baronin spielte – wirklich mehr als ein Dilettant! Hernach wollte ich mich gleich entfernen, ich war schrecklich müde, aber sie hielten mich mit Gewalt fest, ich sähe so bleich aus, ich dürfe nicht schlafen gehen, ohne soupiert zu haben. So blieben wir in dem kleinen Salon des Hôtels beisammen, der gewöhnliche intime kleine Kreis, und aßen sehr gut und es wurde sehr animiert, und so vergaß man ganz die Zeit. Das Kind wußte ich ja gut aufgehoben, und Gaston sorgte dafür, daß ich ›nicht ungeleitet nach Hause gehen‹ mußte. Nein, wie süß der Junge schläft! Aber Sie, Aermste – es ist unverantwortlich. Nun gehen Sie nur rasch zu Bett, und nicht wahr, Sie sind mir nicht böse? Wenn ich es glauben soll, müssen Sie mir einen Gutenachtkuß geben.«

Sie hielt der Alten mit der Miene eines schuldbewußten Kindes, das sich Verzeihung erschmeicheln möchte, ihr erhitztes Gesichtchen hin, die alte Frau drückte aber nur auf ihre Stirn einen leisen Kuß und sagte, sich schon nach der Thüre wendend: »Was hülfe es, wenn ich Ihnen böse sein wollte? Sie sind jung und ich bin alt. Wir haben verschiedene Bedürfnisse und verstehen uns in manchen Dingen nicht. Schlafen Sie wohl! Mir sind die Stunden an dem Bettchen unseres Kindes nicht zu lang geworden.«

*

Noch stundenlang kam kein Schlaf in die Augen der alten Frau.

Als sie dann am späten Morgen aus unsteten Träumen erwachte und erschrak, da vor ihrem Fenster schon die helle Sonne stand, hörte sie nebenan die leise Stimme der jungen Frau und dazwischen ein helles Lachen des Kindes, das die Mutter vergebens zu dämpfen suchte.

Sie erhob sich rasch, warf ihr Morgenkleid über und öffnete die Thür zu ihren Nachbarn. Da sah sie das schlanke nackte Gestältchen des Knaben in der Badewanne stehen und die nassen Aermchen ausbreiten, die Mutter zu umfassen, die sich des übermütigen kleinen Wichts kaum erwehren konnte, um in ihrem Geschäft fortzufahren.

»Tante Marie!« rief der Kleine, »Rudi wird heute von Mammi gebadet, weil Tante Marie so lange geschlafen hat.«

»Tante Marie muß sich schämen,« sagte die alte Freundin, indem sie rasch hinzutrat. »Aber nun, Liebe, bin ich da, nun überlassen Sie mir unser Kind, Sie kommen sonst zu spät zum Brunnen.«

»Ich werde heut' überhaupt nicht hingehen,« erwiderte Frau Justine, während sie den Knaben in die warme Decke hüllte und seine feuchten Glieder rieb. Sie hielt dabei das Gesicht, das rot angehaucht war, der Alten abgewendet. »Und auch in Zukunft – es war unrecht, daß ich der guten Jugendfreundin untreu geworden bin. Ich stehe wieder früher auf und bin zu Rudelis Toilette zurück.«

»Wollen Sie mich so hart strafen, weil ich heut' ein einziges Mal meine Kinderfrauenpflicht versäumt habe?«

»Wie können Sie glauben, teure Freundin! Nein, ich habe mich nur diese Nacht besonnen, daß Sie sehr Recht hatten, mich für eine schlechte Mutter zu halten. Leugnen Sie es nicht, das thaten Sie, wenn auch nur in Ihrem Herzen! Ich werde nun meinen guten Jungen nicht mehr so viel allein lassen; nicht wahr, Rudeli, du wirst wieder mit Mama spielen?«

»Auch Ball, Mammi?«

»Auch Ball, mein Herzblatt. O liebe Freundin, halten Sie mich nicht für ein herzloses Geschöpf, dem nur an seinem Vergnügen gelegen ist. Ich habe nur einen Augenblick vergessen, daß ich eine alte Frau bin, für die Spiel und Tanz vorbei ist. Beurteilen Sie mich nicht zu streng. Sehen Sie, ich habe es Ihnen ja schon gesagt, daß ich keine Jugend gehabt habe. Und Sie wissen auch den Grund. Wenn meine Mutter mich nicht verlassen hätte, wäre es anders gekommen. Aber bei dem Vater, der so tief verbittert und freudlos war und sich nicht vorstellen konnte, daß ein junges Ding noch etwas anderes bedarf, als über den Büchern oder am Nähtisch zu sitzen und Sonntag-Nachmittags den Papa auf einem trübseligen Spaziergang zu begleiten – von einem Verkehr mit lustiger junger Gesellschaft keine Rede, kaum daß er mir erlaubte, einmal ein paar Schulfreundinnen zu mir einzuladen, und jede Aufforderung zu einem Tanzkränzchen oder gar zu einem öffentlichen Ball schlug er mit finsterer Miene ab – o liebe Freundin, ich sagte es Ihnen schon, die eingefrorenen Waldhornklänge –! Nun seh' ich wohl, ich hab' es verspielt. Wenn sie einmal auftauen wollen, ist es klüger, ich halte mir die Ohren zu. Es ist nur nicht leicht, mit fünfundzwanzig Jahren den Füßen das Zacken zu verbieten, wenn ein Walzer gespielt wird.«

Unter diesen hastig hervorgesprudelten Worten hatte sie den Kleinen vollends angezogen und beugte sich jetzt auf seinen frisch gestrählten Lockenkopf hinab, die Thränen zu verbergen, die ihr still über die Wangen liefen. Die alte Freundin stand daneben, ihre tiefe Erschütterung machte es ihr unmöglich, ein Wort vorzubringen. Sie umfaßte endlich die junge Gestalt, als sie sich aufrichtete und mit der Hand über die Augen fuhr. »Verzeihen Sie mir, liebes, teures Kind!« flüsterte sie.

Da drückte die junge Frau ihr Gesicht heftig an die Brust der alten Freundin. »Was hätt' ich Ihnen zu verzeihen?« schluchzte sie. »Daß sie mir zürnten, war ja nur natürlich! Aber von jetzt an, ich verspreche es Ihnen –«

»Warum weint Mammi und Tante Marie?« rief das Bübchen, sich zwischen sie drängend. »Rudi ist hungrig, Rudi will seine Milch. Mammi soll wieder lachen und dann mit Rudeli Ball spielen.«

Die Mutter hob den Knaben auf und küßte ihn. »Ja, mein Liebling,« sagte sie, »du sollst die Jugend haben, die deine Mutter nicht gekannt hat. Und heute soll Rudeli gleich an den Papa schreiben und ihn schelten, weil er noch immer nicht sein Versprechen gehalten und seinen guten Jungen besucht hat.«

*

Nur noch zwei Tage, und die Hälfte von Frau Justinens »Strafzeit«, wie sie ihre sechswöchige Badekur nannte, war verstrichen. Nach drei Wochen hatte ihr Arzt einen Besuch des Mannes erlaubt. Den Briefen aber, in denen der zärtliche Strohwitwer seine Ankunft zu der festgesetzten Frist mit überschwänglicher Freude angekündigt hatte, waren andere, kleinlautere gefolgt, die es als zweifelhaft erscheinen ließen, ob ein schwieriges Geschäft sich bis dahin werde abwickeln lassen Frau Justine hatte sich augenscheinlich ohne sonderlichen Kummer in einen längeren Aufschub ergeben. Jetzt war sie plötzlich von einer heftigen Ungeduld erfüllt und schrieb, indem sie dem Knaben auf einem großen Briefbogen die Hand führte, eine nachdrückliche Mahnung an den Papa, alles stehen und liegen zu lassen und sie in ihrer Verbannung zu trösten.

Sie war dann den Tag über wieder in der gleichmütigen Stimmung, wie in der ersten Zeit. Auf dem Wege ins Bad begegnete ihnen Vetter Gaston, Rudeli wollte zu ihm laufen, die Mutter hielt aber sein Händchen fest und erwiderte den Gruß des jungen Herrn, der sie bedeutungsvoll anblickte, mit einem gemessenen Kopfnicken. Nachmittags auf dem Tennisplatze erschien sie nicht. Dafür nahm sie auf dem Spaziergang in den entfernteren Anlagen Rudis Ball mit, und sie spielten damit zu Dreien eine halbe Stunde lang zu großem Entzücken des Kleinen, der eine besondere Geschicklichkeit im Fangen hatte. Dann freilich bat sie die Freundin, bei ihm zurückzubleiben. Sie habe ein Verlangen nach Einsamkeit und möchte eine Stunde für sich allein herumstreifen.

*

Am andern Tage, einem Sonntag, kam ein Brief ihres Mannes. Rudelis Mahnung habe ihm scharf ans Gewissen gegriffen, an sein väterliches, das von seinem anderen, seinem Geschäftsgewissen, ein wenig tyrannisiert worden sei. Wenn der Himmel nicht inzwischen einfalle, werde er am nächsten Tage, als am Montag Mittag, Frau und Kind an sein Herz drücken, worauf er sich unsinnig freue. Für Rudeli habe er schon eine vollständige Ausrüstung zum Chevauxleger gekauft, damit er sich Vetter Gaston als Kriegskameraden vorstellen könne. Diesen werten Verwandten, dem er zu seiner so heilsamen Festungskur Glück wünsche, lasse er einstweilen grüßen und freue sich, ihn als einen bekehrten Sünder wiederzusehen

Den Schluß des Briefes las Frau Justine der alten Freundin nicht vor. Sie nahm übrigens die Ankündigung des nahen Wiedersehens ohne sonderlich freudige Erregung hin, wurde vielmehr einsilbiger als vorher und erwiderte kein Wort auf Frau Mariens Bemerkung, ein wie liebenswürdiger Humor aus dem Briefe spreche.

Vielleicht war an dieser gedrückten Stimmung ein anderes Briefchen schuld, das ihr der Kellner brachte. Vetter Gaston fragte darin an, was er verbrochen habe, daß er bei seiner mütterlichen Freundin plötzlich in Ungnade gefallen sei. Auch die Tennisfreunde seien sehr befremdet über die kühle Miene, mit der die verehrte Frau an ihnen vorübergegangen sei. Wenn er unwissentlich etwas gethan, was nicht in der Ordnung gewesen, sei er zu jeder Buße und Abbitte bereit. Er bitte nur um ein Wort der Aufklärung, da ihr stummer Zorn ihn in die tiefste Schwermut stürze.

Frau Justine besann sich lange, was sie erwidern sollte, zerriß ein paar Billetkarten und schrieb endlich lakonisch, ihr sei nicht ganz wohl gewesen, darum habe sie sich nicht auf dem Tennisplatz gezeigt, werde auch in den nächsten Tagen nicht erscheinen, da sie morgen den Besuch ihres Mannes erwarte, der übrigens den Vetter grüßen lasse.

Am nächsten Tage, da sie eben in Begleitung der Freundin und des Knaben von ihrem Bade kam, begegnete ihr der Vetter mit der Miene eines Begnadigten, der wieder gute Lust hat, in seine alten Sünden zurückzufallen.

»Heute also werden wir das Glück haben, den verehrten Vetter zu begrüßen,« rief er Frau Justinen entgegen, die nicht umhin konnte, stehen zu bleiben und die dargebotene Hand zögernd anzunehmen »Sie werden mir hoffentlich eine gute Zensur geben, gestrenge Frau Cousine, und ich selbst werde mich bestreben, Ihrem Zeugnis Ehre zu machen. Wissen Sie, daß ich es reizend fände, wenn Sie Ihrem Herrn Gemahl zuredeten, an einer Partie teilzunehmen, die wir für den Nachmittag geplant haben? Wir wollen nach dem ›Sonnenblick‹, Sie wissen, dem berühmten Aussichtspunkt, wo man gerade um diese Jahreszeit die Sonne in eine Lücke zwischen zwei Waldhöhen wie in einen Trichter versinken sieht. Nur eine kleine Stunde Fahrt, und am Fuß des Berges liegt ein Wirtshaus, in dem man die köstlichsten Forellen ißt. Die Baronin mit Appendix, Waldburgs und Burgstallers sind ebenfalls von der Partie, ein so schöner Tag kommt vielleicht nicht so bald wieder, da der Wetterbericht allerlei Bedenkliches von Minimum und Depression zu sagen weiß, und eine bessere Gelegenheit, dem teuren Herrn Gemahl gleich zu Anfang unser Weltbad von der vorteilhaftesten Seite zu zeigen, findet sich schwerlich. Ich werde mir also die Ehre geben – der Zug kommt um halb Eins – Zeit genug, zu dinieren und ein wenig Familienglück zu genießen – um Vier komm' ich dann mit einem leichten Landauer und hoffe, mir von meinem verehrten Vetter als Cicerone Dank zu verdienen.«

»Ich bedaure, diese Hoffnung zerstören zu müssen,« sagte Frau Justine, die, während er sprach, still zu Boden geblickt hatte. »Wie ich meinen Mann kenne, würde es ihm kein Vergnügen machen, am ersten Tage des Wiedersehens unter fremden Menschen die untergehende Sonne zu bewundern. Bemühen Sie sich also unsertwegen nicht. – Vielleicht später einmal –«

«O!« sagte er, »ich hatte mich so darauf gefreut. Aber Sie dürfen mir nicht zürnen, wenn ich mich noch nicht bei Ihrer Absage beruhige. Vielleicht denkt der Herr Vetter doch anders, zumal die übrige Gesellschaft uns gar nicht genieren soll. Jedenfalls finde ich mich Punkt Vier mit dem Wagen ein und bin des definitiven Beschlusses gewärtig.«

Er verneigte sich mit seinem siegesgewissen Lächeln – an der alten Dame wie gewöhnlich vorbeisehend –, nickte dem Knaben zu und entfernte sich rasch, um jeden weiteren Einwand abzuschneiden.

Auch die Anderen setzten ihren Weg fort, die junge Frau ganz in ihre Gedanken versunken. Der Kleine plauderte beständig von Papa und fragte, was er Rudi mitbringen werde. Die Mutter überließ es der alten Freundin, seine Fragen zu beantworten. Oben angelangt vor der Thür ihres Zimmers, sagte Frau Marie: »Ich begleite Sie natürlich nicht nach dem Bahnhof, Sie sollen Ihren Mann allein empfangen. Und auch bei Tische werden Sie noch viel sich zu erzählen haben, wobei eine unbeteiligte dritte Person störend ist. Also auf Wiedersehen heute Abend, wenn sie nicht auch dann allein zu sein wünschen!«

Die junge Frau nickte zerstreut, ohne auch nur aus Höflichkeit zu protestieren, und die alte Freundin ging in ihr Zimmer. Sie hatte aber den Hut noch nicht abgelegt, als die Thür zwischen ihren Zimmern sich öffnete und Frau Justine rasch hereintrat.

Sie schien sehr aufgeregt und hielt ein Blatt in der Hand.

»Da, lesen Sie!« sagte sie. »Dies Telegramm fand ich auf meinem Tische. Von meinem Mann, er kommt heute nicht, vielleicht auch morgen nicht –«

Auf dem Blatte stand: »Erwarte mich heute nicht. Leider dringende Abhaltung durch Geschäfte. Brief folgt. Tausend Grüße.«

Die Alte gab das Blatt zurück. »Das ist ja sehr ärgerlich,« sagte sie. »Ich begreife, Liebe, wie es Sie verstimmen muß. Sie hatten sich so darauf gefreut.«

Die junge Frau ging mit heftigem Schritt nach dem Fenster, stand dort still und sagte, ohne sich umzuwenden: »So ist es immer! Die Geschäfte gehen immer vor! Und dann soll ich glauben, daß man mich lieb habe! Wenn das wäre, würde eine Abhaltung dringend genug sein, ihm einen Besuch unmöglich zu machen, nach so langer Trennung. Von mir nicht einmal zu reden – wir Frauen erfahren es ja immer, daß wir nach ein paar Jahren nur noch auf das Pflichtteil von Liebe Anspruch haben – aber der Junge, den er zu vergöttern vorgab – freilich, er hat es ja selbst eingestanden in dem Brief, dessen Humor Ihnen so reizend schien, daß sein Geschäftsgewissen sein väterliches tyrannisiere! Nun, wir werden uns darein ergeben müssen. Sie brauchen sich nicht damit zu bemühen, mich zu trösten.«

Sie trat vom Fenster zurück, das Grübchen auf ihrer Wange war verschwunden, das schöne junge Gesicht hatte einen scharfen Zug von Trotz und Zorn bekommen, der der alten Freundin weh that.

»Ich will Sie nicht trösten,« sagte sie mit sanftem Ernst, »denn ich sehe leider, Sie sind weniger betrübt als aufgebracht, über etwas, das Ihrem Manne in meinen Augen Ehre macht. Wenn er sein Herz schweigen läßt, um nur auf seine Pflicht zu hören, so sollte seine gute Frau es ihm nicht zum Vorwurf machen, sondern um so mehr stolz darauf sein, einen so ehrenhaften Mann zu besitzen. Verzeihen Sie, Liebe, daß ich mir erlaube, Sie zu moralisieren. Aber ich bin Ihnen so herzlich zugethan, ich kann meine ehrliche Meinung nicht zurückhalten. Ich habe Ihren Mann nur wenige Minuten gesehen, damals auf dem Bahnhof. Ich habe ihn aber genug beobachtet, um zu wissen, daß Mangel an Herzenswärme nicht sein Fehler ist.«

»Weil er leicht gerührt ist, weil ihm die Augen geschwind übergehen!« rief die junge Frau lebhaft. »Aber in der weichen Schale steckt ein Kern, der – nein, ich will das nicht sagen. Er ist nur ein Pedant, ein Amtsphilister. Er schien so jung und schwärmerisch, als er um mich warb. Das ist bald vergangen, und nun sollen mich seine ehrenwerten Eigenschaften entschädigen für die getäuschte Hoffnung auf eine Ehe, die mir meine verscherzte Jugend vergütete. Sprechen wir nicht mehr davon! Wer das nicht selbst erfahren hat, kann es nicht begreifen.«

Sie ging in ihr Zimmer zurück, und die Alte sah ihr seufzend nach. Auch bei Tisch war eine peinliche, wortkarge Stimmung zwischen ihnen, die selbst die niedlichen Einfälle des Kindes nicht zu erheitern vermochten. Dann zog sich die junge Frau zurück, um Siesta zu halten, wie gewöhnlich zu dieser Zeit den Kleinen der guten Tante Marie überlassend. Der Arzt hatte es vorgeschrieben, daß sie nach dem Essen eine Stunde lang sich ganz ruhig verhalten sollte.

Die beiden Anderen gingen in die Stadt, die Tante hatte Rudi ein Spielzeug versprochen, das er im Schaufenster gesehen hatte. Als sie nach einer längeren Zeit zurückkehrten, fanden sie Mama Justine in ganz verwandelter Laune. Sie hatte eine reizende Toilette gemacht und war heiter und gesprächig. Doch fiel es der klugen Alten auf, daß ein gezwungenes Lachen öfters von ihren Lippen kam und dazwischen wieder das trotzige Fältchen zwischen ihren Brauen sich zeigte. Mehrmals trat sie ans Fenster und blickte auf den Platz vor dem Hôtel hinab, nahm dann den Roman von Thackeray und las ein paar Zeilen, um das Buch dann wieder lässig im Schooß zu halten.

Der Regulator im Zimmer schlug endlich Vier. Mit dem letzten Schlage fuhr unten ein Wagen vor, und gleich darauf hörte man rasche Schritte draußen im Gang sich nähern und ein Klopfen an der Thür.

»Darf man sich jetzt ins Allerheiligste wagen, da der Herr Gemahl darin weilt?« hörte man Gastons übermütige Stimme, während er eintrat, ohne ein Herein! abzuwarten. »Aber wo ist er denn, mein verehrter Herr Vetter? Ich bin, wie ich gedroht hatte, unten mit dem Wagen gekommen, um zu versuchen, ob ich ihn doch zu dieser Familienpartie überreden kann. Rudi wird mir dabei helfen, er darf natürlich wieder auf dem Bock sitzen.«

»Mein Mann hat telegraphiert, daß Geschäfte sein Kommen heute unmöglich machen,« sagte die junge Frau. »Ich bedaure, daß Sie sich umsonst bemüht haben.«

»Umsonst? Das Wort steht nicht in meinem Lexikon. Nein, teure Cousine, nun ist es meine Pflicht, Sie nicht in Melancholie versinken zu lassen wegen des aufgeschobenen Wiedersehens! Wenn Vetter Eduard hier wäre, würde er es nur vernünftig finden, daß Sie seinethalben den Sonnenblick nicht versäumen. Die Anderen sind in ihren Einspännern schon voraus, aber unser zweispänniger Landauer wird den Vorsprung bald eingebracht haben.«

Justine nickte nur, wie abwesenden Geistes, ging aber gerade auf den Stuhl los, auf dem ihr Hütchen und der leichte Umhang lagen, und setzte eben den Hut auf, als die alte Freundin in die Thüre trat.

»Sie fahren, liebe Justine?«

»Wie Sie sehen, Frau Marie. Da mein Mann ausgeblieben ist, habe ich keinen Grund, auf die Partie zu verzichten.«

»So komm, Rudeli, ich will dich fertig machen.«

»Der Junge fährt nicht mit. Sie wissen ja, man wartet den Sonnenuntergang ab. Dann wird es noch nicht gleich wieder zur Rückfahrt kommen, so daß Rudi viel zu spät zu Bett käme. Nein, Liebling, erst wenn der Papa da ist, sollst du wieder auf dem Bock sitzen und die Peitsche halten.«

»Oder noch lieber zu Onkel Gast aufs Pferd und den Zügel mit anfassen, gelt, kleiner Freund? Aber ich will nun vorauseilen, Frau Cousine, und unten Ihrer harren. Gnädige Frau –!«

Er verneigte sich mit einem sarkastischen Lächeln gegen Frau Marie und verschwand im Korridor.

»Liebe teure Frau,« sagte die Alte, »schicken Sie ihm nach und lassen ihm sagen, Sie hätten sich anders besonnen, Sie würden nicht von der Partie sein!«

»Was fällt Ihnen ein?« erwiderte die junge Frau, indem sie sich vor dem Spiegel ihren Hut feststeckte. »Er müßte mich ja geradezu für verrückt halten. Und warum sollte ich mich anders besonnen haben?«

»Ein Vorwand wird sich leicht finden lassen. Jedenfalls sind Sie es Ihrem Manne schuldig, nichts zu thun, was Sie unheilbar kompromittieren würde.«

»Meinem Manne? Eine so zarte Rücksicht sollte ich auf ihn nehmen, nachdem er eben gezeigt hat, wie wenig Rücksicht er auf mich nimmt? Ich sehe auch nicht ein, was daran unpassend sein könnte, mit einem nahen Verwandten und in Gesellschaft Anderer im offenen Wagen einen Ausflug zu machen.«

Dabei warf sie sich ihr Mäntelchen um und ging nach ihrem Sonnenschirm.

»Folgen Sie mir nur dies eine Mal, liebe Teuerste!« sagte die Alte. »Glauben Sie, daß ich nicht alt geworden bin, ohne Erfahrungen gemacht zu haben. Dieser Ihr naher Verwandter verließ uns mit einem so triumphierenden Lächeln, wie nur ein Mensch, der seiner Sache gewiß ist. Und daß er in Sie verliebt ist und – Macht über Sie hat, – können Sie es leugnen? Nein, blitzen Sie mich nicht mit so drohenden Augen an! Ich bin überzeugt, daß Ihnen jeder unrechte Gedanke fern liegt. Aber auch die ehrbarste Frau leidet Schaden an ihrer Seele, wenn sie sich gegen unlautere Anfechtungen zur Wehre setzen muß. Ersparen Sie sich das und thun Sie nicht aus Trotz gegen die alte Warnerin, was Sie doch vielleicht hernach gereuen würde.«

Der Kellner öffnete die Thür und meldete, der Wagen sei bereit, der Herr Leutnant warte unten.

»Ich komme,« beschied ihn die Frau. Dann, zu der alten Freundin gewendet: »Ich danke Ihnen für Ihre gütige Sorge um mein Seelenheil. Ich habe es als eine glückliche Fügung angesehen, daß Sie der Schutzengel meines Kindes sein wollten. Für mich selbst bedarf es keines anderen Schutzes als meines eigenen Gewissens, und darum bitte ich Sie, sich zu beruhigen. Ich weiß genau, was ich zu thun und zu lassen habe. Adieu, Rudeli! Sei brav und folge der guten Tante. Mama bringt dir vielleicht etwas aus dem Walde mit.«

Sie küßte den Kleinen, nickte der alten Freundin zu und ging rasch aus dem Zimmer.

*

Gaston stand, ungeduldig ihrer wartend, unten neben dem offenen Wagenschlag, sie nahm aber seine Hilfe beim Einsteigen nicht an, sondern schwang sich leichtfüßig hinein und drückte sich in die eine Ecke des weichen Sitzes Der junge Offizier, der heute in Uniform war, folgte ihr und sah dann noch einmal zu den Fenstern des dritten Stockes hinauf.

»Rudi winkt mit den Hündchen Ihnen zu, Cousine, und die schwarze alte Kindermuhme sieht uns nach, als ob sie uns mit ihren Blicken durchbohren möchte. Ich habe wohl gemerkt, daß sie Ihnen am liebsten den Ausflug untersagt hätte. Warum haben Sie der gespenstischen alten Dame so viel Autorität über sich eingeräumt?«

»Sie ist eine Witwe und hat ihr einziges Kind verloren, und da sie so unglücklich und vereinsamt ist und sich so rührend zärtlich an meinen Jungen attachierte, habe ich mich rasch mit ihr befreundet, zumal ihre Nähe mir vielfach eine Sorge abnimmt. Auch ist sie eine feine und gebildete Frau, und im übrigen, wenn sie mich auch manchmal ein bißchen hofmeistern möchte, habe ich doch noch meinen eigenen Willen.«

»Daß Sie ihn diesmal zu meinen Gunsten durchgesetzt haben, teure Cousine, kann ich Ihnen nicht genug danken,« sagte Gaston, »und es ist mir tröstlich, daß Sie, da Sie zwischen dem jungen Vetter und der alten Hofmeisterin zu wählen hatten, die mich von Anfang an nicht ausstehen konnte, sich für mich entschieden haben. Ich will Ihnen nur gestehen, ich fürchtete mich vor dieser Fahrt.«

Sie sah ihn fragend an.

»Ja,« fuhr er fort und bemühte sich, tiefsinnig auszusehen, »ich erwartete ja, daß auch Ihr Mann von der Partie sein würde.«

Frau Justine lachte, freilich ein wenig gezwungen.

»Seit wann fürchten Sie sich vor einem Vetter, der Ihnen noch nie etwas zuleide gethan hat?«

»O, Sie wollen mich nicht verstehen. Und Sie wissen doch ganz gut, daß er mir etwas gethan hat, was nie wieder gut zu machen ist! Wenn ich daher sagte, ich hätte mich vor dieser Fahrt gefürchtet, so war es, weil ich mich vor mir selber fürchtete, daß ich vielleicht nicht Selbstbeherrschung genug haben würde, ihm freundvetterlich zu begegnen, sondern ihn meine feindselige Gesinnung würde merken lassen. Und dann fürchtete ich auch noch den Schmerz, Ihnen so viele Stunden gegenüber zu sitzen und mir immer sagen zu müssen – aber nein, Sie haben mir ja schon einmal gedroht, mir Ihre ›mütterliche Freundschaft‹ zu entziehen, wenn ich mein Herz über die Lippen springen ließe. Ich verstumme daher.«

»Damit thun Sie jedenfalls besser, als wenn Sie Unsinn reden, an den Sie doch selbst nicht glauben,« sagte die junge Frau ernsthaft. »Denn wenn es wahr wäre, daß Sie meinem Mann nicht gern gegenüber säßen, warum lag Ihnen doch daran, ihn zum Mitfahren zu veranlassen?«

Er antwortete nicht sogleich, sondern starrte schwermütig vor sich hin.

»Sie sind eine glückliche Gattin und Mutter,« sagte er endlich mit einem Seufzer. »Wie wollen Sie die Gefühle eines Unglücklichen verstehen? Aber um nicht wie ein Narr vor Ihnen zu erscheinen, will ich gestehen, daß ich diese Fahrt zu Dreien gewünscht hatte, um mich durch den Augenschein recht davon zu überzeugen, wie hoffnungslos meine verschwiegenen Wünsche seien. Ich dachte, dies grausame Mittel würde etwas zu meiner Heilung beitragen, und morgen mit dem frühesten wollte ich dann flüchten, um der Qual ein Ende zu machen. Dazu hat es noch nicht kommen sollen, meine ›verlorene Liebesmüh‹ soll noch einen oder gar mehrere Tage fortgesetzt werden. Das aber können Sie glauben: so todesmutig ich in ein feindliches Carré hineinsprengen würde,– täglich es mit anzusehen, daß ein Anderer –«

»Still!« unterbrach sie ihn, so nachdrücklich und mit finsterer Miene, daß er einen Augenblick in der That glaubte, sie ernstlich erzürnt zu haben. »Wenn Sie noch ein Wort in diesem Tone sprechen, rufe ich dem Kutscher zu, umzuwenden, da ich nach Hause fahren wolle.«

Er sah sie erschrocken an und rückte ein wenig von ihr fort in seine Wagenecke hinein, als ob er fürchtete, schon durch eine Berührung ihres Kleides die Schranke zu durchbrechen, die sie zwischen ihnen aufgerichtet hatte. Dabei schlug er die Augen nieder wie ein gescholtener Schulknabe, der seinen Leichtsinn bereut.

Fünf Minuten fuhren sie so, ohne ein Wort zu wechseln, durch die lachende Gegend hin. Sie beobachtete ihn verstohlen, ohne ihm das Gesicht zuzuwenden, immer noch mit dem Ausdruck einer beleidigten jungen Fürstin in dem schönen rosigen Gesicht. Aber länger hielt sie es nicht aus. Was hatte er so Schweres verbrochen, daß sie ihm nun zur Strafe Schweigen auferlegen mußte? Er hatte ihr ja nur mit den ehrerbietigsten Worten sein Leiden, seine Hoffnungslosigkeit geklagt. Konnte er dafür, daß sie liebenswürdig war und er ein leicht entzündliches zweiundzwanzigjähriges Herz unter der grünen Uniform trug?

«Seien Sie vernünftig, Gaston,« fing sie endlich wieder an. »Wollen wir uns den schönen Tag verderben, indem Sie mir unsinnige Dinge sagen, die ich nun einmal nicht hören darf? Erzählen Sie mir von Ihrem Garnisonsleben, seit wir uns damals getrennt haben. So ein junger Sausewind muß allerhand lustige Abenteuer gehabt haben. Ich will Ihre Beichtmutter sein, und wenn es nicht zu arge Sünden sind, verspreche ich Ihnen, Sie zu absolvieren.«

Er erkannte sofort, daß er wieder zu Gnaden angenommen sei, aber als ein schlauer Frauenkenner fand er es angemessen, noch eine Weile den Verzweifelten zu spielen.

»O meine teure Cousine,« seufzte er, »ich begreife nicht, wie Sie, da Sie doch ein gutes Herz haben, so wenig Mitleiden mit mir fühlen können! Sie verlangen, ich soll vernünftig sein, und wissen doch, daß Ihr Anblick mich um alle Vernunft bringt. Damals, als ich mich von Ihnen trennen mußte, waren Sie gütiger. Sie sahen meinen erbarmungswürdigen Zustand, als ich mich beim Abschiede auf Ihre Hand beugte und einen schüchternen Kuß darauf drückte. Ich sehe noch Ihr Lächeln, mit dem Sie auf den armen Jungen herabblickten, und als ich dann mich nicht beherrschen konnte, mich aufrichtete und diese lächelnden Lippen zu küssen wagte, zürnten Sie mir nicht, sondern schoben mich nur zur Thür hinaus, da Vetter Eduard eben die Treppe heraufkam. Was war denn auch Böses dabei, daß zwei nahe Verwandte sich einmal in die Arme fielen? Und vorgestern Nacht, nach dem Konzert, als wir zusammen im Lift hinauffuhren und Sie wieder so unwiderstehlich lächelten und ich den Kopf verlor und mir wieder erlauben wollte –«

Sie war dunkelrot geworden.

»Begreifen Sie denn nicht,« fiel sie ihm ins Wort, »daß es nun ganz anders zwischen uns ist? Damals waren Sie fast noch ein Kind, ein neunzehnjähriger Springinsfeld, dem man nichts übelnehmen konnte. Jetzt sind Sie ein junger Don Juan geworden und ich eine alte Frau, die etwas mehr vom Leben und den Männern gesehen hat und sehr gut weiß, was sie von den zärtlichen Gefühlen, die Sie ihr vorspiegeln, zu halten hat, daß Sie sich nur gewissermaßen verpflichtet fühlen, auch mir, wie jeder anderen nicht gerade häßlichen jungen Frau, die Cour zu machen. Wenn ich daran glaubte und Sie reisen morgen ab, geschähe mir ganz recht, daß Sie sich ins Fäustchen lachten und mich für eine eitle alte Närrin erklärten.«

Nun war es an ihm, den Gekränkten zu spielen.

»Womit habe ich das verdient!« rief er, indem er düster zum Himmel aufblickte. »Sie halten mich für einen herzlosen Heuchler, für einen Gecken, der selbst mit den heiligsten Gefühlen sein Spiel treibt. Ich will mich wahrhaftig nicht besser machen, als ich bin, mich nicht für einen Tugendhelden ausgeben! Mein Gott, in so einem insipiden Garnisonsleben, unter leichtfertigen Kameraden – man müßte ein Heiliger sein, wenn man nicht hie und da schon aus Langerweile über die Schnur haute. Aber wenn ich mir nichts wirklich Schlimmeres vorzuwerfen habe – Ihnen allein verdanke ich es. Ihr Bild hat mich in diesen drei Jahren überall begleitet, ich glaubte, wenn ich einmal nahe daran war, in eine Verirrung zu geraten, Ihre Stimme zu hören, Ihre schönen, holden, strafenden Augen –«

Sie legte ihm rasch die Hand auf den Mund. »Bitte, bitte, nicht weiter!« sagte sie. »Ich will es Ihnen ja glauben und sogar stolz darauf sein, daß Sie mich nicht ganz vergessen und an die Ermahnungen gedacht haben, mit denen ich Sie junges Blut aus den rechten Weg zu leiten suchte. Von nun an aber –«

Er hatte ihre weiche kleine Hand von seinen Lippen gezogen und bedeckte sie jetzt mit stürmischen Küssen.

»Von nun an,« rief er, »wird es noch trauriger um mich stehen. Zürnen Sie mir doch nicht, wenn ich sage, was Sie ja selber wissen, was Ihnen auch nicht das Herz schwer machen kann, da ich Ihnen gleichgültig bin, mir aber wenigstens für den Augenblick das schwere Herz erleichtert: daß Sie die schönste, beste, liebste von allen Frauen sind, und ich einen Stein in der Brust haben müßte, wenn ich je eine Andere mehr lieben könnte, als Sie. Aendert es daran nur das geringste, daß Sie einem Anderen angehören? Und wird es darum ein Verbrechen, so für Sie zu fühlen und es Ihnen zu gestehen, wenn Sie auch dem Unglücklichen, der zu spät gekommen ist, nicht die leiseste Hoffnung machen können, seine Leidenschaft jemals zu erwidern?«

*

Sie lag im Wagen zurückgelehnt in ihrer Lieblingshaltung, die geschlossenen Augen gegen den Himmel gekehrt, über dessen Helle sich ein leichtes Dunstgewölk verbreitet hatte. Die Hand, die er mit seinen beiden ergriffen hatte, überließ sie ihm, doch halb bewußtlos, da sie überhaupt in einer Art Halbtraum neben ihm sitzend seine feurigen Reden einsog, wie einen süßen Wein, der ihr den Kopf umnebelte. Noch nie hatte sie eine solche Sprache, die sie in den Büchern wohl kennen gelernt, von einer menschlichen Stimme an sich gerichtet vernommen. Alles, was an Jugend und Glücksbedürfnis zurückgedrängt in ihr lebte, wurde aufgeregt, und sie mußte an sich halten, nicht die Lippen zu öffnen und auszurufen: »Sprich weiter, immer weiter! Du sagst ja mir, was ich selbst empfinde und auszusprechen nie den Mut und die Gelegenheit hatte.«

Da fuhr der Wagen, der bisher auf einer glatten Chaussee geräuschlos hingerollt war, knirschend auf hartem Kiesgrund auf und machte eine scharfe Wendung, um gleich darauf mit einem Ruck stillzuhalten. Sie fuhr in die Höhe und sah sich um. Sie hielten vor der Thür eines ländlichen Hauses, das am Waldrande stand, über dem Eingang ein Schild mit der Inschrift »Zum Sonnenblick«, in einem Gärtchen daneben Tische und Bänke unter den hohen Fliederbüschen, die längst abgeblüht hatten, während an den Malven und Asternzweigen die vielfarbigen Blumen schon auszubrechen begannen.

»Schon da!« flüsterte Gaston, ihre Hand freilassend. Das Glück war kurz. Da sind auch schon die Andern.«

Er öffnete den Schlag, der jungen Frau hinauszuhelfen, über dem Lattenzaun des Gärtchens erschienen die Hüte der Baronin und ihrer Begleiter, die jetzt aus dem Pförtchen traten, die Nachzügler zu bewillkommnen. Auf der andern Seite des Hauses unter einem Schuppen sah man drei kleine Wagen, die die anderen drei Paare hergebracht hatten. Die Pferde waren in den Stall gebracht, die Kutscher saßen im Innern des Hauses beim Bier.

»Sie kommen spät!« rief die Baronin mit einem feinen Lächeln den Ankömmlingen entgegen. »Haben Sie etwa noch einen Umweg gemacht, oder sind unterwegs entgleist? Und wo ist der Herr Gemahl geblieben, kleine Frau? Nicht eingetroffen? Wie schade! Da müssen Sie schon mit dem Herrn Vetter vorlieb nehmen. Wir haben inzwischen hier draußen Kaffee getrunken, aber nun ist es höchste Zeit, aufzubrechen, wenn wir den Sonnenuntergang nicht versäumen wollen. Der Wirt sagt, man habe noch gut dreiviertel Stunden bis zum Aussichtspunkt und es gehe immer bergan.«

»Ehe wir aufbrechen,« sagte der ›Freund‹, »erlaube ich mir ein Changez-les-dames vorzuschlagen. Werdenfels hat den Gedanken gehabt, den ich sehr billige. Er möchte etwas langsamer steigen als Frau Constanze, an der bekanntlich eine Gemse verdorben ist, und da auch Sie, liebe Freundin, bergan gern zuweilen Rast machen – also angenommen, nicht wahr? und arrangieren wir uns. Ich bitte um die Ehre, unserer liebenswürdigen Frau Doktor Arm und Geleit anbieten zu dürfen!«

Er trat auf Justine zu, die schweigend und zerstreut seinen Arm annahm. So setzte sich die kleine Karawane in Bewegung.

Es ging anfangs in langsamen Windungen bequem hinan, zwischen Laubholz und jungem Nachwuchs, und von Zeit zu Zeit bot eine aus rohen Brettern gezimmerte Bank einen Ruheplatz, was die etwas korpulente Baronin sich regelmäßig für etliche Minuten zu nutze machte, während die Anderen langsam weiterstiegen. Noch schwebte eine milde Tageshelle über den Wipfeln. Aber der graue Flor, der schon während der Fahrt sich über die Sonne gezogen hatte, wurde dichter und dichter.

Der Freund der Baronin blickte besorgt zum Himmel auf. »Ich fürchte,« sagte er, »wir werden unser Entree umsonst bezahlt haben. Wenn wir in unserer Loge sitzen, fällt der Vorhang, statt aufzugehen, und wir kommen um das versprochene Schauspiel. Unter uns gesagt, gnädigste Frau, ich liebe überhaupt keine Sonnenuntergänge. Man fühlt sich immer verpflichtet, melancholische Betrachtungen anzustellen, was nirgends weniger angebracht ist, als an der Seite schöner Frauen.«

Justine erwiderte nichts, schon darum, weil sie die Worte ihres Begleiters vollständig überhört hatte. Es war ihr lieb gewesen daß sie die Wanderung nicht mit Gaston zusammen anzutreten brauchte. Aber die ganze Flut leidenschaftlicher Worte, die er an sie hingeredet, wogte ihr noch im Herzen, und sie fühlte sich zu schwach, sie zurückzudämmen. Was hätte sie erwidern sollen? So war sie froh, daß ihre Ankunft bei der Waldwirtschaft sie einer Antwort überhoben hatte, daß sie nun all die süßen, schmeichelnden Gefühle in sich tragen konnte, ohne durch eine strenge Abweisung die zauberhafte Stimmung zu zerstören. Sie fühlte sich auch in ihrem Gewissen nicht beunruhigt. War es ihre Schuld, daß sie so geliebt wurde? Und da sie sich streng gehütet hatte, nur mit einem Seufzer zu verraten, daß sie ähnlich fühlte, wer konnte ihr ein Gefühl als Sünde anrechnen, das über sie gekommen war wie eine Naturgewalt und das sie so tapfer bekämpfte?

Sie sah aber mit heimlichem Vergnügen, daß Gaston einsilbiger als sonst neben der Gräfin hinging. Daß der Verführer nur ihretwegen, die er sich nahe wußte, sich stellte, als ob er nach seinen leidenschaftlichen Bekenntnissen die Sprache verloren hätte, kam ihr nicht von fern in den Sinn. Der Augenblick mit seiner überschwänglichen Wonne beherrschte sie ganz; was danach kommen sollte, daß überhaupt ein Tag kommen mußte, wo sie wieder die treue, tugendhafte Frau ihres Mannes sein würde, solche Gedanken drängte sie weit von sich weg-

Ihr Begleiter wunderte sich ein wenig über ihre Schweigsamkeit, schob sie aber auf die Verstimmung über das Ausbleiben ihres Mannes, den sie einmal in einer Stunde, wo Gastons leichtfertige Miene sie verdroß, sehr beredt gerühmt hatte. Er fuhr fort, in seiner gewandten Manier allerlei an sie hinzureden, und drückte dabei ihren Arm fester an sich, als nötig war, ihr den immer steiler werdenden Anstieg zu erleichtern. Sie bemerkte es gar nicht in ihrem wunderlichen Traumzustand. Sie sah und hörte nichts, als Gastons schlanke Gestalt wenige Schritte vor sich und die gleichgültigen Worte, die er seiner Begleiterin gönnte.

Als sie die Höhe erreicht hatten, war es gerade noch Zeit, sich auf den Bänken niederzulassen, die im Halbkreis auf dem kleinen abgeholzten Plateau standen. Der nackte Fels trat hier zu Tage, der sich in steilem Absturz in das tiefe Thal hinuntersenkte. Man sah von droben auf ein Meer von Wipfeln hinab, das die ungeheure Weite des Grundes ausfüllte und langsam drüben an den Abhängen wieder hinanschwoll. Weit und breit die tiefste Waldeinsamkeit, nur ganz unten, von den Laubkronen versteckt, ein einzelnes Gehöft, wohl eines Forstmanns, das sich durch einen dünnen blauen Rauch ankündigte. Weit drüben aber war die gerade Linie der Berghöhe durch einen schwarzen Strich hoher Fichten begrenzt, die fast genau in der Mitte eine Lücke ließen, jenen Abgrund, in den die Sonne um diese Jahreszeit versinken sollte.

Es schien aber, als sollte dies erhabene Schauspiel heute allen neugierigen Blicken entzogen werden. Ueber dem schwarzen Walde drüben lag eine schwere dunkelblaue Wolkenschicht, die sich über den halben Himmel verbreitete. Der Wind kam in kurzen, heftigen Stößen von Westen her, doch so hoch über dem Thalgrund, daß die Wipfel drunten nichts davon spürten und so reglos standen, als bildeten sie einen einzigen weichen Teppich, auf dem man bequem zu der Fichtenhöhe hinüberwandeln könnte. Es klang wie die tiefen Atemzüge des Waldes so feierlich in der weiten, dämmrigen Runde, daß von der kleinen Gesellschaft droben auf dem Aussichtsplatz keiner das Schweigen brach. Frau Justine hatte sich an das Ende einer Bank gesetzt und ihre Mantille fest um ihre Schultern gezogen, als ob sie trotz der schwülen Föhnluft fröstle.

Zwischen ihr und Gaston war ein Platz frei geblieben. Selbst der kecke junge Herr, der durchaus nicht schwärmerisch angelegt war, wagte nicht, die andächtige Stimmung, die sich der Anderen bemächtigt hatte, zu stören, oder der jungen Frau ein verwegenes Wort zuzuraunen.

Nun fielen schon einzelne schwere Tropfen, und der Wind rauschte lauter in den Zweigen. Eben wollte die Baronin den Vorschlag machen, zum Rückweg aufzubrechen, da zeigte sich am untersten Rand der Wolkendecke drüben ein roter Schimmer und gleich darauf ein glühender Funke, der größer und größer anschwoll und sich bald in halber Rundung zu der Lücke hinabsenkte. Unter dem schwarzen Vorhang glitt endlich langsam, wie geschmolzenes Erz in einen Becher tropft, der runde Sonnenball hervor, stand einen Augenblick frei auf dem schmalen silbergrauen Hintergrund und sank dann sacht tiefer und tiefer, bis der letzte Funke von dem schwarzen Grund verschlungen war.

»Das war herrlich!« kam es von den Lippen der Baronin, die unter der frivolen Hülle einer Weltdame eine romantisch gestimmte Seele trug.

»Wie ein Chopinsches Nocturne!« sagte die Gräfin.

Frau von Burgstaller flüsterte, was sie bei dem großen Schauspiele empfunden hatte, ihrem Gemahl ins Ohr. Justine schwieg.

»Schade, daß diese Primadonna uns den Gefallen nicht thun würde, noch einmal zu erscheinen, wenn wir sie herausriefen!« sagte der Graf. »Uebrigens, meine Herrschaften, möchte ich raten, das Theater zu verlassen. Unsere Wagen warten nicht hier oben, und es sieht so aus, als ob wir tüchtig gewaschen werden sollten.«

Man brach unverzüglich auf, wieder so gepaart, wie man heraufgestiegen war. Justine, die vorher den Arm ihres Begleiters bald wieder hatte fahren lassen, war es nun sehr zufrieden, daß er sie durch das trübe Zwielicht der Klippenwege sicher hinunterführte. Zu galanter Unterhaltung war Niemand aufgelegt, obwohl hier unter den dichten Wipfeln der Regen noch nicht beschwerlich wurde. Als sie aber unten beim Hause anlangten, rauschte eine so schwere Flut aus dem nachtdunklen Gewölk herab, daß Alle froh waren, unter Dach zu kommen.

Man hatte vorgehabt, die berühmten Forellen im Garten zu speisen. Der wetterkundige Wirt aber hatte droben im »Saal«, einem großen dreifenstrigen Zimmer, gedeckt, in dem auch ein Sofa und ein ausgedientes, verstaubtes Klavier stand. Während man sich dort versammelte, setzte sich die Gräfin an das Instrument und begann jenes Nocturne zu spielen, an das die herabsinkende Sonne sie erinnert hatte. Das Klavier war aber so verstimmt, daß sie bald aufhörte und den Deckel unmutig zuschlug. Auch über den Anderen lag eine Verstimmung, deren Grund Niemand anzugeben wußte. Die Baronin machte Gaston Vorwürfe wegen seiner maussaden Laune. Er sei verpflichtet, heute wie alle Tage lustige Einfälle zu haben, und mache ein Gesicht, als ob er noch auf der Festung säße, statt in so angenehmer Gesellschaft! Der Graf nahm ihn in Schutz mit allerlei anzüglichen Hindeutungen auf seinen Kummer, in wenigen Tagen sich von seiner mütterlichen Freundin trennen zu müssen. An das »rasende Kopfweh«, das der junge Heuchler vorschützte, wollte Niemand glauben.

Endlich erschien die Kellnerin mit der riesigen Schüssel, auf der ein paar Dutzend der zartesten rotgesprenkelten Fischchen lagen, alle zierlich gekrümmt und ein grünes Kräutchen im Maul. Hinter ihr trug der Wirt in einer großen Suppenterrine die Bowle herein. Herr von Burgstaller hatte sie gebraut, da er den Laubenheimer des Sonnenblickwirtshauses einer solchen Gesellschaft nicht würdig gefunden hatte. Er behauptete, nur drei Talente zu besitzen, Tennis zu spielen, seine Frau glücklich zu machen und unter den erschwerendsten Umständen eine trinkbare Bowle zu stande zu bringen. Leider sei dem Wirt der Sekt ausgegangen, eine Flasche Selterswasser habe aushelfen müssen.

Dank diesem immerhin noch mäßigen Getränk und den untadeligen Fischen hob sich die Stimmung der kleinen Gesellschaft bald. Nur Frau Justine blieb ernst und zerstreut, nippte nur an dem Glase, das ihr Nachbar Gaston gefüllt hatte, und lächelte mühsam, als der »Freund« der Baronin einen Toast auf sie als die Perle aller Gattinnen und Mütter ausbrachte, die fern von Mann und Kind keiner frohen Empfindung fähig sei. Sie fühlte in tiefer Beschämung, wie wenig sie gerade heute diesen Ruhm verdiente. Draußen rauschte der Regen vor den Fenstern herab. »Wir müssen diese Averse erst vorüber lassen,« hatte Gaston erwidert, als sie ihn leise gebeten hatte, anspannen zu lassen, da man zu Hause sich um sie ängstigen würde. »Rudi ist ja bei seiner Kinderfrau wohl aufgehoben, und Sie, teure Cousine – bin ich Ihnen so sehr zuwider, daß Sie mir die kurze Henkersmahlzeit nicht gönnen und so rasch wie möglich mir aus den Augen kommen möchten?«

Der listige Versucher sah sie dabei mit so demütig flehender Unschuldsmiene an, daß ihr die Glut ins Gesicht stieg. In ihrer Verwirrung bemühte sie sich eben hilflos, ein Wort zu finden, das ihn ein für allemal in seine Grenzen zurückweisen sollte, da öffnete sich die Thür, und das eintretende Mädchen meldete, es sei eine Dame draußen, die Frau Doktor Lindblatt bitten lasse, einen Augenblick hinauszukommen.

Justine erhob sich heftig erschrocken. Doch ehe sie noch ihren Platz verlassen hatte, drängte sich neben der Kellnerin ihr Kind über die Schwelle, sah sich einen Augenblick im Zimmer um und stürmte dann mit dem jubelnden Ruf »Mammi, Mammi!« der fassungslos bestürzten Mutter an den Hals. Hinter ihm trat Frau Marie ein, ein wenig befangen, aber mit einer ruhigen Verneigung gegen die fremde Gesellschaft. Dann näherte sie sich Frau Justine und sagte: »Sie müssen mich entschuldigen, Liebe, daß ich so überraschend mit dem Kleinen Ihnen nachgekommen bin. Er war aber so unglücklich über die Trennung von Ihnen, wollte weder spielen noch seine Milch trinken und fing endlich so bitterlich an zu weinen, daß ich mich entschloß, ein Wägelchen zu nehmen, um ihn durch eine Spazierfahrt zu beruhigen. Er rief aber immer nach seiner Mama. Und so sind wir bis hierher gekommen, leider im Regen, was ich nicht voraussehen konnte, als wir abfuhren. Indessen ist die Luft noch warm, und Rudeli saß ganz trocken und vergnügt unter dem Schirmdach, und auf der Rückfahrt wird er ja schlafen können, wenn seine Sehnsucht nach der Mama gestillt ist.«

Während dieser ruhig ausgesprochenen Worte war es ganz still am Tische gewesen, und auch jetzt noch regte sich Niemand. Es war keinem von Allen entgangen, daß die Überraschung, die das Kind der Mutter bereitet hatte, nicht gerade freudig gewesen war. Die Röte auf Frau Justinens Wangen war einer tiefen Blässe gewichen. Sie hatte aber Zeit gehabt, sich zu fassen, und sagte jetzt in ziemlich kühlem, gemessenem Ton: »Ich danke Ihnen, Frau Marie. Sie haben sehr recht daran gethan, dem Drängen Rudelis nachzugeben. Ich ahnte gar nicht, daß er mich heute so sehr vermissen würde, da er ja sonst sich oft viele Stunden ohne mich behilft. Nun aber darf ich nicht länger zögern, ihn zur Ruhe kommen zu lassen. Sie haben wohl die Güte, Vetter Gaston, nach dem Wagen zu sehen! Auch scheint der Regen nachzulassen. Wir werden eine angenehme Heimfahrt haben.«

Eine tiefe Stille trat nach diesen Worten ein. Der Leutnant hatte gleich beim Eintritt der alten Dame seinen Stuhl, der sehr dicht bei dem seiner mütterlichen Freundin gestanden hatte, zurückgeschoben Jetzt bückte er sich rasch, um das Matrosenmützchen aufzuheben, das dem Kleinen bei seiner stürmischen Umarmung der Mutter von den blonden Locken gefallen war. Dann erhob er sich und eilte aus dem Zimmer, von dem ernsten Blick der Alten begleitet, die ruhig mitten im Zimmer stand.

Die Baronin fand zuerst wieder ein Wort. »Das holde Kind!« rief sie. »Man begreift, daß es Sehnsucht gehabt hat nach einer so zärtlichen Mutter. Aber es wird durstig sein. Komm, kleiner Schatz, du sollst aus meinem Glase trinken!«

»Rudi dankt,« sagte Frau Justine. »Er hat noch nie einen Tropfen Wein über die Lippen gebracht. Ich will sehen, ob ich unten im Hause etwas Milch für ihn erhalten kann. Sag gute Nacht, Rudeli! Und lassen Sie sich nicht stören, ich bitte!«

Der Kleine winkte mit dem Hündchen der Gesellschaft zu, drückte dann aber den Kopf wieder gegen die Schulter der Mama, da die fremden Gesichter ihm unheimlich zu sein schienen. Dann verließen sie das Zimmer. Sie fanden Gaston unten bei dem Landauer, der eben angespannt wurde. Der Himmel hatte sich geklärt, es fielen nur noch einzelne nachzügelnde Tropfen, die Luft war lau und weich. »Warum haben Sie den Wagen schließen lassen?« fragte Justine mit einem seltsam scharfen Ton. »Es regnet nicht mehr, und wir wollen nicht ersticken«

Gaston zuckte die Achseln und gab dem Kutscher die Schuld. Er hütete sich zu gestehen, daß er ihm aufgetragen hatte, jedenfalls den Wagen für die Rückfahrt zu schließen.

»Und Ihr Wagen, Frau Marie?« fragte Justine.

»Ich habe den Kutscher nur zur Herfahrt genommen,« erwiderte die alte Dame ruhig. »Er hatte für den späteren Abend noch etwas vor, und ich wußte ja, daß in dem viersitzigen Landauer des Herrn Leutnants auch für den Kleinen und mich Platz sein würde!«

Justine schien etwas erwidern zu wollen, biß aber die Lippen aufeinander Dann stiegen sie ein. Die Frauen nahmen den Kleinen wieder zwischen sich, der Vetter saß ihnen gegenüber und bemühte sich, munter und ritterlich zu sein. Das verging ihm aber bald, da Rudeli sofort einschlief und von den beiden Müttern keine auf seinen scherzenden Ton einging. Da schwieg er gekränkt und betrachtete unverwandt das schöne junge Gesicht ihm gegenüber, bis es Frau Justine lästig wurde und sie die Augen schloß und den Kopf tief in die Wagenecke drückte.

Die alte Dame wurde auch heute von dem jungen Herrn keines Wortes und Blickes gewürdigt.

*

So verging die Fahrt in der balsamischen Nachtluft unter dem reinen kühlen Himmel, der von unendlichen Sternen funkelte, unfroh und beklommen. Alle waren froh, als der Wagen vor dem Kurhause hielt. Gaston reichte den Damen den Arm und hob den schlaftrunkenen Knaben heraus, dessen sich die Mutter sogleich bemächtigte. Er beurlaube sich schon hier unten, sagte er mit absichtlich steifer Höflichkeit, da er Justine fühlen lassen wollte, wie sehr er unter der vereitelten Hoffnung einer traulicheren Heimfahrt gelitten habe. Es sei noch zu früh, schlafen zu gehen, er wolle noch einen Freund im Casino zu treffen suchen.

Justine verabschiedete ihn mit einem stummen Kopfnicken. Dann trug sie den Knaben ins Haus und fuhr mit ihm und der alten Freundin, immer ohne ein Wort zu reden, zu ihren Zimmern hinauf.

Droben bei ihrer Thür angelangt, sagte sie nur kurz gute Nacht und trat über die Schwelle, ohne ihre Nachbarin aufzufordern, noch bei ihr einzutreten. Die Alte hörte dann, wie sie den Knaben wusch und zu Bett brachte und dann eine Weile unruhig hin und her ging. Auf einmal öffnete sich die Thür zwischen ihnen, und Justine trat ein. Ihr Gesicht war lebhaft getötet, auf ihrer Stirn der gespannte Zug, der sich immer zeigte, wenn sie unmutig aufgeregt war. »Sie müssen mich entschuldigen,« sagte sie mit etwas stockender Stimme, »wenn ich noch so spät –, ich kann aber nicht schlafen, ehe ich vom Herzen habe, was darauf drückt.«

Damit ließ sie sich auf einem Stuhl nahe bei der Thür nieder, ohne die Alte anzusehen, die sich vom Sofa erhoben hatte, als ihre junge Nachbarin eintrat.

»Ich habe mich von Anfang an zu Ihnen hingezogen gefühlt,« fuhr diese fort, »und es dankbar anerkannt, wie freundlich Sie sich mir und dem Kinde bewiesen haben. Und da Sie die Aeltere und Erfahrenere sind, habe ich mich vielfach Ihnen untergeordnet, obwohl ich sonst sehr selbständig bin. Es scheint aber, ich habe Sie verwöhnt. Sie sind der Meinung, eine Art Verantwortung für mich übernommen zu haben, mich bevormunden zu müssen, als wäre ich noch nicht alt genug, um selbst für mein Thun und Lassen einzustehen. Ich habe Ihnen schon einmal erklärt, daß ich keines Schutzengels bedarf. Was Sie mir heute Abend angethan haben, nötigt mich, diese Erklärung noch entschiedener zu wiederholen. Unser Verhältnis würde sonst nicht in der bisherigen Weise fortbestehen können!«

Die alten Augen hefteten sich mit einem traurigen Ausdruck auf die eifrige Sprecherin. »Was ich Ihnen heute angethan habe?« sagte Frau Marie mit einem leisen Zittern in der Stimme. »Nun, ich denke, damit hab' ich nichts Böses gethan.«

Leugnen Sie es nicht, Sie haben Rudelis Sehnsucht nach mir, wenn nicht ganz erfunden, so doch stark aufgebauscht. Sie wollten seine pflichtvergessene Mutter daran erinnern, daß sie es ihm schuldig sei, bei ihm zu bleiben, statt in zweifelhafter Gesellschaft sich stundenlang zu amüsieren und Nachtfahrten zu machen, die spießbürgerliche Klatschbasen nicht ganz schicklich finden möchten. Ihre Absicht war vielleicht die beste. Aber Sie vergaßen dabei, daß Sie mich in den Augen jener Gesellschaft, die Ihnen nun einmal mißfällt, lächerlich machen mußten. Denn Niemand darunter haben Sie über Ihre wahren Motive getäuscht, und Alle, nachdem ich gegangen, davon bin ich überzeugt, haben mich ironisch beklagt, daß ich mir eine solche sittenrichterliche Oberaufsicht gefallen lassen müsse.«

»Sie irren, Liebe,« erwiderte die Alte, immer mit gedämpfter Stimme. »Ich habe nicht einen Augenblick an das Urteil jener Ihnen fremden Personen gedacht, auch nicht, was schicklich oder unschicklich sein möchte. Nur um Ihr eigenes Urteil war es mir zu thun, wie das ausfallen möchte, wenn der Rausch verflogen und Sie zur klaren Besinnung zurückgekommen sein würden. Und weil Sie mir so teuer sind, wollte ich Ihnen das Gefühl der Reue ersparen und vielleicht noch Schlimmeres, was keine Reue wieder gut machen kann.«

Justine stand hastig auf. Ihre Augen blitzten, sie hob den Blick herausfordernd zu der hohen Gestalt der alten Frau empor und sagte heftig: »Sprechen Sie es nur aus, was Sie mit Ihren gewundenen Worten andeuten! Sie haben mich für fähig gehalten, meine Pflicht gegen meinen Mann zu vergessen und der Versuchung, einem leidenschaftlichen Anbeter Gehör zu geben, zu erliegen. Nun ja, ich will mich nicht besser machen, als ich bin. Ich leugne nicht, daß es Eindruck auf mich gemacht hat, von einem jungen, feurigen Munde so leidenschaftliche Bekenntnisse zu hören, daß ich selbst – nein, ich erwiderte diese Gefühle nicht, aber ich wäre kein Weib gewesen, wenn ich nicht ein warmes Mitleid mit einem Liebenden gefühlt hätte, den ich hoffnungslos abweisen mußte. Denn daß ich dazu fest entschlossen war – aber wozu sage ich Ihnen das? Sie haben mich einer sündigen Schwäche fähig gehalten; Sie werden meiner Beteuerung nicht glauben, daß ich unter allen Umständen stark geblieben wäre. Auch frage ich nichts danach; mein Gewissen, das mich frei spricht, genügt mir! Sie aber frage ich, mit welchem Recht Sie sich in Dinge einmischen, die ich nur mit meinem Gewissen auszumachen habe?«

Eine kleine Stille entstand zwischen den beiden Frauen, die sich in tiefer Erregung gegenüberstanden. Dann sagte die Aeltere: »Mit welchem Recht ich mich um Ihr gutes Gewissen bekümmere, fragen Sie? Ich denke, Sie werden mir dieses Recht nicht bestreiten, wenn ich Ihnen sage, daß ich die vertrauteste Freundin Ihrer Mutter bin und, da Sie diese Ihre natürlichste Freundin und Beraterin nie zur Seite gehabt haben, mir nun wohl herausnehmen darf, sie Ihnen zu ersetzen, wenn ich Sie auf einem gefahrvollen Wege hinschreiten sehe, wo ein unbedachter Schritt Sie in bodenlose Abgründe stürzen kann.«

Die junge Frau schien die letzten Worte überhört zu haben. Sie trat dicht an die Andere heran und sagte hastig: »Sie haben – meine Mutter gekannt – Sie nennen sich ihre Freundin – Sie leben noch mit ihr zusammen – und das haben Sie mir so lange verschwiegen?«

»Liebe Justine,« erwiderte die Andere, »wie hätte ich mir früher ein Herz zu dieser Eröffnung fassen können, da ich ja Ihre tiefe Abneigung gegen Ihre unglückliche Mutter kannte! Ich mußte fürchten, daß Sie in mir eine Verbündete der Gehaßten sehen und mich vermeiden würden. Haben Sie doch alle Annäherungsversuche schroff abgewiesen, die Briefe, die sie Ihnen schrieb, nicht beantwortet, die Bitte, Ihrer Hochzeit nur als stille, ferne Zeugin beiwohnen zu dürfen, rundweg abgeschlagen. Nach dem, was Sie mir über das Gelöbnis, das Sie Ihrem Vater geben mußten, gesagt haben, nach der langen Verbitterung, die auch Ihr junges Herz angesteckt hat, kann ich Ihr hartes Betragen begreifen. Aber Sie verstehen nun auch, wie es die alte Wunde im Herzen Ihrer Mutter immer von neuem hätte aufreißen müssen, wenn wieder ein solches Zeichen der Unversöhnlichkeit zu ihr gelangt wäre. Und nun durfte ihre Freundin nicht das geringste thun, ihre Tochter davon zu überzeugen, daß die Mutter vielleicht nicht ganz so schuldig war, wie der Mann, den sie verlassen, sie darstellte.«

Sie sank auf das Sofa, die Kniee wollten sie nicht länger tragen. Durch ihre ganze Gestalt lief ein Zittern, als sie jetzt fortfuhr: »Heute darf ich ja wohl davon sprechen, ich bin es der Freundin und auch Ihnen schuldig, daß Sie von der Unglücklichen gerechter denken. Sie selbst hat sich stets bemüht, auch den Mann nicht ungerecht zu beurteilen, der ihr kein Glück bereitet hat. Er war fünfzehn Jahr älter als sie und hatte kein Verständnis mehr für die Bedürfnisse einer weichgeschaffenen, enthusiastischen jungen Seele. Er liebte sie vielleicht, aber es war sein stetes Bestreben, ihr dies Gefühl, das sie beglückt hätte, zu verbergen, ihr nur den strengen Herrn und Meister zu zeigen, dessen willenloses Geschöpf sie sein sollte.

Und dann kam der Andere, der sie anders liebte, so wie sie es bedurfte. Sie wissen vielleicht nicht genau, wie sich's zutrug! Die junge Frau fiel in eine schwere Krankheit, der Arzt, der sie daraus rettete, sah, was sie in ihrer Ehe litt, und aus seinem Mitgefühl wurde eine Liebe, die er endlich nicht mehr allein zu tragen vermochte. Er sah ja, wie innig sie erwidert wurde. Als dann aber Ihre Mutter sich offen gegen den Gatten aussprach und ihn bat, sie freizugeben, folgte ein Auftritt von so zügelloser, brutaler Heftigkeit, daß das letzte Band zwischen den beiden Menschen, die sich innerlich nie angehört hatten, zerriß. Die Frau flüchtete zu dem, den sie liebte, sie bedachte nicht; daß sie durch diese bösliche Verlassung das Recht auf ihr Kind verscherzte – doch nein, auch wenn sie es bedacht hätte, es war stärker als sie, es wäre ihr Tod gewesen, wenn sie in dem alten Ehebund hätte ausharren müssen!«

Die junge Frau hatte in tiefer Bewegung zugehört. Ihre Brust arbeitete mühsam, ihre Lippen bebten, als sie sie jetzt zu einer Frage öffnete: »Und – hat sie in dem neuen das Glück gefunden, das ihr Herz ersehnte?«

Die Alte antwortete nicht sogleich. Erst nach einer Weile sagte sie: »Der Mann, dem sie gefolgt war – von allem, was er ihr verheißen, ist nichts unerfüllt geblieben, er hat sie auf Händen getragen, mit dem innigsten Zartgefühls alle Regungen ihrer Seele nachgefühlt und ihre schweren Stunden ertragen! Aber selbst die Liebe und Kraft eines so edlen Menschen war nicht im stande, ihr Mutterherz darüber zu beschwichtigen, daß sie ihr Kind fremden Menschen überlassen hatte. Sie brachte in der neuen Ehe noch zwei Kinder zur Welt, keines blieb am Leben, und auch das sah sie als eine gerechte Strafe an für ihr Vergehen. Nein, sie bereute nicht, was sie gethan. Sie hätte es jeden Augenblick wieder gethan! Aber der Preis, den sie für ihre Befreiung gezahlt hatte, fort und fort zahlen mußte, wurde von Jahr zu Jahr drückender, und oft dachte sie, es gehe über ihr Vermögen.

Ihr teurer Gatte hatte, sobald sie sich zu ihm flüchtete, seine Praxis in der Stadt, wo sie bisher gelebt, aufgegeben und war weit weg gezogen. Er hoffte, die Entfernung werde es ihr leichter machen, das Kind zu verschmerzen. Es war nur eine Erschwerung ihres Verlustes. Solange ihr erster Mann lebte, hatte sie der Versuchung, die Tochter einmal wieder aufzusuchen, widerstanden. Nach seinem Tode ist sie zu ihr gereist, sie nur von ferne zu sehen, und hat zweimal unter fremdem Namen, dem Mädchennamen ihrer eigenen Mutter, mehrere Tage im Gasthof gewohnt, nur so lange, bis es ihr gelungen war, der geliebten jungen Gestalt zu begegnen, das zweite Mal auch dem Kinde, das die Kinderfrau ihr nachtrug. Können Sie sich den Zustand einer Mutter vorstellen, die an Tochter und Enkelkind dichtverschleiert vorbeigehen muß, sie nicht an ihr Herz reißen und die lieben Gesichter mit Küssen bedecken darf? Wenn ihr Vergehen einer Sühne bedurfte, durch diesen Schmerz der Entsagung war es zehnfach gebüßt! O liebe Justine, das alles, was meine arme Freundin gelitten, trat mir wieder vor die Seele, als Sie mir sagten, daß Sie bedauerten, Leidenschaft in Ihrem jungen Leben nicht kennen gelernt zu haben. Und nun trat eine solche Gefahr an Sie heran, unter Umständen, die eine Verirrung vom Wege der Pflicht noch viel verhängnisvoller gemacht hätten, in der Mitte zwischen einem trefflichen Gatten, der Sie vergöttert, und einem leichtfertigen, gewissenlosen Versucher – nein, Sie täuschen sich über ihn! Wenn ich häuslichen Klatsch mir je nahe kommen ließe – das Zimmermädchen hier im Hôtel hatte die größte Lust, mir über diesen jungen Herrn ihr Herz auszuschütten. Und da dachte ich, was meine arme Freundin gethan haben würde, wenn sie sich auf ihr Mutterrecht hätte berufen können, und auf die Gefahr hin, Ihr Herz mir abzuwenden – liebe, liebe Justine, können Sie mir zürnen, daß ich Ihnen Kämpfe und Schmerzen habe ersparen wollen, die während meines langen Lebens, selbst an den sonnigsten Tagen, keine Stunde mich rein genießen, mich nie vergessen ließen, daß in der Ferne ein geliebtes Kind, an dem meine Seele hing, nur mit Gedanken des Hasses an mich dachte, während ich –«

Die Thränen, die ihr aus den Augen stürzten, unterbrachen ihre stammelnden Worte. Zugleich fühlte sie sich von den zitternden Armen der jungen Frau, die vor ihr niedergesunken war, umschlossen. »Mutter – o meine Mutter!« rief sie. »Du – du bist es – dich hab' ich wieder gefunden – nie – nie will ich dich wieder verlieren!«

*

Es war erst lange nach Mitternacht, daß die beiden so wundersam neu Vereinigten sich entschließen konnten, Arme und Hände, die sich fest umschlungen hatten, voneinander zu lösen.

Sie hatten nicht viel gesprochen, immer nur, sich aneinander schmiegend, bald am offenen Fenster in die stille Nacht hinausblickend, bald Hand in Hand das Zimmer durchschreitend oder am Bett des Knaben sich an seinem holden schlafenden Gesichtchen erquickend, das Wunder ihres Wiederfindens nach so traurig langer Trennung bestaunt. Wenn sie ein paar leise Worte wechselten, war es immer, wie um Verzeihung für alte Schuld zu bitten, worauf sie sich von neuem in die Arme sanken, während in ihrer seligen Rührung die Augen ihnen übergingen.

Als es zwei Uhr schlug, bestand die Mutter darauf, daß Justine sich niederlegte. »Du glaubst nicht, Mutter,« sagte die junge Frau, »wie süß es mir ist, mir etwas von dir befehlen zu lassen und als dein gehorsames Kind zu thun, was du mir sagst!« –

Dann saß die Alte am Bette der Tochter, hielt die Hand der jungen Frau in der ihren und stand erst leise auf, als sie sah, daß der Schlaf die müden Augen fest geschlossen hatte, so daß sie es nicht empfand, wie die Lippen der Mutter ihre Stirn berührten.

Das alte Herz aber wurde von so widerstreitenden Gefühlen durchströmt, daß an Schlaf nicht zu denken war, obwohl die freudigen den Sieg behielten. Erst als drüben an den waldigen Hügeln der erste Streif des neuen Tages aufglomm, legte sie sich mit matten Gliedern und wachem Kopf in ihren Kleidern aufs Bett, da es ihr nicht der Mühe wert schien; sich auszukleiden. Sie hörte auch noch jedes Geräusch des aufwachenden Morgens, das Rollen der Omnibusse, die früh zum Bahnhof fuhren, das Sprühen der Wassertonnen, die schon beizeiten die Wege um den Brunnen zu sprengen hatten, und das Kommen und Gehen der Dienerschaft draußen auf dem Korridor. Erst als die Kurkapelle unten den Choral anstimmte, beruhigten sich ihre aufgeregten Sinne, und sie fiel in einen tiefen, dumpfen Schlaf.

Aus diesem, der nur wenige Stunden gedauert hatte, fuhr sie noch halb verträumt auf, da sie nebenan eine kräftige Männerstimme hörte, mit der das Lachen und Jauchzen des Knaben sich mischte. Sie hatte einen Augenblick Mühe, sich auf die Vorgänge des gestrigen Abends zu besinnen, erhob sich dann aber rasch und ermunterte sich vollends, indem sie Gesicht und Hände wusch und ihre Kleidung ordnete. Dann öffnete sie, ohne wie sonst anzuklopfen, die Thür zum Nebenzimmer. Da saß am Frühstückstisch, die Hand seiner Frau haltend, der große, dunkelhaarige Mann, den sie schon an jenem ersten Morgen um sie bemüht gesehen hatte, auf seinem Knie ritt der Kleine, einen blanken Helm auf dem Lockenkopf, einen Säbel umgeschnallt, und spornte sein Pferd mit lustigen Zurufen an. Kaum aber hatte er die Eintretende bemerkt, so glitt er auf den Boden nieder und lief auf die alte Freundin zu.

»Tante Marie!« rief er, »der Papa ist da und hat Rudi eine Menge schöner Sachen mitgebracht, und die Mama hat gesagt, Tante Marie ist Rudis Großmama. Ist das wahr, Tante Marie?«

Sie hob den Kleinen auf und küßte ihn in tiefer Bewegung. Der Gatte Justinens war aufgestanden und dem Knaben gefolgt. »Wollen Sie mich zum Sohn annehmen?« fragte er, ihre Hand ergreifend, die er ehrerbietig an die Lippen drückte. »Wir haben viel wieder gut zu machen. Was an mir ist – ich habe Sie schon geliebt und verehrt, da mir Justine schrieb, was Sie unserem Kinde gewesen. Ich verspreche Ihnen –«

Er hatte diese Worte in einiger Beklommenheit vorgebracht, nun verstummte er, da die Alte, die den Knaben auf dem Arm hielt, auch ihn an sich heranzog. »Meine Kinder!« hauchte sie. »Wenn ihr es mit mir wagen wollt –«

Es blieb noch eine Weile eine befangene Stimmung unter den so nah Verbundenen. Die Großmutter mußte sich zu Justine setzen, der Mann wiederholte ihr, was er schon seiner Frau erzählt hatte, wie es gekommen sei, daß er sich nun doch hatte losmachen können. Einer seiner Klienten sei am Morgen des Tages, wo die Abreise stattfinden sollte, während einer letzten wichtigen geschäftlichen Besprechung plötzlich vom Schlage gerührt worden. Es sei unumgänglich gewesen, zu warten, ob er sich so weit erholen würde, um weitere Bestimmungen zu treffen und gewisse Aufschlüsse zu geben. Statt dessen habe eine Wiederholung des Schlages ihn am Abend hingerafft.

Hierauf habe er als sein Anwalt die halbe Nacht damit zugebracht, die Sache so weit zu ordnen, daß er sie für einige Tage ruhen lassen konnte, habe dann den Nachtzug benutzt, um wenigstens am nächsten Morgen bei seiner kleinen Frau und dem Kinde einzutreffen, da er es vor Sehnsucht keinen Tag länger hätte aushalten können.

»So haben wir alle drei keine sonderliche Nachtruhe gehabt,« sagte er mit seinem guten, sonoren Lachen, indem er die Hand Justinens streichelte. »Glauben Sie, liebe Mutter, es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei! Ich habe zum guten Glück die Annette gehabt, die sich auch nicht sehr heroisch in die Trennung von ihrem Rudeli fand. Und du, kleiner Wicht, hat dir der Vater gar nicht gefehlt?«

»Onkel Gast hat mich reiten lassen auf einem großen lebendigen Pferd!« sagte der Knabe

Der Vater lachte und zupfte das Kind am Ohr. »Du herzloser kleiner Bursch,« sagte er; »ein Pferd macht dich alle Kindesliebe vergessen. Schade, daß Onkel Gast dich nicht mehr reiten lassen kann. Denn denke nur, Schatz,« wandte er sich an Justine, »ich traf heute früh unseren teuren Vetter, da ich eben ankam, im Begriff, mit demselben Zuge weiterzufahren. Er machte den Ritter einer sehr hübschen jungen Dame, der er in ein Coupé erster Klasse half, und war sichtlich betroffen, als ich ihm Guten Morgen! zurief. Ein Brief seines Regimentskommandeurs, den er gestern Abend nach einer fröhlichen Landpartie vorgefunden, nötige ihn, abzureisen, ohne erst noch Abschied von dir zu nehmen. Er bat mich, ihn zu entschuldigen und ihn den Damen zu empfehlen, auch seinen kleinen Freund zu grüßen. Dann stieg er der jungen Dame nach ins Coupé. Er scheint, seit du dich damals seiner sittlichen Ausführung angenommen hast, keine sonderlichen Fortschritte in der Solidität gemacht zu haben! Freilich,« fügte er lachend hinzu, »an einem jungen Leutnant von den Chevauxlegers würde jeder ›Schutzengel‹ seine Mühe umsonst verschwenden, und wenn er so viel pädagogisches Talent hätte, wie unsere liebe Großmama an dem wilden Buben da bewiesen hat.«

»Auch an deiner kleinen Frau!« sagte Justine, die über und über rot geworden war, indem sie die Hand der Alten drückte. »Nicht wahr, liebste Mutter?«

Die Mutter neigte sich zu ihr und küßte sie. »Ich weiß nicht, was du meinst,« sagte sie leise. »Aber ich wehre mich nicht dagegen, von euch überschätzt zu werden!«

 

Ende

 


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