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Ein unpersönlicher Mensch

(1907)

 

—————

 

Schon eine halbe Stunde vor Eintreffen des Zuges war ein blonder junger Mann ruhelos den Bahnsteig hinauf und hinunter geschritten, hatte immer wieder die Uhr herausgezogen und den Bahnwärter wiederholt gefragt, ob nicht doch eine Verspätung gemeldet sei. Als endlich das Signal ertönte und von fern die heranbrausende, in weißen Dampf gehüllte Lokomotive sichtbar wurde, trat er dicht an den Rand der Geleise heran und schwenkte, da er in einem der offenen Fenster einen Mann erblickte, der sich hinausbeugte, grüßend sein Taschentuch. Seine etwas kurzsichtigen Augen hatten ihn getäuscht. Der Gruß wurde nicht erwiedert, ein ganz fremdes Gesicht fuhr an ihm vorbei.

Nun aber hielt der lange Zug, aus einem Wagen der ersten Klasse stieg ein hochgewachsener junger Mann in einem leichten grauen Sommeranzug – es war ein milder Augustabend – und winkte mit der Hand dem Blonden, dessen Blick suchend an den Wagenthüren entlang irrte. Ein freudiger Ausruf: Bist du's endlich, mein Alter! – Darauf die Antwort: Ich bin's, theurer Sohn, in Lebensgröße. Aber verzeih einen Augenblick!

Er löste seine Hand aus der des Freundes und wandte sich nach der Thür zurück, auf deren Schwelle die Gestalt einer jungen Dame erschienen war. Sie war auffallend hübsch, in einer Toilette, deren Eleganz, da sie von zweifelhaftem Geschmack war, es unentschieden ließ, ob man ein Fräulein aus gutem Hause oder eine Abenteurerin vor sich habe.

Sie ergriff aber nicht die ritterlich gebotene Hand ihres Reisegefährten, sondern überblickte den Bahnhof nach allen Seiten, als suche sie Jemand, und ihr munteres Gesicht überflog ein Schatten.

Der Herr Bräutigam scheint die Stunde verpaßt zu haben, sagte der junge Mann. Darf ich Ihnen statt seiner behülflich sein?

Besten Dank, erwiederte sie, ohne seine Unterstützung hinuntersteigend. Ich nehme eine Droschke. Leben Sie wohl!

Sie sprang hinab und ging, sich leicht verneigend, mit elastischen Schritten an den Freunden vorbei, die höflich den Hut zogen. Die Leute, die sich vor dem Ausgang drängten, sahen sich nach ihr um, die Männer mit huldigenden Blicken, die Damen ein wenig die Nase rümpfend.

Da hast du ja eine allerliebste Reisegesellschaft gehabt, Harry, sagte der Blonde lachend. Wer ist das Fräulein?

Ich weiß nur, wer sie sein will, versetzte der Andere. Ihr nom de guerre, wofür ich ihn wenigstens halte, ist Aline Abendroth, ihr Beruf, hübsch zu sein. Im Augenblick ist sie es nur für Einen, wie sie mir in der ersten Viertelstunde vertraut hat, da wir im Coupé allein blieben. Aber der sogenannte Bräutigam, der sie in sechs Wochen heirathen wird, scheint sich, während sie einer alten Erbtante einen Besuch machte, anders besonnen zu haben Wenigstens hat er sie hier nicht in Empfang genommen. Doch der Blick, den sie dir zugeworfen hat, läßt vermuthen, daß sie nicht untröstlich sein würde. Oder ist's etwa eine alte Bekanntschaft?

Was du auch denkst! rief der Blonde lachend. Du weißt ja, daß ein Musikdirector kaum Zehn von den Tausenden kennt, die im Concertsaal von fern seine Bekanntschaft machen. Aber nun komm! Wollen wir einen Wagen nehmen?

Nein, Felix, ich habe lange genug gesessen und bin froh, mich lüften zu können. Auch kann man im Fahren nicht gut mit einander plaudern.

Er gab einem Dienstmann seinen Gepäckschein.

Wohin befiehlt der Herr?

Ich habe dir, da du ja meine Gastfreundschaft verschmäht hast, im »Kronprinzen« ein Zimmer bestellt, sagte Felix. Es ist nicht das erste Hôtel, aber das stillste, und ich weiß noch von Paris her, daß du wüthend wirst, wenn man dir das bischen Schlaf mordet, das deine zappligen Nerven dir gönnen wollen.

*

Er hatte sich in den Arm seines Freundes eingehängt und drückte ihn zuweilen, mit einer zärtlichen Geberde zu dem etwas Größeren aufschauend. So gingen sie eine Weile stumm neben einander her, bis sie aus dem Gewimmel der Straßen am Bahnhof in eine stille Gegend kamen

Ich kann dir nicht sagen, fing der Blonde an, wie hoch ich dir's anrechne, daß du deine schottische Reise abgekürzt hast, um meine Hochzeit mitzufeiern. Ohne dich wäre mir's freilich nur das halbe Fest gewesen.

Das laß nur ja deine Braut nicht hören, und ich selbst glaub's auch nur halb, versetzte der Andere. Übrigens war's gar kein Opfer für mich. Ich war die geschmacklosen karrierten Röcke, die nackten Kniee und den ewigen Pibroch nachgerade müde geworden und sehnte mich nach ein bischen genießbarer Cultur. Übrigens ist es das Geringste, was man einem Freunde schuldig ist, ihm zur Seite zu sein, wenn er den großen Sprung ins Dunkle machen will. Du bist bekanntlich eine schwärmerische Seele und weißt in Notenköpfen besser Bescheid als in Menschen-, zumal Mädchenköpfen. Wenn ich finden sollte, daß deine Phantasie dir einen Streich gespielt hat, wäre es meine Freundespflicht, einzuspringen, das heißt schlimmsten Falls mich zu opfern und dir die Braut vor der Nase weg zu heirathen, da ich von härterem Stoffe bin als du, und am Ende mit dem Unglück einer verpfuschten Ehe besser fertig werden könnte.

Felix lachte.

Besten Dank für deinen guten Willen, aber mir ist nicht bange, daß Cecil die Prüfung nicht bestehen würde. Auch wegen der Schwiegermutter brauchst du dir keine Sorge zu machen. Die gute Mama – nun, du wirst sie ja heute noch sehen. Sie erwarten uns zum Thee. Wie gut von dir, daß du nicht erst zum Polterabend, sondern eine Woche vorher gekommen bist! Nun kannst du meine Liebste doch etwas genauer kennen lernen und wirst wohl finden, daß ich nirgend besser aufgehoben sein könnte, als am Herzen dieses holden Weibes. Ich habe dir nicht viel von ihr geschrieben. Ich kenne deine skeptische Miene gegenüber lyrischen Ergüssen.

Harry erwiederte nichts. Er ließ seine Augen an den Häusern der Stadt umherschweifen, die er zum erstenmal betrat. Der Freund nahm sein Schweigen ruhig hin, da er zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war.

Und es trifft sich gut, fuhr er fort, daß du hier bist, da ich gerade wenig Zeit habe, mich Cecil zu widmen. Diese acht Tage bis zur Hochzeit sind dermaßen von allerlei Geschäften eingenommen, daß ich nur Abends frei bin. Ich habe mich leider verpflichtet, in dem Cäcilienverein, dessen Dirigent ich bin, noch ein großes Abschiedsconcert zu geben. Für den Winter habe ich Urlaub genommen, wir wollen ihn in Rom zubringen, ich muß Ruhe und Stimmung haben für meine zweite Symphonie. Um aber mit einigen Ehren mich hier loszulösen, hab' ich noch eine Menge Proben zu leiten, auch mit dem Orchester unsres Opernhauses, da meine Frühlingscantate zum erstenmal aufgeführt wird. Du siehst also, mein Alter –

Das ist eine schwierige Commission, Kind, die du mir da aufhalsest, versetzte der Andere. Einen Bräutigam vertreten bei einer zärtlichen Braut – acht Tage vor der Hochzeit – und wenn ich mit Engelszungen redete, sie würde mich unausstehlich langweilig finden.

Behüte! Du bist ihr ja kein Fremder mehr, sie verehrt dich nach Allem, was ich ihr von dir erzählt habe, und ihr werdet in der ersten Stunde euch so gut mit einander verstehen, als ob ihr alte Freunde wäret. Aber hier sind wir bei deinem »Kronprinzen«, und da wird auch schon dein Gepäck abgeladen.

Der Wirth, der den jungen Musiker mit sichtbarem Respect begrüßte, führte die Freunde selbst in das Zimmer hinaus, das er dem Fremden zugedacht hatte. Die Fenster gingen nach einem Garten hinaus, der sich an die Rückseite des Hauses anschloß, die elektrische Beleuchtung erhellte einen großen, wohnlich eingerichteten Raum, von der Straße drang nicht das leiseste Geräusch herüber.

Das hast du gut gemacht, theures Kind, sagte Harry. Hier werde ich wie in Abrahams Schooß ruhen. Nun will ich nur geschwind ein wenig Toilette machen, um mich deinen Damen anständig vorstellen zu können.

Er machte sich daran, den Koffer aufzuschließen.

Wo denkst du hin! rief Felix. Wir sind ja unter acht Augen, und du kommst von der Reise und kannst dich wahrhaftig, so wie du gehst und stehst, sehen lassen. Auch ist es acht Uhr und Cecil's Mutter an eine frühe Stunde gewöhnt.

Harry drückte den Koffer wieder ins Schloß. Du hast Recht, sagte er. Der Versuch, mich schön zu machen, wäre doch hoffnungslos, und dieser mein grauer Anzug ist wohl der richtige für einen Menschen, wie ich, der seine Uniform als ewiger Wanderer nie ablegen sollte. Nur auf ein bischen Sauberkeit soll man doch halten. Du erlaubst wohl, daß ich wenigstens den Reisestaub von mir abspüle.

Ein Kellner brachte das Fremdenbuch. Harry schrieb sich ein: Dr. Harry Norbert – Woher bin ich eigentlich, Felix? fragte er. Nun, ich werde die Wahrheit schreiben: »von überall und nirgends«. So! nehmen Sie das Buch. Die Polizei wird ja wohl Spaß verstehen, zumal wenn er ernst gemeint ist.

Als sie wieder allein waren, sagte er: Geh ein wenig voran! Bei meinen Waschungen wünsche ich allein zu sein. In zehn Minuten treff' ich dich unten beim Portier.

*

Das Haus, in dem die verwittwete Majorin Lindener mit ihrer Tochter wohnte, lag am Rande der Stadt in einem ziemlich großen Garten, dessen Pflege dem in Folge einer Verwundung verabschiedeten Kriegsmann über die langen unthätigen Tage hinweggeholfen hatte. Vor sechs Jahren war er gestorben Die Wittwe aber hatte sich nicht entschließen können, den werthvollen Besitz zu veräußern, obwohl das Haus für die beiden Frauen und zwei Dienstboten zu groß geworden war. Da sie nicht durch ihre sonstige Lage dazu gezwungen war, hatte sie gesorgt, Alles im alten Stand zu erhalten, um in den gewohnten Räumen dem Andenken an ihren theuren Todten und der Erziehung der einzigen Tochter zu leben.

Die letztere Aufgabe wurde ihr Anfangs nicht ganz leicht, da sie das schöne und kluge Kind vergötterte und mit ihrem klaren Verstande begriff, daß sie Gefahr lief, ihm in Allem den Willen zu thun. Doch bald half ihr das heranwachsende Mädchen selbst, sich zu erziehen und eine gewisse Unstäte und Zerstreutheit ihres Wesens, zumal in der Übung ihrer verschiedenen Talente und Liebhabereien, zu zügeln und nur die hoffnungsvollsten, ihre Malerei und die Musik, gewissenhaft auszubilden. An den Wänden des behaglich, doch durchaus nicht »stilvoll« eingerichteten Wohnzimmers hingen unter andern, ererbten Bildern einige ihrer Aquarelllandschaften und Blumenstücke, die nicht nach einem dilettantischen Pinsel aussahen, und an der längsten Wand des ziemlich großen Gemachs stand ein schöner, doch nicht mehr jugendlicher Flügel, an dem sie täglich wenigstens eine Stunde ihre Übungen im Spielen und Singen fortsetzte.

Ihrer Musik hatte sie auch die Bekanntschaft mit Felix verdankt, da sie in seinem Singverein die Sopransoli sang und eine Stütze des Chors gewesen war.

Nun waren Mutter und Tochter in dem traulichen Raum beisammen und warteten auf ihre Gäste.

Das große Zimmer war nicht sehr hell. Die Augen der alten Dame ertrugen nur das gedämpfte Licht zweier Lampen, die unter röthlichen Schleiern brannten. Sie saß auf dem Sopha, über dem das lebensgroße Bild des verstorbenen Gatten hing, in der Uniform und mit einen Orden. Die Tochter ging langsam auf dem weichen Teppich hin und her. Was hast du, Kind? fragte die Mutter, deren Blick ihr beständig folgte. – Ich bin etwas unruhig, Mutter, bis ich Felix' Freund gesehen habe und weiß, ob ich ihm gut sein kann. Könnt' ich's nicht, so wär's das erste Mal, daß wir in unserm Gefühl nicht übereinstimmten.

Sie fuhr zusammen, als die Klingel ertönte, und blieb mitten im Zimmer stehn. Gleich darauf traten die beiden Freunde ein.

Da bring' ich ihn endlich, rief Felix. Wir haben uns etwas verspätet; verzeih, Mama, es war nicht unsere Schuld. Wie geht dir's heute?

Er küßte die Mutter auf die Wange und drückte Cecil mit einem innigen Blick die Hand. Harry hatte sich etwas förmlich verneigt, dann aber die Hand, die ihm die alte Dame reichte, ehrerbietig an seine Lippen gedrückt und mit der Tochter einen freundschaftlichen Händedruck getauscht.

Eine etwas befangene Stille trat ein, da Felix leise mit seiner Verlobten sprach. Dann sagte die Mutter: Sie sind uns längst kein Fremder mehr, Herr Doctor, und ich hoffe, auch Ihnen soll es wohl bei uns werden. Nach Allem, was uns Felix von Ihnen gesagt hat –

Verehrte Frau, unterbrach er sie, Sie dürfen von alle dem nur die Hälfte glauben. Felix' größtes Talent nächst dem musikalischen ist das Talent der Überschätzung. Er sieht alle Menschen so liebenswürdig, wie er selber ist. Wenn Sie mich näher kennen werden –

Wir urtheilen nicht bloß aus seiner Seele heraus, warf Cecil ein, sondern nach Thatsachen. Wir wissen, was Sie ihm in Paris gewesen sind.

O mein gnädiges Fräulein –

Halt! rief Felix dazwischen. Ich muß dich erinnern, daß du zu meiner Braut sprichst, die sehr ungnädig werden wird, wenn du keine freundschaftlichere Anrede findest.

Nun also, Fräulein Cecil, fuhr Harry sich verbeugend fort, auch Sie hat Ihr Bräutigam schon mit seiner Neigung, zu gut von den Menschen zu denken, angesteckt. Bei unserem Verhältniß in Paris war er der Gebende, ich der Empfangende. Gleich am ersten Abend, wo wir uns im Café kennen lernten und ich sofort unter dem Charme stand – Sie werden das als seine Braut vielleicht begreifen –, begleitete ich ihn nach Hause und ging erst gegen Zwei von ihm fort, so lange hatte er mir vorgespielt. Ich bin ein Musiknarr. Der Einklang süßer Töne, wie der Dichter es nennt, vermag allein alle Dissonanzen, an denen mein Leben die Fülle hat, in Schlaf zu wiegen, wenigstens für Stunden. Da war's der reine Egoismus, daß ich mich um seine Freundschaft bewarb.

Sie waren nicht bloß der Empfangende, versetzte Cecil. Der große Dienst, den Sie ihm bei seinem ersten Concert erwiesen, war eine That, die ich Ihnen nie vergessen werde.

Auch das sehen Sie in einem verschönernden Lichte, liebes Fräulein. Ich that es zur großen Hälfte für mich selbst. Denn ich hätte den Stachel nie verwunden, wenn mein Freund in Paris Fiasco gemacht hätte. Es hatten sich allerlei Teufel gegen ihn verschworen. Das Schlimmste war, daß der alte Halévy sich auch von ihm hatte bezaubern lassen und in Musikerkreisen von dem genialen jungen Maëstro groß Rühmens machte. Das erregte natürlich Opposition. Ein noch unbekannter Deutscher, der die Stirn hatte, in Paris ein Concert zu geben mit lauter eigenen Sachen! Ich kannte mein Paris und merkte gleich an dem vollen Saal, woher der Eiswind wehte. Noch dazu hatte Felix gegen meinen Rath mit dem Klavierquartett angefangen, eine viel zu schwere Schüssel zur Entrée. Die Herren Collegen, so brillant das Stück gespielt wurde, verzogen denn auch das Maul, und Papa Halévy war der Einzige, der applaudierte, bis auf ein paar schüchterne Jünglinge. Wie das auf unsern Maëstro wirken mußte, begriff ich sofort und lief eilig zu ihm ins Künstlerzimmer.

Nun ja, unterbrach ihn Felix, ich war außer mir. Nicht einmal ein succès d'estime! Und vor solchem Publikum sollt' ich weiterspielen?

Erst recht, liebes Kind, und wie gut es war, daß du dir von mir den Rücken stärken ließest, hat der Erfolg ja gezeigt. Deine hebräischen Melodieen und das Liebeslied aus der Frühlingscantate, hast du je einen rasenderen Beifall gehört?

Dank meiner Sängerin, ihrer schönen Stimme und ihren noch schöneren Augen!

Und dann die letzte Nummer, deine Sonate in f-moll, deren letzten Satz du dacapo spielen mußtest – nun freilich, vielleicht hast du auch deinen beaux yeux diesen succès d'enthousiasme zu verdanken gehabt!

Alle lachten. Felix reichte Harry die Hand. Du magst sagen, was du willst, du warst mein treuer Eckart und hast mir auch sonst aus dem Hörselberg glücklich herausgeholfen.

*

Das Mädchen meldete, das Abendessen sei aufgetragen. Die Mutter nahm Harry's Arm, der Bräutigam folgte, so betraten sie das kleine Eßzimmer, wo auf dem zierlich gedeckten Tisch auch nur eine einzige hohe Lampe mit rothem Schleier brannte, die aber den helltapezierten Raum hinlänglich erleuchtete.

Jetzt erst konnten die neuen Bekannten ihre Gesichter gründlicher studieren.

Harry fand, daß Mutter und Tochter in keinem Zuge einander glichen. Das noch jugendlich anmuthige Gesicht der Frau unter einem silberweißen Scheitel erinnerte durch sein zartes Oval an den Typus Overbeck'scher Madonnen, auch durch die etwas dünnen Lippen und die schmächtige Gestalt. Die Tochter war das volle Ebenbild des Vaters, dessen Porträt Harry nicht entgangen war. Nur daß ihr schönes junges Gesicht in der glücklichen Blüte ihrer dreiundzwanzig Jahre glänzte. Ein kluger Ernst, vielmehr eine aufhorchende Stille war der Ausdruck ihrer schwarzen Augen, die reizend aufleuchteten, wenn den Mund ein Lächeln überflog. Sie hatte eine matt bräunliche Haut, wie eine Südländerin, und schweres, dunkles Haar, einfach aufgesteckt. Auch war ihre Gestalt, schon voll entwickelt, von einer kräftigen Feinheit der Conturen, die an griechische Kanephoren erinnerte.

Während der neue Gast dies edle Mädchenbild mit bewundernden Kennerblicken betrachtete, ging auch ihr Auge von seinem Gesicht zu dem ihres Liebsten, und sie gestand sich, daß ein schärferer Gegensatz zweier Männerköpfe kaum zu denken sei.

Denn Felix mit seinen zarten, fast mädchenhaften Zügen und dem blonden Haar, das um die weichen Wangen fiel, sah weit jünger als seine neunundzwanzig Jahre aus; nur die ernste Stirn und ein scharfer Zug am Munde, der im Unwillen oder einer heftigen Stimmung hervortrat, ließen erkennen, daß man es mit einem reifen Manne zu thun hatte. Harry dagegen erschien viel älter, als er war. Cecil wußte, daß er Felix nur um drei Jahre voraus war. Doch war das dünne Haar über der sehr hohen Stirn schon etwas angegraut, die Haut fahl und durch ein paar Blatternarben gefurcht. Unter den sehr dichten Brauen blitzten ein Paar kleine tiefliegende Augen, die Nase war stark und gerade, der Mund fast immer durch einen bitteren oder ironischen Zug entstellt. Doch konnte er, wenn ein guter, warmer Gedanke sich hinter der hohen Stirn regte, auch liebenswürdig lächeln und unwiderstehlich anziehen.

In solcher Stimmung fühlte er sich jetzt den drei trefflichen Menschen gegenüber und von der Schönheit des jungen Mädchens im Innersten erregt und beglückt. Er fing an, auf die Frage der Majorin von seiner letzten Reise in England und Schottland zu erzählen, so lebendig und farbig Menschen und Naturscenen schildernd, daß Alle an seinen Lippen hingen. Dann kam er auf Paris und berichtete, was sich dort seit ihrem gemeinsamen Aufenthalt in den Künstlerkreisen zugetragen, allerlei Romane, die den sittsam gewöhnten, aber nicht prüden Frauen sehr interessant waren. Erst als die Wanduhr zehn Schläge that, hielt er inne und sagte: Himmel! wie hab' ich mich verschwatzt! Was werden Sie von mir denken, daß ich am ersten Abend gleich keinen Andern zu Wort kommen lasse! Ich bitte, mich nur geschwind wegzuschicken, die Frau Mutter ist, wie ich weiß, keine Nachtschwärmerin.

Er stand auf, Cecil aber sagte: Wir sind vor lauter gespanntem Zuhören nicht einmal zu unserm Nachtisch gekommen. Sie müssen durchaus noch von diesen Früchten kosten. Ich habe sie selbst vom Fruchthändler geholt, da Felix, den ich nach Ihren Lieblingsgerichten fragte, nichts weiter zu sagen wußte, als daß Sie Reineclauden gern äßen.

Sie reichte ihm mit freundlichem Lächeln die Fruchtschale, die er eine Weile in der Hand hielt, ohne davon zu nehmen. Ein seltsamer Zug von Rührung, der mit der kleinen erlebten Freundlichkeit kaum im Verhältniß stand, erschien auf seinem Gesicht.

Theures Fräulein, sagte er endlich, Sie sind – aber ich will es für mich behalten. Jedenfalls fang' ich an zu zweifeln, ob Felix, für den mir bisher die Beste gerade gut genug schien, Sie wirklich ganz verdient.

*

Felix hatte ihn nach seinem Gasthof begleitet. Sie hatten wenig mit einander gesprochen. Nur vor der Thür des Hôtels, eh Felix gute Nacht wünschte, hatte ihm Harry lebhaft die Hand gedrückt und gesagt: Meinen Glückwunsch! Du bist ein gottbegnadeter Mensch. Hoffentlich weiß unser christlicher Himmelvater nichts vom antiken Götterneide.

Dann, in seiner einsamen Stube am offenen Fenster stehend, durch das der Hauch der blühenden Gartenbeete hereindrang und die Sterne herniederschimmerten, sagte er vor sich hin: Nein, ich mißgönne sie ihm nicht! Wenn ich diesen Menschen beneiden wollte, wo finge ich da an! Nur das alte Wort ist grausam: wer da hat, dem wird gegeben. Über acht Tage wird auch das hinter mir liegen. – –

Beim Abschiede hatte er gefragt, wann er wiederkommen dürfe. Sie sei fast immer zu Haus, war Cecil's Antwort. Nur am frühen Vormittag müsse sie Klavier üben, sie nehme noch Unterricht, auch im Singen.

Das hatte er sich gemerkt und kam erst gegen Mittag. Vom Entrée aus hörte er Cecil im Wohnzimmer singen, er erkannte das Lied, eine der hebräischen Melodieen, öffnete leise die Thür und lauschte hingerissen von der edlen Stimme und dem seelenvollen Vortrag. Als sie dann geendet hatte und aufstand, trat er ein. Sie begrüßte ihn mit ihrer ruhigen Anmuth und sagte: Ich habe das Lied wieder einmal gesungen, da Sie gestern es aus dem Pariser Concert erwähnten. Ich sollt' es erst noch etwas studieren. Die Französin wird es wirksamer herausgebracht haben.

Gekünstelter, aber nicht künstlerischer. Sie war überhaupt in Allem, was sie sang, kokett, das sind Sie gar nicht. Sie haben's freilich nicht nöthig. Sie wissen, daß Sie nur Ihre Natur walten lassen dürfen, um zu gefallen.

Oh, sagte sie, Sie müssen mir keine Complimente machen, das vertrag' ich nicht.

Ich sage nichts, als was ich fühle und Sie auch selbst wissen. Wäre es nicht thöricht von einem Mädchen, nicht selbst zu wissen, ob es schön ist und durch seinen Gesang die Menschen zu entzücken vermag? Es wäre freundlich von Ihnen, wenn Sie mir noch eine solche Freude machen wollten.

Ein andermal herzlich gern. Es ist mir immer lieb, für Jemand zu singen, dem meine Stimme sympathisch ist, obwohl sie noch zwischen Mezzosopran und Alt unsicher schwankt. Am liebsten brächt' ich's so weit, den Orpheus singen zu können. Aber nun kommen Sie, und setzen sich zu mir. Ich möchte Sie so Vieles fragen, über Felix und wie Sie von seinem Talent denken, was Sie am meisten an ihm lieben und – auch am wenigsten. Denn ich – ich liebe Alles und Jedes an ihm, wie es ja, fügte sie lächelnd hinzu, die Schuldigkeit einer richtigen Braut ist. Mehr noch aber möcht' ich von Ihnen selbst wissen.

Von mir? O, mein theures Fräulein, verlangen Sie nimmer und nimmer zu schauen – und so weiter. Wenn Sie darauf bestehen, mein Charakterincognito zu lüften, werd' ich freilich beichten müssen. Erst aber hätt' ich an Sie eine Frage zu stellen.

Er zog ein flaches rundes Etui aus rothem Saffian aus der Tasche, öffnete es und hielt es Cecil hin. Eine venezianische Halskette lag darin von feinster Goldarbeit, eine Anzahl antiker Goldmünzen war vorn daran befestigt, Kaiserprofile, dazwischen griechische Münzen von schönster Prägung.

Sie betrachtete das Geschmeide mit leuchtenden Augen, hob es von seinem sammtenen Kissen ab und ließ es über ihren schlanken Fingern spielen.

Ich verstehe nichts davon, sagte sie, ob es in reinem Stil ist und wirklich alt, aber ich finde es herrlich in seiner leichten und doch gediegenen Ausführung. Wo haben Sie es her?

Sie legte es in das Etui zurück, fuhr aber fort, es zu betrachten.

Es stammt von meiner Mutter, versetzte er. Sie liebte es besonders, da ihr junger Mann es ihr auf der Hochzeitsreise in Venedig geschenkt hatte. Auch mir gefiel es schon als Knabe, wenn sie es auf ihrem weißen Halse trug. Die Halskette mußt du einmal deiner Braut schenken, sagte sie. Nun, da ich eine Braut nie bekommen werde, würde mich's freuen, wenn die Braut meines einzigen Freundes dieses kleine Hochzeitsgeschenk von mir annehmen wollte.

Eine leichte Röthe war ihr in die Wangen gestiegen.

Wo denken Sie hin! Wie dürft' ich eine solche, so kostbare Gabe annehmen, die einer Anderen zugedacht war! Ihre liebe Mutter würde gewiß nicht damit einverstanden sein.

Wenn sie hier Ihnen gegenübersäße, würde sie mich verstehen. Sehen Sie, mein theures Fräulein, es ist nicht erst seit gestern, daß ich weiß, ich werde einsam bleiben. Das kommt daher, daß ich von jeher sehr anspruchsvoll war und an Diejenige, die meine Einsiedelei theilen möchte, die ganz unerfüllbare Forderung stellte, sie müsse mich lieben.

Nein, Sie haben Unrecht, wenn Sie jetzt denken: f ishing for compliments! Die Sache hat ihre Richtigkeit und ist sehr einfach. Gewiß, ich könnte hundert hübsche und wohlerzogene Mädchen für Eine finden, die versorgt zu werden wünschen und für mich, als ihren Versorger, eine Dankbarkeit fühlten, die mit der Zeit zu einer sogenannten Liebe würde. Damit aber ist mir nicht gedient. Auch wenn ich auf die eigentliche verliebte Liebe verzichtete – das Weib, dem ich mit meinem »interessanten« Gesicht eine solche einflößte, würde sich dadurch als so geschmacklos zeigen, daß sie mir zur Lebensgefährtin nicht taugte. Nein, ich spreche von jener tieferen, geist- und gemüthvollen Neigung, die bedeutende Frauen auch zu noch häßlicheren Männern hingezogen hat. Dann aber besaßen diese Männer etwas, das mir fehlt: eine Persönlichkeit, und ich – ich bin eben ein unpersönlicher Mensch.

Sie sah ihn verständnißlos an.

Ich muß mich Ihnen näher erklären, sagte er, nachdem er aufgestanden war und sich dann wie in nervöser Unruhe wieder zu ihr gesetzt hatte. Sehen Sie, ich habe eine Menge Eigenschaften, gute und schlimme, und ich hoffe auch, die guten überwiegen. Ich bin nicht dumm, nicht neidisch, nicht hartherzig, ich habe viel gelernt, ohne Pedant zu sein, bin, wie man mir nachsagt, ein angenehmer Gesellschafter, dazu gesund und überdies von meinem Vater mit hinlänglichen Mitteln ausgestattet, um frei und unabhängig zu leben. Das Alles sind schätzbare Gaben, die auch wohl eine Frau gern mitgenießen würde. Aber der Genuß würde ihr verbittert werden, wenn sie neben einem Menschen leben müßte, der kein eigentliches Selbst besitzt, nicht so viel wie der Engländer, der my humble self sagen kann. All diese trefflichen Eigenschaften hängen lose an meinem lieben Ich herum, ohne daß dies Ich einen Kern hätte, aus dem sie sich entwickelten. Eine oder die andere könnte mir zufällig fehlen, ohne daß sich an mir etwas änderte. Denn wie gesagt, nur einer Persönlichkeit ist es vergönnt, Alles, was von ihr ausgeht, so zu gestalten, daß es ihren eigenen Stempel trägt, daß die Menschen, die sich in Liebe oder Haß mit ihr begegnen, wissen, mit wem sie zu thun haben und jedenfalls sie respectieren müssen, wie eine feindliche oder freundliche Naturgewalt.

Er war wieder aufgestanden, zum Flügel getreten, auf dem er ein paar wirre, ungestüme Accorde anschlug, und hatte sich dann vor Cecil hingestellt, die Augen aber nicht auf sie, sondern auf den Teppich geheftet.

Es wird Ihnen pietätlos scheinen, fing er wieder an, wenn ich Ihnen sage, daß meine lieben Eltern gute, warmherzige, aber in keiner Hinsicht bedeutende: oder interessante Menschen waren, mein Vater ein Banquier, der nur für Zahlen lebte, meine Mutter von englischer Abstammung, eine correcte, exemplarische Hausfrau, Gattin und Mutter, die nie anders zu denken wagte, als die Gesellschaft ihr vordachte. Ich wurde sehr gewissenhaft erzogen, besuchte die besten Schulen, hatte in der Musik die theuersten Lehrer und durfte auf der Universität studieren, was ich wollte. Da ich nicht nöthig hatte, ein Brodstudium zu ergreifen, sah ich mich ein wenig in allen Wissenschaften um und wurde, was man einen gebildeten Menschen nennt. Mehr aber nicht. Was meine guten Eltern selbst nicht besaßen, konnten sie mir nicht vererben – eine Persönlichkeit.

Sie kennen das Goethe'sche Wort, daß nur diese das höchste Glück der Erdenkinder sei. Das ist in diesem Umfange nicht ganz richtig. Es fragt sich erst noch, was man unter Glück versteht. Wenn das Wort die von innen und außen nicht getrübte Harmonie des Menschen mit sich selbst bedeutet, kann man zweifeln, ob das eher zu erreichen ist, wenn man eine Persönlichkeit besitzt, oder keine. Die meisten Menschen sind ganz unpersönlich, aber ihr Glück ist, daß sie es selbst nicht fühlen und damit ganz zufrieden sind. Denn ein Mensch mit einem ausgeprägten inneren Wesen, der eben jenen Kern hat, aus dem sich Alles entwickelt, hat es im Leben nicht so leicht, wie die Dutzendmenschen, die sich nicht an den harten Ecken der Wirklichkeit stoßen, sondern im Strome mitschwimmen und die Klippen mit klugen Compromissen zu umschiffen verstehen. Eine Persönlichkeit kann das nur schwer, oft gar nicht. Aber freilich, auch das ist ein Glück, sich im Kampf zu behaupten, und der Stolz, auch im Untergehen er selbst zu bleiben, beglückt Jeden, der weiß, was er ist und kann und sich seines eigenen Willens freut.

Ein Mensch meinesgleichen aber – was kann und will der? Zu keinem Beruf hab' ich eine starke Neigung gefühlt, in jedem hätt' ich meinen Mann stellen können. Da kam das verwünschte Geld dazwischen, da ich's nicht brauchte, mir durch irgend eine Arbeit meinen Unterhalt zu verdienen. Einem armen Teufel den Platz wegnehmen, auf dem er eben so gut stehen könnte, wie ich, und es nöthiger hätte, das brachte ich nicht übers Herz. So habe. ich keinen andern Beruf gefunden, als den eines müßigen Beobachters, wie einer vom Chor in der griechischen Tragödie, der zu den Schicksalen und Handlungen der Helden sein Sprüchlein liefert, selbst aber nicht mitspielt. Ein besonderes Vergnügen kann das einem redlichen Menschen nicht machen. –

Sie hatte still zugehört und mit ihren schönen Augen traurig vor sich hin geblickt. Da er seine lange Gestalt jetzt in einen Sessel warf und mit der Hand durch sein krauses Haar wühlte, hörte er sie mit ihrer sanften, etwas verschleierten Stimme sagen: Verehrter Freund – ich darf Sie wohl so nennen, da Sie mir so Vieles vertraut haben, was man nur sagt, wo man auf warmen Freundesantheil rechnen kann. Und doch – Sie werden mich für ein recht einfältiges Mädchen halten, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich Manches nicht begriffen habe und von Anderem nicht überzeugt worden bin. Sie klagen Ihr Schicksal an. Aber wie viel hat es Ihnen gegeben, wie viel haben Sie vor der großen Masse der Menschen voraus! Wir Anderen sind mit unsern Anschauungen und Gedanken auf einen kleinen Kreis beschränkt und sehen bei unserm Tagewerk weder rechts noch links. Sie überblicken das Ganze, in allen Wissenschaften und Künsten ist nichts Ihnen fremd, und wenn sich nun das Alles in Ihrem Geiste spiegelt, anders als andere Geister es auffassen und beurtheilen, wie können Sie sagen, daß Sie nicht ein eigener Mensch, eine Persönlichkeit seien, bloß weil Sie nicht in irgend einem besonderen Berufe mitarbeiten? Hat nicht Schiller gesagt: gemeine Naturen zahlen mit dem, was sie thun, edle mit dem, was sie sind?

Er sah sie mit einem stillen, bewundernden Blick an und nickte ihr freundlich zu.

Ich danke Ihnen, liebes Fräulein! Sie nehmen mich gegen mich selbst in Schutz, aber wie alle klugen Advocaten scheuen sie vor kleinen Sophistereien nicht zurück. Der edle Schiller – nun freilich lag alles Gemeine hinter ihm. Aber wenn die Natur ihn dazu bestimmt hätte, nur eben ein vornehmer Mensch zu sein, nicht auch allerlei zu thun, wodurch er eben seinen Adel der Welt offenbaren konnte, er würde schwerlich mit seinem Schicksal zufrieden gewesen sein. Und wer und was man ist, ob man wirklich einen »Kern« hat, nicht bloß der Haken ist, an dem so und so viel Eigenschaften hängen, das erfährt man nur durch das, was man thut. Ich aber thue nichts, nicht einmal so viel Nichtiges, um mich über meine Richtigkeit zu täuschen. Und mein Geist – pah! was ist der anders als ein Irrlicht über einer unfruchtbaren Sumpfwiese, oder wenn Sie ein edleres Bild wünschen: ein Feuerwerk über einem See. Wenn es einmal verprasselt sein wird, bleibt nichts von ihm übrig, als ein paar leere Raketenhülsen, die auf dem Wasser schwimmen. Nein, das sind, in Ihrem Sinne, falsche Bilder. Nennen wir ihn einen Spiegel, der das Bild der Welt rein auffängt. Aber hat ein Spiegel einen Kern? Ist er noch etwas Anderes als eine leere – sagen wir unpersönliche – Glasscheibe, wenn nichts mehr in seinen Rahmen hineinfällt? Was bleibt, wenn man ihn zerschlägt? Ein einziges, noch so bescheidenes Werk hervorzubringen, so beschränkt wie Sie wollen, ein Talent zu haben, das Anderen Freude macht, das allein ist der Mühe werth, in dieser schlechtesten aller Welten herumzugehen und bei jedem Katarrh zu empfinden, was es mit der berühmten Gottähnlichkeit auf sich hat.

Er war wieder aufgesprungen und vor eine der Aquarelllandschaften getreten, von denen er wußte, daß Cecil sie gemalt hatte.

Und Sie behaupten, Sie könnten mit Ihrem Geist, den Sie so gering schätzen, Anderen keine Freude machen? sagte das Mädchen. Haben wir gestern nicht mit größtem Vergnügen Ihren Reiseschilderungen zugehört, die Sie nur niederzuschreiben brauchten, um noch Unzählige damit zu erfreuen? Und Sie hätten kein Talent? Sagten wir uns nicht, als Sie gegangen waren, daß ein Schauspieler an Ihnen verloren sei, so lebendig hatten Sie bei der Geschichte mit dem schottischen Pfarrer und dem Hirten beide Personen dargestellt, bis auf die Geberden und die Mimik der seltsamen Figuren? Wenn Sie sich herabließen, zur Bühne zu gehen, Sie würden ein weltberühmter Schauspieler werden.

Er wandte sich rasch nach ihr um.

Was Sie da sagen, liebes Fräulein – Sie glauben nicht, wie oft ich mir das selbst gesagt habe. Ja, das wäre der einzige Beruf, bei dem es einem eher zum Vortheil gereichte, keine Persönlichkeit zu besitzen, wenn man nur die Gabe hätte, sich in andere hineinzuversetzen. Daß die mir nicht fehlt, habe ich schon als junger Student erfahren, da ich in Liebhabertheatern die Bösewichter und andere Charakterrollen spielte, mit großem Beifall. Zu jugendlichen Liebhabern fehlte mir das unentbehrlichste Requisit, die Liebenswürdigkeit. Aber in meinen kühnsten Träumen spiegelte ich mir sogar vor, keinen üblen Hamlet hinstellen zu können. Einstweilen blieb's bei bürgerlichen Rollen, meine Glanzleistung war einmal der Wurm in Kabale und Liebe, zum Marinelli bin ich nie gekommen. Nun, das waren Träume und Jugendspäße. Seitdem –

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Sein Gesicht hatte wieder den Ausdruck tiefer Niedergeschlagenheit angenommen.

Und warum müssen es Träume bleiben? sagte Cecil. Können sie nicht in Ihren reiferen Jahren verwirklicht werden?

Ja wohl, sagte er, wenn die Zeiten anders wären! Aber wenn ich denke, daß ich in diesen Stücken mitspielen sollte, die heutzutage das Repertoire füllen, Menschen darstellen, die verrückt oder albern und dabei auf ihren Tiefsinn eitel sind, statt die Gestalten der großen Dichter zu verkörpern, – nein, meine Freundin, auch dieser Beruf ist mir versperrt. Und es ist Schade! Ich stünde gern einmal hinter den Lampen und sähe Sie und unsern Felix im Parket sitzen und mit Ihren Freundeshänden mir Beifall klatschen.

*

Die Mutter trat ein. Sie war in der Stadt gewesen, da zur Hochzeit noch viel zu besorgen war. Nun bedauerte sie, den Besuch versäumt zu haben, und bat, sie zu entschädigen, indem Harry zu Tische bliebe. Er entschuldigte sich, er habe sich ohnehin schon zu lange verschwatzt und müsse noch vor dem Essen ein paar Briefe schreiben. – Jedenfalls also erwarteten sie ihn zum Abend. – Er verneigte sich schweigend. Dann nahm er hastig Abschied, küßte der Mutter die Hand und hielt Cecil's Hand lange mit herzlichem Druck in der seinen. Ich danke Ihnen, mein theures Fräulein, sagte er. Sie haben mir unendlich wohlgethan.

Damit ging er.

Was hast du mit ihm geredet, Kind? fragte die Mutter. Er war so wunderlich, fast gerührt.

Er ist ein unglücklicher Mensch. Er hat mir sein Herz ausgeschüttet, das voller Ungenügen ist bei all seiner Begabung. Daß ich ihm meinen warmen Antheil zeigte, hat er mir gedankt. Felix hat er, wie es scheint, nie so in sein Inneres blicken lassen. Aber für die seltsame Krankheit, an der er leidet, wird schwerlich ein Arzt Rath wissen. –

Als Felix Abends sich im Hôtel einfand, den Freund abzuholen, fand er ihn über einem kleinen Exemplar des Hamlet, aus dem er halblaut sich selber vorgelesen hatte.

Nein, sagte er, zerstreut aufblickend, geh nur allein zu den liebenswürdigen Frauen. Ich war zwar nie in der Lage eines Bräutigams, aber ich kann mir denken, daß mir jeder Dritte verhaßt gewesen wäre, wenn ich erst nach einem langen Tage meine Liebste wiedergesehen hätte. Man hat dann doch Besseres zu thun, als sich von Schottland erzählen zu lassen. Um mich brauchst du dir keinen Zwang anzuthun. Ich bin, wie du siehst, in der besten Gesellschaft.

Dabei blieb er, trotz des freundschaftlichen Dringens, und Felix mußte ihn endlich allein lassen.

Er war in seiner musikalischen Seele mit allem andern begabt, als mit psychologischem Scharfsinn, ja er hatte große Mühe, sich in all das zu finden, was Cecil ihm von ihrem Gespräch am Vormittag berichtete. Auch ihrer klaren, auf sich selbst beruhenden Natur war ein so problematischer Charakter, wie dieser, räthselhaft. Aber ihr feiner weiblicher Sinn drang doch in dies Helldunkel ein, da ihre Theilnahme mit seiner Krankheit dabei half. Sie redete Felix davon ab, mit dem Freunde über das Thema sich zu besprechen, das theoretisch ja doch nicht zu ergründen war. Schade, daß wir den Winter nicht hier bleiben. Er wäre wohl auch hier zu halten gewesen, und ich hätte mir zugetraut, ihn am Ende mit sich auszusöhnen.

Einstweilen schien er aber doch durchaus nicht hoffnungslos mit sich zerfallen.

Vielmehr, als er am anderen Mittag sich wieder einstellte und à la fortune du pot sich zu Tische lud, war er von so heiterer Laune, daß Cecil keine Spur der gestrigen Aufregung in seinem Gesicht und seinem Gespräche wiederfand und fast glaubte, er habe nicht Alles so ernst gemeint und mit seinem Schauspielertalent ihr nur eine Scene vorgespielt. Ihm war, während er mit drolligen Histörchen und witzigen Anekdoten die Damen unterhielt und selbst in ihr Lachen mit einstimmte, offenbar so wohl in seiner Haut, wie er's lange nicht erlebt hatte. Als die Mutter es ihm geradezu sagte, sie lerne ihn heut von einer Seite kennen, die ihm sehr gut stehe, erwiederte er, ihr über den Tisch die Hand hinreichend, daß ihm nicht immer so glücklich zu Muthe sei, komme daher, daß er als ein Waisenkind in der Welt stehe, dem es zum ersten Mal beschieden sei, von einer solchen Mama und einer solchen Schwester freundlich geduldet zu werden.

Felix kam, als sie beim Kaffee saßen. Auch er bemerkte erfreut die Veränderung. Doch ein Wink Cecil's bedeutete ihn, daß es wohlgethan sei, sich nichts davon merken zu lassen.

*

Die noch übrigen vier Tage bis zur Hochzeit vergingen wie im Fluge, auch für Harry.

Er hatte sich von der Mutter, die mit den letzten Vorbereitungen zum Fest von früh bis spät beschäftigt war, ausgebeten, daß sie ihn als ihren Botenläufer und Commissionär betrachten sollte. Sie glauben nicht, liebe Mama, sagte er, wie wohl es mir thut, mich einmal nützlich machen zu können. – So ging er in ihrem Namen zu dem Pfarrer, der das Paar trauen sollte, um ihm noch einige Notizen zu seiner Traurede zu geben. Sie fielen so reichlich aus, daß es schließlich sich so anließ, als ob Harry selbst, bis auf die nöthigen Bibelstellen, die schöne Rede verfaßt hätte. Dann lief er in alle Geschäfte, die noch zu dem Festmahl Süßigkeiten, Wein und Delicatessen zu liefern hatten, traf mit seiner erprobten Kennerschaft überall die beste Wahl, fügte aus eigener Tasche allerlei hinzu, worauf die einfache Hausfrau nicht verfallen war, und ließ sich für seine Eigenmacht mit der unschuldigsten Miene eines leichtsinnigen Jungen schelten und loben.

An den Abenden erschien er ein für allemal nicht. Dagegen ließ er sich gern bewegen, an dem Mittagessen zu Dreien theilzunehmen, wo er stets guter Dinge war und die Köchin lobte, so daß er von den Dienerinnen des Hauses, die er heimlich reich beschenkte, vergöttert wurde.

Eine Gelegenheit, mit Cecil wieder einmal allein zu sein, hatte er nicht mehr gesucht. Auch richtete er das Wort gewöhnlich an die Mutter, die ihn wie einen Sohn behandelte.

Felix war wenig zu sehn. Die Proben zu seinem Concert nahmen ihn Vor- und Nachmittags in Anspruch. So oft er aber mit dem Freunde zusammentraf, war sein Betragen von besonderer Innigkeit. Er hatte nie darüber nachgedacht, wie es wohl in Harry's Innerem aussehen möchte. Nun er wußte, daß er sich nicht glücklich fühlte, glaubte er sich gleichsam dazu verpflichtet, etwas nachzuholen an liebevollem Antheil.

So kam endlich der Sonntagabend, an dem das Abschiedsconcert stattfinden sollte, heran.

Der schöne hohe Saal, der an einem stillen Platz nahe dem Stadtpark lag, war bis auf den letzten Platz sogar auf der Galerie gefüllt von einem erlesenen Publikum, das sich in einer feierlich erregten Stimmung befand, als werde etwas Ungewöhnliches erwartet, wie eine seltene Familienfeier, an der Alle einen herzlichen Antheil nähmen. Ein gedämpftes Flüstern durchlief die Sitzreihen, als Felix' Mutter am Arm des fremden Herrn den Saal betrat und von ihm zu ihren Sitzen ganz vorn geleitet wurde, gegenüber dem Dirigentenpult, das mit Kränzen und Blumengewinden behangen war. Noch war es leer. Die Mitglieder des Opernorchesters traten durch die Thüren im Hintergrunde mit ihren Instrumenten ein und begaben sich an ihre Plätze. Erst als das ganze halbrunde Podium gefüllt und das Durcheinander der Stimmenden beruhigt war, erschien der junge Dirigent und wand sich durch die enge Gasse der Musiker durch. Sobald er seinen erhöhten grünenden und blühenden Platz erreicht hatte, brach von allen Seiten des Saals ein so feuriges Klatschen und Rufen los, die Geiger schlugen so laut mit den Violinbogen auf die Notenpulte, daß der junge Meister, der nicht zum ersten Mal einem Beifallssturm Stand hielt, nun doch im Innersten bewegt und gerührt über und über erröthete und in sichtbarer Befangenheit sich verneigte.

Als er den Taktstock dann erhob, um seine erste Symphonie zu dirigieren, ward eine athemlose Stille, die nur nach den einzelnen Sätzen des schon bekannten und von Kennern und Laien gleich sehr geschätzten Werkes durch neuen Applaus unterbrochen wurde. Wieder und wieder mußte der Componist, der sich rasch zurückgezogen, vor seinen Freunden erscheinen, wobei er den beiden theuren Menschen in der ersten Reihe zärtliche Blicke zuwarf.

Die Musiker hatten sich entfernt, ihre Plätze nahmen nun die Mitglieder des Gesangvereins ein, die Damen sämmtlich in festlichen hellen Kleidern, jede eine Blume im Gürtel, die Männerchöre in Bratenröcken und weißen Kravatten. An der Spitze des Soprans kam Cecil herangeschritten, in einfachem weißem Gewande, die schönen Arme entblößt, um den Hals, der aus dem Ausschnitt des Kleides sich in seinen edlen Linien reizvoll erhob, das venezianische Kettchen gelegt, das Harry ihr geschenkt. Sie lächelte ihm und der Mutter verstohlen zu und stand dann ruhig, das Notenblatt in den Händen, den Blick zu ihrem Geliebten aufgeschlagen, der nun zum ersten Mal seine Frühlingscantate aufführen sollte.

Von dieser ist hier, da ein näherer Bericht dem Zeitungsreferenten überlassen bleiben muß, nichts Anderes zu sagen, als daß sie, in der ersten Zeit seines jungen Liebesglücks von Felix nach eigenem Text componiert, wobei er bei einigen Lyrikern Anleihen gemacht hatte, die ganze Wonne seines Bräutigamsherzens athmete. Nach der Schilderung der erwachenden Lenzgefühle in der Natur hatte er ein junges Menschenpaar auftreten lassen, das nach schüchternem Langen und Bangen sich endlich im blühenden Mai auf verschwiegenen Waldwegen findet und, während es vorher sein Wünschen und Hoffen in einzelnen Liedern gebeichtet hatte, nun in einem seligen Zwiegesang die Fülle des Glücks ausströmte, wozu die tausend Stimmen der Vögel, das Rauschen der blühenden Bäume und das Rieseln des Bachs den Chor bildeten.

Der Sänger, der Cecil's Partner war, hatte eine schöne Baritonstimme und war sehr von seiner Aufgabe entzückt. Aber Cecil's Gesang tönte aus einer so tief bewegten Seele und schien so innig ihr eigenes Geschick zu offenbaren, daß man nur sie zu hören glaubte und eine holde Verkörperung des Frühlings in ihr erblickte. So hatte sie auch in den Proben noch nicht gesungen, so das Herz ihres jungen Meisters und Liebsten noch nicht bewegt. Er hatte Mühe, seine Fassung zu behaupten. Daß die Mutter es nicht vermochte, sondern den vorbrechenden Thränen freien Lauf ließ, verdachte ihr Niemand, am wenigsten der Freund an ihrer Seite, der sich den Schnurrbart zerbiß und zuweilen von unterdrückter Rührung durch seine ganze lange Figur wie von einem Krampf durchzuckt wurde.

Kaum aber hatte man sich über den Eindruck des wundervollen Werks ein wenig beruhigt, so erschien aus dem Hintergrunde eine neue Überraschung: vier junge Mädchen, Jugendfreundinnen Cecil's, die vorn an das Pult traten und vierstimmig folgenden Brautgesang anstimmten, den der Bräutigam ihnen auf einen alten Text componiert hatte, ohne der Braut etwas davon zu verrathen. Das Lied lautete:

Welch ein Scheiden ist seliger,
Als zu scheiden von Mädchentagen?
Welch ein Klagen ist fröhlicher,
Als in Myrten um Veilchen klagen?

Da dein Schifflein im Hafen lag;
Meerwärts oft sich die Wimpel regten,
Ob auch kosender Wellenschlag,
Land und Himmel es heimisch hegten.

Nun die Anker gelichtet sind,
O wie köstlich die Fahrt ins Weite!
Düfte schwimmen im Sommerwind,
Und du lächelst an Seiner Seite.

Manch ein segnender Seufzer schwingt
Sich ins Segel, es lind zu schwellen.
Laß dies Lied, das die Liebe singt,
Sich als günstigen Hauch gesellen.

Hierauf trat Eine, die liebste der Freundinnen, zu Cecil heran, umarmte sie und setzte ihr einen Veilchenkranz auf das schöne Haupt. Eine Andere nahte dem Bräutigam, auch seine Stirn zu bekränzen, mit einem leichtgewundenen Lorbeer. Er nahm aber den Kranz einfach entgegen, küßte die Hand, die ihn gebracht, und reichte ihn Cecil's Mutter hinunter. Alle verstanden, daß er andeuten wollte, wenn ihm etwas gelungen, verdanke er es dem Glück, das er aus der Hand dieser Frau empfangen habe.

*

Daß es noch zu anderen lebhaften Scenen kam, die bekundeten, wie die ganze Stadt an diesem jungen Paar Antheil nahm, braucht kaum gesagt zu werden. Die Vorsteherin des Cäcilienvereins, eine würdige ältere Dame, überreichte dem Dirigenten, der sich so große Verdienste um ihn erworben, ein werthvolles Hochzeitsgeschenk, ein weißhaariger alter Musikenthusiast erhob sich mitten im Publikum und hielt eine halb feierliche, halb humoristische Standrede, den Dank der ganzen musikalischen Gemeinde auszusprechen, und jede solche Widmung fand ein begeistertes Echo in der großen Versammlung.

Es war der freudigen Ereignisse fast zu viel für die gute Mama. Im Künstlerzimmer hatten die Ihrigen Mühe, sie aus einer leichten Ohnmacht wieder zum Bewußtsein zu bringen. Sie mußten darauf verzichten, den Abend noch zusammenzubleiben. Auch von Harry verabschiedete sich Felix und saß nur noch eine halbe Stunde, nachdem Cecil die Mutter zu Bett gebracht, mit seiner Liebsten im Wohnzimmer, ihre Hand haltend, den Kopf an ihre Schulter gelehnt. Keines sprach ein Wort. Um Mitternacht trennten sie sich.

Harry ließ sich am folgenden Tage nur einen Augenblick sehen, um nach dem Befinden der Mutter zu fragen. Er lehnte es auch ab, am Polterabend theilzunehmen. Es wird gewiß sehr hübsch werden, liebe Mama, sagte er. Reizende junge Damen werden mehr oder weniger schalkhafte oder rührende Verse declamieren und Geschenke überreichen. Aber die eigentliche Bedeutung gerade dieses Festes wird trotz aller Zärtlichkeit und Huldigung nicht zu Worte kommen.

Worin sehen Sie die, lieber Freund?

Darin, daß wir's in dieser nüchternen armseligen Zeit erleben, ein Wunder sich ereignen zu sehen, ein Menschenpaar, wie es alle hundert Jahr einmal so von den Göttern gesegnet auf Erden erscheint, und das nun Hand in Hand von Tausenden verehrt und bewundert die Fahrt ins gelobte Land antritt. Dagegen erscheinen alle beliebten Polterabendscherze wie eine Musik von Kindertrompeten gegen die C-moll-Symphonie. Nein, verehrte Freundin, ich bleibe lieber davon und trinke in meinem »Kronprinzen« ein einsames Glas Wein auf die Gesundheit des Brautpaars, die ihm sehr zu wünschen ist, um all diese Freudenstrapazen glücklich zu überstehen.

Am Hochzeitstage selbst aber fand er sich pünktlich ein, um seine Pflichten als Brautführer im Standesamt und in der Kirche gewissenhaft zu vollziehen. Als der einzige Fremde in dem vertrauten Kreise war er der Gegenstand allgemeiner Neugier, und sein vollendeter weltmännischer Anstand fiel vortheilhaft auf im Gegensatz zu der Haltung des Bräutigams, der, wie immer ohne jede Rücksicht darauf, welchen Eindruck er machte, wie ein seliger Träumer neben seiner schönen Geliebten hinschritt, ein stilles Lächeln auf den Lippen, als trage er ein Geheimniß in der Brust, das Jeden glücklich machen müßte, der es erführe.

Dann war endlich auch das Hochzeitsmahl vorüber, das in dem Hause der Braut stattgefunden hatte, da nur eine kleine Zahl von Gästen auf Cecil's Wunsch geladen war. Harry hatte sich bis auf einen liebenswürdigen Toast auf die Mutter sehr schweigsam verhalten, den Trinkspruch auf die Neuvermählten dem Prediger überlassen und seine Nachbarin zur Rechten, jene Jugendfreundin, die Cecil im Concert bekränzt hatte, nur zerstreut unterhalten. Die heimliche Absicht der Mutter, durch die reizenden Augen des Fräuleins ein kleines Feuer zwischen den Tischnachbarn zu entzünden, scheiterte gänzlich. Ehe noch die Tafel aufgehoben wurde, war der einsilbige Gast verschwunden.

Daß er dem Abschied ausgewichen, empfand Felix denn doch schmerzlich. Er trug der Mutter, als er in den Wagen stieg, den wärmsten Gruß an ihn auf und riß sich mit Thränen des Glücks von ihr los. Als der Wagen aber vor dem Bahnhofgebäude hielt, sah er einen langen Menschen herantreten und den Wagenschlag öffnen. Der Dienstfertige nahm schweigend die Mütze ab, da erkannte ihn Felix, sprang heraus und fiel ihm mit einem Freudenruf in die Arme.

Harry war nach Hause geeilt, seine Festkleidung mit einer schlichten Joppe, den Cylinder mit einer Mütze zu vertauschen, so daß er einem Dienstmann nicht unähnlich sah. Er schien sehr vergnügt über die gelungene Überraschung, führte das Paar sofort zu dem Coupé des Münchner Zuges, das er für sie reserviert hatte, besorgte ihr Gepäck und war nicht zu bewegen, sich seine Auslagen erstatten zu lassen. Es ist ja mein Interesse, sagte er, daß ihr so rasch als möglich fortkommt. Ich hätt's nicht länger aushalten können, immer nur im Chor mitzuspielen. Wenn ich dann auf meine alten Tage doch noch geheirathet und mich nach einer Woche hätte scheiden lassen, hättet ihr's auf dem Gewissen gehabt.

Als sich dann der Zug in Bewegung setzte und die winkenden Hände und wehenden Tücher seinem Blick endlich entschwunden waren, stand er wie ein steinernes Bild unbeweglich auf dem Bahnsteig und regte sich erst, als ein anderer Zug in die Halle einfuhr und das Gewimmel der Ankömmlinge ihn vertrieb. Mit einem tiefen Seufzer wandte er sich und ging mit müden Schritten langsam in die Stadt zurück.

*

Er hatte vorgehabt, die Mutter noch zu besuchen, ihr den letzten Gruß ihrer Kinder zu bringen, konnte sich aber nicht dazu entschließen, in der unseligen Stimmung, in der er zurückgeblieben war. Nie war er sich werthloser und überflüssiger vorgekommen, nie so sehr der »Unmensch«, der »Unbehauste«, als in dieser Ernüchterung nach dem wundersamen Fest, bei dem er doch »sich nützlich machen« konnte. Wohin er nun ging, was er vornahm, es hatte Alles keinen Zweck, er konnte es auch unterlassen, da keine innere Stimme und kein äußerer Zwang es ihm vorschrieb. Die gepriesene Freiheit, die ihm Andere beneideten und die er selbst in jüngeren Jahren für ein Gut gehalten hatte, empfand er wieder als eine Qual.

Nur Einem Menschen hätte er sich jetzt eröffnen mögen, der Einzigen, die ihn zwar auch nicht völlig verstand und ihm nicht Recht gab, deren Stimme aber wie eine wundersame Musik seine Unrast beschwichtigt hatte. Aber diese Eine war ihm für lange Zeit entrückt, und er konnte sich nicht verhehlen, daß mit dem Trost, den sie ihm gebracht, auch eine Gefahr verbunden war: sich allzu tief in dies Gefühl zu verlieren und am Ende gar sich nicht mehr herausretten zu können.

Es war nicht später als sieben Uhr, ein milder, weicher Hochsommerabend, die Straßen voll lustwandelnder Menschen, die ins Freie hinausstrebten. Er konnte sich des Neides auf all diese Glücklichen, die von Schmerzen, wie die seinen, nichts wußten, nicht erwehren. Eine Sehnsucht nach Freude, ein Durst nach etwas Lieblichem überkam ihn. Wo aber sollte er es suchen? Was gab es in aller Welt, das Macht hatte, ihm den Druck seines Schicksals von der Seele zu wälzen?

Nicht zum ersten Mal trat jetzt der Gedanke vor ihn hin, daß es Jedem frei steht, Unerträglichem und Hoffnungslosem ein Ende zu machen. Noch aber war er jung genug, um der Versuchung zu widerstehen. Irgend wie und wo konnte ja eine Thür sich öffnen, durch die er in das unbekannte Land hinaustrat, wo er sich selber finden und erfahren würde, was an ihm war. Er durfte nur den Muth nicht verlieren, sich zu gedulden.

So ward es nach und nach stiller in ihm, und sogar eine gewisse Heiterkeit, nicht echter freilich als ein Galgenhumor, brach in ihm durch, so daß er behaglich hinschritt, die Melodie des Brautliedes summte, die ihm unvergeßlich nachging, und sogar an seine Tischnachbarin dachte mit dem Bedauern, sich ihr so wenig liebenswürdig gezeigt zu haben. Da traf er, um eine Ecke biegend, auf eine weibliche Gestalt, die langsam daher kam, in dem bescheidenen Anzug eines bürgerlichen Mädchens, doch mit einer gewissen Anmuth der Bewegung, die ihm auffiel. Gleichwohl wollte er an ihr vorbei, ohne sie weiter zu beachten, als das Mädchen stehen blieb und ausrief: Sie sind es, mein Herr? Wie kommen Sie hierher und mit der Mütze und so anders, als das erste Mal?

Auch er blieb stehn und sah ihr forschend in das hübsche Gesicht, das heut ein sehr einfaches Hütchen beschattete. Nun erkenn' ich Sie erst, Fräulein Aline, sagte er. Sie aber sind noch mehr verwandelt als ich, bis zur Unkenntlichkeit. Wie ist es Ihnen seither ergangen? Es ist ja nur eine Woche, seit ich das Vergnügen hatte, Ihre Bekanntschaft zu machen. Sie erlauben wohl, daß ich Sie ein paar Schritte begleite.

Sie sind sehr gütig, sagte sie. Ich danke Ihnen, daß Sie sich nicht schämen, neben mir zu gehn, obwohl ich so gräßlich angezogen bin. Ja, mein Herr, als Sie mich damals sahen, da hatt' ich noch keine Ahnung, daß ich jemals so herunterkommen könnte. Ich hatt' Ihnen ja erzählt, daß ich heirathen würde. Wenn Sie meinen Alfred gekannt hätten – der beste Mensch von der Welt, und er hat ja auch nichts dafür gekonnt, daß er mich sitzen lassen mußte. Aline, sagte er, für dich geh' ich in den Tod! Was du früher erlebt hast, darunter mach' ich einen Strich – und so zärtliche Reden mehr. Bloß eine Schwäche hatte er, er war ein zu guter Sohn. Na, da ist's denn so gekommen!

Sie seufzte und verzog das Mäulchen zu einer bitteren Grimasse.

Wollen Sie mir's nicht mittheilen, was und wie es gekommen ist?

Warum nicht? Sie sind ein so solider Herr, ich hab' gleich so großes Vertrauen zu Ihnen gehabt. Sie entsinnen sich wohl, daß er mich am Bahnhof nicht erwartete, obwohl er mir's versprochen hatte. Da merkt' ich gleich Unrath. Richtig, wie ich nach Hause komme, find' ich einen Brief von ihm auf dem Tisch: es schmerze ihn sehr, aber es müsse aus sein zwischen uns, die Eltern beständen darauf, daß er eine Andere heirathen sollte, eine Reiche, sonst würd' ihn der Papa enterben. Na und noch tausend Küsse und Thränen, und er werde mich trotzdem ewig lieben und so weiter, wie so Männer schreiben, wenn sie falsch sind und sich doch noch schämen.

Ich bin ein resolutes Mädchen, in Ohnmacht bin ich nicht gefallen, und meine alte Ursel, die schon fünf Jahre bei mir ist, sagte auch: Nehmen Sie sich's nicht zu Herzen, Fräulein, Männer sind Männer, und den Herrn Alfred hab' ich immer für einen Luftikus gehalten. – Sie hatte ihn freilich nicht lieb gehabt, wie ich dummes Ding. So hab' ich ein bischen geweint, die Nacht darauf aber ganz sanft geschlafen. Aber am andern Morgen stellen Sie sich vor, ich sitz' noch beim Kaffee, da kommen zwei dicke Briefe, nichts weiter drin als Rechnungen von der Modistin und dem Geschäft, von dem ich meine Wäsche bezogen hatte, und an demselben Tag noch andere, wo ich allerlei für meine Toilette zu nehmen pflegte, und ich hatte gedacht, die hätte Alfred längst bezahlt. Aber sogar die neuen Möbel in meiner kleinen Wohnung war er dem Lieferanten schuldig geblieben, der nahm sie dann aus Mitleiden zurück, ohne eine weitere Forderung, aber die anderen Schulden blieben auf mir sitzen, und da ich arm war wie eine Kirchenmaus, ist der Gerichtsvollzieher gekommen, vor drei Tagen, und hat mir Alles abgepfändet, meine Hüte und Kleider, die schönen Unterröcke mit Spitzen – Alfred hielt was auf die dessous, wie er's nannte – das bischen Silber, wenn wir mal zu Hause aßen, und Alles.

O mein Herr, wie oft hab' ich die Reise zu meiner Tante verwünscht! Denn wenn ich hier geblieben wäre, so weit hätt' ich's nie kommen lassen, meinen Alfred konnt' ich um den Finger wickeln – so eine Seele von einem Menschen, wie er war!

Und was denken Sie jetzt anzufangen, Fräulein Aline?

Sie hatte sich in einen wirklichen Schmerz hineingeredet, und fast schien es, als ob sie in Weinen ausbrechen würde. Plötzlich aber lachte sie und versetzte: Denken Sie, daß ich mich zu Tode grämen werde, um so einen Mann? Am Ende, wenn ich seine Frau geworden wäre, hätte ich mich mit ihm zu Tode gelangweilt, denn amüsant war er gar nicht, bloß sehr verliebt. Nein, ich bin jetzt wie der Vogel aufm Zweig, ich kann hinfliegen, wohin ich will, und find' schon wieder ein warmes Nest. Mein jetziges ist kalt, aber die Miethe ist noch für einen Monat vorausbezahlt. Was ich sonst brauche – (sie wurde wieder nachdenklich) na, eine Weile helf' ich mir noch, ein paar Schmucksächelchen hab' ich mir noch gerettet, da, sehen Sie, sind fünf Mark, die hab' ich eben bekommen für eine Broche, die ich versetzt habe, Alfred hat gesagt, sie habe ihn fünfunddreißig gekostet, aber der Mann behauptet, es sei nicht echtes Gold. Davon kann ich nun wieder zwei Tage satt werden – ohne mir den Magen zu verderben, setzte sie scherzend hinzu. Und Sekt werde ich so bald nicht wieder trinken.

Er hatte ihrem Geschwätz belustigt zugehört und den Wechsel der Stimmungen auf ihrem runden, zierlichen Gesichtchen beobachtet, das Alles verrieth, was in der kleinen Seele vorging. Auch sah sie in ihrem dürftigen, abgetragenen Anzug immer noch sauber und appetitlich aus und gefiel ihm darin besser, als in der prahlerischen Reisetoilette. Auch jetzt, wie damals auf dem Bahnhof, drehten die Vorübergehenden sich nach ihr um, einige junge Herren schienen sie zu kennen, aber sie warf das Köpfchen unwillig zurück, als Einer sie zu grüßen wagte.

Ein Hauch von weiblicher Anziehungskraft ging von ihr aus, den auch Harry in seinem Blut verspürte. Besonders wenn sie den rothen Mund zu einem verächtlichen Wort verzog, wobei das gerade, unten abgestumpfte Näschen zitterte, fühlte er ein seltsames Gelüsten, sie an sich zu ziehn und die schwellenden Lippen zu küssen, zwischen denen weiße kleine Zähne schimmerten.

Solche Thorheiten zu treiben, verbot die offene Straße, die noch hell und belebt war.

Als sie dann zu einem Hause gelangt waren, vor dessen Thür das Mädchen stehen blieb, sagte sie: Nun adieu, mein Herr, und ich danke auch für die Begleitung. Ich kann Sie nicht bitten, bei mir einzutreten, es sieht zu häßlich bei mir aus, und ich könnte Ihnen nicht einmal eine Tasse Thee anbieten. Ich habe nur zwei zinnerne Löffelchen. Also –

Sie streckte ihre kleine Hand ihm entgegen, die ohne Handschuh war, mit einer treuherzigen Geberde, die ihn rührte. Er ergriff sie, und eine zarte Wärme strömte in seine Hand hinüber, so daß er die ihre nicht gleich wieder freigab.

Warum wollen Sie mir Ihre Wohnung nicht zeigen, liebes Fräulein? sagte er. Man besucht doch eine liebenswürdige junge Dame nicht ihrer Möbel wegen. Wenn Sie mir also gestatten, daß ich mich einen Augenblick bei Ihnen ausruhen darf –

Sie sah ihn mit einem eigenthümlich forschenden Blick an und schien etwas zu überlegen. Das Ergebniß mußte zu seinen Gunsten ausfallen.

Sie sind sehr gütig, sagte sie. Dann, wie zu sich selbst sprechend: Es mag wohl richtig sein, was ich mal gehört habe: man kommt nie weiter, als wenn man nicht weiß, wohin man geht. Also bitte, gehen Sie voran!

*

Als sie die drei engen, dunklen Treppen hinaufgestiegen waren, zog das Mädchen einen Schlüssel hervor und öffnete die Thür zu einem helldunklen Vorplatz, durch den man in ein zweifenstriges Zimmer gelangte.

Die Abendsonne schien roth herein und beleuchtete die sehr dürftige Ausstattung der kahlen Wände, ein Sopha zwischen den Fenstern, davor ein Tisch, eine Kommode zur Linken, ein Schränkchen an der rechten Wand, ein paar Rohrstühle. Als sie eintraten, erhob sich von einem Stuhl am Fenster, an dem sie mit einer Flickarbeit beschäftigt gewesen war, ein mageres altes Frauenzimmer, das den fremden Besucher mit mißtrauischen Augen anstarrte.

Geh, Ursel, sagte ihre Herrin, schau nach, ob wir noch so viel Thee und Zucker haben, um dem Herrn eine Tasse vorzusetzen, wenn auch die silbernen Löffel fehlen. Bitte, lieber Herr, nehmen Sie einstweilen auf dem Sopha Platz und sehen Sie sich nicht weiter bei mir um. Sie werden an andere Boudoirs gewöhnt sein. Ich will nur ein bischen Toilette machen, das heißt, dies garstige Straßenkleid ausziehn.

Liebes Fräulein, sagte er, ich brauche nichts, als daß Sie mir erlauben, ein Viertelstündchen mich hier niederzulassen. Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir und bin ein wenig müde. Freilich könnte ich auch eine kleine Stärkung brauchen und würde mich gern bei Ihnen zu Gast laden, wenn Sie mir gestatteten, die Kosten des Soupers zu bestreiten. Ihre Gesellschafterin ist wohl so gut, das Nöthige herbeizuschaffen, etwas kalte Küche und – da Sie den Sekt zu lieben scheinen, auch eine Flasche von Ihrer gewohnten Sorte.

Er zog ein Goldstück aus der Tasche und händigte es der Alten ein, die plötzlich für den neuen Gast gewonnen war und mit einem tiefen Knix sich entfernte.

Sie sind ein Verschwender, rief das Mädchen. Wenn ich allein davon zu Nacht essen wollte, würde ich's viel billiger machen. Aber da ich Sie bewirthen soll, darf ich nichts dagegen einwenden. Nein, wie komisch! Ich war noch vor einer Stunde so unglücklich und von aller Welt verlassen, und jetzt – wie soll ich Ihnen danken!

Er ergriff wieder ihr warmes Hündchen und küßte es, etwas ausführlicher, als gerade nöthig war, ihren Dank höflich abzuwehren. Sie standen sich gegenüber, und Aline brach endlich in die naiven Worte aus: Wissen Sie, Sie sind lange nicht so hübsch, wie mein Alfred, aber Sie gefallen mir viel besser. Setzen Sie sich nur. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.

Sie huschte in das Zimmer nebenan, in dem er ein Bett stehen sah, und er ließ sich auf das Sopha nieder.

Ihm war seltsam zu Muth.

Neben so manchem verliebten Abenteuer, das er erlebt, brauchte sich dieses, das ein freundlicher Zufall ihm gleichsam zum Trost für Versagtes entgegengebracht hatte, nicht zu schämen. Er fühlte, das gute Kind hatte es nicht bloß wie eine schmeichelhafte Redensart hingesagt, daß er ihr gefiel. Warum sollte er sich nicht eine heitere Stunde mit ihr gönnen, die ihn zu nichts Ernsterem verpflichtete?

Dann kam es wieder über ihn, als werde er seinem besseren Gefühl untreu, wenn er hier eine armselige Hochzeit feierte, nachdem er einer so herrlichen beigewohnt hatte! Einen Augenblick trat das Bild der holden Neuvermählten vor ihn hin. Er suchte es hastig zu verscheuchen, als habe es sich an einen Ort verirrt, den ein Wesen ihrer Art nicht betreten dürfe.

Wie er so saß und seine Seele und Sinne mit einander im Zwiespalt waren, hörte er sie nebenan mit heller Stimme eine Melodie trällern aus der neuesten Operette. O Fräulein Aline, sagte er, du singst falsch, und leider habe ich ein feines Ohr. Wir würden uns auf die Länge nicht vertragen. Ja, wenn ich Mahadöh, der Herr der Erde, wäre und das verlorene schöne Kind morgen früh mit feurigen Armen zum Himmel empor tragen könnte! Aber ich fürchte, du würdest dich nicht als meine Wittwe betrachten, und es würde meinerseits auf einen ordinären Katzenjammer hinauslaufen. Nein, am Lendemain von Felix und Cecil's Hochzeit soll's nicht dazu kommen.

Er zog sein Taschenbuch hervor, riß ein Blatt heraus und schrieb ein paar Zeilen. Da hörte er sie aus dem Nebenzimmer rufen: Verlieren Sie nicht die Geduld! In drei Minuten bin ich fertig.

Es eilt also, sagte er vor sich hin, stand auf und legte das Blatt auf den Tisch, auf dem stand: »Ich kann leider nicht bleiben. Ich hatte vergessen, daß ich anderswo erwartet werde. Gute Nacht!« – Dann öffnete er sein Geldtäschchen, in dem sich außer einigem Silbergeld sechs Goldstücke befanden. Die legte er in einem Häufchen auf das Blatt, ergriff seine Mütze und schlich sacht wie ein Dieb auf den Zehen zur Thür hinaus.

Er war kaum die Treppe hinunter, so öffnete sich die Thür des Schlafzimmers, und das Mädchen trat lachend heraus. Sie hatte sich in ein loses sommerliches Négligé geworfen, das man ihr gelassen hatte, weil es sehr abgenutzt war. Doch sah es an ihrer schlanken Gestalt mit den hellen bunten Farben in dieser Abendbeleuchtung noch hübsch genug aus. Besondere Mühe hatte sie sich mit ihrer Frisur gegeben und die Löckchen über der kleinen Stirn in der Eile so gut es gehen wollte gekraust. Wenn sie gewußt hätte, daß Gefahr im Verzuge war!

Sie war etwas betroffen, als sie das Zimmer leer fand, doch glaubte sie in ihrem kindischen Sinn, der Freund habe sich irgendwo versteckt, um dann plötzlich hervorzuschleichen und sie im Dunkeln zu umarmen. So öffnete sie auch die Thür zu dem dritten Gemach, das ihre Garderobe gewesen war in ihrer guten Zeit. Auch das war leer. Als sie dann im Vorplatz nach dem Verschwundenen suchte, kehrte die alte Ursel zurück, einen Korb am Arm mit ihren Einkäufen zum Souper, unter denen auch die Sektflasche nicht fehlte. Die Beiden blickten sich rathlos an, zündeten die kleine Lampe mit einer zerbrochenen Glocke an und stellten sie auf den Tisch. Da kam das beschriebene Papier mit dem Goldhäufchen zum Vorschein.

Es war ein feiner Herr, sagte Aline, nachdem sie die blanken Münzen in der Kommode verwahrt hatte und sich nun der Alten gegenüber mit lebhaftem Appetit über die Speisen hermachte; bloß ein bischen verrückt muß er sein. Warum schenkt er mir so viel Geld, wenn er mich doch nicht liebt? Alfred hätte es auch nicht übers Herz gebracht, das Souper zu bezahlen und dann nicht mitzuessen.

*

Der seltsame Liebhaber, der so gegen alle Regeln verstoßen hatte, war indeß ziellos durch die abendlichen Straßen gewandelt, in einem gewissen Zwiespalt mit sich selbst, ob er nicht gar eine edle Thorheit begangen habe und klüger thun würde, umzukehren und sich auf ein Glas Sekt zu Gast zu bitten. Denn er fühlte sich nun doppelt einsam. Der Himmel war sternenhell, die Luft durch einen kleinen, rasch vorüberrauschenden Regen erfrischt, die Straßen, wo jetzt die Laternen brannten, durch ein Gewimmel von Spaziergängern belebt.

Als Harry auf den Theaterplatz kam, las er an einem Kiosk den Titel des heutigen Stückes. Es war ein beliebtes neues Drama, das besonders durch das treffliche Spiel eines bekannten Schauspielers großen Zulauf hatte. Die Inhaltsangabe, die Harry in einer Zeitung gelesen, hatte ihn nicht sonderlich angezogen. Aber in der Unentschiedenheit, was er mit dem Rest dieses denkwürdigen Tages anfangen sollte, trat er ins Haus und fand noch einen guten Vorderplatz im Parket, der zufällig unverkauft geblieben war.

Er kam in die Mitte der Vorstellung, da er aber die Fabel kannte, fand er sich bald zurecht. Seine alte Theaterleidenschaft ergriff ihn wieder, so lebhaft, daß, als er im nächsten Zwischenakt sich einen Augenblick auf sich selbst besann, Alles, was er heut erlebt hatte, nur wie ein ferner Traum in seiner Erinnerung auftauchte.

Besonders fesselte ihn das Spiel der beiden Hauptpersonen, obwohl er mit der Auffassung der männlichen Rolle nicht ganz einverstanden war. Aber schon die äußere Erscheinung des Schauspielers, die etwas umflorte Stimme und der fieberhaft glänzende Blick seiner Augen interessierten ihn mehr und mehr, wogegen seine Partnerin nur durch eine natürliche weibliche Anmuth anzog. Schade um den N. N.! sagte sein Nachbar im Parket. Er wird's nicht mehr lange treiben, wenn er fortfährt, die Kerze an beiden Enden anzuzünden. Jeden Abend auf den Brettern und dann Nachts Frauendienst, da sich alle um ihn reißen.

Das wurde im letzten Zwischenakt gesprochen, und nur zu bald sollte die Vorhersagung eintreffen. Als die Zuschauer ihre Ungeduld über die ungebührlich lange Pause endlich lärmend kund gaben, trat der Regisseur vor den Vorhang mit der Nachricht, die Vorstellung könne nicht zu Ende geführt werden, da Herr N. N. leider einen Blutsturz gehabt habe und bewußtlos zusammengebrochen sei.

Das Ereigniß wirkte niederschlagend auf das Publikum, das sich eben noch so ungestüm geberdet hatte. Lautlos strömte die Menge den Ausgängen zu. Der Letzte, der noch in dem rasch verdunkelten öden Raum zurückblieb, war Harry.

Erst als die Theaterdiener kamen, die Sitze aufklappten und die Seitenlampen auslöschten, fuhr er aus seiner Versunkenheit auf. Wie wenn sein eigenes Schicksal durch dies Erlebniß entschieden worden und der Weg ihm gewiesen wäre, der ihn zum inneren Frieden führen sollte, so klar und fest blickte er aus den Augen, als er einen der Diener fragte, ob der Herr Director wohl noch zu sprechen wäre und wo er ihn finden könne.

Fünf Minuten später trat er, vom Portier geführt, in das Directionszimmer. Es war noch leer, der Director auf der Bühne beschäftigt, nachdem der mitten auf der Scene Erkrankte unter ärztlichem Beistand in die Klinik gebracht worden war. Als er endlich mit bekümmertem Gesicht in sein Zimmer zurückkehrte, war er erstaunt, einem Unbekannten gegenüberzustehen

Er wußte erst nicht, was er aus ihm machen sollte, die alte Joppe und verschossene Mütze waren verdächtig, und was sollte der Besuch in so später Stunde? Harry aber kam ihm zuvor.

Entschuldigen Sie, Herr Director, sagte er, sich höflich verbeugend, ich bedaure, in einer so traurigen Stunde vor Sie hintreten zu müssen. Ich nehme aufrichtigen Antheil an diesem Unglück, das Sie und die ganze Theaterwelt betroffen hat; denn obwohl ich diesen Künstler heut zum erstenmal spielen gesehen, habe ich doch den Eindruck eines ungewöhnlichen Talents empfangen. Wir wollen hoffen –

Ich bin Ihnen für Ihre Theilnahme dankbar, unterbrach ihn der Director. Aber dieser Zwischenfall überhäuft mich mit unerwarteter Arbeit; ich muß daher bitten – mit wem habe ich überhaupt –

Mein Name thut nichts zur Sache. Ich habe mich Ihnen aber vorstellen wollen, in der Meinung, Ihnen vielleicht aus dieser plötzlichen Verlegenheit heraushelfen zu können. Falls Sie nicht sogleich einen Ersatz für den Erkrankten haben sollten –

Der unruhige kleine Herr, der vor seiner Directionsstellung ein beliebter Komiker gewesen war, warf jetzt einen prüfenden Blick auf das Gesicht und die Gestalt des Fremden. Beides schien ihm einen vortheilhaften Eindruck zu machen.

Sie sind Schauspieler, mein Herr?

Bis jetzt nur, was man einen geschätzten Dilettanten zu nennen pflegt. Aber ohne Ruhm zu melden kann ich sagen, daß man mir einstimmig Talent zugesprochen hat. Ich hatte überdies schon seit meiner Studienzeit eine heftige Passion fürs Komödiespielen –

Ein verdorbener Student! dachte der Director.

– und da ich bis jetzt keinen anderen Beruf gefunden habe, möchte ich's einmal ernstlich mit dem Theater versuchen.

Ich sehe, verehrter Herr, fuhr er rasch fort, die Sache kommt Ihnen sehr riskiert vor. Ich kann es Ihnen nicht verdenken, wäre Ihnen aber dankbar, wenn Sie's wenigstens auf eine Probe ankommen ließen. Genüge ich Ihrem Kennerurtheil nicht, so muß ich nur um Ihre Verzeihung bitten, daß ich Ihnen Zeit geraubt habe.

Die einfache Art, wie er sich ausdrückte, nahm den Director für ihn ein.

Lieber Herr, sagte er, ich muß vor Allem noch einem Mißverständniß vorbeugen. Wenn Sie höhere Gagenansprüche machen sollten –

Was das betrifft, kann ich Sie beruhigen. Daß ein Anfänger froh sein kann, wenn man ihn überhaupt mitthun läßt, versteht sich von selbst. Aber selbst, wenn Sie mit der Zeit finden sollten, daß ein Seydelmann oder Devrient in mir stecke, würde ich mir's zur Ehre rechnen, in Ihrem Personal ohne anderen Lohn als Ihren Beifall mitzuwirken. Ich bin so gestellt, daß meine Kunst nicht nach Brod zu gehen braucht.

Die etwas gespannte, zurückhaltende Miene des kleinen Mannes wich einer heiteren Überraschung.

Nun, sagte er, es stünde ja nichts im Wege, eine Probe zu machen. Was hätten Sie auf Ihrem Repertoire, das Ihnen noch gegenwärtig wäre?

Wenn Sie mir erlauben wollten, etwa den Monolog Hamlets zu recitieren, oder besser die beiden, die so verschieden in der Stimmung sind, der eine leidenschaftlich wüthend gegen sich selbst: O welch ein Schurk' und niedrer Sklav bin ich! – und der andere eine stille Betrachtung: Sein oder Nichtsein –

Vortrefflich! Fangen Sie nur an!

Der Director hatte sich in den Sessel vor seinem Schreibtisch geworfen und hörte, die Arme über der Brust gekreuzt, aufmerksam zu.

Als Harry mit beiden Monologen zu Ende gekommen war, stand der kleine Mann auf und ging mit ausgestreckten Händen auf ihn zu. Bravo, mein Herr! Sie sind ein glänzender Sprecher. Einzelne Ihrer Gesten haben mich hoffen lassen, daß Sie auch das Zeug zu einem guten Spieler haben, und die Routine wird das Übrige thun. Morgen können wir auf der Bühne einen Versuch machen, sie ist frei; Clavigo war angesetzt, aber da mein Carlos mir so plötzlich ausgesprungen ist –

Verehrter Herr, sagte Harry mit einiger Befangenheit, es trifft sich sonderbar, vielleicht aber brauchte das Stück nicht abgesetzt zu werden. Ich habe auf einer Liebhaberbühne den Carlos zweimal hintereinander gemimt und vielen Beifall damit geerntet. Auch sitzt mir die Rolle noch fest bis auf jedes Stichwort. Wenn es nicht zu kühn ist, als blutiger Anfänger gleich in einem klassischen Stück bei Ihnen aufzutreten –

Probieren geht über Studieren! rief der Director, und in alle dem erblicke ich, wie man zu sagen pflegt, eine höhere Hand. Wenn Sie morgen auf der Probe sehen sollten, daß Sie sich doch für den Anfang zu viel zugetraut hätten, ist immer noch Zeit, etwas Anderes einzuschieben. Aber Sie gefallen mir, lieber Herr, ich habe das beste Fiduz zu Ihrem Können. Wenn ich noch um Ihren Namen bitten dürfte –

Harry überreichte ihm seine Visitenkarte.

Doctor Harry Norbert! las der Verblüffte. Alle Wetter! Was haben Sie denn studiert, wenn ich fragen darf?

Verschiedene Wissenschaften, vor Allem das Leben und mich selbst. Haben Sie keine Sorge, verehrter Herr, ich werde Ihnen mit dummer Gelehrsamkeit nicht beschwerlich fallen, sondern meinen Ehrgeiz darein setzen, ein guter Komödiant zu werden. Natürlich stehe ich auf dem Zettel ohne mein Dr., als simpler – sagen wir Heinrich Bert. Ich bin fremd hier in der Stadt. Aber anderswo leben noch etliche Norberts, die Lärm aufschlagen würden, wenn sie hörten, meines Vaters Sohn sei auf den Thespiskarren gesprungen, da sonst nichts Vernünftiges aus ihm hätte werden wollen.

Der Regisseur unterbrach das Gespräch mit der Nachricht, der Zustand ihres Collegen sei hoffnungslos. Er maß den Unbekannten mit argwöhnischen Augen. Der Director aber sagte ihm etwas ins Ohr, was ihn günstig stimmen mußte. Er bot Harry die Hand und freute sich, seine Bekanntschaft zu machen. Es wurde dann noch Einiges für die morgende Probe, auch in Bezug auf das Kostüm des 18ten Jahrhunderts, besprochen, dann verabschiedete sich Harry und ging, den Kopf voll wundersamer Gedanken, doch im Gefühl einer glückverheißenden Schicksalswendung in sein Hôtel zurück.

*

Am nächsten Tag, kurz vor der Tischzeit, trat er bei der Majorin ein. Seine Augen hatten einen strahlenden Ausdruck, sein Mund lächelte beständig. Er küßte der kleinen Frau die Hand und sagte: Ich habe ein Verbrechen begangen, aber ich rechne auf Ihre Verzeihung, theure Mama, da ich zugleich eine gute Nachricht zu bringen habe. Den Gruß, den mir Ihre Kinder gestern am Bahnhof an Sie aufgetragen, habe ich schändlicher Weise unterschlagen. Dagegen hab' ich eben dem Telegraphenboten ein Papier abgenommen, das Sie wahrscheinlich reich entschädigen wird.

Sie nahm es ihm freudig ab und öffnete es. Aus München! sagte sie. Felix hat Wort gehalten. »Tausend Grüße an die geliebteste Mutter und den theuren Freund. Deine glücklichen Kinder.«

Nun, sagte Harry, in wenigeren Worten kann unmöglich mehr Glück und Liebe ausgesprochen werden. Wenn Sie etwa antworten, grüßen Sie auch von mir. Übrigens hab' ich noch was für Sie, was Sie allerdings vielleicht weniger glücklich machen wird, hier, dieses Logenbillet für die heutige Schauspielvorstellung.

Sie nahm das Kärtchen etwas zögernd. Es wäre mir allerdings nicht eingefallen, heut ins Theater zu gehen. Ich bin auch noch von den letzten bewegten Tagen ein wenig angegriffen. Was wird denn gegeben?

O, nur ein altes Stück, Clavigo, und noch eine unbedeutende Zugabe, die Sie sich schenken können. Das erste Stück aber verspricht interessant zu werden. Ein gewisser Heinrich Bert spielt den Carlos, als Gast, eine neue Acquisition des Directors, dem gestern sein beliebter Charakterspieler plötzlich krank und dienstunfähig geworden ist. Der Neue hat eben die Probe zu vollster Zufriedenheit bestanden, er ist aber natürlich ein wenig schüchtern, dem ganz fremden Publikum gegenüber, und würde sich sicherer fühlen, wenn er unter den Zuschauern wenigstens Eine befreundete Seele wüßte, die ihm Claque machte.

Sie sah ihn groß an. Sie sprechen in Räthseln, lieber Freund. Dieser Herr, der heute debütiert, ist mir ja völlig unbekannt.

Er lachte herzlich, zog die Frau auf das Sopha neben sich und erzählte ihr ausführlich, wie sich das alles zugetragen hatte. Und wissen Sie, liebe Mama, wem ich die Courage verdanke, mir nun plötzlich einen Beruf zu suchen, der mich von meinem unseligen Ich, das eigentlich keines ist, erlöst? Ihrer lieben Tochter. Wenn die mir nicht auf den Kopf zugesagt hätte, daß ein Schauspieler an mir verloren sei, hätte ich vielleicht niemals Ernst mit meinem Talent gemacht. Und nun müssen Sie mir erlauben, daß ich mich jetzt auf einen Teller Suppe und die beaux-restes vom Hochzeitsessen bei Ihnen einlade, und in dem edlen Chambertin, von dem wohl noch eine Flasche übrig ist, wollen wir auf die Gesundheit Ihrer »glücklichen Kinder« trinken.

*

Am späten Abend dieses Tages beendete die Mutter den Brief an ihr junges Paar, den sie schon vorher begonnen hatte.

 

»Woher ich komme, liebste Kinder,« schrieb sie, »jetzt, um halb zehn Uhr, werdet ihr nicht ahnen – aus dem Theater, wo Clavigo gespielt wurde! Ich hatte wahrhaftig keine Lust, hinzugehen. Was war mir vierundzwanzig Stunden, nachdem ich mich von meiner Tochter getrennt hatte, Marie Beaumarchais! Und selbst, als unser Freund kam und mir ein Billet brachte, hätte ich's ihm am liebsten zurückgegeben. Aber denkt, da sagte er mir. ich müsse durchaus kommen und seinem Debut beiwohnen, er spiele den Carlos! Wie das alles so über Nacht gekommen, da er selbst gestern sich's noch nicht hatte träumen lassen, das ist eine lange Geschichte, die zu erzählen ich heut keine Zeit habe, da der Brief noch zum Nachtzug in den Kasten soll. Er behauptet, wenn er sein Talent entdeckt habe, seist du Schuld daran, Cecil. Genug, ich bin hingegangen, todmüde und mit Herzklopfen, denn ich wußte nicht, wie es ausgehen würde. Aber das erste Wort, das von Carlos' Lippen kam, verscheuchte mir die Müdigkeit und die Angst. Vorm Jahr hatt' ich das Stück gesehn und keinen guten Nachgeschmack davon behalten. Der sonst so gescheidte Kirchner, der Ärmste, der plötzlich krank geworden ist, so daß Harry für ihn einspringen konnte, spielte den Carlos wie einen anderen Secretär Wurm, oder einen bösartigen Mephisto. Und nun unser Freund, der vornehme, kühle Weltmann, der nur Eine warme Stelle in seinem Herzen hat, wo das Bild seines Freundes sich befindet. Es war prachtvoll, und das Publikum fühlte sofort, daß hier kein ordinärer Komödiant auftrat, sondern ein tiefgebildeter Mensch, der noch dazu alle Mittel besaß, eine Figur, die ein Dichter geschaffen, bis in die Fingerspitzen lebendig zu machen.

Wie gern hätt' ich ihn nach der Vorstellung gesprochen und mein volles Herz ihm ausgeschüttet. Aber selbst nach dem rasenden Applaus, der seiner zweiten großen Scene – ihr wißt, nach dem ›dummen Streich‹ – folgte, erschien er nicht vor dem Vorhang, und der Theaterdiener, den ich bat, mich zu ihm zu führen, sagte, Herr Bert – das ist sein Theatername – habe das Haus schon verlassen.

Freut euch mit mir, geliebte Kinder, daß es unserm Freunde so nach Wunsch gegangen. Nun werden wir ihn ja auch behalten. Gute Nacht, ihr Geliebten!«

*

Am anderen Morgen schrieb sie an Harry ein herzliches Billet voll Dank für den gestrigen Genuß und bat ihn, zu Tisch zu kommen. Statt des Boten, der die Antwort bringen sollte, erschien er selbst.

Liebe Mama, sagte er, Sie glauben nicht, wie Ihre guten Worte mir wohlgethan haben, viel mehr als aller Applaus. Mir war, als ich Sie in Ihrer Loge sah, als säßen zwei theure Menschen an Ihrer Seite, und ich gab mir nur Mühe, es diesen Dreien recht zu machen. Denn leider – oder vielmehr Gottlob! – habe ich eine sehr geringe Meinung von dem natürlichen Instinct und der ästhetischen Bildung des Theaterpublikums, das heute einen ehrlichen Künstler und morgen einen verlogenen Coulissenreißer beklatscht. Wenn ich den Ehrgeiz hätte, diesem zu gefallen, wäre mir um mein bischen Talent bange. Gestern nun – es ging ja über Erwarten gut für so ein aus der Pistole geschossenes Début. Aber ich bin doch nicht ganz mit mir zufrieden gewesen. Ich hatte noch nicht die rechte Fühlung mit den Mitspielern. Das soll noch erst kommen.

Er ging unruhig im Zimmer hin und her, setzte sich dann plötzlich zu der alten Freundin und sagte: Ist es denn wahr, daß kaum zweimal vierundzwanzig Stunden vergangen sind, seit dort aus der Thür eine geschmückte Braut hereintrat, so unglaublich schön, daß die Blumen in dem Strauß, den ich ihr überreichte, sich wie gemeines Unkraut dagegen ausnahmen? Und daß in der kurzen Spanne Zeit zwei große Begebenheiten eintraten, ein Mädchen eine Frau wurde und ein Mann, der bisher ein sehr überflüssiges Dasein geführt hatte, sich in ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft verwandelte?

O meine verehrte Gönnerin, rief er und sprang wieder auf, wenn Sie wüßten, wie mir heute früh zu Muth war, nachdem ich neun Stunden den Schlaf des Gerechten geschlafen hatte! Endlich ein Beruf, der mich von mir erlöst, da ich jeden Abend, so lang ich auf den Brettern stehe, weiß, wer ich bin, was ich von mir zu halten habe, da ich den Dichter dafür sorgen lassen kann, daß ich eine richtige Persönlichkeit besitze. Manchmal freilich, wenn er sein Handwerk schlecht versteht, läßt er mich in Stich und belädt mich mit Widersprüchen. Dann mag ich sehn, wie ich sie so leidlich unter Einen Hut bringe. Aber es ist doch immer Arbeit, und das bittere far niente hat aufgehört.

Wie meine Kinder sich freuen werden! sagte die Frau. Ich habe es ihnen gestern schon geschrieben.

Hoffentlich von mir gegrüßt. Ich selbst – fürs Erste werde ich sie mit meinen Episteln verschonen. Sie sind ja sich selbst genug, und höchstens darf die Mama die Dritte im Bunde sein. Übrigens hab' ich jetzt auch zu viel zu thun, ich muß ja neue Rollen lernen, mein Repertoire vom Liebhabertheater ist längst veraltet. Zu meinem nächsten Auftreten habe ich nur vier Tage Zeit, zum Glück aber ist das Gedächtniß mein bestes Requisit für meinen Beruf.

Er nahm seinen Hut. Ich kann heute leider meine langen Beine nicht unter Ihren Tisch strecken. Mein Director, der mich gestern durch Lob nicht verwöhnen wollte, doch hinter meinem Rücken, wie Marie Beaumarchais mir verrieth, große Hoffnungen auf mich setzt, heute Mittag soll ich bei ihm speisen, unter sechs Augen mit dem Regisseur, da er allerlei mit mir zu besprechen habe. Aber ein andermal, theure Freundin, klopf' ich um Mittag bei Ihnen an, Sie werden mich nicht wieder los, und ich wünsche dann von Ihnen gelobt zu werden, falls Sie's mit gutem Gewissen thun können.

Er ging, bevor er das Haus verließ, in die Küche und beschenkte die beiden Mädchen. Ich bin noch von der Hochzeit in eurer Schuld, sagte er. Dann entzog er sich eilig ihrem Dank und ging in ein Café, die Zeitungen anzusehen, die einstimmig sein Auftreten als eine Art Ereigniß besprachen.

Ihr werdet wohl bald aus einem andern Tone singen, sagte er achselzuckend, wenn ich um eure Gunst nicht werbe. Darauf aber könnt ihr lange warten.

Heimlich that ihm die Anerkennung doch wohl, wie jedem Neuling.

*

Doch das Unerwartete, Unwahrscheinliche geschah: die Gunst der Zeitungskritik blieb ihm treu, obwohl er sorgfältig jede Berührung mit ihren Führern vermied.

Auch das Publikum hatte er bald so völlig für sich gewonnen, daß sein Vorgänger, der nach dem Süden gereist war, um dort Genesung zu suchen, nach kurzer Zeit vergessen war und Niemand seine Rückkehr wünschte.

Dabei wich er allen Versuchen, ihn in die Gesellschaft der Stadt zu ziehen, beharrlich aus. Einem hochadligen alten Theaterenthusiasten, der in seine Garderobe eindrang und ihn bestürmte, sich zu seiner Familie führen zu lassen, da seine Frau und Tochter für ihn schwärmten, erklärte er höflich, er müsse früh schlafen gehn, wenn er am andern Morgen auf der Probe munter sein wolle. Zärtliche Briefe schöner Damen warf er unbeantwortet in den Ofen.

Auch gegen seine Colleginnen, die sich wetteifernd um ihn bemühten, zeigte er sich gleichmäßig kühl und spröde, hatte aber für Alle kleine Aufmerksamkeiten, und wenn ein Geburts- oder Namenstag gefeiert wurde, ließ er es an einem reichen und zierlichen Geschenk nicht fehlen. Man hielt ihn für einen verkappten Krösus, da er keine Gage beanspruchte. Überdies aber fand man ihn nicht nur interessant, sondern die erste Liebhaberin erklärte, ohne Lachen zu erregen, er sei der schönste Mann, der ihr auf den Brettern je begegnet sei, und erinnere an die Büste eines römischen Kaisers, die sie einmal in einem Trauerspiel gesehen habe.

Ihn schien das Alles wenig zu kümmern. Außer seiner Kunst nahm er an nichts Antheil, was die Interessen der Zeit und der Stadt, in der er sich aufhielt, berührte, und nur die alte Freundin bekam ihn häufig zu sehn. Er schickte ihr zu allen Vorstellungen ein Billet und lud sich oft bei ihr zu Tische ein, besonders am Tage nach einer neuen Rolle. Es freute ihn dann, sie so klug und verstehend über sein Spiel reden zu hören. Daneben ließ er sich auch gern erzählen, wie es dem jungen Paar in Rom erging, nur ihre Briefe zu lesen fühlte er keine Neigung. Felix schreibt lieber Noten als Briefe, sagte er, und was eine Tochter ihrer Mutter mitzutheilen hat, ist nur für deren Augen.

Felix hatte an ihn selbst geschrieben, ihm herzlich Glück gewünscht zu seinem großen Entschluß und von Cecil die schönsten Grüße bestellt und wie froh und stolz sie darüber sei, wenn wirklich ihr hingeworfenes Wort dazu beigetragen hätte, ihm die Augen über seinen Künstlerberuf zu öffnen. Er selbst, Felix, sei fleißig und hoffe die Symphonie und noch einiges Andere im Sommer fertig mitbringen zu können. Nur über die Frohne der geselligen Verpflichtungen, die ihn oft nicht zu Athem kommen lasse, klagte er. Es sei freilich kein Wunder, daß eine neue Erscheinung, wie Cecil, von allen Seiten umworben werde.

So gingen die Wochen und Monate für Harry ohne neue Erlebnisse hin, da seine Welt nur von den Coulissen begrenzt war, zwischen denen er seines Berufs der Menschendarstellung waltete. Eines Abends aber, als er durch das Guckloch im Vorhang die Gesichter des Parkets musterte, fiel ihm ein junges Persönchen auf, das in sehr eleganter Kleidung in der zweiten Reihe saß, neben einem jungen, etwas wohlbeleibten Herrn, der viel Ringe an seinen fetten Fingern und eine große Brillantnadel in der Kravatte trug. Bei näherem Hinschauen erkannte er in der Dame seine alte Reisegefährtin Aline, die ja nun wieder in festen Händen zu sein schien.

Auch bei der nächsten Aufführung saß das Pärchen auf denselben Plätzen, sie mit gespanntestem Interesse dem Spiel folgend, während er zuweilen die Augen halb zudrückte und dazwischen ein Gähnen nicht verbarg. In einer Scene, wo Harry beiseite zu stehen hatte, wechselte er einen flüchtigen Blick mit der so böslich Verlassenen.

Am andern Morgen erhielt er ein etwas unorthographisch geschriebenes Briefchen auf rosa Papier, mit einem sich schnäbelnden Taubenpaar als Vignette. Sie habe ihn zu ihrer freudigen Überraschung erkannt, als er den Marinelli gespielt habe. Seitdem versäume sie keine Vorstellung, bei der sein Name auf dem Zettel stehe, obwohl ihr Ludwig – denn sie sei wieder verlobt und hoffe, er werde sie nächstens heirathen – so Schauspiele nicht liebe und lieber mit ihr in ein Ballet oder ein Variété (Varjeteh geschrieben) gehen würde. Es sei aber ihr größtes Vergnügen, ihm Beifall zu klatschen, denn sie habe ihm ja nicht danken können für seine große Güte, die sie doch gar nicht verdient hätte. Und sie wünsche ihm, daß er sich immer glücklich fühlen möchte, und sie wäre stolz darauf, daß er einmal so freundlich mit ihr gewesen wäre, und bleibe für ewig seine ihn verehrende dankbare Aline.

Er war sehr gerührt durch das naive Gestammel, antwortete mit ein paar freundlichen Zeilen und schickte ihr einen prachtvollen Rosenstrauß.

*

Weihnachten war herangekommen.

Es verstand sich von selbst, daß Harry den Heiligabend bei Cecil's Mutter zubringen mußte.

Sie hatte ihm allerlei sinnige Geschenke zugedacht, um seine Wohnung – denn das Hôtel hatte er längst verlassen – behaglicher einzurichten. Er aber fand sich am Abend ein, begleitet von einem Dienstmann, der eine reizende Wiege aus Rosenholz trug, vollständig mit spitzenbesetzten kleinen Kissen und Deckchen ausgestattet. Ein Veilchenstrauß lag in der Mitte.

Theure Mama, sagte Harry, nachdem der Träger seine Last abgesetzt hatte und gegangen war, ich habe mir den Kopf zerbrochen, womit ich Ihnen eine kleine christkindliche Freude machen könnte. Aber Sie haben ja keine Wünsche, nur den einen Ehrgeiz, Großmama zu werden. Da Sie mir nun anvertraut haben, daß Sie diesen schönen Beruf im Frühjahr anzutreten hoffen, möchte ich als künftiger Onkel mich daran betheiligen und schon jetzt dafür sorgen, daß der bambino oder die bambina bei der Ankunft ein weiches Bettchen vorfinde. Ich habe dies hübsche Nest für den kleinen Vogel in einem hiesigen Geschäft gefunden. Es war für eine Prinzessin bestimmt, die sich anders besonnen hat. Ein vornehmeres Baby, als das unsere, könnte schwerlich davon Besitz ergreifen.

Sie umarmte ihn tiefgerührt. Dann führte sie ihn zu dem Tisch, den die Lichter eines Tannenbäumchens überfunkelten, und ließ ihn Alles betrachten, was sie ihm bescherte. Er hatte eine liebenswürdige Art, sich mit jeder Kleinigkeit zu freuen. Mein bestes Weihnachtsgeschenk bleibt aber, sagte er, indem er der gütigen Frau wieder und wieder die Hand küßte, daß ich alter Mensch mich noch einmal als Sohn einer lieben Mutter fühle. Was haben dieser gütigen Mama denn aber ihre anderen Kinder beschert?

Sie zeigte ihm ein Tischchen, auf dem allerlei römische Zierlichkeiten, Goldschmuck, Geräthe in Erz und eine Mappe mit Photographieen lagen. Auch für Sie war noch etwas in der römischen Kiste. Da sehen Sie!

Sie zeigte ihm drei Photographieen, zwei, die Cecil darstellten, eine im Profil, als heilige Cäcilie kostümiert mit einem schmalen Heiligenschein, die andere in der Tracht einer jungen Römerin, mit dem schönen Arm, der aus dem weißen Hemdärmel herauskam, einen kupfernen Wasserkrug auf dem Kopf stützend, den anderen Arm ruhig vor das dunkle Mieder gelegt. Felix nahm sich im schwarzen Rock neben dieser malerischen Gewandung unscheinbar aus, nur das feine, geistvolle Gesicht mußte den Beschauer fesseln.

So hätten die Kinder ausgesehen, erzählte die Frau, da sie bei einem Fest im Künstlerverein mitgewirkt, Cecil in zwei lebenden Bildern, die unendlichen Beifall gefunden, Felix am Klavier, die Pausen zwischen den Bildern mit Improvisationen ausfüllend. Sie hätten die herzlichsten Grüße für den Freund der Mama aufgetragen.

Harry blieb stumm. Er beschaute die drei Bilder unverwandt, kaum daß er, als die Mutter ihn fragte, ob er sie nicht vortrefflich fände, hervorbrachte: Sie sind wundervoll! Erst als das Mädchen zu Tische rief, entschloß er sich mit sichtbarem Widerstreben, das Bild Cecil's, das sie als Ciociare zeigte, auf das Tischchen zurückzulegen.

Auch während des Abendessens blieb er einsilbig und zerstreut, entschuldigte sein wunderliches Betragen mit Kopfweh und brach plötzlich auf. Er habe versprochen, noch zu der Weihnachtsfeier seiner Collegen in einem kleinen Restaurant zu kommen, werde sich dort aber nur zeigen, um seinen dummen Kopf dann rasch zu Bett zu bringen.

So nahm er Abschied, noch einmal von Dank überströmend, steckte die drei Bilder ein und verließ die alte Freundin, die sich sein plötzlich verwandeltes Wesen nicht zu deuten wußte.

*

Es fiel ihm nicht ein, zu den Schauspielern zu gehen. Er eilte, in sein stilles Zimmer zu kommen, zündete hastig die Lampe an und setzte sich, ohne erst den Mantel abzulegen, an den Tisch, auf dem er die Photographieen aufgestellt hatte.

Nur die beiden der jungen Frau. Felix' Porträt lag unbeachtet daneben. Er nahm ein Vergrößerungsglas aus dem Tischkasten und studierte die beiden Gesichter eine lange Zeit eins nach dem andern. Zuletzt wurde ihm, da das Feuer im Ofen fortbrannte, schwül in dem dicken Rock. Er warf alle lästigen Hüllen ab und setzte sich dann wieder vor die zwei Bilder, als könnte er mit ihrem Studium nicht zu Ende kommen.

War das denn noch dasselbe Wesen, das er vor der Romfahrt gekannt? In der heiligen Cäcilie fand er noch etwas von dem jungfräulichen Reiz, der ihm in der Erinnerung schwebte; das feine Profil, die andächtig gesenkten Augen unter den breiten Lidern – das war noch die Braut seines Freundes. Aber die Andere, mit dem in süßem Feuer leuchtenden Blick, der herrlich gereiften Gestalt und dem Lächeln an dem halbgeöffneten Munde – das war eine Andere, ein seiner Macht bewußtes Weib, das Jeden, der in seinen Zauberkreis trat, unwiderstehlich zu seinen Füßen ziehen mußte.

Vom ersten Tage an hatte er gefühlt, daß es einmal so kommen würde. Schon damals mußte er sich vorhalten, daß sie einem Andern gehörte, Einem, der ihrer würdiger war, als er, und den sie liebte, um alle thörichten Wünsche in seine Brust zurückzudrängen. Es war ihm leidlich gelungen. Dann hatte er mit Begierde als eine mächtige Hülfe gegen alle hoffnungslosen Erinnerungen sich seinem künstlerischen Beruf ergeben. Bedenklich war allerdings, daß alle weiblichen Verführungskünste an ihm abglitten, sogar seine Sinne schliefen, die sonst leicht zu wecken waren. Nun war auf Einen Schlag das ganze Gerüst seiner Standhaftigkeit zertrümmert worden. Das Bild vor ihm belebte sich, je länger er es anstarrte. Die Augen schienen in feuchtem Glanz schwimmend ihn anzulächeln, die Lippen zärtliche Worte zu flüstern und der schöne Busen unter dem weißen Hemd sich unter verstohlenen Seufzern zu heben und zu senken.

Ein wüthender Schmerz durchzuckte ihn, er brach in Thränen aus und warf sich schluchzend auf sein Bette.

Als er nach einer Stunde sich wieder erhob, fühlte er sich so ermattet, als ob er von einer schweren Krankheit auferstanden wäre. Mühsam wankte er nach dem Tisch und griff mit geschlossenen Augen nach den Bildern, legte sie mit zitternder Hand in ein Fach seines Schreibtisches und verschloß dasselbe sorgfältig. Dann warf er den Mantel über, setzte den Hut auf und schritt in die klare Winternacht hinaus, wo vom Thurm herab Weihnachtsglocken läuteten: Friede auf Erden und den Menschen, die guten Willens sind!

Wohl gehörte er zu denen, aber der Friede wurde ihm darum nicht beschert. Nur zuletzt, nachdem er sich durch einen besinnungslosen Lauf ermüdet hatte, konnte er nach Hause zurückkehren und an Schlaf denken. Er hatte in langem Grübeln und Denken sich Klarheit verschafft über das, was ihm zu thun bliebe: die Stadt zu verlassen, sich der Gefahr zu entziehen, diese Augen wiederzusehen, die ihm jede männliche Kraft, jedes tapfere Gefühl in der Brust zu Asche brennen und ihn unrettbar vernichten würden.

Eine glückliche Fügung schien ihm dabei zu Hülfe kommen zu wollen.

Als er am anderen Morgen nach einem unerquicklichen Schlaf beim Frühstück saß, froh, daß am Abend Oper war, er also nicht zu spielen hatte, meldete ihm die Frau, die in seinem Dienste war, den Besuch eines bekannten Theateragenten.

Er war gekommen, um dem neu aufgetauchten und schon berühmten Künstler ein Engagement für ein Sommertheater vorzuschlagen, wo eine angesehene Schauspielertruppe an verschiedenen Bühnen ihre Ferien sich zu Nutze machen wollte. Auf drei Monate war es abgesehen, vom Juni bis zum August. Ende Mai sollte Cecil's Kind zur Welt kommen. Wenn sie dann zurückkehrte, wäre er mit der schicklichsten Entschuldigung dem Wiedersehen entrückt, und daß sich für den Winter ein Theater finden würde, wo er fern von den Freunden sein Leben weiterschleppen könnte, war nicht zu bezweifeln.

So unterschrieb er den Contract, den der Agent ihm vorlegte, und fühlte eine große Erleichterung, als ob er sich gegen eine Lebensgefahr für alle Zukunft gesichert hätte.

*

Auch in seiner Kunst sollte er einen Quell des Trostes und der Stärke finden.

Sein geheimer Lieblingswunsch durfte in Erfüllung gehen, den Hamlet zu spielen.

In der Zeit, während er ihn studierte, schloß er sich völlig ab und ließ sich auch bei der Mutter nicht sehen. Den Freunden in Rom hatte er die neue schwere Rolle als Grund angegeben, daß er nur mit wenigen Zeilen für ihr wundervolles Geschenk danken könne. Nach der glücklichen Lösung der großen Aufgabe werde er ausführlicher von sich hören lassen.

Dazu konnte er sich aber nicht entschließen und überließ es der Mama, von dem ungewöhnlich glänzenden Erfolg zu berichten und die Zeitungen nach Rom zu senden, die voll einstimmigen Lobes waren.

Er selbst war wie gewöhnlich nicht ganz mit sich zufrieden. Als er aber am anderen Tage die alte Freundin besuchte, äußerte er doch mit seinem ironischen Lächeln: Am Ende verlohnt sich's doch, nur so ein Mannequin zu sein, dem man allerlei verschiedene Kostüme, Bettlerlumpen und Königsmäntel umhängt, wenn man genügsamen guten Menschen so viel Vergnügen damit macht.

Die gute Frau war sehr glücklich, ihn wieder in guter Laune zu sehn. Sie hatte sich Sorge um ihn gemacht seit jenem Heiligabend und dachte nun darauf, wie sie seine heitere Stimmung erhalten könnte. Aber das Mittel, auf das sie verfiel, war nicht glücklich gewählt.

Sie lud, da er sich einmal wieder zu Mittag angesagt hatte, jene anmuthige Brautjungfer Cecil's ein, nebst ihrer Mutter, mit der sie selbst befreundet war. Als Harry aber kam und im Entrée die Hüte und Mäntel der fremden Damen sah und von dem Mädchen hörte, daß er nicht ganz allein mit der Mama speisen sollte, erklärte er mit verhaltenem Unmuth, er sei nur gekommen, um abzusagen, da ein dringendes Geschäft es ihm unmöglich mache, zu Tische zu kommen. Dann entfernte er sich eilig, ohne die Damen selbst zu begrüßen.

Am andern Morgen kam er wieder und gestand der alten Freundin offen den wahren Grund seiner unhöflich raschen Flucht.

Sie meinen es sehr gut mit mir, liebe Mama, sagte er ernst. Sie wünschen, ich möchte auch ein häusliches Glück finden, wie unser Felix. Das ist aber ganz ausgeschlossen. Ich werde einsam bleiben. Warum ich es muß, ist ein Geheimniß zwischen mir und meinem Schöpfer, das ich nicht einmal Ihnen anvertrauen kann. Also geben Sie mich auf. Ich muß nun einmal so verbraucht werden, wie ich bin.

Er war dann gleich wieder heiter, fragte, ob »die Kinder« geschrieben hätten, und freute sich zu hören, daß die Symphonie vollendet sei und Felix sich nun ganz Rom und seinem Weibe widmen könne.

Rom und sein Weib! rief Harry. Zwei solche Glücksnummern auf einmal, und dieser Götterliebling hat aus dem Loostopf des Schicksals noch eine dritte gezogen, die die beiden andern erst vollendet: ein Talent, das ihm erlaubt, alles Herrliche nicht wie ein fauler Knecht zu genießen, sondern als seinen Tagelohn für redliche Arbeit. Herrgott! in Rom etwas zu schaffen, was einem unter all den Trümmern der alten Zeit und den Wunderwerken der neuen ein Zeugniß giebt, daß man doch auch ein Recht habe, in bescheidenen Maßen freilich, sich als Mitbewerber um den Dank der Welt zu fühlen! Wie ich in Rom war, kam ich mir auf die Länge so dürftig vor, wie ein Bettler, der am Küchenfenster eines Königs den Duft von Speisen riecht, die Andere verzehren. Nein, das ist ein falsches Gleichniß! Ich aß mich ja übersatt, aber es war wie gestohlen, da ich nichts hatte, mein Couvert zu bezahlen. Das kann man nicht mit schönem Dank, da heißt es payer de sa personne. Felix – aber es ist lächerlich, sich überhaupt mit ihm zu vergleichen.

Sie werden jetzt anders davon denken, da Sie nun auch zu denen gehören, die auf den Dank der Welt rechnen können, versetzte die Mutter. Wenn Sie heut Abend den Jago spielen, wird Ihnen das zum Bewußtsein kommen.

Er zuckte die Achseln. Ich bin leider so wenig eitel und so ungeheuer anspruchsvoll, daß mir Alles nicht genügt, wenn Eines fehlt. Das aber kann die klügste Frau nicht verstehen. Und so lassen Sie mich das Unvermeidliche wenigstens mit Würde tragen.

*

Sie kamen nicht wieder auf dies Gespräch zurück. Harry vermied es geflissentlich, Rom zu erwähnen. Auch auf das, was die Mutter aus den Briefen erzählte, ging er nicht weiter ein, sondern ließ sich rasch in ein Geplauder ein über die Auffassung seiner Rollen, da ihn das naive Urtheil der Frau interessierte. Die beiden Glücklichen in der Ferne suchte er wie zwei Menschen zu betrachten, die für ihn gestorben seien, oder auf eine ferne Insel verschlagen, von der sie nie zurückkommen könnten. Er war ja entschlossen, ihre leibhaftigen Gesichter nie wiederzusehen. Die photographischen hatte er seit jenem Abend aus ihrem Verschluß nicht hervorgeholt.

Er brauchte freilich kein Abbild. Das Urbild dieser Frau stand vor ihm, sobald er die Augen schloß.

So verging der Winter.

Am letzten Tage des Mai trat er zu einer ungewohnten Stunde bei der Majorin ein.

Sie kam ihm freudestrahlend entgegen.

Gratulieren Sie mir, lieber Freund! Ich habe soeben ein Telegramm aus Rom erhalten, eine kleine Römerin ist eingetroffen, ein Prachtkind, Cecil hat ihre schwere Stunde leicht überstanden. Nun ist ja all mein Hoffen und Wünschen erfüllt. Aber Sie freuen sich gar nicht!

Liebe Mama, sagte er, Freude macht mich immer still, vollends eine so große wie diese. Nur mischt sich leider für mich in eine jede ein bitterer Tropfen. So auch heute. Ich bin gekommen, um Abschied von Ihnen zu nehmen.

Sie wollen verreisen? Aber die Theaterferien haben ja noch nicht angefangen?

Ein Volontär, wie ich, der keinen richtigen Contract hat und keine Gage bekommt, kann sich zu jeder Zeit Ferien machen. Ich will aber gar nicht müßig gehn, sondern zu arbeiten fortfahren, an einem andern Ort. Ein Anfänger darf nicht einen Sommer lang auf der Bärenhaut liegen, wenn er nicht wie eine gewisse Springprozession zwei Schritte vor und einen zurück machen soll.

Und nun erzählte er ihr von seinem Engagement für ein Sommertheater.

Ihr erster Gedanke war: Dann finden die Kinder Sie ja nicht vor, wenn sie vom Süden zurückkommen. Sobald Cecil reisefähig sein wird, hoffentlich Mitte Juli, soll ich sie wiederhaben. Nun, die Monate bis zur Winterspielzeit werden ja auch vergehen. Dann kommen Sie uns doch sicher zurück. Sie wissen: weder das Theater, noch die Freunde können Sie entbehren.

Er verneigte sich und küßte ihre Hand. Ich weiß, was ich meinen Pflichten als Onkel schuldig bin. Leben Sie wohl, theure Großmama. Auf Wiedersehen!

Er ging schweren Herzens. War er doch fest entschlossen, dies Zimmer nicht wieder zu betreten. Noch denselben Nachmittag reiste er, nachdem er seinem Director nur ein unbestimmtes Versprechen, das ihn zu nichts verpflichtete, gegeben hatte, »womöglich« im September sich wieder einzustellen, wenn der Sommer, wie er scherzte, »sein nicht allzu festes Fleisch nicht in einen Thau aufgelöst« hätte.

*

Von diesem Sommer ist nicht viel mehr zu berichten, als daß Harry ihn in einer gewissen Dumpfheit der Stimmung verbrachte, in der ihn die kleinen wechselnden Erlebnisse des Tages kaum berührten.

Die Truppe, der er sich angeschlossen hatte, spielte abwechselnd in drei benachbarten Städten, meist leichtere, dichterisch werthlose Stücke, wie sie für ein anspruchloses Sommerpublikum paßten. Aufgaben, die Harry interessiert hätten, wurden ihm nur selten zu Theil. Doch war er froh, wenigstens seine tägliche Arbeit zu haben, die ihm half, sich in seinem großen Verzicht auf ein wirkliches Glück zu bestärken. Nach und nach gelang es ihm immer besser, ein gewisses Gesicht nur wie durch einen Nebelschleier zu sehn. Seit seinem Glückwunschtelegramm hatte er kein Wort nach Rom gerichtet, einen Brief von Felix nicht beantwortet, der Mutter nur in kurzen Briefchen Nachricht von sich gegeben.

Als sie ihm dann schrieb, die Kinder hätten sich vor der Sommerhitze nach Albano geflüchtet, Cecil sei sehr erschöpft, da sie die Kleine selbst gestillt habe, und sie würden wohl erst im September die Heimreise antreten, athmete er auf. So konnte er doch noch einmal in die Stadt zurück, ohne den geliebten, gefürchteten Augen wieder zu begegnen, seinen kleinen Haushalt auflösen und sich mit dem Director endgültig auseinandersetzen.

Es hatte ihm ohnehin Kummer gemacht, dem Manne, der ihm so viel Freundliches erwiesen, mit einem Abschied aus der Ferne davonzulaufen.

So traf er am letzten Tage des August in seiner Wohnung wieder ein, die ihm seine alte Dienerin inzwischen behütet hatte.

Ihre Betrübniß, einen so guten Herrn zu verlieren, beschwichtigte er durch ein reiches Geschenk und indem er ihr seine Möbel überließ. Nicht so leicht wurde es ihm, den Director zu überzeugen, daß er es sich schuldig sei, auf einer Großstadtbühne seine Künstlerlaufbahn fortzusetzen. Der Agent hatte ihm gleich an zwei Theatern in Wien und Berlin ein Engagement in Aussicht gestellt.

Bleiben Sie nur noch diesen Winter, bat ihn der kleine Mann inständig. Sie bringen mich in die größte Verlegenheit, wenn Sie mir untreu werden, und auch für Ihre eigene Weiterbildung wär' es vortheilhaft, wenn Sie nicht gleich in das große Getriebe kämen, wo Sie fünfzig Mal dieselbe Rolle spielen müßten. Bei mir sollen Sie alle erwünschte Freiheit haben, und überdies bereite ich sehr bedeutende Novitäten für die nächste Spielzeit vor. Überlegen Sie sich's, werther Freund. Ich mache Ihnen ein Contractchen, das Ihre kühnsten Ansprüche befriedigen soll, und von jetzt an müssen Sie auch Gage annehmen. Wenn Sie für Ihre eigene Person das Geld entbehren können, – es giebt arme Teufel genug, auch unter Ihren Collegen, bei denen Sie sich einen Gotteslohn verdienen können, wenn Sie ihnen von Ihrem Überfluß mittheilen.

Harry hatte nicht das Herz, dem wackeren Manne zu erklären, daß alle Liebesmüh' umsonst sei. Senden Sie mir den Teufelspact, mit dem Sie mir meine arme Seele abkaufen wollen, in meine Wohnung, sagte er. Ich will ihn studieren und die Sache jedenfalls beschlafen.

So nahm er Abschied. Daß er am andern Tage reisen und den Contract mit einer entschuldigenden Zeile zurückschicken würde, stand ihm fest.

Dann ging er zu seiner alten Freundin, der Majorin.

Er konnte es ihr nicht anthun, die Stadt wieder betreten zu haben, ohne sie aufzusuchen, so schwer ihn der Gang zu ihr bedrückte. Mußte er doch ein künstliches Lügengewebe vor ihr ausbreiten, um den wahren Grund seiner Flucht ihr zu verschleiern.

Er traf sie in großer Aufregung, beschäftigt, ihren Mädchen allerlei Aufträge zu geben, die sie mit Hülfe des Gärtners ausführen sollten.

Sie sind es? rief sie ihm entgegen, ohne ihm eine Hand zu bieten, da sie mit verschiedenem kleinerem Geräth beladen war. Sie kommen in ein gräuliches Wirrsal, das sich bis zum Abend lichten soll. Denken Sie nur, heute früh telegraphiert mir Felix, sie seien unterwegs, mit dem Abendzuge würden sie eintreffen. Ich war schon halb und halb darauf gefaßt, daß sie die Heimreise beschleunigen würden. Das Klima scheint der kleinen Römerin nicht bekommen zu sein, nachdem sie entwöhnt worden war. Ich selbst rieth ihnen, sich nach Norden zu flüchten. Aber auf einen so raschen Entschluß war ich doch nicht gefaßt. Nun müssen sie vorlieb nehmen, wenn sie ihr Nest nicht gleich in vollster Ordnung finden. Natürlich behalt' ich sie bei mir im Hause; an Platz fehlt mir's ja nicht. Aber daß nun auch Sie hier sein müssen, die liebe kleine Gesellschaft zu empfangen! Wie werden sie sich freuen, da sie es gar nicht erwartet hatten!

Während sie das Alles heraussprudelte, hatte er Zeit, sich zu fassen.

Er brauchte seine ganze Willenskraft und die schauspielerische Herrschaft über seine Gesichtszüge, um der ahnungslosen Frau den furchtbaren Schreck zu verbergen, mit dem ihre Freudenbotschaft ihn getroffen hatte.

Mit einem Schlage war das künstliche Gebäude seiner Entschlüsse und die Hoffnung, sie durchzuführen, zusammengesunken. Sie würden kommen und er mußte sie wiedersehen. Ein Entrinnen war nicht möglich.

Zum Glück war die Mutter so beschäftigt mit ihren mütterlichen und großmütterlichen Pflichten, daß seine seltsame Haltung ihr nicht auffiel.

Das ist ja eine wunderbare Fügung, brachte er scheinbar voller Freude hervor. Heute Abend? Wie gut, daß ich nicht einen Tag früher gekommen bin und dann ahnungslos, was ich versäumte, abgereist wäre. Denn länger als morgen früh kann ich nicht bleiben.

Das machen Sie mir nicht weis, lieber Freund, erwiederte die Frau, immer halb bei ihrem Geschäft.

Die Kinder kommen, und Sie wollten mit einem Händedruck gleich wieder auf und davon? Nun, dafür lasse ich Cecil sorgen und die bambina. Wissen Sie auch, daß sie Harriett getauft ist? Die Einladung, Pathenstelle zu übernehmen, sollte ich Ihnen zukommen lassen, aber Ihre Adresse war damals unsicher. Nun müssen Sie's eben leiden, daß Ihr Name ungefragt ins Kirchenbuch eingetragen ist. Ihre Einwilligung versteht sich ja von selbst.

Natürlich. Ich bin ja der Nächste dazu, raunte er. Aber nun, verehrte Freundin, will ich Sie nicht länger stören. Abends am Bahnhof treffen wir uns wieder.

Sie entschuldigte sich, daß sie ihn nicht zu Mittag dabehalten könne. Er sehe ja, wie es heut bei ihr zugehe.

So verließ er sie.

*

Wie an allen Gliedern gelähmt kam er auf die Straße. Unten mußte er eine Weile stehen bleiben, bis er sich ermannen konnte, den Weg nach seiner Wohnung einzuschlagen.

Als er in sein Zimmer gekommen war, sank er auf den Divan und lag mit geschlossenen Augen in einer wirren Gedankenflucht. Ein Couvert mit der Handschrift des Directors lag auf dem Tische. Er hatte es uneröffnet gelassen, er wußte, es enthielt den Contract, den zu unterschreiben ihm jetzt unmöglicher war als je.

Seine Dienerin störte ihn aus seinem unseligen Traumzustand auf. Sie brachte die Kiste, die er bestellt hatte, um seine Siebensachen einzupacken. Daran ging er nun mit fieberhafter Hast. Auch die drei Photographieen holte er jetzt zum ersten Mal wieder aus ihrem Versteck, sah sie aber nur flüchtig an und legte sie zu unterst unter seine Bücher. Sie konnten ihn heut nicht mehr aufregen, wo ihm der leibhaftige Anblick bevorstand. Dann brachte ihm die Frau sein Essen, das sie aus dem nächsten Restaurant geholt hatte. Er schob die Teller zurück, nachdem er nur ein paar Bissen zu genießen im Stande gewesen war, und streckte sich wieder auf das Ruhebett. Er sei für Niemand zu Hause, befahl er der Dienerin.

Die langen Stunden gingen über seinem heißen Kopfe hin, ohne daß er sich beruhigte. Als es endlich Zeit war, sich zu dem Gang nach dem Bahnhof aufzuraffen, dachte er einen Augenblick, die Frau hinzuschicken mit einer entschuldigenden Zeile: er sei krank und könne nicht kommen. Was sollte es helfen? Felix würde nach ihm sehen, und das Gefürchtete wäre nur aufgeschoben.

Pfui der Feigheit! sagte er ganz laut und erhob sich. Seinem Schicksal entrinnt Niemand. Man muß ihm wenigstens wie ein Mann entgegengehn. – –

Als er am Bahnhof anlangte, fand er die Mutter schon vor. Was haben Sie, lieber Freund? rief sie besorgt. Sie sehen todtenblaß aus. Sind Sie krank geworden?

Er versuchte zu lächeln.

Es ist nur die freudige Aufregung, liebe Mama.

Ich soll ja den Menschen wiedersehn, den ich von Allen am meisten geliebt habe. So was ist in meinem an Freuden nicht sehr reichen Leben ein Ereigniß, das mir alles Blut nach dem Herzen treibt.

In diesem Augenblick brauste der Zug in die Bahnhofhalle herein. Sobald er hielt, wurde die Thür eines Wagens aufgerissen, und Felix sprang heraus. Mutter!

Harry! rief er, küßte die kleine Frau stürmisch und fiel Harry um den Hals. Ich bin zu Hause! Meine theuren Geliebten, nun bleiben wir zusammen!

Sein Äußeres war etwas verändert, das Gesicht schärfer und männlicher geworden, das blonde Haar gekürzt. Das bemerkte nur die Mutter. Harry's Augen hingen unverwandt an der Gestalt der jungen Frau, die an der Schwelle der Thür stehen geblieben war und zu einem Mädchen in fremder Tracht zurücksprach, das ein in ein großes gelbes Tuch gewickeltes Kindchen im Arme trug. Jetzt wandte sie das Gesicht zu den Dreien unten am Wagentritt, nickte mit einem glücklichen Lächeln der Mutter zu und grüßte, leicht mit der Hand winkend, auch den Freund.

Wohl war's noch das schöne Gesicht, das ihm in seinen Träumen vorgeschwebt hatte, doch alle Linien gleichsam gereifter, weicher, weiblicher, die Wangen von einer zarten Blässe überhaucht, die schwarzen Augen tiefer und glänzender. Sie trug ein leichtes Mäntelchen von lichtgrüner Seide, dessen Kapuze statt eines Hutes über den Kopf gezogen war. Bei einer raschen Bewegung fiel sie auf den Nacken zurück, und das reiche dunkle Haar, durch die lange Fahrt etwas verwirrt, umgab in reizender Auflösung das Gesicht.

Harry, seine erste Betäubung abschüttelnd, lüftete rasch den Hut und trat an den Wagentritt, ihr den Arm bietend.

Nehmen Sie erst Ihr Pathenkind, sagte Cecil. Sie hob es dem Mädchen vom Arm und reichte das kleine Packet dem Freunde hinunter, der es mit zitternden Händen empfing. Das Kind hatte während der Fahrt geschlafen. Nun öffnete es zwei große dunkle Augen, nicht ängstlich oder ungeberdig, sondern nur verwundert über den fremden Mann, der es etwas ungeschickt zwischen seinen Armen hielt und dann der Großmama zeigte. Er gab es ihr aber nicht. Er drückte es verstohlen an sich und vergaß alles Andre um sich her, oder nahm es zum Vorwand, Cecil nicht anreden zu müssen. Felix hatte ihr und der Italienerin herausgeholfen, sie gingen paarweise dem Ausgang zu, Harry voran mit seiner kleinen Last, immer in das rosige Gesichtchen starrend. Durch den Kopf ging es ihm: Sie hat dieselben Augen, die mich so elend gemacht!

Sie stiegen dann in zwei Wagen, da einer sie nicht alle aufnehmen konnte, die Frauen mit dem Kinde fuhren voran, die Männer folgten. Felix war so erregt, daß er beständig sprach, von Rom und dem Concert, das er noch zuletzt gegeben, erzählte und in rührender Freundschaft sich über Harry's Erfolge erging, die er in der Zeitung mit lebhaftestem Antheil begleitet hatte.

Von Harry's Lippen kam selten ein Wort. Als sie dann fast zugleich mit den Frauen beim Hause der Mutter anlangten, sprang er hastig aus dem Wagen, öffnete den Schlag des vorderen und bot Cecil die Hand zum Aussteigen.

Er wagte nicht, ihr voll ins Gesicht zu sehen. Er fühlte die Wärme ihrer Hand durch den Handschuh und hatte Mühe, seine äußerlich ruhige Haltung zu bewahren. Sie wandte sich aber nicht zu der Kleinen um, sondern blieb bei ihm stehen und sagte: Was hab' ich von Mama hören müssen? Ist es wahr, daß Sie uns verlassen wollen? Aber das ist ja unmöglich, oder Sie haben nie auch nur ein bischen Freundschaft für uns gefühlt. Nein, sagen Sie, daß es nur ein flüchtiger Einfall war, daß Sie ihn bereuen und nicht wieder darauf zurückkommen werden.

Es war mehr als ein Einfall, sagte er mühsam. Ich hatte sehr triftige Gründe. Meine künstlerische Ausbildung – meine Zukunft –

Ich verstehe das nicht, erwiederte sie. Ich weiß nur, daß Sie bisher nie an sich allein gedacht haben, sondern auch an Ihre Freunde. Wenn Sie gehört hätten, wie Felix bei Allem, was er componierte, immer sagte: Ob es Harry gefallen wird? wie er sich das Leben mit Ihnen als die Ergänzung all seines Glückes ausmalte – Und sind Sie es uns nicht schuldig, uns zu zeigen, daß die Zeitungen nicht zu viel von Ihrem großen Talent gesagt haben? mir nicht schuldig, wenn es Ihnen Ernst damit war, daß ich Sie veranlaßt hätte, Ihren wahren Beruf zu erkennen? Nein, theurer Freund, wir lassen Sie nicht fort, wenigstens den nächsten Winter nicht. Muß es dann sein, so werden wir Ihnen nichts in den Weg legen, Ihrer »Zukunft« in der großen Welt nachzustreben.

Wo bleibt ihr denn? rief Felix, der die Anderen inzwischen ins Haus geleitet hatte. Wir werden droben viel gemüthlicher plaudern können, wenn wir Harriett in die Wiege der Prinzessin schlafen gelegt haben.

Ich bitte mich zu entschuldigen, sagte Harry. Ihr habt euch jetzt einzurichten, wobei ich nur stören würde. Morgen werde ich bei guter Zeit meine Aufwartung machen. Über das, was Sie mir gesagt haben, verehrte Frau Gevatterin, ist unser letztes Wort noch nicht gesprochen.

Er entzog sich eilig allen weiteren Versuchen, ihn zu halten, sprang in den Wagen und fuhr, mit dem Hut grüßend, davon.

*

Kaum fand er sich allein, so überfiel ihn die ganze Schwere seines Schicksals. Seine Züge verdüsterten sich, wie wenn die halb geschlossenen Augen etwas Grauenhaftes sähen, seinen Mund verzerrte ein fast körperlicher Schmerz. Vorübergehende, die den beliebten Schauspieler erkannten, blieben erschrocken stehen, als ob ein Todkranker dort im Wagen zurückgelehnt säße, der schwerlich je die Bretter wieder betreten würde.

Er glaubte keinen Augenblick daran, daß noch ein Entrinnen sei, daß er ein anderes »letztes Wort« sprechen könne, als Ergebung in den Willen dieser Frau. Daß er die Kraft haben möchte, irgendwo anders zu leben, als an dem Ort, wo er sie sehen könnte, so oft er wollte, schien ihm undenkbar. Von einem Leben außer in ihrer Nähe hatte er keine Vorstellung. Fordre was menschlich ist! sagte er vor sich hin. Dann rief er sich ihr Bild, ihre Stimme, den Druck ihrer Hand zurück, und das qualvoll süße Loos, sie zu sehen und ihr ewig zu entsagen, erschien ihm nicht nur zu ertragen, sondern wie eine überschwängliche Gunst des Himmels.

Als er in sein Zimmer trat, sah er den Brief des Directors auf dem Tische liegen, riß das Couvert auf und unterschrieb das Blatt, ohne es erst zu lesen. Es ist ja gleich, wie der Gefangene in seinem Kerker behandelt wird, wenn er die Freiheit entbehren muß!

Dann rief er seiner Dienerin und ließ den Brief sofort zu dem Director tragen. Er seufzte tief auf, als wäre ihm die Last einer schweren Entscheidung von der Seele genommen. Verderben, gehe deinen Gang! sprach er vor sich hin. Eine wunderliche Ruhe war nach den Stürmen dieser letzten Zeit über ihn gekommen, und zum ersten Mal schlief er die Nacht traumlos bis an den hellen Morgen.

Als er dann am anderen Vormittag zu den Freunden kam, wunderte er sich selbst, daß das Herzklopfen, mit dem er den Weg zurückgelegt hatte, sofort sich beruhigte, nachdem er bei ihnen eingetreten war. Er fand die kleine Familie in der Wohnstube beisammen, »in Anbetung der bambina«, wie er scherzte, die auf dem Schooß der Großmama lag ohne engende Windelbänder und ihre runden Ärmchen ihm entgegenstreckte, als er sich zu ihr hinabneigte. Er ließ es sich nicht nehmen, das holde Geschöpf im Hemdchen durchs Zimmer zu tragen und leise hin und her zu wiegen. Schicken Sie die welsche Wärterin zurück und engagieren Sie mich! Sie werden sehn, welch ein natürliches Talent zum Kindermädchen ich habe. Nur steh' ich nicht dafür, daß ich mein. Pathchen nicht in Grund und Boden verziehe und ihr jede Laune durchgehen lasse.

Man lachte, und erst als die Kleine wieder in die Wiege gelegt war, kam ein vernünftiges Gespräch zu Stande. Cecil war in ihrem Hauskleide, er sah jetzt, wie herrlich ihre Gestalt aufgeblüht war, und ihre Bewegungen hatten eine nachlässige weiche Anmuth, wie sie reifer Weiblichkeit eigen ist. Das Erste, was sie ihm sagte, als sie wieder beisammen saßen: Nun? und Ihr letztes Wort? hatte einen so herzlichen Ton, daß es ihm warm ins Blut ging. Ich bleibe! Natürlich bleibe ich! sagte er. Sie reichte ihm, ohne ein Wort zu sagen, die Hand, die er einen Augenblick in seiner hielt. Sie zu küssen, hatte er nicht den Muth und war froh, daß nun auch Felix ihm seinen Dank in lebhaften Worten ausdrückte und die Mutter erklärte, sie habe ihm einen solchen Verrath an der Freundschaft überhaupt nicht zugetraut.

Auch er begriff jetzt nicht, wie er an Flucht hatte denken können. Gab es denn irgend einen andern Ort in der Welt, wo er sich zu Hause fühlen konnte, wie hier? War er nicht überall der »Unbehaus'te, der Flüchtling ohne Rast und Ruh«? Von seinen Blutsverwandten hatte ihm Keiner je nah gestanden. Sie alle hatten die Lebensanschauungen seiner Eltern getheilt. Diese drei Menschen waren seine Familie nach dem Gesetz der Wahlverwandtschaft, seine Mutter und Geschwister.

Und die Schwester – wenn auch ein heißeres Gefühl ihn zu ihr hinzog, – durfte er sich nicht vertrauen, daß er die Kraft behalten würde, in strengem Verzicht auf ein leidenschaftliches Glück in ihrem Umgang so viel Erquickung und Seelentrost zu genießen, wie er sich aneignen durfte, ohne einen Raub an dem Bruder zu begehen?

Und ihre gleichmäßige Güte und heitere Ruhe – mußten die ihm nicht seine Entsagung erleichtern, auch wenn der Reiz ihrer Person, die Holdseligkeit ihres Betragens seine Fassung zuweilen zu gefährden drohte? Er flüchtete dann zu ihrem Kinde, auf das er all die Zärtlichkeit überströmen durfte, die ihm der Mutter gegenüber versagt war.

An Tagen, wo er nicht spielte, kam er Nachmittags eine Stunde vor der Theezeit, ging sogleich in das Kinderzimmer und war der munterste und sinnreichste Spielgefährte, den die Kleine sich nur wünschen konnte, setzte sie auf seinen Rücken und galoppierte mit ihr durch alle Zimmer, glücklich, wenn die kleinen Händchen sich recht fest in sein krauses Haar einkrallten. Kam er dann zu den Großen, so war er der heitersten Laune. Fräulein Harriett ist ein geistreiches Kind, nur fehlt es noch etwas an der Bildung. Aber ich hoffe, mir eine sehr vernünftige Frau an ihr zu erziehen.

Einmal bat er um die Erlaubniß, da die Frauen gerade verhindert waren, das Kind auf seinem Spaziergang zu begleiten, seine kleine Braut in die Stadt hinauszuführen, in der die Italienerin sich noch nicht zurechtfand. Leute, die ihn kannten, wunderten sich sehr, ihn neben dem Kinderwägelchen – auch ein Geschenk von ihm – langsam einhergehen zu sehn, in eifrigem Gespräch mit dem fremdartig gekleideten Mädchen, das den langen Herrn aufs Höchste verehrte, da er sich in ihrer Muttersprache mit ihr unterhielt.

Zu Tische ließ er sich nicht halten und schützte vor, daß er Rollen studieren müsse. Der wahre Grund war, daß er es vermeiden mußte, zu lange Cecil gegenüber zu sein. Aber einen Tag, wo er sie gar nicht gesehen hatte, hielt er für verloren.

Übrigens war er sehr fleißig, da eine Menge neuer Stücke einstudiert wurden und der Director, der wußte, daß Mancher nur seinetwegen ins Theater ging, ihm selbst Rollen zutheilte, zu denen sein Contract ihn eigentlich nicht verpflichtete.

Er spielte sie aber ohne Murren. Alles war ihm recht, was ihm über seine hoffnungslosen Gedanken hinüberhalf. Und er spielte ja auch für Sie. Er hatte sich ausbedungen, daß seine Freunde, so oft sie Lust hatten, über eine gewisse Loge verfügen konnten. Sah er sie darin sitzen und Cecil's schwarze Augen auf die Bühne gerichtet, so erhöhten sich alle seine Kräfte und er fühlte, daß er sich selbst übertraf.

Wenn er dann am andern Tag sich von ihr loben lassen mußte, war er versucht zu sagen: Sie loben sich ja nur selbst; daß ich Ihnen gefallen habe, war Ihr Verdienst.

*

Zuweilen erlaubte sie sich auch eine schüchterne, doch immer treffende Kritik, was ihm werthvoller war, als der unbedingte Beifall seines Freundes. Er sah dann wieder, welch ein feiner Sinn, welch zartes Verständniß alles Künstlerischen und Sittlichen in diesem schönen Wesen wohnte, welch einen Schatz an Seele und Geist der Mann an ihr besaß, der ihre Liebe gewonnen hatte.

Es war auch kein Zweifel, daß Felix es begriff und dankbar dafür war. Doch füllte sie sein Leben nicht so völlig aus, wie Harry es in der Ordnung gefunden hätte.

Er hatte gleich nach der Rückkehr die Leitung des Gesangvereins wieder übernommen. Cecil's Stimme hatte, seit sie Mutter geworden war, ein wenig gelitten und bedurfte der Schonung, so daß sie an den Übungen nicht theilnahm. Außerdem stand die Aufführung der römischen Symphonie bevor, auf die alle Welt gespannt war. Die Vorbereitungen dazu hielten Felix drei Wochen lang in Athem, so daß er oft müde und zerstreut am Theetisch saß und selbst durch das Lachen des Kindes und Harry's Possen nicht ganz aus seiner Versonnenheit geweckt werden konnte.

Als dann das Concert endlich stattfand, wurde das allzu günstige Vorurtheil für das Werk verhängnißvoll.

Der erste Satz, der ein sehr bedeutendes Thema tiefsinnig durchführte, ein Wühlen und Ringen einer ernsten Seele, die nicht zum Frieden gelangen kann und endlich zu einer schwermüthigen Resignation gelangt, ging unverstanden an den Hörern vorüber. Kaum eine Hand rührte sich. Man fand den liebenswürdigen jungen Meister der früheren Werke nicht wieder, der von Mozart und Schubert hergekommen war. Das Adagio zeigte dann wieder seine bekannteren Züge, nur mit größerer Tiefe und Innigkeit. Das Glück der jungen Ehe leuchtete daraus hervor, und dieser zweite Satz wurde mit lebhaftem Applaus aufgenommen. Aber diese heitere Stimmung hielt nicht Stand. Es schien, als habe die Größe der römischen Umgebung einen Druck selbst auf das Gemüth des Glücklichen ausgeübt und ihn wieder in eine grüblerische Tiefe versenkt, aus der er erst am Schlusse sich in eine ruhige, aber feierliche Stimmung zu erheben vermochte. Doch selbst die melodische Schönheit eines alten italienischen Motivs, das den letzten Satz beherrschte, konnte die Enttäuschung nicht völlig besiegen. Der schwache Beifall am Schluß, der mehr der Person als dem Werke galt, ließ keinen Zweifel darüber, daß es nur ein Achtungserfolg gewesen war.

Felix hatte sich mit einer kurzen Verbeugung gegen das Publikum zurückgezogen und war nicht wieder erschienen, als einige Freunde und Schüler ihn noch einmal herauszurufen suchten. Er verschwand auch aus dem Hause und war von den Seinen und Harry nicht aufzufinden. Sie warteten lange auf ihn, er war durch die kalte Herbstnacht herumgeirrt, bis die Ermüdung ihn nach Hause trieb. Mit einer erkünstelten Fassung trat er ein, erst die Wärme, mit der Cecil ihn umarmte – sie hatte das Werk ja entstehen sehn und liebte jede Note – und die ehrliche Bewunderung Harry's konnten seinen verstörten Sinn beruhigen. Du bist ein verwöhntes Kind des Glücks, sagte der Freund, und hast dein Publikum verwöhnt, immer nur mühelos zu genießen. Die Pariser Erfahrung hat sich wiederholt. Gieb Acht, sie werden Reu' und Leid machen und von diesem Werk dereinst deine künstlerische Größe datieren. Wenn du die Symphonie nächstens in Köln und Bremen aufführst, wo du nicht als gefeiertes Wunderkind bekannt bist, wird man deine gereifte Kunst zu würdigen wissen.

Du bist mein getreuer Eckart, erwiederte Felix, ihm die Hand drückend. Der Himmel gebe, daß du richtig prophezeit haben mögest.

*

Vierzehn Tage später reis'te er nach Köln. Er war wieder guten Muthes, wozu ein ausführlicher Bericht über die Symphonie in der Kölnischen Zeitung nicht wenig beigetragen hatte. Daß sie von Harry hingeschickt worden war, um das dortige Publikum über die Gründe der kühlen Aufnahme aufzuklären und auf die Schönheiten des Werkes vorzubereiten, wußte er nicht.

Als er fort war, ließ sich Harry häufiger im Hause der Majorin sehen. Er wußte es aber einzurichten, daß er sich nie mit Cecil unter vier Augen befand. Wenn er das Kind nicht hereinbringen konnte, mußte doch die Großmutter zugegen sein. Sie sprachen dann fast nur von Felix, Cecil las aus seinen Briefen vor, Harry erzählte, was im Theater vorging. Er hatte fast jeden Abend zu spielen und sehr gegen seine Neigung fast immer in demselben Stück, das unzählige Male wiederholt wurde.

Das mache ihn nervös und unselig, klagte er. Er habe gute Lust, einmal auszuspannen und trotz der rauhen Jahreszeit vierzehn Tage in ein Gebirge zu flüchten. Der Director könne ihm einen Urlaub nicht versagen, nach Allem, was er für ihn gethan.

Daß er nur darum diesen Vorsatz nicht ausführte, weil er sich nicht entschließen konnte, Cecil und das Kind zu verlassen, hütete er sich zu gestehn. Er wußte, daß man diesen Grund nicht gelten lassen würde.

Aber sein überreizter Zustand verschlimmerte sich von Tag zu Tage. Zuweilen kam er mit der Absicht, länger als sonst zu bleiben, setzte sich ans Klavier und phantasierte zehn Minuten, um dann plötzlich aufzubrechen, unter dem Vorwande, die Zimmerluft nicht ertragen zu können, die ihm Kopfweh mache.

Die guten Frauen fingen an, ernstlich besorgt zu werden. Sie drangen in ihn, endlich einen Arzt zu befragen und an seine Erholung zu denken.

Er versprach es täglich und mußte immer wieder gestehen, daß er noch keine Schritte dazu gethan habe.

An einem rauhen Sturmtage im October trat er Nachmittags früher als gewöhnlich in das Wohnzimmer ein. Cecil, die auf dem Sopha lag und sein Klopfen überhört hatte, richtete sich hastig auf und fuhr mit ihrem Tuch über die Augen, die voll Thränen standen.

Er pflegte ihr beim Kommen und Gehen nie die Hand zu reichen. Sie hatte sich daran gewöhnt, ohne den Grund zu ahnen. War er doch in so manchen Dingen anders als Andere.

Ich habe Sie in Ihrer Siesta gestört, liebe Freundin, sagte er. Verzeihen Sie. Es ist sonst nicht meine Stunde, aber ich fühle mich nicht ganz wohl und soll doch heute Abend spielen, in dem dummen Rührstück nach dem Französischen, wo Sie mich nicht zum zweitenmal zu sehen wünschten. Da dacht' ich, hier bei Ihnen würde ich die Anwandlung von Schwäche überwinden, für die eigentlich kein rechter Grund ist. Aber Sie haben Recht, ich sollte für eine Weile verschwinden und gründlich ausschlafen, allen Theaterspuk und noch manchen andern. Leider ist Nichts so krank an mir als mein Wille.

Daß sie nichts erwiederte, fiel ihm auf. Nun sah er ihr erst schärfer ins Gesicht.

Sie haben geweint, Frau Cecil! rief er erschrocken. Sind Sie krank? Haben Sie Schmerzen? Ich will gleich zum Arzt laufen!

Bleiben Sie! sagte sie mit bebender Stimme. Mir ist allerdings nicht wohl, doch hat es nichts auf sich, es wird vorübergehn.

Nein, theure Freundin, sagte er und setzte sich auf einen Sessel neben dem Sopha. Sie verhehlen mir etwas – so habe ich Sie nie gesehen. Thränen! Sie haben sich sonst immer in der Gewalt. Wenn Sie nur ein bischen Vertrauen zu mir haben –

Nun ja, kam es halblaut von ihren Lippen, ich will mich vor Ihnen nicht besser machen, als ich bin, ich bin nicht die Heldin, die Sie in mir sehen, sondern nur ein schwaches Weib. Aber ich schäme mich, daß ich es nicht überwand, es ist ja alles so, wie es kommen mußte, ich habe ihn ja gekannt und so, wie er immer war, ihn über Alles geliebt.

Ihn? Felix? Aber was ist denn geschehn? Spannen Sie mich nicht auf die Folter! Hat er nicht geschrieben?

Ich habe vorhin einen Brief von ihm bekommen, das Concert in Köln ist glänzend verlaufen, die Symphonie hat ungemein gefallen – seine hebräischen Melodieen alle dacapo verlangt worden –

Und statt zu jubeln, weinen Sie?

Sie werden jetzt ebenso gering von mir denken, wie Sie mich sonst in einem idealen Lichte gesehn – o lieber Freund, ich sage mir selbst, daß ich nicht werth bin, ihn zu besitzen, da ich klein genug bin, eifersüchtig zu sein!

Sie eifersüchtig! Er lachte hell auf.

Ja, auf die Wunderschöne, mit der ich sein Herz theilen muß, mich mit der kleineren Hälfte begnügen – auf seine Kunst. Sie besitzt ihn so ganz, daß er für Weib und Kind nur ein Pflichttheil übrig hat. Keine Frage nach der Kleinen, obwohl sie sehr unwohl war, als er abreiste. Und dann – die Begeisterung für die Sängerin, die er dort kennen lernte – gewiß nur eine künstlerische, aber da er weiß, wie schmerzlich mir der Gedanke ist, vielleicht meine Stimme verlieren zu müssen – wenn er mich wahrhaft liebte – so wie ich es früher geglaubt habe –

Thränen hinderten sie, weiterzusprechen. Sie lehnte den Kopf gegen das Kissen zurück und ließ ihnen ihren Lauf.

Er starrte eine Weile schweigend vor sich hin. Erst als sie sich wieder gefaßt hatte, sagte er: Es ist für die schönste und liebenswürdigste Frau immer ein Wagniß, einen Künstler zu heirathen. Man kann nicht zweien Herren dienen, geschweige zweien Herrinnen. Mich hätten Sie heirathen sollen oder doch einen Menschen wie mich. Da wären Sie besser daran gewesen.

In all ihrem Schmerz mußte sie nun doch lächeln.

Ich danke Ihnen, daß Sie einen Scherz daraus machen. Das hilft mir am besten über meine kindische Schwäche hinweg.

Einen Scherz, liebe Freundin? O, es ist mir heiliger, nein, bitterer Ernst mit dem, was ich sagte. Ja, ein Mensch wie ich – der hätte Sie zu würdigen gewußt, für den hätte nichts Anderes existiert, als Sie und wieder Sie, nur für Sie hätte ich gelebt, Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um Ihnen jede kleinste Thräne zu ersparen, während dieser Felix – oh, ich könnt' ihn hassen, so sehr ich ihn immer geliebt habe!

Er war ausgesprungen und ging mit seinen langen Schritten durchs Zimmer, indessen sie Zeit gehabt hatte, wieder ganz sich in die Gewalt zu bekommen.

Sie vergessen, sagte sie scherzend, daß ich mit Ihnen nicht besser daran gewesen wäre. Ein Musiker oder ein Schauspieler – sind nicht beide Künstler? Würden nicht auch Sie mich vergessen haben, wenn Sie Hamlet spielten?

Er blieb vor ihr stehen. Was wäre mir Hekuba gewesen! Sie vergessen, daß ich zu meiner vermeintlichen Kunst nur faute de mieux gekommen bin, weil ich als ein unpersönlicher Mensch froh sein mußte, in einem Personenverzeichniß mitzufigurieren. Das alles aber ist nur, was man eine Doctorfrage nennt. Denn auch wenn Sie mich früher kennen gelernt hätten, als ihn, und ich hätte zweimal sieben Jahre um Sie gedient, wie Jacob um Rahel – so thöricht und abgeschmackt hätten Sie nie sein können, diesen häßlichen, mit sich selbst zerfallenen Menschen liebenswerth zu finden und sein verwegenes Gefühl ihm zu verzeihen!

Er hatte diese düsteren Worte so heftig hervorgestoßen, daß ihr zum ersten Mal die Ahnung aufging, wie es um ihn stehen mochte. Ein tiefes Mitleid mit seinem hoffnungslosen Zustand überkam sie.

Lassen Sie uns nicht von dem reden, was hätte sein können und wie ich gefühlt haben würde. Sie wissen, wie hoch ich Sie schätze. Bleiben Sie nur, was Sie mir bisher gewesen sind!

Sie hatte sich von ihrem Sitz erhoben und hielt ihm mit einem innigen Blick die Hand hin. Er sah sie an. Sie war ihm nie holdseliger erschienen, als in diesem Augenblick. Cecil! raunte er und ergriff ihre Hand, die noch von Thränen feucht war.

Ihre Hand ist heiß – Sie haben Fieber! sagte sie besorgt. Gehen Sie nach Hause, lassen Sie den Arzt kommen, spielen Sie heut Abend nicht –

Fieber? Ja wohl, rief er mit erstickter Stimme, ein Fieber, von dem ich nie genesen werde, ich müßte denn –

Wie wenn ihn ein Schwindel überfiele, in dem er einen Halt suchte, breitete er die Arme nach ihr aus, riß sie an sich und bedeckte ihr Gesicht mit glühenden Küssen, ihren Mund mit seinen Lippen verschließend, um ihren Schrei zu ersticken.

Lassen Sie mich! stöhnte sie außer sich. Sie sind wahnsinnig!

Plötzlich lös'ten sich seine Arme von ihrem Nacken, er taumelte wie von einem Blitz getroffen zurück, die Besinnung schwand ihm für einen Augenblick. Als sie ihm zurückkehrte, fand er sich im Zimmer allein.

Wie lange er so stand, wußte er nicht. Die Thür des Kinderzimmers öffnete sich, das italienische Mädchen trat ein, die Kleine, die ihre ersten Gehversuche machte, an einem Gängelband vor sich, um sie dem guten Onkel vorzuführen.

Der warf nur einen bewußtlosen Blick auf das liebliche Geschöpf, nickte ein paarmal finster vor sich hin und verließ mit wankenden Schritten wie ein Trunkener das Gemach.

*

Ein kalter Regenguß empfing ihn draußen, er fühlte seine Wucht nicht, obwohl er barhaupt und im einfachen Rock dahinschritt, da er Hut und Überzieher im Hause zurückgelassen hatte. Die herbstliche frühe Dämmerung war eingebrochen, doch fiel er in dem wunderlichen Aufzug den Vorübergehenden auf, zumal er öfters stehen bleiben mußte, seine Kraft wieder zu sammeln. Endlich erreichte er seine Wohnung und sank wie gelähmt auf sein Ruhebett.

Eine Stunde oder zwei mochte er so gelegen haben, es war völlig dunkel geworden. Da richtete er sich mühsam auf, schleppte sich zu seinem Schreibtisch, zündete die Lampe an und fing an zu schreiben.

 

»Lesen Sie diesen Brief zu Ende, obwohl er von einem Wahnsinnigen kommt, liebe Freundin – nein, das Recht; Sie so zu nennen, habe ich verscherzt. Wie ein Feind bin ich in Ihren Frieden eingebrochen, wie ein Gottloser in ein Heiligthum, dessen Gnadenbild er entweiht. Ich habe keinen anderen Anspruch auf ein milderes Urtheil, als daß ich sage, was jeder arme Sünder sagen kann, nicht er habe das Verbrechen begangen, sondern ein Dämon in ihm.

Daß ich's nicht ohne Grund sage, würden Sie mir glauben, wenn Sie geahnt hätten, wie gänzlich ich Ihnen verfallen war, seit der ersten Stunde wo Ihre Augen mich trafen. Ich wußte sofort, wie es um mich stand, und war doch thöricht genug, mir einzubilden, daß ich die Kraft haben würde, diese Leidenschaft in meiner Brust zu hüten, daß ihre Glut mich nur vor einsamem Erfrieren schützte, ohne je auszubrechen und mit einer wilden Flamme mich selbst zu zerstören.

Nun ist es doch geschehen. Ein Mensch meinesgleichen hat kein Recht, in der Gesellschaft Guter und Edler, die etwas für sich bedeuten, einen Platz einzunehmen, wenn er nicht wenigstens die allgemeinen Gesetze des Anstands und der Sittlichkeit respectiert. Ich habe nun nichts Eiligeres zu thun, als mich selbst zu verbannen, von der Stätte, wo mir allein wohl gewesen, freilich mit dem beständigen Schmerz der Entsagung, unter Menschen, die jedes Opfers werth waren.

So werden Sie mich nie wiedersehen. Ich weiß, daß Sie in Ihrer himmlischen Güte mildernde Umstände suchen werden, um mein wahnsinniges Vergehen zu verzeihen. Vergessen können Sie es nie.

Und denken Sie auch nicht daran, meine Unthat ihm zu verschweigen. Er vielleicht, der Sie ganz kennt und besitzt, wird verstehen, wie es dem Dämon gelingen konnte, mein Gewissen, meine Vernunft zu überwältigen. Grüßen Sie ihn. Er soll mir nicht nachforschen. Ich verlasse diese Stadt. Ob es mir gelingt, unter anderem Namen an anderem Orte mein Schattendasein weiterzuleben, muß ich abwarten.

Seid ferner glücklich, Beide, und vergeßt Einen, der Eure Freundschaft nicht zu verdienen wußte.

H.«

 

Er versiegelte den Brief und blieb abwesenden Geistes am Tisch sitzen, bis ein Klopfen ihn aufschreckte. Der Theaterdiener trat ein und fragte hastig, ob Herr Bert noch nicht kommen wolle, es sei höchste Zeit, die Leute strömten schon ins Theater.

Ich komme! raunte der noch ganz Versunkene. Natürlich komm' ich. Aber warten Sie, Weber, Sie sollen mich begleiten, ich fühle mich etwas schwach, Sie müssen mich führen. Ich hatte wahrhaftig vergessen, daß ich heut spielen muß.

*

Als sie im Theater angekommen waren, drückte er seinem Begleiter ein Goldstück in die Hand. Nehmen Sie das, Weber, mit meinem Dank. Sie haben der Kunst einen Dienst erwiesen, denn ohne Ihre Unterstützung würde heut nicht Komödie gespielt.

Der Director kam ihm vor seiner Garderobe entgegen.

Wo stecken Sie denn? Es ist höchste Zeit. Die Galerie wird schon ungeduldig.

Lassen Sie nur anfangen, Directorchen. Ich spiele ja im Straßenanzug und komme erst in der dritten Scene. Nur noch ein bischen Schminke, dann bin ich bereit. Aber geben Sie mir ein Glas Wein, ich fühle mich ein wenig schwach.

Wein? Öl ins Feuer? Denn Sie haben Fieber, lieber Freund. Ihre Hand glüht, und Sie haben ein so echauffiertes Gesicht, daß Sie keine Schminke brauchen.

Er lachte und trat vor den Spiegel.

Ja wohl, »es glühte seine Wange roth und röther« und so weiter, aber das steht mir gut, weil es so selten ist. Natürlich hab' ich Fieber, kein Wunder, wenn man seine arme Seele so strapaziert hat. Aber der Wein hilft mir wieder auf. Man muß Satan durch Beelzebub vertreiben. Morgen, Directorchen, brenn' ich Ihnen durch auf vierzehn Tage, sonst haben Sie nächstens einen stillen Mann an mir. Ha, da beginnt die Musik. Nun, wir werden unsere verfluchte Schuldigkeit thun.

Er stürzte den Wein hinunter und machte sich ein paar Striche unter die Augen und auf die Stirn. Der Director schüttelte den Kopf und ging sorgenvoll hinaus.

Doch als Harry auftrat und die ersten Worte sprach, beruhigte er sich. Harry spielte mit der gewohnten Sicherheit, nur etwas nervöser als sonst; er verfehlte kein Stichwort.

Gleich als er aus der Coulisse trat, hatte er nach der Loge geblickt, wo sonst die Freunde saßen. Daß sie heute leer war, nahm ihm eine Last vom Herzen. Die Stimme wäre ihm im Halse erstickt, wenn er Cecil's traurige Augen auf sich gerichtet gesehen hätte. Unten im Parket saß auf dem gewohnten Platz sein dankbarstes Publikum, Aline, ihr dicker Galan neben ihr. Er schlief, schon bei Anfang des Stückes, das er freilich schon dreimal hatte sehen müssen, während seine »Braut« das Opernglas nicht von den Augen ließ.

Drei Akte gingen ohne jede Störung vorüber. Es war eine der landläufigen Ehebruchskomödien Pariser Herkunft, nur dadurch ausgezeichnet, daß beide Eheleute einander nichts vorzuwerfen hatten. Freilich war die Frau nach der geltenden Moral schwerer belastet, da sie die Verpflichtung hatte, es mit der gelobten Treue ernst zu nehmen, während ihr Gatte sich dadurch lächerlich gemacht hätte. Sie büßte es aber auch schwerer. Die Gesellschaft verurtheilte sie, ihr eigener Vater verstieß sie. Es blieb ihr keine Rettung vor ihrem eigenen Gewissen als der Tod.

Da brachte der letzte Akt eine andere Lösung. Ihr Gatte trat bei ihr ein, gerade in dem Augenblick, wo sie einen Dolch gegen ihre Brust zückte, entriß ihn ihr und warf ihn zum Fenster hinaus. Das Finale, wo die beiden Sünder sich gegenseitig ihre Schuld vergaben und feierlich gelobten, hinfort vom Pfade der Tugend nie wieder abzuweichen, war ein Fest für die weichgeschaffenen Seelen und brachte besonders dem großmüthigen Gemahl einen dreimaligen Hervorruf ein.

Als Harry diesmal eintrat, fiel sein Aussehen Allen, die ihn genau betrachteten, auf. Sein Gesicht war todtenblaß, die halbgeöffneten Lippen verzerrt, in den Augen flackerte eine fieberhafte Glut. Er hatte, um sich aufrecht zu erhalten, im Zwischenakt den Rest der Flasche ausgetrunken, doch fehlte ihm bei seinen ersten Sätzen kein Wort. Nur als er seiner Frau die Waffe aus den Händen wand, vergaß er, daß er sie wegschleudern sollte, sondern betrachtete sie eine Weile tiefsinnig, indem er sie mit zitternder Hand nah vor sein Gesicht hielt.

Der Souffleur, in der Meinung, das Gedächtniß habe ihn im Stich gelassen, rief ihm wiederholt die Worte zu, die nun folgen sollten. Statt dessen sagte er mit heiserer Stimme und einem seltsamen Lächeln: Nein, mein Kind, das ist kein Toilettengegenstand für zarte Frauen. Es ist freilich nur ein Theaterdolch, aber leidlich scharf. Damit kann mancher Qual ein Ende gemacht werden. Ich verstehe zum Glück damit umzugehen. Das hab' ich schon einmal in Aleppo bewiesen, wo ein giftiger Türk in hohem Turban einst 'nen Venezianer schlug. Ich aber – ergriff am Halse den beschnittnen Schuft und traf ihn – so!

Mit dem letzten Wort führte er einen heftigen Stoß von oben gegen seine Brust, die nur ein feines Hemd bedeckte, und fiel ohne einen Laut auszustoßen vornüber auf das Gesicht.

In wildem Entsetzen stürzten Alle, die hinter den Coulissen standen, zu ihm hin, Allen voran der Director, den schon bei den ersten improvisierten Worten die Ahnung eines Unglücks beschlichen hatte. Der Vorhang wurde eilig herabgelassen, zum Glück war der Theaterarzt im Hause, der sogleich herbeieilte. Er fand, daß die Waffe, am Schlüsselbein abgleitend, nicht tief in die Brust eingedrungen war, das reichlich herausströmende Blut konnte durch einen Nothverband gehemmt werden, aber der Zustand des Bewußtlosen erregte gleichwohl schweres Bedenken, da ein ungewöhnlich hohes Fieber in seinen Adern tobte. Behutsam, mit Hülfe eines jungen Arztes, der sich hinzufand, wurde der Unglückliche aufgehoben und in einem Wagen langsam nach seiner Wohnung gebracht.

Im Publikum hatte das Geschehene zunächst nur Befremden erregt. Die das Stück zum erstenmal sahen, hielten diesen tragischen Schluß für den vorgeschriebenen und wunderten sich nur, daß das Theaterpersonal herbeistürzte, noch ehe der Vorhang gefallen war. Bald aber wurde man inne, daß statt des Spiels ein furchtbarer Ernst die Handlung beschlossen hatte, und in dumpfer Verstörung verließen die Zuschauer das Haus.

Aline war tödtlich erschrocken zusammengefahren, die Kniee versagten ihr, als sie aufzustehen versuchte, dann hatte sie sich doch ermannt und ihren Begleiter mit fortgezogen, durch das dichte Gewühl sich durchkämpfend, um zu einer Droschke zu kommen. Auf alle Fragen des jungen Mannes, der nicht verstand, um was sich's handelte, antwortete sie mit keiner Silbe. Bei Harry's Hause angelangt, stieg sie aus und sagte in den Wagen zurück: Fahre nur nach Hause. Ich weiß nicht, wann ich nachkomme. Vielleicht erst morgen früh.

Er protestierte unmuthig und forderte sogar in herrischem Ton, daß sie wieder einsteigen sollte. Sie warf, ohne ein Wort zu erwiedern, den Wagenschlag zu, rief dem Kutscher ihre Adresse zu und verschwand im Hause.

Eben trat sie in das Zimmer, wo man den Kranken auf seinem Lager gebettet hatte, als der alte Arzt zu seinem Assistenten sagte: Ich fürchte, es ist eine Gehirnentzündung. Aus der Wunde mache ich nicht viel, aber einundvierzig Grad Fieber! Vorläufig ist Nichts zu thun, wandte er sich zu Harry's Dienerin, als Eisumschläge unablässig auf den Kopf und völlige Ruhe. Ich sehe morgen früh wieder nach.

Erlauben mir der Herr Doctor, die Nacht bei ihm zu wachen und für die Umschläge zu sorgen, sagte Aline, die sofort ihren Federhut abnahm. Die Frau muß erst das Eis holen. Dann kann sie zu Bette gehen, sie hat ihren Schlaf nöthig für morgen.

Die Ärzte betrachteten sie verwundert.

Wer sind Sie, mein Fräulein? sagte der alte Herr. Sind Sie eine Verwandte des Herrn Bert?

Nur seine Verehrerin, und überdies bin ich ihm Dank schuldig, er hat mir einmal eine große Wohlthat erwiesen. Bitte, Herr Doctor, lassen Sie mich hier, Sie können sich auf mich verlassen.

Der alte Herr musterte sie mit einem wohlwollenden Blick. Der junge, der sie zu kennen schien, flüsterte ihm zu: Ich glaube, Sie können ihre Hülfe annehmen – sie ist ja wohl von Metier eine barmherzige Schwester.

Der Alte runzelte die Stirn.

Ich liebe keine Frivolitäten bei einer so ernsten Sache. Das Mädchen hat ein gutes Gesicht und wird ihre freiwillige Pflicht besser thun, als ein bezahlter Krankenwärter.

Dann gab er Aline noch einige Anweisungen, was sie zu thun habe, und ließ sie mit dem Kranken allein.

*

Als er am andern Morgen wiederkam, berichtete sie ihm, Herr Bert habe keinen Augenblick geschlafen, beständig phantasiert und sich herumgeworfen. Sie habe Mühe gehabt, den Eisbeutel auf seiner Stirn festzuhalten.

Gehn Sie nun nach Hause, liebes Kind, und holen Sie Ihren Schlaf nach, sagte der alte Arzt. Ich habe eine Diakonissin bestellt.

Über Tag mag sie mich ablösen, erwiederte Aline. Die Nachtwache ist meine Sache. Steht es sehr schlimm mit ihm?

Der Arzt zuckte die Achseln.

Man soll nie verzweifeln, so lang der Athem noch aus und ein geht.

In diesem Augenblick traten Cecil und die Mutter ein.

Sie hatten das erschütternde Ereigniß durch die Morgenzeitung erfahren, Cecil brach in einen Strom von Thränen aus, sie allein wußte ja, was ihn zu der unseligen That getrieben hatte. Nur eine Andeutung machte sie der Mutter, dann eilten beide Frauen, sich von Harry's Zustande selbst zu überzeugen.

Aline begegnete ihnen im Vorzimmer. Sie gingen achtlos an ihr vorüber. Erst vom Arzt hörte die Mutter, wie sie hergekommen. Cecil war an das Bett getreten, auf dem Harry mit weit geöffneten Augen lag. Sie mußte alle ihre Kraft aufbieten, nicht in die Kniee zu sinken.

Wie fühlen Sie sich, mein Freund? sagte sie mit bebender Stimme.

Er starrte sie an, ohne sie zu erkennen. Musik! lallte er. Himmlische Musik! Singen Sie mir die Arie noch einmal, Prinzessin!

Dann sank sein Kopf in das Kissen zurück, und er sprach wirre Worte vor sich hin, doch mit heiterer Miene, dazwischen Stellen aus Dramen Shakespeare's, in denen er gespielt hatte.

Am nächsten Tage trat Felix bei ihm ein. Auf das Telegramm seiner Frau hatte er das Concert in Bremen aufgegeben und war mit dem Nachtzug hergeeilt. Auch ihn erkannte der Kranke nicht. Er schien nur beunruhigt durch das heftige Weinen, das der völlig Fassungslose nicht zu unterdrücken vermochte. Gaudeamus igitur! stieß er mit einem irren Lachen heraus. O Königin, das Leben ist doch schön!

*

Am sechsten Tage erlag er der Gewalt des Fiebers.

Bei seinem Begräbniß sah man, wie sehr er von der Stadt geliebt und verehrt worden war. Der Kirchhof konnte das Leichengefolge kaum fassen. Cecil schwanden die Sinne, als sie die drei Schollen Erde in das offene Grab geworfen hatte. Sie mußte von Felix mit Hülfe eines Freundes bewußtlos zu ihrem Wagen zurückgetragen werden.

Als sich die ganze Trauergemeinde entfernt hatte, trat eine schlanke, tiefverschleierte junge Dame an das Grab und nahm ihrem Begleiter, der ebenfalls ganz schwarz gekleidet war, einen großen Lorbeerkranz mit weißen Rosen und breiter Atlasschleife ab, um ihn auf die übrigen Blumen, die die Grube füllten, niederzulegen.

Dann kniete sie davor nieder und brach in Schluchzen aus.

Ihr Begleiter wurde ungeduldig.

Übertreib es nicht, Adeline! So viel Jammer und Wehklagen um einen Fremden!

Sie erhob sich und hörte zu weinen auf. Du hast mir meine Gefühle nicht zu verbieten, sagte sie heftig. Mir war er kein Fremder, sondern der beste Mensch, dem ich je begegnet bin. Du kannst froh sein, wenn ich dich nur halb so viel liebe, wie ich ihn geliebt habe!

 

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