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Die Aerztin

(1902.)

 

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In der Haupt- und Residenzstadt eines der ansehnlicheren deutschen Mittelstaaten ging an einem späten Juniabend ein junger Mann die Straße entlang, die am Schlosse vorbei nach dem Marktplatz führte.

Ein rauher Wind fuhr ihm entgegen, einzelne Regentropfen sprühten ihm ins Gesicht, er zog den Kragen seines leichten Überrocks in die Höhe und drückte das niedrige Strohhütchen fester in die Stirn. Obwohl er bürgerliche Kleidung trug, verrieth doch seine ganze Haltung und das kühn aufstrebende blonde Schnurrbärtchen den jungen Offizier, der selbst in Civil seiner Verachtung des Regenschirms treu blieb.

Die Straße war menschenleer, die Schaufenster der Läden bereits geschlossen. Auf dem Pflaster des Marktes trieb der Wind die Überbleibsel der Verkaufsstände, die seit dem Mittag hätten weggeräumt werden sollen, wie mit einem scharfen Besen in kleinen Häuschen zusammen, Gemüseabfälle, Strohhalme, Papierfetzen. Dazwischen standen einige Droschken, deren Kutscher sich in ihre wasserdichten Kapuzenmäntel verkrochen hatten und eingenickt waren, während die Pferde die Köpfe mit dem wehenden Stirnhaar tief auf die Steine gesenkt hielten um mit den dicken schnobernden Mäulern hin und wieder ein vorbeigleitendes Kohlblatt oder einen Salatstrunk zu erwischen.

Das Alles sah so grau und unfreundlich aus, daß es dem jungen Spaziergänger unwillkürlich einen Seufzer entlockte. Er beschleunigte seinen Schritt und pfiff eine Operettenmelodie zwischen den Zähnen, wie um sich über das unholde Wetter und die Öde der Umgebung hinwegzuhelfen. Dabei gaben die Laternen, die nicht allzu dicht gepflanzt waren, ein so unsicheres Licht, daß die Nacht hereingebrochen schien, obwohl es vom Thurm der Hauptkirche eben erst Sieben geschlagen hatte.

Diese Mahnung an die Zeit schien den Dahinstürmenden zu noch größerer Eile zu treiben, so besinnungslos, daß er, um eine Straßenecke biegend, mit einem Herrn zusammenstieß, der in ganz gelassenem Schritt ihm entgegenkam.

Er wollte eben, ein Pardon! murmelnd, an ihm vorbei, als er mit einem flüchtigen Aufblick stehen blieb.

Sieh da, Herbert! rief er. Du bist's? Bei dieser ägyptischen Finsterniß hätt' ich dich um ein Haar über den Haufen gerannt. Wo willst du hin? Zur Mama? Die hat ihre L'Hombreparthie mit der Präsidentin, und Jella ist in ihrem Kränzchen.

Guten Abend, Bob! sagte der Andere, ein hochgewachsener, stattlicher Mann, wohl zehn Jahre älter als der, den er mit Bob anredete. Auch er war trotz des runden schwarzen Huts und leichten Sommermantels auf den ersten Blick als Offizier zu erkennen. Nein, Vetter, ich weiß, daß die Mama am Sonnabend ihre Spielgesellschaft hat. Ich will mich nur ein bischen lüften, hab' den ganzen Tag in Dienstgeschäften versessen – hernach geh' ich in den Schachclub.

Was du hernach thust, kümmert mich nicht, lachte der Jüngere. Jetzt aber wirst du so gut sein, mit mir zu gehen!

Wohin?

An einen Ort, wo du etwas sehen und hören wirst, was du bisher noch nie erlebt hast, eine Versammlung streitbarer Frauen und Jungfräulein, eine Heerde sanfter Lämmlein, die plötzlich sich gegen ihre Hirten empört – aber komm! komm! Die Sache ist eilig, um Sieben beginnt die Komödie – ich habe versprochen, pünktlich zu erscheinen.

Damit schob er seinen Arm unter den des Freundes und zog ihn eilig mit sich fort.

Der Andere ergab sich kopfschüttelnd darein und sagte nur, mit einem gutmüthigen Ton seiner tiefen Stimme:

Was hast du wieder für Possen im Kopf, Bob? Wirst du wenigstens die Güte haben, mir näher zu erklären, zu welchem verrückten Abenteuer du mich mitschleppst?

Verrückt? Es wäre kein Wunder, theurer Vetter, wenn man's in dieser kleinresidenzlichen Stickluft würde, nachdem man sich an das ozonreiche Milieu der Reichshauptstadt gewöhnt hat. Na, mit mir hat's ja keine Gefahr. Mein Urlaub läuft nach vierzehn Tagen zu Ende, und alle Bitten und Beschwörungen der Mama werden mich nicht dazu bewegen, um Verlängerung einzukommen. Du aber – wie du's hier aushältst, schon seit vier Jahren immer die alte Tretmühle – im Sommer das bischen Norderney oder Schweiz, im Winter ein paar gnädige Worte von Serenissimus und Serenissima bei einem Hofball oder Hofconcert – schlechtes Theater, durch Gastspiele irgend einer Diva nur noch mehr als eine höhere Schmiere gekennzeichnet – nein, 's ist wirklich so – und diese Theegesellschaften mit Familienmusik, Chopin ins Backfischliche übersetzt – Diners, die drei Stunden dauern, obwohl das Menu nur sechs Gänge hat – o Vetter, ich erlebe es noch, daß selbst du endlich entweder an einem Gähnkrampf stirbst oder aus der Haut fährst, wie ich schon zehnmal gethan hätte, wenn ich nicht bei Zeiten mich nach Berlin hätte versetzen lassen!

Dein alter Refrain! Statt uns aber zum zehnten Male hierüber zu streiten, laß mich lieber erfahren, in was für eine Gesellschaft du mich führst und ob man mich auch, da ich ganz fremd bin, ohne Weiteres einlassen wird.

Wenn ich dich einführe? Übrigens »Gäste sind willkommen«. Diese Amazonen fühlen sich in ihrer Rüstung so sicher, daß sie den Kampf mit männlichen Gegnern sogar herausfordern. Ich kann dir sagen, die eine von ihnen, die ich kennen gelernt habe, hat eine Zunge wie ein Schwert. Du hast doch wohl bei Jella das Fräulein Lydia Bronikowski gesehen, ihre Klavierlehrerin. Nicht? Nun, ich gratuliere dir. Nicht, daß das Fräulein so ganz übel wäre, ein Rassekopf, ihre Urureltern irgendwo aus dem Posen'schen stammend – hab' sie im Verdacht eines starken semitischen Tropfens in ihrem jungfräulichen Geblüt, und übrigens nur erst in den höheren Achtundzwanzigen – j'y suis et j'y reste! Ist bei allen Familien der »Gesellschaft« die obligate Musiklehrerin und eine »Liszt-Schülerin« in der dritten Verdünnung, will sagen, daß sie den ersten Unterricht von einer Dame bekommen hat, mit der Liszt sich einmal herabließ, vierhändig zu spielen. Ich versteh' mich ein bischen auf Musik, weißt du, habe selbst einmal einen Marsch componiert, nein, ohne Scherz, der Regimentstrompeter fand ihn sehr talentvoll, als ich ihn ihm vorpfiff, und hat ihn instrumentiert. Na, da macht' ich einmal Fräulein Lydia ein Compliment, sie hatte eben das Bach'sche Rondo, das Jella heruntergestammelt hatte, hernach ganz famos vorgetragen – das war mein Verderben!

Von da an beehrte sie mich mit ihrer Hochachtung, so weit ein modernes Weib einen modernen Mann überhaupt achten kann. Ich traf sie unglücklicher Weise noch ein paarmal bei der Mama, da that sie mir die Ehre an, sich in längere Gespräche mit mir einzulassen, nicht bloß über Musik: sociale Frage, Frauenstudium, sogar Ehegesetzgebung und das Problem der freien und der platonischen Liebe – letzteres, wenn Mama den Rücken gewandt hatte – ein ganz schneidiges Frauenzimmer, kannst du glauben.

Sie werden hoffentlich nicht versuchen, für Ihre Umsturzideen auch bei meiner Schwester Propaganda zu machen? sagt' ich.

Sie sah mich mit einem mitleidigen Hohnlächeln an.

Baronesse Jella? Wo denken Sie hin! So ein Paradiesvögelchen in einem vergoldeten Käfich, das all das kostbare Futter kriegt, wonach ihm gelüstet! Nein, nur für uns gemeine Vogelbrut, die freilich, wie es heißt, unser Herrgott auch ernährt, aber oft so elend, daß sie darüber verhungern könnte, wenn sie sich nicht selbst nach schmackhaften Beeren und Körnern umthäte, für die wollen wir sorgen. Denn damit ist uns nicht gedient, daß man uns in ein enges hausfrauliches Bauer sperrt, uns ein paar Körner ins Näpfchen streut und, wenn man gut gelaunt ist, sogar ein Stückchen Zucker zwischen die Stäbe steckt, damit wir die liebe Familie durch unser Singen oder Zwitschern unterhalten. Nein, frei herumstreifen wollen wir, jedes nach seiner Art sich sein Futter suchen. –

Und jedes Weibchen sein Männchen! warf ich etwas spöttisch ein.

Aber sie ließ sich nicht einschüchtern. Gewiß, sagte sie, auch das, wie jedem zu Muthe ist. Die Herren der Schöpfung, die sich auf ihre Logik so viel zu Gute thun, merken nicht, wie unlogisch sie verfahren, wenn sie für die Erhaltung des Geschlechts nach eigenem Gutdünken sorgen möchten, da doch bekanntlich Zwei dazu gehören. – Und nun die bekannten Angriffe aller alten Jungfern gegen die bürgerliche Ehe. Na, in vielem hatte sie ja Recht, und ich stritt mit ihr mehr, um mich nicht besiegt zu erklären, als aus Überzeugung, und sagte da natürlich allerlei confuse Dinge, und da spottete sie: ich sei auch so ein unlogischer Nachbeter von veraltetem Kram und spräche wie der Blinde von der Farbe. Ich sollte mich nur einmal an einem ihrer Vereinsabende einfinden, gleich am nächsten, als wie heute, da werde sie selbst einen Vortrag halten – na, da ließ ich mich fangen. Aber ich bin froh, daß du mitkommst. Der Deutsche fürchtet bekanntlich nur Gott allein, sonst nichts auf der Welt, mit Ausnahme der edlen Weiblichkeit, die, wenn man über ihren Freiheitsschwindel die Nase rümpft, einem die Augen auskratzen möchte. Denn Schiller hat ganz Recht: Das Schrecklichste der Schrecken das ist das Weib in seinem Wahn!

Ich bin nicht ganz deiner Meinung, lieber Junge, versetzte der Andere ruhig. Es ist nicht Alles Schwindel, was in ihren Köpfen spukt, wenn auch viele unausgegohrene Ideen mit unterlaufen. Jedenfalls thut man besser, zu hören, was sie wollen, die Thörichten so gut wie die Gescheidten, als von vornherein anzunehmen, daß Alles Unsinn sei, bis einem die Bewegung über den Kopf wächst.

Wenn du so denkst, Vetter, lachte der junge Herr, brauche ich mir ja keine Gewissensbisse zu machen, daß ich dich von deiner Schachpartie abhalte. In diesem langweiligen Spiel hat ja übrigens auch das Ewig-Weibliche die Hauptrolle, die Königin muß den König decken. Aber da sind wir am Ziel.

*

Es war ein altes, unansehnliches Haus, in dessen hohes, von zwei Gaslaternen an den Seiten beleuchtetes Portal sie eintraten. Vor hundert Jahren war hier Theater gespielt worden; ein dreieckiger Giebel über der Mitte des oberen Stockwerks, in dem die vom Regen verwüstete Figur einer hölzernen Thalia stand, deutete noch auf diesen Zweck des Gebäudes hin. Seit auf dem Schloßplatz der Residenz gegenüber das stattliche neue Schauspielhaus entstanden war, hatte sich der Bürgerverein der verlassenen Säle bedient, um hier seine Feste, Bälle und Hochzeiten zu halten, in politisch aufgeregten Zeiten auch in diesen Räumen sich zu Berathungen versammelt. Außerdem wurde die »Harmonie«, wie das Haus jetzt hieß, vom Vorstande auch an andere Vereine zu ihren Sitzungen vermiethet.

Kommen wir zu spät? fragte Bob die alte Frau, die ihnen die Überröcke abnahm.

Es hat eben angefangen. Bitte die Herren nur, die Cigarren wegzulegen. Geraucht darf erst werden, wenn die Vorträge zu Ende sind.

Also nur beschränkte Rauchfreiheit in diesem Weiberstaat! flüsterte der junge Leutnant dem Vetter zu, indem er die Cigarette wegwarf. Nikotinfreie Damen sind mir auch eigentlich lieber. Also »Muth in der Brust, siegesbewußt!«

Er schritt dem Freunde voran die paar Stufen hinauf und öffnete die Thür, die ins Innere führte. Der ehemalige Zuschauerraum war durch den großen verstaubten Kronleuchter, der von der Decke herabhing, nur mäßig beleuchtet, aber hinten auf dem erhöhten Podium, der früheren Scene, brannten ein paar große Petroleumlampen auf dem langen Tisch, an dem die Damen des Vorstandes saßen. Statt der Sitzreihen des Parketts standen in dem großen Halbkreise kleine runde Tische, um die sich eine sehr bunte Gesellschaft gruppiert hatte, in der Mehrzahl Mitglieder des Frauenvereins, Lehrerinnen, Gehülfinnen aus Handlungsgeschäften, Arbeiterinnen aller Art, doch dem Anschein nach meist von etwas gebildeterem Schlage. Dazwischen einige Herren, der Redacteur des Lokalblatts, ein Mädchenschuldirector, Andere, die mit den weiblichen Mitgliedern in irgend welchem näheren Verhältniß standen.

In den Logen oben – einer einzigen Reihe – sah man hie und da kleine Gruppen von Arbeitern aus Fabriken und Werkstätten, von der Neugier hergelockt und der Hoffnung, für ihre socialistischen Überzeugungen hier neue Nahrung und Bekräftigung zu erhalten. Alle verhielten sich sehr ruhig, in Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, und nur ein leises Summen, wie von einem geschäftigen Bienenschwarm, schwebte über der Versammlung, kaum daß ein Löffel auf einer Kaffeetasse oder das Aufsetzen eines Bierglases auf den Tisch die feierliche Stille unterbrach.

Eben hatten die beiden Verspäteten sich an einem noch freien Platz in der Nähe des Eingangs niedergelassen, als sich die Präsidentin erhob, eine Glocke ertönen ließ und bekannt machte, Fräulein Lydia Bronikowski erhalte das Wort. Die würdige Dame, die eine sehr besuchte Mädchenarbeitsschule hielt, eine grauhaarige Matrone mit einer runden silbernen Brille auf der umfangreichen Nase, setzte sich alsbald wieder, und man sah ein schlankes Fräulein, eher klein als groß, ungesäumt von einem der Tische aufstehen und die vier Stufen zum Podium hinaufsteigen.

Oben war, über dem Tisch der Vorstandschaft, ein kleines Katheder errichtet, zwei Kerzen brannten darauf, und das übliche Glas Wasser stand daneben. Als zwischen den Lichtern der runde Tituskopf der Rednerin erschien, die klugen, lebhaften Äugelchen über die Zuhörer drunten hinschweiften und die etwas gebogene Nase sich zu rümpfen schien, als ob die Inhaberin vor ihrem Publikum keinen sonderlichen Respect hätte, stieß Bob seinen Vetter an und raunte ihm zu: Hab' ich nicht Recht? Ein schneidiges Frauenzimmerchen!

Als solches erwies sich Fräulein Lydia nun auch durch ihren Vortrag.

Sie begann damit, der Versammlung kund zu thun, daß von dem Schwesterverein eines gewissen Nachbarstaates die Aufforderung an den ihren ergangen sei, sich einer Eingabe an den Reichstag anzuschließen, in der für die Frauen das active und passive Wahlrecht gefordert werde.

Das Thema ihres Vortrages sei nun ein historischer Überblick über die gleichen Bestrebungen in den übrigen Kulturstaaten der Welt, dem weiblichen Geschlecht, dessen Arbeit und Vermögen ebenso besteuert würden wie die der Männer, zu den gleichen Pflichten auch die gleichen Rechte zu verschaffen.

Diese ihre Aufgabe löste die Rednerin, wie Niemand leugnen konnte, mit vielem Geschick. Sie beherrschte nicht nur die gesammte Litteratur, die über den Gegenstand erschienen war, sondern wußte auch für die Berechtigung ihrer Ansprüche so energisch einzutreten, die bisherigen veralteten Vorurtheile und vermoderten Mißbräuche mit so scharfem Hohn zu beleuchten, daß auch diejenigen, die mit den Argumenten etwa nicht einverstanden waren, sich dem Eindruck eines starken und ungewöhnlich geschulten Naturells nicht entziehen konnten.

Dazu war die Rede schlicht und fließend, ohne künstlichen rhetorischen Schmuck, nur von einer seltsamen Verstandeskälte durchweht, die so wenig gemüthlich erwärmen konnte, wie die geistreiche Lösung eines mathematischen Problems.

Zum Schluß theilte die Rednerin den Wortlaut der geplanten Eingabe mit und überließ es dann der Vorsitzenden, die Discussion darüber zu eröffnen und den Antrag zur Abstimmung zu bringen.

Als sie sich von der Höhe ihres Katheders herabgeschwungen hatte, wurde sie erst von den Damen des Vorstandes und dann von einigen näheren Freundinnen unten im Saale lebhaft begrüßt und beglückwünscht, was sie ohne sonderliche Ziererei als etwas Selbstverständliches hinnahm. Nur als Bob sich ihr näherte, ihr ein scherzhaftes Compliment zu machen und zugleich ihr seinen Vetter, Hauptmann Herbert von Rheinfels, vorzustellen, leuchtete etwas wie Triumph in ihren schwarzen Augen auf. Sie lud die Herren ein, an ihrem Tische Platz zu nehmen, und war eben im Begriff, sich mit Bob in ein lustiges Geplänkel einzulassen, als die Glocke der Präsidentin Stille gebot.

Fräulein Doctor Hanna Cameron bittet ums Wort.

Man sah eine ziemlich große, schlanke, aber kräftige Figur zu der Rednerbühne hinaufgehen und hinter dem schmalen Pult verschwinden. Was dann zwischen den beiden Kerzen sichtbar blieb, war ein Frauenkopf mit schlicht gescheiteltem braunem Haar, eine Stirn, die etwas höher erschien, als dem landläufigen Schönheitsideal entsprach, darunter Züge, die weder schön, noch häßlich genannt werden konnten, stille graue Augen, eine etwas stumpfe Nase, nur die Zähne, wenn die schmalen Lippen sich öffneten, von so blendendem Weiß, daß sie jedenfalls auf den ersten Blick das Reizendste an diesem Frauenkopf waren, bis die Augen sich bemerkbar machten.

Nun war es merkwürdig, wie das Gesicht, sobald das Fräulein zu sprechen begann, mit jedem Satze anziehender wurde. Es war eben eines jener Gesichter, zu denen die Natur ihren Inhabern gleichsam nur eine nachlässig hingeworfene Skizze dargeboten und es ihnen dann überlassen hat, das unvollkommene Werk erst fertig zu machen. An dieser Arbeit hatten sich bei dem Fräulein Doctor, das jetzt ums Wort gebeten, Geist und Seele in gleicher Weise betheiligt und etwas zu Stande gebracht, was werthvoller und selbst anmuthreicher war, als manches kleine formale Meisterstück aus einer noch so glücklichen schöpferischen Stunde der alten Menschenbildnerin.

Das Fräulein stand ein paar Minuten und sah still über die Zuhörerschaft hinaus, wie um sich zu sammeln, während die Vorrednerin ihren feurigen Spruch sofort kecklich losgelassen hatte. Dann begann sie ruhig, mit einer nicht sehr mächtigen Stimme, von der aber jedes leise Wort verständlich war.

Sie fühle sich etwas beklommen, daß sie nach einer so beredten Sprecherin das Wort ergreifen wolle, da sie sich nicht vorbereitet habe; um so bedenklicher scheine ihr das Wagniß bei dem Eindruck jenes Vortrages, dem offenbar die Meisten zugestimmt hätten. Da sie selbst aber anderer Ansicht sei und es sich um eine hochwichtige Sache handle, fühle sie sich verpflichtet, mit ihren Gegengründen nicht hinterm Berge zu halten.

Sie brauche sich wohl nicht gegen den Verdacht zu wehren, als ob sie nicht ganz so lebhaft, wie alle hier versammelten geehrten Damen, das Unwürdige der uralten Knechtschaft, in der ihr Geschlecht von den Männern gehalten worden sei, empfände, ebenso tapfer sich an dem Kampfe betheiligen möchte, der die ihnen gebührende Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft ihnen erringen solle.

Nur über die Wege, auf denen dies Ziel zu erreichen wäre, sei sie anderer Ansicht.

Auch sie fordere, daß den Pflichten, die den Frauen auferlegt seien, die entsprechenden Rechte gegenüber ständen. Aber da die Pflichten des weiblichen Geschlechts andere seien als die des männlichen, handle sich's auch für beide Geschlechter nicht ganz um die gleichen Rechte.

Ihr, die als Ärztin den Unterschied gründlich studiert habe, der zwischen dem weiblichen Organismus und dem männlichen von der Natur gestiftet sei, könne die Forderung, auch in der Verwaltung des Staates es den Männern gleich zu thun, nur als eine Chimäre erscheinen. Öffentliche Ämter, in denen sich's nur um Kenntnisse und geistige Befähigung handle, sollten gewiß den Frauen nicht verschlossen bleiben. Auch müßte es jedenfalls erreicht werden, daß in der Gesetzgebung die Frauen, um deren Wohl und Weh es so oft sich handle, von der Volksvertretung gehört und ihre Stimme berücksichtigt werde. In den Reichstag selbst gewählt zu werden, um an den Berathungen über eine Menge schwieriger socialer und politischer Fragen Theil zu nehmen, halte sie weder für ein dringendes Bedürfniß, noch auch für eine Forderung der Gerechtigkeit.

Denn darin seien doch die eifrigsten Verfechterinnen ihrer Ansprüche einig, daß ihr Geschlecht für den Kriegsdienst nicht tauglich sei. Marketenderinnen und die einzelnen streitbaren Jungfrauen, die theils unerkannt in Männerkleidern, theils wie die von ihren »Stimmen« dazu aufgeforderte Jungfrau von Orleans ruhmvolle Waffenthaten vollbracht hätten, bestätigten eben nur als Ausnahmen die Regel.

Nun, wer nicht mit in den Krieg ziehe, habe auch kein Recht, über Krieg und Frieden seine Stimme abzugeben. Das thue in letzter Stelle entscheidend freilich der oberste Kriegsherr. Der Reichstag aber habe das Recht, die Mittel dazu zu bewilligen oder zu versagen, und hierbei gäben nur männliche Beweggründe den Ausschlag.

Meine verehrten Damen, fuhr die Rednerin fort, daß jener Antrag aussichtslos ist, wird Ihnen Allen klar sein. Auch dem Frauenbund in unserem Nachbarland, von dem er ausgegangen ist. Sie haben indessen drüben es für nöthig befunden, einstweilen gleichsam zu Protokoll zu geben, was sie als ihr heiliges Recht in Anspruch nehmen und früher oder später zu erreichen suchen. Auch sind sie drüben von oben her mehr anerkannt und begünstigt als wir. Wir in unserm kleineren Lande haben alle Ursache, in der Betonung unserer vermeintlichen Rechte vorsichtig zu sein. Sie wissen Alle, daß wir bei Lebzeiten des alten Landesherrn noch nicht einmal so weit waren wie jetzt. Erst seit vier, fünf Jahren ist eine Wendung zu unseren Gunsten eingetreten. Man erlaubt uns gnädigst, den Herren der Schöpfung allerlei lästige Geschäfte abzunehmen, zu denen man auch ein beschränktes Weibergehirn befähigt glaubt. Lassen Sie uns, ohne über die noch bestehenden Schranken empfindlich zu sein, fortfahren, unsere Pflichten so vortrefflich zu erfüllen, daß man endlich begreift, wir würden auch gescheidt genug sein, unsere Rechte auch dann nicht zu mißbrauchen, wenn man sie uns endlich nicht länger vorenthalten kann.

Und vor allen Dingen: vergessen wir nicht, daß es im Leben der Gesellschaft überall auf eine zweckmäßige Theilung der Arbeit hinausläuft. Seien wir doch froh, daß wir mit der hohen Politik nichts zu thun haben. Auch berühmte und große Königinnen, wie Elisabeth von England und Katharina von Rußland, haben sich's gern gefallen lassen, daß gute Freunde die Last der Regierungsgeschäfte im Stillen ihnen abnahmen. Andererseits aber haben Weiber, die das Zeug dazu hatten, die Hosen anzuziehen, in die ihren schwachen Männern das Herz hineingefallen war, ohne Titel und Rechte dazu zu haben, die denkwürdigsten Thaten verrichtet.

Und nun erzählte sie in einem liebenswürdigen Plauderton, mit lustigen kleinen Zügen ausgeschmückt, die Historie von den Weibern von Schorndorf, die es nicht leiden wollten, daß ihre gute Stadt den räuberischen Horden Mélac's ausgeliefert würde, wie all die anderen schwäbischen Städte und Städtchen, sondern, die Frau Bürgermeisterin an der Spitze, den Bürgermeister nebst gesammtem Magistrat im Rathhaus einsperrten und die Stadt so lange vertheidigten, bis die Gefahr vorbei war.

Der Herr Bürgermeister Künkele, schloß die Rednerin, soll seiner guten Frau Künkelin noch eine ganze Weile die Beschämung nachgetragen, zuletzt aber eingesehen haben, daß es auch ein ungeschriebenes Frauenrecht giebt, nach welchem Frauen, die das Herz auf dem rechten Fleck haben, ebenfalls ihren Willen durchzusetzen wissen, nicht bloß in dem berühmten Pantoffelregiment zu Hause, sondern auch, wo es das Wohl und Weh des gesammten Volkes gilt und die Herren der Schöpfung einmal ihre Schuldigkeit zu thun versäumen.

*

Diese Rede, die vielfach mit Zeichen der Zustimmung begleitet worden war, wurde am Schluß mit dem heitersten Beifall belohnt.

Auf die Frage der Präsidentin, ob noch Jemand das Wort zu ergreifen wünsche, meldete sich Niemand. Bei der Abstimmung fand sich nur eine verschwindende Minderheit für die Annahme des Antrags.

Darauf erklärte die Vorsitzende die heutige Tagesordnung für erledigt, verließ ihren Platz und schritt auf das Fräulein Doctor zu, ihm herzlich die Hand zu drücken und ihre Übereinstimmung mit all ihren Ausführungen auszusprechen.

Die Rednerin nahm das freundlich hin, ohne eine besondere Genugthuung über ihren Sieg blicken zu lassen. Vielmehr beeilte sie sich, in den Saal hinunterzugehen und sich dem Tische zu nähern, wo ihre Gegnerin saß, um dieser durch ein Compliment über ihre Beherrschung des Materials und ihre glänzende Beredtsamkeit den Stachel über ihre Niederlage aus dem Herzen zu ziehen.

Fräulein Lydia war klug genug, sich nicht empfindlich zu zeigen, sondern lud die Siegerin ein, sich an ihrem Tische niederzulassen, und stellte ihr die beiden Herren vor. Doch wurde das Thema nur zwischen der Doctorin und Herbert fortgesponnen; Lydia hatte sich in ein witziges Geplauder mit Bob eingelassen, der über die Toilette der Zukunftsweibchen, wie er sie nannte, sehr unartige Bemerkungen machte und sogar den Tituskopf der Pianistin scharf kritisirte. Das Fräulein blieb ihm nichts schuldig, und sie waren beide so munter, daß ihr Tisch bald der Mittelpunkt des ganzen Kreises wurde.

Die beiden Anderen ließen sich dadurch nicht stören, ihre ernsthafte Unterhaltung fortzusetzen.

Jetzt, so nah ihm gegenüber, schien das schlichte Gesicht des Fräuleins für Herbert noch weit anziehender zu sein, da er keinen Blick von ihm verwandte. Eine so unschuldige Heiterkeit leuchtete aus den ruhigen grauen Augen, eine Seele, die völlig mit sich im Einklang ist und durch nichts an ihrem reinen Gefühle irre gemacht werden kann. Alles Andere an ihr war äußerst unscheinbar, ihr dunkles Kleid, die kleine weiße Krause am Halse, die Uhrkette, altmodisch aus Haaren geflochten. Und doch war die Art, wie sie Alles trug und sich bewegte, durchaus nicht spießbürgerlich. Man mußte in sich selbst sehr gefestet sein, um sich nicht vor dem warmen, stillen Blick dieses Wesens befangen zu fühlen.

Sie hatte aber bei aller Sicherheit, mit der sie sprach und sich bewegte, eine gewisse Bescheidenheit und Zurückhaltung, wie wenn sie sich heimlich bemühte, ihre geistige Überlegenheit zu verstecken. Dabei sah sie manchmal, wenn sie sehr nachdrücklich ihre Meinung geäußert hatte, dem, mit dem sie sprach, mit einer gewissen Spannung ins Gesicht, wie ein gutes Kind, das fragt, ob es auch nichts Unrechtes begangen hat. Dazwischen, wenn ein kluges Wort ihr gefiel, konnte sie herzlich lächeln und eifrig zustimmen. Eine tiefe Güte und Nachsicht mit allem Menschlichen leuchtete aus ihrem ganzen Wesen hervor, ein Hauch von innerer Freudigkeit, der Jedem wohlthun mußte.

Herbert sagte sich im Stillen, daß ihm ein ähnliches Frauenbild noch nie begegnet war.

Als sie plötzlich aufstand, da sie nach der Uhr gesehen hatte, und erklärte, sie müsse fort, sie werde zu Hause erwartet, erhob auch er sich und bat, sie hinausbegleiten zu dürfen. Nur sie verabschiedete sich von den Anderen, Herbert flüsterte Bob zu, er werde gleich zurückkommen.

In der Garderobe aber, nachdem er dem Fräulein ihr Sommermäntelchen umgehängt, bat er, ein wenig schüchtern, um die Erlaubniß, sie noch ein paar Schritt weiter zu begleiten. Im Saal, wo man jetzt zu rauchen begonnen hatte – auch etliche weibliche Cigaretten machten von der Erlaubniß Gebrauch – sei die Luft so schlecht, daß er ein paar Athemzüge im Freien thun möchte.

Natürlich hatte sie Nichts dagegen einzuwenden. Da sie aber hinaustraten und sahen, daß es inzwischen zum Regnen gekommen war, blieb sie an der Thüre stehen und sagte, ihren Schirm entfaltend:

Nein, Herr Hauptmann, ich nehme Sie nicht weiter mit, Sie sind heiß geworden, und als Ärztin müssen Sie mir erlauben –

Sie vergessen, mein Fräulein, daß ich Soldat bin, versetzte er lachend. Zum Regimentsarzt fehlt Ihnen doch wohl noch Manches, wenn Sie auch in Schorndorf gewiß Ihren Mann gestellt hätten. Indessen erlauben Sie mir – bis zum Markt sind nur ein paar Schritte – wenn ich Ihnen eine Droschke holen darf –

Ich habe meinen Schirm, wie Sie sehen, ein richtiges Familiendach, und gehe stets zu Fuß, außer wo ein Krankenbesuch große Eile hat, theils um mich nicht zu verweichlichen, theils aus Sparsamkeit. Aber wenn Sie selbst –

Mein Mantel ist wasserdicht, sagte er. Nein, ich bitte, mein Fräulein, halten Sie den Schirm nur über sich selbst. Wenn Sie mir erlauben, Sie nach Hause zu bringen – wo wohnen Sie?

Sie nannte eine sehr entlegene Straße in der Vorstadt und wollte seine Begleitung durchaus nicht annehmen. Doch ohne weiter darauf zu achten, fuhr er ruhig in dem Gespräche fort, das er drinnen mit ihr geführt hatte, und ihm war so wohl und warm, wie er im Regen neben ihr her ging, daß er sich im schönsten Frühlingswetter nicht hätte behaglicher fühlen können.

Nein, sagte sie nach zehn Schritten, das leide ich aber nicht. Sie müssen mir durchaus den Arm geben und mit unter meinen Schirm kommen. Ich höre ja sonst auch kaum vor diesem Geprassel, was Sie sagen. Weichen Sie nur der Gewalt, Herr Hauptmann! Es ist keine Schande für einen rauhen Krieger, etwas zu thun, was vernünftig ist, wenn es auch nicht reglementsmäßig wäre.

Nun ging sie wirklich an seinem Arm dahin und erzählte ihm auf seine Frage, woher sie sei und wie sie in diese Stadt gekommen, die nicht ihre Heimath war.

Sie sei in einem fränkischen Landstädtchen geboren, erzählte sie dem Hauptmann, wo ihr Vater als ein armer Thierarzt ansässig war. Da aber in dem abgelegenen Nest die Menschen mit ihren Hausthieren vertraulicher zusammen leben als in großen Städten, hab' es nicht fehlen können, daß manch bescheidener Ackerbürger, der den Doctor für seine kranke Kuh consultiert hatte, sich bei ihm auch Raths erholte, wenn er selbst oder eines seiner Familienglieder über etwas zu klagen hatte.

Schon als kleines Schulkind, fuhr sie fort, war ich manchmal mit ihm gegangen, wenn er seine Praxis ausübte, doch nur, wo sich's um Thiere handelte, für die ich von früh an ein mitleidiges Herz hatte. Ich bekam auch bald eine ziemlich genaue Vorstellung, wie es im Innern dieser unserer stummen Mitgeschöpfe aussieht, und von da war der Schritt nicht weit zu der neugierigen Frage, wodurch sich der menschliche Körper vom thierischen unterscheide.

Als dann der gute Vater uns früh wegstarb – ich war ein zwölfjähriges Ding, wußte aber schon sehr gut, was das für ein Schlag für uns Alle war und besonders für mich, die sein Herzblatt gewesen war – da dauerte es nicht lange, daß wir in Noth kamen. Ein Bruder meiner Mutter half uns über die ersten Hungerjahre hinweg. Dann zogen wir nach München, wo wir entfernte Verwandte hatten.

Denn meine ältere Schwester, vier Jahre älter als ich, hatte eine wundervolle Stimme, und der Organist unserer Kirche rieth der Mutter, sie noch ein bischen ausbilden zu lassen, dann würde sie bald ihr Glück beim Theater machen.

Überdies war sie auffallend schön. Sie hatte ihr Gesicht von der Mutter, während ich so unvorsichtig gewesen war, dem Vater nachzuschlachten. Früher machte mir das Kummer, so sehr ich meinen Papa liebte. Ich habe immer für schöne Menschen geschwärmt, meine erste Liebe war ein Friseurgehülfe, der ein Näschen hatte wie der Puppenkopf mit der Lockenfrisur im Schaufenster seines Prinzipals und ebenso zwei schmachtende Augen, übrigens so dumm wie ein Gänserich. Meine Schwester war auch nicht besonders geistreich, aber das beste Herz von der Welt, und wenn sie sang, hielt man sie geradezu für einen Engel vom Himmel, so verklärt sah sie dabei aus.

Sie machte auch in München Aufsehen, und es dauerte nicht lange, so wurde sie im Hoftheater als Choristin engagiert. Das war nun keine glänzende Versorgung, und was die Mutter mit Handarbeit nebenbei verdiente, reichte auch nicht weit. Also konnte ich es nicht lange aushalten, müßig dabeizusitzen und mich füttern zu lassen, sondern nahm meine paar Spaarpfennige aus der irdenen Büchse, die gerade so weit reichten, daß ich ein Billet dritter Klasse nach Zürich bezahlen konnte, und fort ins Leben, in die Fremde, einen zwiefachen Hunger zu stillen, den nach dem täglichen Brod und den noch heißeren nach Kenntnissen.

Verzeihen Sie, daß ich Sie mit diesen Details langweile. Aber Sie wollten wissen, wie ich dazu gekommen bin, Ärztin zu werden. Was ich auf dem langen dornigen Wege bis zu diesem Ziel erlebt habe, wie ich's überhaupt durchsetzen konnte, nicht zehnmal unterwegs liegen zu bleiben und zu verschmachten, wäre eine recht lehrreiche Geschichte für junge Mädchen, die sich auf ihre eigenen Füße stellen möchten. Ihnen kann das nicht interessant sein.

Genug, ich erreichte es endlich und bestand mein Doctorexamen. Fing auch wirklich da unten in der Schweiz eine kleine Praxis an, hauptsächlich bei Frauen und Kindern, und wäre vielleicht dort kleben geblieben, wenn ich nicht von der Agnes – meiner Schwester – einen traurigen Brief bekommen hätte, in dem sie mich beschwor, zu ihr zu kommen. Ich sei ihre einzige Stütze, da auch die Mutter inzwischen gestorben war.

Sie hatte trotz Talent und Schönheit es noch immer nicht zu einer glänzenden Stellung gebracht. Ihre Brust war zu schwach, größere Partieen zu singen, ein einziges Mal hatte man ihr zum Versuch das Bärbelchen in »Figaro's Hochzeit« gegeben, aber das Debut mit der »unglückseligen kleinen Nadel« war nicht sehr glücklich ausgefallen.

Das konnte ihre ehrgeizige arme Seele nicht verwinden. Sie fing an zu kränkeln, und das Schlimmste war, daß ihre Hoffnung auf eine heitere Zukunft zu derselben Zeit zerstört wurde, da der Mann, der sie liebte, plötzlich einer Verwundung im Duell erlag.

Er war der Sohn eines reichen Bankiers, der sich leidenschaftlich in sie verliebt hatte. Als ihr Töchterchen zur Welt kam, war er gewissenhaft genug, sich mit ihr trauen zu lassen, vorläufig nur heimlich. Der Vater hatte ehrgeizige Pläne mit diesem Sohn und würde ihn enterbt haben, wenn er »Eine vom Theater« ihm als Schwiegertochter ins Haus gebracht hätte.

Als meine arme Schwester Wittwe wurde, war ihr Kind, das Zerlinchen, eben sechs Jahre. Ein halbes Jahr später war sie eine Doppelwaise.

An einer Mutter freilich sollte es ihr doch nicht fehlen, dafür war ich auf der Welt. Es war mir auch ganz recht, mich in einer großen Stadt niederzulassen, wo ich meine Kenntnisse ganz anders erweitern konnte, als in der engen schweizerischen Umgebung. Es stand aber anders in den Sternen geschrieben.

Eines Tages kam mein Kind – es war mir schon ganz, als hätt' ich selbst es unterm Herzen getragen – verweint, heiß im Gesicht, aus der Schule nach Hause und fragte mich sogleich: Tantle, ist es wahr, daß ich keinen Vater gehabt habe?

Denken Sie, damit hatten die boshaften Mädel das arme Ding geneckt und geängstigt. Sie werden von ihren Müttern zu Hause gehört haben, mit der Heirath der schönen Choristin sei es nicht richtig gewesen, »Einer vom Theater« konnte man ja Alles zutrauen, das sollte nun die kleine Tochter entgelten. Es ist unglaublich, wie früh in solchen jungen Evastöchtern alle Schlangentücke sich regt.

Ich beruhigte mein Kind, so gut ich konnte, es vergaß auch bald die ganze Geschichte; ich aber konnte den Gedanken nicht ertragen, daß dergleichen sich wiederholen möchte, und so löste ich Alles, was mich an München fesselte, auf der Stelle auf und siedelte hieher über.

Die alte Kinderfrau, die mich selbst und meine Schwester schon bei Lebzeiten der Eltern behütet hatte, damals als »Mädchen für Alles«, war auch nach München mitgezogen und ist mir dann hieher gefolgt. In den zwei Jahren, seit dies geschah, habe ich noch keinen Augenblick meinen raschen Entschluß bereut. Man hat hier bald Vertrauen zu mir gefaßt, und zu thun fand ich mehr, als ich jemals in der großen Stadt hoffen konnte, wo ich nicht die Einzige meiner Art war. Und daß keine Gefahr ist, hier mit der Welt nicht fortzuschreiten, wenigstens was die Frauenfrage betrifft, haben Sie selbst mit erlebt. Wenn ich den Ehrgeiz dazu hätte, könnte ich sogar mit der Zeit das verehrte Fräulein Präsidentin vom Thron stoßen.

*

Sie schwieg und ging eine Strecke weiter, stand dann plötzlich still und sagte lachend:

Was werden Sie von mir denken? Ich kenne Sie erst seit einer halben Stunde, und schon habe ich Ihnen mein ganzes Lebensläuflein erzählt, statt auf Ihre Frage mit zwei Worten zu erwidern. Und ich bin sonst gar nicht schwatzhafter Natur. Aber so geht es ja oft. Man lebt mit Menschen Jahre lang Thür an Thür, ohne mehr von ihnen zu wissen, als daß sie stille oder lärmende Nachbarn sind, und in einem Eisenbahnwagen knöpft man sich gegen ein gefälliges Vis-a-vis wie gegen einen Beichtvater auf, um sich dann nie wieder zu begegnen. Auch die Bekanntschaft mit Ihnen, Herr Hauptmann, wird ja wohl keine Fortsetzung haben. Wir leben in allzu verschiedenen Kreisen und haben Beide unseren »Dienst«. Hoffentlich fühlen Sie sich in dem Ihren so befriedigt, wie ich in meinem.

Mein verehrtes Fräulein, versetzte er mit einem etwas gedrückten Ton, da berühren Sie eine Wunde, die all Ihre ärztliche Kunst nicht zum Vernarben bringen könnte. Gewiß, ich bin zu nichts Anderem tauglich, als was ich eben treibe. Meine Vorfahren bis ins sechste Glied waren lauter Militärs, und auch ich – seit ich denken kann, hatt' ich nur den Ehrgeiz, eine militärische Carrière zu machen. Aber das ist das Leidige bei der Sache: ein Soldat in Friedenszeiten ist nichts Besseres als ein Arzt in einer Gegend, die so gesund ist, daß nie ein Mensch seine Hülfe in Anspruch nimmt. Für Beide bleibt dann nur der kümmerliche Ausweg, sich wissenschaftlich, das heißt theoretisch, weiter zu bilden, aber das ist doch nicht eigentlich ein Leben, das alle Kräfte beschäftigt. Freilich wär's eben so unmenschlich, wie es manche meiner Kameraden thun, die leidenschaftlich einen Krieg herbei wünschen, daß der Arzt eine Epidemie heraufbeschwören möchte. Aber ein ungesunder Zustand ist's immerhin, und da ich zu alt bin, noch einen anderen Beruf zu ergreifen, denk' ich manchmal im Ernst daran, in irgend einen wilden Welttheil auszuwandern und dort, wo es nie an Kämpfen und Abenteuern fehlt, einmal den Degen anders als bei den unblutigen Manövern aus der Scheide zu ziehen.

Und warum thun Sie das nicht wirklich einmal? fragte sie sehr unbefangen. So ein nutz- und zweckloses Garnisonsleben muß einem gewissenhaften Mann, der fühlt, daß nur Arbeit das Leben der Mühe werth macht, auf die Länge doch entsetzlich sein!

Ja, mein gnädiges Fräulein –

Bitte! Ich werde sehr ungnädig, wenn Sie mich so titulieren.

Nun denn, Fräulein Doctor! – damit hängt es wunderlich zusammen. Unser »allergnädigster Herr« hat die Gnade, mich mit seiner besonderen Huld auszuzeichnen. Wir sind ungefähr im gleichen Alter, er ein Jahr jünger, und er hat sich in demselben preußischen Regiment, wie ich, die Epauletten verdient. Nun habe ich, als er zur Regierung kam, es nur mit großer Mühe abgewendet, daß er mich zu seinem Flügeladjutanten machte. Ich stellte ihm vor, daß ich zum Hofdienst nicht die nöthigen Eigenschaften hätte, ich bedürfe zuweilen Einsamkeit und sei auch sonst nicht biegsam genug. Da hat er mich endlich losgelassen, ich habe ihm aber versprechen müssen, mindestens bis zur Majorsecke hier auszuhalten, er bedürfe eines Freundes in seiner Nähe, und was hohe Herren sonst Schmeichelhaftes zu sagen wissen, wenn sie uns ihren Willen aufzwingen möchten. Da hab' ich mich drein ergeben, und Gott weiß, wie lange ich nun auf den Major zu warten habe und indessen Kriegswissenschaft aus Büchern studieren kann.

Ich beklage Sie aufrichtig, sagte sie darauf, und hoffe, Sie umsegeln bald mit einem günstigen Winde die Majorsecke, wenn dieser Wind Sie uns auch für immer aus den Augen entführt. Einstweilen haben Sie schönsten Dank für die freundliche Begleitung. Denn hier bin ich bei meinem Hause angelangt, und nun müssen Sie durchaus den Schirm von mir annehmen, um trocken heimzukommen. Es sieht nicht aus, als ob der Regen so bald aufhören würde.

*

Sie standen vor einem hohen Hause in einer schmalen, schlecht beleuchteten Straße des Arbeiterviertels. Die Gegend war wie ausgestorben, kein Laut drang aus einem der Fenster weit und breit, selbst in der Tabagie gegenüber, wo durch die schlecht schließenden Läden ein Lichtstreifen auf die schmutzige Straße fiel, schienen die späten Besucher heute friedlicher als sonst am Biertisch zu sitzen und ihr Kartenspiel zu machen.

Herbert war unter dem Schirm hervorgetreten und ließ den Regen auf sich niederrauschen. Er suchte in seinem Kopf nach einem schicklichen Wort, um zu fragen, ob er nicht hoffen dürfe, das Fräulein Doctor wiederzusehen, so sehr beschäftigt sie auch sei. Es kam ihm allzu unnatürlich vor, daß es nach dieser plötzlichen Annäherung mit der einen halben Stunde sein Bewenden haben solle. Da hörte er sie plötzlich sagen:

Sie werden für den Rest Ihres Abends besser gesorgt haben, sonst – ich fände es nicht sehr höflich, Sie nicht einmal zu bitten, einzutreten, bis das Wetter sich doch vielleicht bessert. Wenn Sie das im Trocknen abwarten wollen und es nicht unbequem finden, drei Treppen hoch zu steigen, so erweisen Sie mir vielleicht die Ehre. Ich habe ohnehin heute meinen Jour.

Ihren – Jour?

Sie lachte.

Ja, das kommt Ihnen sonderbar vor, eine Ärztin, die hauptsächlich Kinder armer Leute curiert und theils der Billigkeit wegen, theils weil sie hier ihren Patienten näher ist, im dritten Stock dieses alten Palastes wohnt – und spricht von ihrem Jour, noch dazu um halb zehn Uhr Nachts. Aber die Sache ist sehr einfach.

Sehen Sie, unter der Woche habe ich keine Zeit, außerärztliche Besuche zu empfangen. Mein ganzer Tag ist besetzt, und Abends, nach dem Nachtessen, überhör' ich meinem Kinde seine Schulaufgaben. Da bleibt nur der Samstag Abend für das bischen an geselligen Bedürfnissen, ohne die auch das resignierteste Arbeitsthier nicht leben kann. Und so wissen meine paar Freunde, daß sie alle Samstag von acht Uhr an bei mir eine Tasse Thee, einen kleinen Schwatz und ein freundliches Gesicht finden. Heut habe ich mich freilich verspätet.

Sie werden fragen, warum ich nicht auch am Sonntag »empfange«. Einfach darum, weil ich Vormittags Sprechstunde habe und Krankenbesuche mache, nach dem Essen aber regelmäßig weite Spaziergänge unternehme. Das Zerlinchen muß sich wenigstens einen Tag in der Woche gründlich lüften. Wenn ich Sie also einladen darf – meine »Habitués« werden Ihnen freilich etwas seltsam vorkommen.

Ich kann Ihnen nur dankbar sein, verehrtes Fräulein, wenn Sie mich mit Ihren Hausfreunden bekannt machen wollen, versetzte er.

Nun, so lassen Sie uns nicht länger hier im Zuge stehen.

Sie trat ins Haus, nachdem sie die Thür aufgeschlossen hatte, und er folgte ihr in den dunklen Flur. Eine schmale Treppe führte hinauf; an jedem Absatz der vier Stockwerke brannte ein Petroleumlämpchen, das nur die nächsten Stufen erleuchtete. Im Haus unten, wo der Hausherr wohnt und über ihm ein uraltes Ehepaar, schläft schon alles, sagte sie leise. Meine Leute sind schon gewohnt, daß ich sie manchmal lange warten lasse, wenn ein Schwerkranker mich aufhält. Dann ist auch das Zerlinchen nicht früher zu Bett zu bringen. Aber, mein Gott, was mir eben einfällt: es ist ja heute kein Jour wie alle Anderen, ich hatte ganz vergessen, daß heute mein Geburtstag ist, mein dreißigster. Da kommen Sie nun in eine kleine Familienfeier hinein. Freilich habe ich mir immer verbeten, daß viel Notiz davon genommen wird, wenn ich altes Mädchen wieder einen Jahresring ansetze, aber selbst das bischen erhöhte Feststimmung ist doch für einen Unbetheiligten langweilig oder gar lächerlich.

Sagen Sie mir ehrlich, ob ich Sie störe, bat er, auf der Treppe stehen bleibend, oder vielleicht Ihre anderen Freunde. Ich komme dann erst das nächste Mal, und Sie müssen mir nur erlauben, daß ich Ihnen gleich hier meinen Glückwunsch ausspreche.

Sie streckte ihm die Hand entgegen. Ich danke Ihnen. Nein, Sie stören uns gar nicht. Hoffentlich wird das Glück, das Sie mir im Dunkeln wünschen, im nächsten Jahr ans Licht kommen.

*

Sie waren eben im dritten Stock angelangt, und das Fräulein zog die Klingel.

Gleich darauf wurde es innen lebendig, eine sehr junge Stimme erklang, und aus der Thür nach dem Flur, die hastig aufgerissen wurde, flog ein schlankes junges Geschöpf heraus und mit dem Ausruf: Endlich, Tantle! Wie lange bist du ausgeblieben! dem Fräulein Doctor an den Hals.

Dann sah die Kleine den unbekannten Herrn und trat erröthend zurück. Wer ist das? flüsterte sie der Tante zu.

Ein guter Freund, mein Liebling. Gieb ihm eine Hand! Er war der Erste, der deinem Tantle gratuliert hat. Aber nun komm hinein!

Durch einen kleinen Vorplatz gelangte man gleich in die Wohnstube, die zugleich zum Eßzimmer diente. Hier rechts ist mein ärztliches Reich, sagte sie zu Herbert, das Wartezimmer und das kleinere, wo ich meine Kranken empfange. Auf der anderen Seite liegen die drei Stübchen, in denen wir schlafen. Treten Sie nur ein, ich sehe, meine Intimen sind schon vollzählig beisammen.

Es war ein ziemlich großes, zweifenstriges Zimmer, mit einfachen, altmodischen Möbeln ausgestattet, an den Wänden aber ein paar schöne Stiche nach Bildern aus der Pinakothek, die dem Raum doch ein vornehmeres Ansehen gaben, als das einer gewöhnlichen kleinbürgerlichen Behausung. Ein länglicher ovaler Tisch stand in der Mitte, eine große Petroleumlampe hing von der Decke herab und beleuchtete die schneeweiße Tischdecke, die sechs Theetassen, die darauf standen, ein paar Schüsseln mit kaltem Fleisch und ein chinesisches Brodkörbchen. In der Mitte aber stand eine Vase mit Blumen, die Levkojen, Veilchen und Rosen durchdufteten den ganzen Raum, wobei ihnen ein eigenes Blumentischchen vor dem Fenster kräftig half. Dann war noch ein Sopha an der einen Wand, ihm gegenüber ein Pianino und neben der Eingangsthür ein kleines Büffet, auf dem eine Theemaschine stand, deren Kessel heftig brodelte und feine Dampfwölkchen ausstieß.

Als Fräulein Hanna eintrat, schienen die Personen, die hier auf sie gewartet hatten, im Begriff, ihr entgegen zu gehen. Aber der Anblick eines Fremden machte sie stutzen. Guten Abend, Kinder! sagte Hanna, der sich das Zerlinchen an den Arm gehängt hatte. Hier ist noch ein Geburtstagsgast, Herr Hauptmann von Rheinfels, dessen Bekanntschaft auch euch angenehm sein wird. Nehmt mir nur erst den nassen Mantel ab. Dann wollen wir's uns gemütlich machen.

Dies hier, sagte sie dann, zu Herbert gewendet, ist unsere älteste,treueste Freundin, Frau Susanne Specht, die mein Kind behütet, wie sie es schon mir gethan hat, als ich nicht älter war als das Zerlinchen. Und da stelle ich Ihnen unsere liebe Hausgenossin vor, die über uns wohnt, Fräulein Rosa Hinkel. Und der Herr dort ist Herr Fridolin Specht, der Sohn unserer Susel, seines Zeichens ein Kunstschlosser, aber ein rechter Künstler, der auf der letzten Kunstgewerbeausstellung eine erste Medaille bekommen hat. Sein ehrlicher Name ist eigentlich Fritz, aber das übermüthige Mädel, das Zerlinchen, hat sich erlaubt, ihn Fridolin umzutaufen, und der Name ist nun an ihm hängen geblieben. Was seh' ich aber da, lieber Fridolin? Ich glaube wahrhaftig –

Sie hatte sich dem Blumentischchen genähert, da stand zwischen einem halben Dutzend verschiedener Blumentöpfe ein hoher, dreiarmiger schmiedeeiserner Leuchter von der feinsten Arbeit, dessen drei Arme brennende Kerzen trugen.

Oh! oh! machte das Fräulein und erhob drohend den Finger, ich brauche nicht zu fragen, von wem dies Kunstwerk herrührt. Ist das aber erlaubt, eine solche Gesetzesübertretung sich zu Schulden kommen zu lassen? Sie müssen nämlich wissen, Herr Hauptmann, ich habe meinen Freunden streng verboten, mir irgend etwas Anderes als Blumen zum Geburtstag zu schenken. Und nun hat Herr Specht sich herausgenommen, mir diesen entzückenden Candelaber zu verehren. Wie viel halbe Nächte nach Feierabend oder ganze Sonntage haben Sie geopfert, lieber Fridolin, um dies Meisterstück für mich zu arbeiten, statt nach dem schweren Tagewerk zeitig zu Bett zu gehen? Wenn der Leuchter nur nicht so schön wäre, daß ich dem Geber gar nicht so böse werden kann, wie ich sollte!

Der junge Mann, gegen den diese Strafrede gerichtet war, nahm sie ohne sonderliche Zerknirschung hin, obwohl er sonst mit einer etwas schüchtern linkischen Haltung in dem kleinen Kreise stand. Er war von ziemlich großem, etwas plumpem Wuchs, breitschultrig, auf dem starken Nacken ein runder Krauskopf, Kinn und Wangen von einem kurz gehaltenen schwarzen Bart eingefaßt. Ein schwärzlicher Anflug überzog auch das ganze Gesicht, wie wenn ihm Eisenfeilstaub so fest in die Haut gedrungen wäre, daß kein Waschen ihn wieder entfernen konnte. Um so merkwürdiger war es, daß aus diesem angerußten Gesicht zwei Augen vom reinsten Vergißmeinnichtblau hervorschauten, deren Glanz durch die dicken schwarzen Brauen noch gesteigert wurde. Etwas anziehend Seelenvolles lag in ihnen, ein träumerisches Sinnen und Schauen, wie es Künstleraugen eigen zu sein pflegt.

Bei Herbert's Eintritt hatte dies stille Gesicht, dessen Ausdruck an den eines klugen, treuen Hundes erinnerte, sich plötzlich verdüstert. Auf die Worte Fräulein Hanna's wurde es wieder hell. Sogar ein verstohlen schalkhaftes Lächeln erschien an dem kräftigen Munde und in den halb zugekniffenen Augen.

Ich bitte um Verzeihung, sagte er ruhig, ich habe das Hausgesetz nicht übertreten. Ich weiß, daß wir dem verehrten Geburtstagskind nur Blumen schenken dürfen. Wenn aber Fräulein Hanna sich den Leuchter näher ansehen wollte, der Stamm ist ja ein Rosenstiel und die drei Arme nichts anderes als die Zweige, die aus ihm herausgewachsen sind, so daß die Kerzen in drei vollaufgeblühten Rosen stecken. Von welchem Material die Blumen sein müßten, die wir heute darbringen, ist uns nicht vorgeschrieben worden.

Alle lachten, und die so hübsch Überlistete reichte dem schlauen Verehrer herzlich die Hand, deren Druck er treuherzig mit seiner breiten, ebenfalls schwärzlich gefärbten Tatze erwiderte. Seine Mutter sah mit unverhohlenem Stolz auf den kunstreichen Sohn, der sich so geschickt aus dem Handel gezogen hatte. Sie war noch einen halben Kopf größer als er, das Gesicht so tief gebräunt, als wenn es im Rauch gehangen hätte, darüber das schlohweiße Haar, noch vom Alter nicht im Mindesten gelichtet, von einem silbernen Glanz, der unter einem schwarzsammtenen, halb bäuerlichen Häubchen vollends zur Geltung kam.

Die wunderlichste Figur aber war das Fräulein Rosa Hinkel, das in einem Dachgeschoß gerade über dem Wohnzimmer ihrer Hausgenossinnen wohnte und dort ein sehr arbeitsames Leben führte. Sie galt für eine der geschicktesten Schneiderinnen der Stadt, und die vornehmsten und elegantesten Damen beehrten sie mit ihrer Kundschaft und ließen sich's zuweilen sogar nicht verdrießen, die vier hohen Treppen zu ihr hinaufzusteigen, da die Rosel, wie sie allgemein hieß, niemals sich weiter als bis zu ihrer Freundin Hanna hinunterbemühte. Sie erregte nämlich stets, wenn sie auf der Straße sich blicken ließ, Aufsehen bei allen Begegnenden, und die ungezogene Gassenjugend verschonte sie nicht mit ihren gottlosen Spottrufen und allerlei Spitznamen, die sie ihr nachrief.

Das war ihr doch immer verdrießlich, so sehr sie selbst über ihre wunderliche Mißgestalt guten Freunden gegenüber unbarmherzig zu scherzen pflegte. Denn auf dem kleinen, fast zwerghaften Körperchen saß ein viel zu großer Kopf, der übrigens unglücklich genug zwischen den hohen Schultern steckte. Wer ihr aber ins Gesicht sah, vergaß bald, wie übel das alte Wesen von der Natur ausgestattet war. Denn über der recht ansehnlichen Nase saß eine der edelsten und klarsten Stirnen, darunter, durch eine große Hornbrille blickend, zwei Augen, die von Herzensgüte strahlten und dann wieder einen witzigen Ausdruck haben konnten, der thörichten oder hochmüthigen Menschen zu erkennen gab, daß die arme Näherin sich ihnen überlegen fühlte und ihnen bis auf den Grund ihrer Herzen sah.

Fräulein Hanna hatte sich gleich das erste Mal, als sie bei ihr für sich und das Kind Kleider bestellte, zu ihr hingezogen gefühlt, und mit der Zeit war eine unverbrüchliche Freundschaft daraus geworden. An keinem der samstäglichen Jours durfte sie fehlen, und wenn das Wetter irgend darnach angethan war, mußte das Röschen auch seine Abneigung gegen die Öffentlichkeit überwinden und Sonntags an den weiten Streifzügen durch die Umgegend theilnehmen.

*

Die kleine, so wunderlich bunte Gesellschaft hatte sich um den Theetisch gesetzt, an dem natürlich auch die alte Susel Platz nahm, nachdem sie den Thee bereitet hatte. Das Zerlinchen schenkte ein, ein großer Napfkuchen, den die Alte gebacken, wurde herumgereicht, und, nachdem sie das erste Gefühl des Unbehagens dem fremden Gesicht gegenüber verloren hatten, griffen alle mit einem fröhlichen Festhunger, ohne sich nöthigen zu lassen, zu, was auch Herbert nicht verschmähen durfte.

Er saß an dem einen schmalen Ende des Tisches, am anderen, ihm gegenüber, Fridolin, der allein von Allen einen gewissen Unmuth über den Eindringling nicht bezwingen konnte. Dagegen hatte er das Zerlinchen, das zu seiner Rechten saß – zu seiner Linken das Geburtstagskind – bald so vertraut zu machen gewußt, daß sie auf seine Fragen nach ihren Schulstudien, ihren Freundinnen und Liebhabereien aufs Unbefangenste Bescheid gab. Ihr helles junges Gesicht war dem der Tante ähnlicher als ihrer eigenen Mutter, von der ein in München gemaltes Ölbild über dem Pianino hing; dieselben schlichten Züge, die aber von innen heraus reizend beseelt und veredelt wurden, und dasselbe feine, zuweilen schalkhafte Lächeln. Auch hatte sie das schönste blonde Haar, das in zwei dicken Zöpfen über ihren schlanken Rücken herabhing.

Als die Schüsseln leer geworden waren und auch Niemand mehr seine Tasse neu gefüllt zu sehen wünschte, gab die alte Susel, die neben dem Zerlinchen saß, ihr einen Wink, worauf das Mädchen flüsternd, mit einem Blick auf Herbert antwortete. Dann aber entschloß sie sich doch, aufzustehen, ging nach dem Pianino und setzte sich auf den Drehstuhl davor. Sie fuhr sich erst mit den Händchen über die erglühenden Schläfen und die Locken an der Stirn, that einen tiefen Seufzer und begann dann ein einfaches Vorspiel, bis sie ein kleines Lied anstimmte, erst sehr leise und beklommen, aber bald voll aus der jungen Brust heraus, so daß man erstaunte, welch eine Fülle von Wohlklang dem zarten Mündchen entströmte.

Die erste Strophe des Liedes, das auf eine bekannte Melodie gedichtet war, lautete:

Der Tag ist gekommen, zu dem wir uns gefreut,
O komm' er noch oft und so fröhlich wie heut'!
Du Liebste, du Beste, wie arm stehn wir hier,
Denn alle gute Gaben, wir danken sie ja dir!

Darauf noch zwei Ströphchen von demselben bescheidenen poetischen Klang, der aber durch den lieblichen Hauch der Jugend, da jedes Wort aus dem Herzen kam, reizender erschien, als manches anspruchsvollere Gedicht gethan haben würde.

Als der letzte Vers verklungen war, stand Fräulein Hanna auf, ging zu der kleinen Sängerin hin und küßte sie herzlich. Das Kind umschlang leidenschaftlich die geliebte Tante und brach in Thränen aus.

Du hast sehr hübsch gesungen, mein Liebling. Darum will ich diesmal nicht schelten, daß du trotz meines Verbots dein Stimmchen angestrengt hast. Du weißt, daß es deiner armen Mutter ihr Leben gekostet hat, zu eifrig zu singen, und daß du einstweilen dein Talent, das du von ihr geerbt hast, nur durch dein Klavierspiel pflegen sollst. Wer aber hat dir den Text zu dem Liebe gedichtet?

Ich darf es nicht verrathen, sagte das Kind, warf aber dabei ihrem Freunde Fridolin einen Blick zu, der über den Dichter keinen Zweifel ließ.

Der scheue Mensch war über und über roth geworden und setzte, um seine Verlegenheit zu verbergen, die leere Tasse an den Mund.

Wie? sagte das Fräulein. Sie dichten auch, lieber Fridolin? Das ist ja ein ganz neues Talent an Ihnen, das Sie bisher sorgfältig versteckt haben.

Er stammelte ein paar unverständliche Worte, wie wenn er auf einem Verbrechen ertappt worden wäre.

Wer weiß, bemerkte Fräulein Rosa Hinkel, was wir noch Alles an Herrn Fridolin erleben! Am Ende concurrirt er noch eines Tages bei dem Standbild Bismarck's, das man hier im Stadtpark setzen will, und dichtet dann noch das Festlied zur Enthüllungsfeier.

Alle lachten, und es kam wieder ein munteres Gespräch in Gang. Die Hausherrin aber gab der alten Susel einen Wink, daß sie das Zerlinchen zu Bett bringen solle, was das Kind sichtbar sehr widerstrebend, aber gehorsam über sich ergehen ließ. Es machte erst noch die Runde um den Tisch und gab Jedem die Hand.

Gute Nacht, Fräulein Sängerin, sagte Herbert. Lassen Sie sich etwas Hübsches träumen!

Sie sollen mich nicht Sie nennen, versetzte das Kind. Ich bin noch kein Fräulein, und Sie sagen es doch nur zum Spott. Gute Nacht!

Damit rannte sie aus dem Zimmer, daß ihr die blonden Zöpfe um die Schultern flogen.

*

Auch Herbert verabschiedete sich. Er fragte, ob er einmal wiederkommen dürfe.

Natürlich! So oft es ihm Vergnügen mache. Einen so schönen Kuchen backe die Susel freilich nur an Geburts- und hohen Festtagen.

Er hatte ihn sehr gelobt und zwei Stücke davon gegessen, wodurch er sich bei der Alten sichtbar in Gunst gesetzt hatte. Dann ging er, wie das Zerlinchen, herum und gab Allen, die sich erhoben hatten, zur guten Nacht die Hand. Fridolin zögerte einen Augenblick, eh' er ihm steif und kalt vier Finger entgegenstreckte. Dann entschuldigte ihn seine Mutter, die sein unwirsches Betragen wohl bemerkt hatte, als sie Herbert hinunterbegleitete, ihm die Hausthür aufzuschließen.

Er habe keine rechten Manieren, weil er selten unter Menschen komme. Übrigens meine er es nicht so schlimm.

Herbert fiel es nicht ein, sich weiter darüber Gedanken zu machen. Er überlegte nur, ob er der Alten, wie sonst einer Dienerin in einem gastlichen Hause, ein Trinkgeld dafür anbieten dürfe, daß sie ihm hinuntergeleuchtet hatte. Dann sagte er sich, daß er sie nur beleidigen würde, da sie hier als ein hülfreicher Hausgeist behandelt wurde, der mit am Tische der Herrin saß, drückte ihr nur noch einmal die Hand und verließ sie mit einer Entschuldigung über die Mühe, die er ihr gemacht habe.

Als die Alte dann oben wieder eintrat, fand sie Fräulein Rosa Hinkel im besten Zuge, das Lob des ungebetenen Gastes zu singen. Ein so reizender Mensch sei ihr lange nicht vorgekommen, so männlich und doch nicht hochmüthig wie sonst Offiziere, und wie ihm das schwarze Schnurrbärtchen stehe zu der weißen Haut. Und angezogen sei er wie eine Puppe, dabei gar nicht geschniegelt, darauf verstehe sie sich, obwohl sie nur Damenschneiderin sei. Doctorin, schloß sie, da habt Ihr einen charmanten neuen Hausfreund eingefangen (die Beiden ihrzten sich, da es zum Du bei aller Vertraulichkeit nicht kommen wollte). Nur Schade, daß ich nicht dreißig Jahre jünger bin! Ich hätte mich bis über die Ohren in ihn verliebt, er natürlich ebenso in meine reizende Person, und wir wären das schönste Paar auf zehn Meilen im Umkreis gewesen.

Hanna und auch die alte Susel lachten, nur Fridolin verzog keine Miene. Als sie dann aufbrachen, sagte die Gütige zu dem düsteren Gesellen:

Ich danke Ihnen nochmals aufs Herzlichste für Ihr wunderschönes Geschenk. Sie werden mich gegen meine Gewohnheit dazu bringen, mit Beleuchtung Luxus zu treiben; jeden Samstag wenigstens sollen Sie den Candelaber brennen sehen. Und das Gedicht müssen Sie mir aufschreiben.

Ihm schoß das Blut bis in die Stirn vor Freude, er ergriff die Hand, die sie ihm darreichte, und hielt sie eine ganze Weile in seinen großen, aber doch wohlgeformten Bildnerhänden, das Gesicht vornüber gebeugt, als ob er einen Kuß auf ihre zarten Finger drücken wollte. Dann gab er sie doch ungeküßt wieder frei und hastete stolpernd aus der Thür, so eilig, daß er selbst seiner Mutter den Gutenachtgruß schuldig blieb.

*

Als Herbert das Haus, in welchem Fräulein Doctor Hanna Cameron wohnte, verlassen hatte, schritt er langsam durch die Straßen, die zu seiner weit entfernten Wohnung führten.

Der Regen hatte aufgehört, die Stadt lag wie ausgestorben, da es nah' an Mitternacht war. Er fühlte aber nichts von Müdigkeit, noch von dem nächtlichen Dunkel um ihn her, vielmehr hatte er noch immer die Menschen, mit denen er den Abend zugebracht, lebhaft vor Augen, am deutlichsten Hanna's kluges und gutes Lächeln und die blonden Zöpfe des Zerlinchens.

Ihm war, wie wenn er ein Märchen erlebt hätte, in dem die seltsamsten Gestalten, eine Prinzessin, eine Zwergin, eine kleine Nixe ihr Wesen getrieben hätten. Auch an einer hexenhaften Waldfrau fehlte es nicht: die alte Susel mit dem rauchgebräunten Gesicht konnte dafür gelten, und ihr ungeschlachter Sohn spielte die Rolle des Ogers oder Riesen.

Wie konnte sich in der nüchternen, alles Zaubers entkleideten modernen Welt eine so abenteuerlich gemischte Gesellschaft zusammen finden! Ein so adliges Frauenwesen wie diese Hanna, was fand sie an der armen, ungebildeten Schneiderin – im Hinunterleuchten hatte die Alte ihm gesagt, was für ein Geschäft die Rosel betrieb – und wie konnte der Schlossergesell, der nicht zwei zusammenhängende Worte sprach, zu ihren »Intimen« gehören? Wenn die »Prinzessin« einen Hofstaat zu haben wünschte, es waren doch wohl noch andere Leute zu finden, die sich ein Vergnügen daraus gemacht hätten, die Gesellschaft einer so liebenswürdigen Person zu genießen.

Denn wie liebenswürdig sie war, kam ihm immer deutlicher zum Bewußtsein, je weiter er sich von ihr entfernte. Er sagte sich, daß er ihresgleichen nie begegnet war, so hellem Verstand, der sich nie pedantisch äußerte, so unschuldiger Freude an allem Drolligen und Witzigen, ohne den leisesten Zug von Spottlust, vor Allem einer so reinen, warmen Güte, der kein Geschöpf zu gering war, um sich hülfreich und schonend seiner anzunehmen. Und nun ein Gesicht, in dessen Zügen all diese holden Eigenschaften so klar ausgeprägt standen – kein Wunder, daß sie Jeden, der ihr nur einmal nahe gekommen war, für immer an sich fesseln mußte.

Daß sie jemals eine Leidenschaft erregt habe oder erregen könne, schien ihm trotz alledem nicht wahrscheinlich. So wenig es ihr auch an sinnlichem, frauenzimmerlichem Reiz gebrach, schien sie doch über die gemeinen Weiberschwächen erhaben, und da sie ein Herz für die arme Menschheit überhaupt hatte, war es schwer zu denken, wie sie sich an einen Einzelnen hingeben könnte. Sie war eben ein Wesen für sich, stand als ein solches gleichsam in einer Nische auf erhöhtem Fußgestell und wurde wegen der Heilswunder, die sie verrichtete, angebetet.

Er fühlte aber, daß es ein Glück für ihn sei, in ihre kleine Gemeinde Zutritt erlangt zu haben. Was waren ihm seine übrigen gesellschaftlichen Verbindungen, die zu unterhalten ihm mehr und mehr zu einer leidigen Pflicht geworden war! Er hatte nicht ein einziges Haus, in das es ihn an Abenden, wo er menschenbedürftig war, gezogen hätte. Auch in dem seiner Tante, der Mutter Bob's, fand er für sein Gemüth so wenig Nahrung, wie für seinen Geist.

Die Baronin war die Schwester seiner früh verstorbenen Mutter und in ihrer Jugend eine gefeierte Schönheit gewesen, die Schönheit der Residenz. Sie hatte am Hofe geglänzt und den regierenden Herrn zu ihren Füßen gesehen, ohne ihn zu erhören. Ihre kühle Natur, die sich an Eitelkeitserfolgen genügen ließ, hatte sie gegen diese und andere Versuchungen gefeit. Dann war sie die Frau des Baron von Linden geworden, der als Hofmarschall das vornehmste Haus in der Stadt machte, und nach dessen Tode hatte sie sich mehrere Jahre dem Hofe fern gehalten, im Grunde nur weil die Wittwentrauer ihrer blonden Schönheit reizender stand, als jedes Ballkleid. Als dann die beiden Kinder, Bob und Jella heranwuchsen, öffnete sie wieder ihr Haus, war aber nicht zu bewegen, die Stelle der Oberhofmeisterin anzunehmen, da sie sehr corpulent und mehr und mehr bequem geworden war und ihre Tage mit Toilettensorgen für sich und Jella, Andachtsübungen und Kartenspiel hinlänglich ausfüllte.

Auch an allen wohlthätigen Vereinen nahm sie Theil, da sie eine gutmüthige Natur war und menschenfreundlich, so weit man es sein kann, wenn es einem an Verstand gebricht.

Ein Buch nahm sie nie in die Hand. –

Daß der Umgang mit einem so beschaffenen Wesen Herbert nicht sonderlich anziehen konnte, wird Niemand wundern. Auch würde er sich im Lauf der Zeit dem Hause der Tante fast ganz entfremdet haben, hätte ihn nicht seine junge Cousine, wie sie allmählich heranblühte, doch immer wieder festgehalten und mit seinen verwandtschaftlichen Pflichten ausgesöhnt.

Dann freilich sah er wohl, daß dies reizende Geschöpf im Grunde nur eine verjüngte Copie der schönen Mutter war, nicht tiefer und eigenartiger angelegt als diese und höchstens im Stande, Fernerstehende durch den geheimnißvollen Zauber ihrer noch im Halbtraum schwimmenden Veilchenaugen darüber zu täuschen, daß unter der jungen Brust nur ein ganz enges, kleines, conventionelles Herzchen pochte. Theils aber aus einer Art Mitleid und dem Wunsch, in dem guten Kinde doch vielleicht noch tiefere seelische Bedürfnisse wecken zu können, theils weil ihn doch zuweilen eine zärtliche Regung anwandelte, eine leise Verliebtheit, die über das vetterliche Gefühl hinausging, ließ er sich ziemlich oft im Hause der Tante blicken, obwohl er sich nicht verhehlen konnte, daß man dort überzeugt war, er habe die ernstlichsten Absichten.

So weit freilich war es mit ihm noch nicht gekommen. Der Gedanke aber, Jella zu seiner Frau zu machen, hatte auch nichts Abschreckendes für ihn. Wie er denn überhaupt nicht dazu angelegt war, sein äußeres Leben mit entschiedenem Willen nach klaren Zielen hinzulenken, sondern die Umstände mit sich machen ließ, eine Lässigkeit, die man gerade bei edleren und tieferen Naturen häufig findet, denen die Welt, die sie in sich tragen, wichtiger ist, als die Stelle, die sie in der äußeren einnehmen.

Unwillkürlich verglich er, wie er am Hause der Tante vorbeikam, ihren glänzenden Salon mit dem bescheidenen Zimmer, in welchem Fräulein Hanna ihren »Jour« hielt. Und heimlich mußte er lachen, wenn er dachte, wie Jella entsetzt zurückgefahren wäre, wenn man ihr zugemuthet hätte, neben Rosa Hinkel Platz zu nehmen. Ihm selbst war bei dieser Nachbarschaft nicht so ganz wohl gewesen. Er schämte sich aber dieser aristokratischen Schwäche und nahm sich vor, sie nicht aufkommen zu lassen. Wen die »Prinzessin« gut genug fand, ihrem Hofstaat anzugehören, der mußte auch ohne sechzehn Ahnen von adligem Blute sein.

*

Als er seine Wohnung endlich erreicht hatte, warf er sich in seinen Lehnstuhl, zündete eine Cigarre an und überließ sich noch eine geraume Zeit seinen Gedanken. Diese hielten ihn auch noch eine Stunde wach, nachdem er zu Bett gegangen war. Hanna's Augen sah er im Dunkeln beständig vor sich. Es war, wie wenn ihre Helle ihn nicht zum Schlafen kommen ließe.

Am anderen Morgen aber, nachdem er spät aufgestanden war, hatte er sich eben in die Kleider geworfen, als sein Vetter schon zu ihm herein stürmte.

Nun, du Treuloser, rief er, findet man dich hier doch noch unverbrannt, wenigstens seh' ich die Glut nicht durch deine Weste brennen? Eingeschlagen hat es jedenfalls, das konnte ein Blinder sehen, denn neben dieser weisen Frau – sie soll ja auch als Geburtshelferin fungieren – war weder die Klavierhexe mit dem Pudelkopf, noch dein theurer Cousin mehr für dich vorhanden. Bist du so lange in weisen Gesprächen mit ihr im Regen herumgeschlendert, daß du, wie Johann sagt, erst nach Mitternacht nach Haus gekommen bist, oder hast du irgendwo mit ihr soupiert? Die Sache ist jedenfalls bedenklich, da du uns so schnöde hast sitzen lassen.

Herbert fuhr eifrig fort, seine Uniform zuzuknöpfen, das Gesicht seinem Vetter abwendend.

Sie ist wirklich eine sehr kluge und angenehme Person, sagte er, und ich bin deiner »schneidigen« Freundin dankbar, daß sie mir zu dieser Bekanntschaft verholfen hat.

Gieb mir eine Cigarrette! sagte Bob. Ich begleite dich in die Kaserne. Ich muß Fredersdorf sprechen, wegen eines Pferdehandels. Aber um auf dein Fräulein Doctor zurückzukommen: klug ist sie jedenfalls, und wenn ich sie weniger angenehm finde als du, so kann ihr das gleich sein. Andere sind jedenfalls deiner Meinung gewesen. Denn daß sie eine Vergangenheit gehabt hat, ist klar.

Herbert hatte Mühe, die Entrüstung, die in ihm aufstieg, niederzukämpfen.

Wie kommst du zu dieser leichtfertigen Behauptung?

Nun, nicht bloß durch den Eindruck, den so eine selbstbewußte Dame auf Jeden machen muß, auch wenn sie nicht in Zürich studirt hat. Aber Lydia hat mir erzählt –

Aha, Lydia! Eine sehr zuverlässige Quelle.

Ist sie auch, diesmal wenigstens. Es ist ja stadtbekannt, daß Fräulein Doctor Hanna Cameron ein halbwüchsiges Mädel bei sich hat, bei dem sie, wie die Redensart lautet, Mutterstelle vertritt, natürlich ein angenommenes Waisenkind, übrigens unvorsichtiger Weise der Pflegemama wie aus den Augen geschnitten.

Ich möchte dich doch bitten, lieber Bob, versetzte Herbert, sich mühsam beherrschend, von Dingen, über die du nur durch den landläufigen Klatsch unterrichtet bist, etwas vorsichtiger zu sprechen. Sie hat mir ihre Verhältnisse offen mitgetheilt, das Kind ist ihr von einer verstorbenen Schwester anvertraut worden, eine Familienähnlichkeit daher sehr begreiflich.

Bob blies dicke blaue Wolken in die Luft. Natürlich, das Kind einer verstorbenen Schwester! Na ja, das ist ja öfter vorgekommen. Verzeih, wenn ich von deiner neuen Flamme etwas despectirlich gesprochen habe. Was geht's mich an? Übrigens kann ich dir beweisen, daß sie auch auf mich einen gewissen Eindruck gemacht hat. Ich habe sie soeben der Mama empfohlen.

Der Mama?

Ja, nicht als Tugendvorbild für Jella, sondern als Doctorin. Mein Schwesterchen gefällt mir seit einiger Zeit gar nicht, immer diese blassen Lippen und das verdächtige Roth auf den Backen. Mama schwört nicht höher als bei ihrem alten Geheimrath, der halb vertrottelt ist und noch immer halbmeterlange Recepte verschreibt. Ich habe darauf gedrungen, daß noch ein Arzt consultiert wird, warum nicht eine Ärztin, und warum nicht gleich diese deine Schorndorferin, die wir ja bei der Hand haben? Zu meinem Erstaunen ist die Mama auch darauf eingegangen, sie hat von Fräulein Cameron schon gehört, das Kind des Hofsilberbewahrers oder einer anderen hochstehenden Person ist von ihr in einem schweren Fall behandelt und gerettet worden. Daß die Doctorin Mitglied des emancipierten Weibervereins ist, sogar die Geschichte mit dem angeblichen Schwesterkind weiß sie auch. Aber sie hat ganz richtig bemerkt: wenn man ins Wasser gefallen und nahe am Ertrinken ist, fragt man nicht, ob die Hand, die sich einem entgegenstreckt, keine Schwielen hat und gewaschen ist. Ja, die Mama! In praktischen Dingen hat sie unendlich viel Verstand!

Also will sie wirklich –

Sie hat schon, kann ich dir sagen. Pierre ist mit einem höflichen Billet nach der Wohnung deiner Freundin gewandert, weit draußen, wo die letzten Hütten stehen, und hat die Antwort zurückgebracht, heut Nachmittag um Drei werde Fräulein Doctor sich bei der Mama einfinden. Wenn du der Consultation beiwohnen willst – es ist ohnehin deine gewöhnliche Stunde.

Ich weiß nicht, ob ich mich heut in der Kaserne los machen kann, versetzte Herbert mit einem leichten Erröthen. Natürlich interessiert es mich sehr, auch mir ist Jella's Befinden in der letzten Zeit nicht ganz normal vorgekommen. Sie hat vielleicht, wie so viele, eine Abneigung dagegen, dem alten Sanitätsrath ihre Zustände zu beichten, und wird sich einem weiblichen Arzt lieber anvertrauen. Verzeih aber, wenn ich jetzt nicht mit dir gehe. Ich habe noch einen Gang zu machen, eh' ich in die Kaserne komme.

*

Er wartete, bis Bob sich entfernt hatte, und ging dann nach einem Blumenladen, wo er einen herrlichen Strauß kaufte, die schönsten Orchideen, die vorhanden waren, dazu eine Fülle von Veilchen. Auf eine Karte hatte er ein paar höfliche Worte geschrieben, um die verspätete Geburtstagshuldigung zu erklären. Das mußte ein Bote des Blumengeschäfts an die Adresse von Fräulein Cameron bringen.

Seinen Johann ließ er dabei aus dem Spiel. Er wünschte nicht, daß Bob durch ihn von der galanten Sendung erfahren möchte.

Während er dann in der Kaserne seinen Dienstpflichten nachkam, überlegte er beständig, ob er sich am Nachmittag bei der Tante sehen lassen sollte. Er fand es schicklicher, erst die Consultation abzuwarten. Als dann die Stunde kam, konnte er dem Verlangen, Hanna wiederzusehen, doch nicht widerstehen und war pünktlich zehn Minuten vor der Zeit, die Bob ihm angegeben hatte, vor der Thür der Baronin.

Er zögerte ein wenig im Vorzimmer, da er drinnen Klavier spielen hörte, irgend eines der kleineren Schumann'schen Stücke, die alle Anmuth verlieren, wenn ein Anfänger sie schulmäßig herunterfingert. So klang es auch hier. Herbert war längst überzeugt, daß Jella kein Talent habe und nur Musik trieb, weil es zu einer aristokratischen Erziehung gehörte.

Als er eintrat, war sie eben zu Ende gekommen und saß, den feinen blonden Kopf auf die Brust gesenkt, wie in großer Ermüdung auf dem kleinen Sessel am Flügel. Als sie Herbert erblickte, flog ein leichtes Roth über ihre zarten Wangen, und sie nickte ihm lächelnd zu.

Er winkte ihr mit der Hand einen Gruß zu und näherte sich dann dem Divan, auf dem die Tante saß, eine feine Stickerei in den Händen, die sie in den Schooß sinken ließ, als Herbert ihre zierliche, weiße, vielberingte Rechte ergriff und einen ehrerbietigen Kuß darauf drückte.

Bob war während des Spiels, die Hände in den Taschen seines Jacketts, über den weichen Teppich auf und ab geschritten und schien nicht in der besten Laune zu sein.

Auch die Mama hatte nicht ihre gewöhnliche majestätische Heiterkeit, um derentwillen sie in der Gesellschaft berühmt war. Auf ihrem noch immer schönen Gesicht lag ein leichter Schatten, unter dem Reispuder, der die vollen Wangen bedeckte, traten hie und da rothe Flecken hervor, die auf eine fieberhafte Erregung deuteten.

Was sagst du dazu, Herbert, rief sie, daß ich mich habe verleiten lassen, diese Doctorin zu consultieren! Bob hat mich überrumpelt, aber gleich nachdem ich den falschen Schritt gethan – denn das ist's, Bob, das seh' ich jetzt deutlich ein – ich hätte ihr nur wieder abzuschreiben brauchen unter dem Vorwand, ich wolle doch erst unserem Geheimrath meinen Wunsch mittheilen, statt hinter seinem Rücken – und dann hätte man die Sache retardiert. Es ist ja wahr, unser guter Wolf wird alt und ist mit der neuen Zeit und den neuen Methoden nicht fortgeschritten. Er will Alles mit Palliativen behandeln. Und dabei kommt Jella immer mehr herunter. Immer nur Eisen – Eisen – wie viel Flaschen Levico hast du schon geschluckt, armes Kind? Na, es geht ja schon seit Weihnachten, und von jedem Ball kamst du doch erschöpfter nach Hause. Das kann freilich nicht so fortgehen, aber daß man seine Zuflucht gerade zu dieser Demokratin nehmen muß, die in Frauenvereinen das große Wort führt, einer heimlichen Nihilistin, wie ich überzeugt bin –

Aber Mama, unterbrach sie der Sohn, sieh sie dir doch erst an! Dynamitpillen wird sie Jella doch nicht verschreiben, und daß sie Etwas gelernt hat und ihre Sache versteht – ich will gar nicht die Fälle deiner Bekanntschaft anführen, wo sie sich so energisch hülfreich gezeigt hat, aber daß auch Fräulein Bronikowski ihre ärztlichen Talente und Kenntnisse lobt, die ja gestern von ihr blamiert worden ist und überhaupt eine böse Zunge hat –

Sprich mir nicht von Der! rief die Mutter. Ich denke stark daran, auch ihr den Abschied zu geben. Nach und nach dringt mir dieser abscheuliche sogenannte Zeitgeist bis in das Heiligthum meines Hauses, und daß auch unsere Domestiken schon von socialdemokratischen Umsturzideen angekränkelt worden sind, sehe ich deutlich. Ich bin gestern dazu gekommen, wie Pierre meine Fanny geküßt hat, und als ich ihn deßwegen reprimandierte, hat er ganz keck erwidert, es sei immer noch besser, wenn er es thue, als der junge Herr Baron.

Die beiden jungen Leute konnten sich eines munteren Lachens nicht enthalten. Bob aber sagte: Ich habe dir ja schon erklärt, Mama, wie der Schlingel es gemeint hat, als eine bloße Voraussetzung. Geküßt müßten Kammerjungfern nun einmal werden, und wenn der Sohn des Hauses es thun würde – das heißt, gesetzt den Fall, der hier aber nicht zutrifft –

Trêve de plaisanteries! fiel ihm die Mutter ins Wort, indem sie mit einem bedeutsamen Wink nach Jella deutete. Ein solches Thema weiter zu verhandeln, habe ich kein Verlangen. – Aber da kommt dein Orakel. Herbert, du kennst sie ja auch. Hast du Zutrauen zu ihr?

Ich halte sie für sehr gescheidt und klarsichtig, liebe Tante. Ihre wissenschaftliche Begabung wage ich nicht zu beurtheilen.

Der socialdemokratische Pierre öffnete die Thür und meldete Fräulein Cameron.

Gleich darauf trat Hanna ein. Sie war in dem einfachen Anzug, den sie gestern getragen hatte, der in diesem glänzenden Raum noch unscheinbarer aussah, das schlanke Ebenmaß ihrer Gestalt aber nicht verbarg. Mit einem raschen Blick hatte sie sich an den Wänden des Salons umgesehen, der mit seinen hohen Spiegeln, den großen Portraits und der übrigen reichen Ausstattung doch nur den Eindruck einer leeren Pracht, ohne jeden feineren Geschmack machen konnte. Auch die stattliche alte Dame auf dem Divan in ihrem schweren seidenen Kleid mit den kostbaren Spitzen schien ihr nicht im Mindesten zu imponiren.

Sie trat unbefangen an sie heran, verneigte sich leicht und sagte nur mit dem höflichen Ton, den man gegen ältere Personen anschlägt: Sie haben mich zu sprechen gewünscht, gnädige Frau –

Die Baronin hatte offenbar eine andere Haltung der verrufenen Ärztin erwartet, eine gewisse herausfordernde Derbheit, oder jene Unterwürfigkeit, die plötzlich gerade trotzige Gemüther aus dem Volk Vornehmen gegenüber befängt. Sie war selbst ein wenig verwirrt, erhob sich von ihrem Sitz, wie um in ihrer ganzen Hoheit, mit dem port de reine, den man ihr nachrühmte, das Fräulein ihre Überlegenheit fühlen zu lassen, und sagte dann: Ich habe gewünscht, mein Fräulein – wie tituliert man Sie eigentlich? –

Mein Name ist Cameron.

Nun also, Fräulein Cameron, da ist meine Tochter, wegen deren Gesundheit ich in Sorge bin. Die Herren sind Ihnen schon vorgestellt.

Hanna hatte sich nach Jella umgewendet, die vom Flügel aufgestanden war, ohne sich ihr zu nähern, und grüßte sie freundlich mit den Augen. Dann verneigte sie sich gegen Bob und schien Herbert zuerst nicht zu erkennen, da er heut Uniform trug. Ah, Herr Hauptmann! sagte sie dann. Ich hätte nicht gedacht, Sie so bald wiederzusehen.

Sie hielt ihm unbefangen die Hand hin, in die er einigermaßen verlegen die seinige legte. Dann sagte sie:

Wollen wir gleich zur Sache kommen? Ich bitte, gnädige Frau, mich mit dem Fräulein allein besprechen zu dürfen, fuhr sie fort, als die Baronin Miene machte, ihr den Fall vorzutragen. Ich orientiere mich am besten, wenn die Patientin mir selbst mittheilt, woran sie leidet oder zu leiden glaubt.

Geh mit Fräulein Cameron in dein Zimmer, Kind, sagte die Mutter, sichtbar verstimmt durch Hanna's Verlangen. Dann, als die Beiden den Salon verlassen hatten: Da hast du mir was Schönes eingebrockt, Bob. Dies »Weib aus dem Volk« ist ganz, was ich mir erwartet hatte, sie thut ja gerade, als ob sie uns eine Gnade erwiese, daß sie Einem von uns den Puls fühlt. Da wären wir am Ende mit dem Schäfer Hinze, der jetzt solche Wunderkuren macht, besser gefahren.

Liebe Tante, sagte Herbert, während Bob sich lachend auf den Hacken herumdrehte, das Fräulein soll Jella ja keinen Unterricht im Hofton geben. Wenn sie ihr die »Baronesse« schuldig bleibt, so betrachtet sie sie eben als ein armes, hülfsbedürftiges Menschenkind, um das sie sich verdient machen soll. Alle gesellschaftliche Feinheit des alten Geheimraths hat nicht verhindert, daß er der Natur gegenüber, vor der wir Alle gleich sind, mit seinem Latein bald zu Ende war.

Du bist auch so ein halber Demokrat, Herbert, murrte die Tante, indem sie heftig wieder nach ihrer Stickerei griff. Du hältst dich ja so auffallend dem Hofe fern, trotz deiner alten Intimität mit unserm allergnädigsten Herrn –

Er ist heimlich in die Landesmutter verliebt, scherzte Bob, und zu tugendhaft, um seinem hohen Freunde und Gönner ombrage zu machen.

Herbert lachte, und auch die Mama konnte sich eines Lächelns nicht enthalten, da die Fürstin, bei aller Liebenswürdigkeit ihres Geistes und Herzens, die häßlichste Frau an ihrem Hofe war.

Die Stimmung war etwas heiterer geworden, doch kam es zu keiner Unterhaltung. Alle Drei warteten gespannt auf den Ausfall der Consultation, die ihre Geduld stark auf die Probe stellte.

Denn erst nach einer ganzen halben Stunde öffnete sich wieder die Thür, und Hanna trat ein, hinter ihr Jella, mit Thränenspuren an den seidenen blonden Wimpern und einer Miene der Niedergeschlagenheit, wie ein Kind, dem man ein Spielzeug fortgenommen hat.

Die Baronin war unwillkürlich aufgestanden und hatte ihre Stickerei auf den Teppich gleiten lassen. Nun? machte sie.

Es ist nicht so schlimm, erwiderte die Ärztin, mit einem gütigen Lächeln Jella's Hand ergreifend. Ich wünschte mich aber mit der gnädigen Frau unter vier Augen auszusprechen.

Die Mutter gab den jungen Leuten einen Wink, die sich sofort entfernten. Auch Jella verließ den Salon.

Gnädige Frau, begann Hanna, als sie sich der Baronin allein gegenüber sah – doch Sie erlauben wohl zunächst, daß ich mich setze. Ich komme schon von einem weiten Rundgang. Dann, auf einem Fauteuil neben dem Divan Platz nehmend, fuhr sie fort: Ich wiederhole, nach meiner Ansicht haben Sie keinen Grund, sich zu beunruhigen. Die Schwächezustände Ihrer Tochter rühren freilich zum Theil von einer gewissen Blutarmuth her, die in diesen Jahren sehr häufig auftritt. Ich bin aber nicht der Ansicht, daß die bisherigen Mittel wirksam dagegen wären. Die ganze Lebensweise des lieben Fräuleins müßte geändert werden.

In der That? Ich bin begierig.

Sie dürfte vor Allem an den gesellschaftlichen Freuden während der nächsten Jahre keinen Antheil nehmen, nicht tanzen, kein Theater besuchen, wo sie bis tief in die Nacht aufregende, nervenzerstörende Musik hört oder Leidenschaftsstücke mit ansieht, die ihr dann in den Schlaf hinein folgen. Sie ist noch so jung, daß sie Alles, worauf sie jetzt verzichtet, in einigen Jahren reichlich nachholen kann, wenn sie sich durch ein naturgemäßes Leben, möglichst viel in freier Luft, dafür gekräftigt hat. Sie soll bei offenen Fenstern schlafen, täglich weite Spaziergänge machen, ein wenig Zimmergymnastik, dazu im Winter Schlittschuhlaufen statt des Tanzens, Lawn-Tennis statt des Klavierspiels, und eine einfache Diät, die ich ihr vorschreiben werde. Damit wird sie weiter kommen und rascher aufblühen, als wenn sie ein ganzes Eisenbergwerk in irgend einer Form verschluckte.

Eine kleine Pause entstand.

Dann sagte die Mutter, die mit einer regungslos kalten Miene zugehört hatte: Und – ist das Alles?

Hanna zögerte einen Augenblick, ehe sie erwiderte:

Über einen anderen Punkt, über den ich mir selbst noch nicht klar bin, möchte ich mich erst aussprechen, wenn ich das liebe Kind etwas genauer untersucht habe. Sie selbst hat mir so Etwas angedeutet von einem Großonkel ihrer Mama, der in einem tropischen Klima an der Schwindsucht gestorben sei. Ich bin keine Fanatikerin der Vererbungstheorie. Immerhin halt' ich es für meine Pflicht, bei der ferneren Behandlung –

Die Baronin erhob sich plötzlich.

Erlauben Sie mir, meine Liebe, Ihnen zu bemerken, daß ich für eine fernere Behandlung der Baronesse Ihre Bemühungen nicht in Anspruch zu nehmen gedenke. Es war mir nur um ein Gutachten zu thun von einem anderen medizinischen Standpunkt aus. Nachdem ich Ihre Ansicht gehört, ziehe ich es doch vor, mich auch ferner auf den Rath meines Hausarztes zu verlassen. Ihre Methode mag für Kinder des geringeren Volks ganz zweckmäßig sein. Da sind die Organe von Hause aus gröber, und an Wind und Wetter gewöhnte Menschen werden bei Ihrem Naturheilverfahren sich gewiß gut stehen. In unseren Kreisen sind Nerven und Blut von Hause aus zarter und schonungsbedürftiger, und Jella ist ein echter Typus ihres Geschlechts. Ich danke Ihnen daher verbindlich für Ihre gutgemeinten Rathschläge und bedaure nur, sie nicht befolgen zu können.

Hanna, die diese Rede sitzend angehört hatte, stand nun auch auf.

Ihre mütterliche Autorität anzufechten, gnädige Frau, kann mir nicht einfallen, sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen. Ich wünsche von Herzen, daß ich Unrecht behalten möchte, da die kurze Unterredung mit der »Baronesse« mich lebhaft für sie eingenommen hat. Und somit empfehle ich mich Ihnen.

Nur noch eine Kleinigkeit, mein Fräulein. Ich bitte mir zu sagen, was ich Ihnen für Ihre Bemühung schuldig geworden bin.

Das hat ja wohl noch Zeit. Vielleicht ist es doch nicht das letzte Mal gewesen –

Nein, meine Liebe, Sie würden mich verpflichten, wenn Sie mir offen sagten –

Nun dann: dreißig Mark.

Die Baronin schien einen Augenblick unsicher, ob sie recht verstanden habe. Dann zog sie ein zierliches Portemonnaie von Elfenbein aus der Tasche, nahm drei blanke Goldstücke heraus und reichte sie Hanna, die sie mit einem kurzen Danke! annahm. Die Baronin drückte auf den Knopf einer elektrischen Klingel, Pierre öffnete die Flügelthüre und wartete, um das Fräulein, das sich mit einer höflichen Verbeugung von der hochaufgerichteten Dame verabschiedete, hinauszugeleiten.

*

Kaum war die Thür hinter ihr geschlossen, so traten die beiden Vettern wieder in den Salon.

Sie fanden die Mutter auf dem Divan, wo sie in großer Erschöpfung saß, beide Hände im Schooß vor sich hingestreckt.

Nun, Mama, rief Bob, hast du dich mit dieser Umstürzlerin verständigt? Hat sie von den altmodischen Theorieen deines Geheimraths noch einen Stein auf dem anderen gelassen?

Ich verbitte mir deine frivolen Späße, Bob, versetzte die Mutter. Ich kann euch sagen, sie hatte allerdings die beste Lust, Alles auf den Kopf zu stellen, was bisher, ehe man das Züricher Orakel befragte, für heilsam gegolten hat. Denkt nur: bei offenen Fenstern schlafen, kalte Bäder, nicht tanzen – eine ganze Menge solcher horreurs, die Jella, wenn sie sich darnach richtete, an den Rand des Grabes bringen würden, abgesehen davon, daß das Kind ein paar Jahre – ja, so sagte sie – auf alle gesellschaftlichen Freuden verzichten müßte. Ich weiß ja, das ist das moderne Regime, das die Nerven der ganzen Welt zu demokratisieren wünscht. In meiner Jugend fing der Unsinn schon an. Aber ich bin nach der alten Methode ganz gesund aufgewachsen, und das Institut der weiblichen Doctoren war damals noch nicht erfunden. Der deinen, Bob, hab' ich ihren Standpunkt klar gemacht. Sie kommt nie wieder über meine Schwelle.

Hm! machte Bob, was du uns da erzählst, Mama, scheint mir gar nicht so verrückt. Du kannst nicht leugnen, daß Jella, was man in Berlin so nennt, ein bischen verpimpelt worden ist.

Die Baronin fuhr in die Höhe.

Nimmst du auch die Partie dieser eingebildeten Person? Die keinen Unterschied kennt zwischen den Nerven einer Tochter aus unseren Kreisen und denen eines Dienstmanns oder Fabrikarbeiters? In Einem Punkt freilich hat sie gezeigt, daß sie über das höhere Niveau, auf dem unsere Gesellschaft steht, doch nicht im Zweifel ist. Das Honorar für diese Consultation, das sie forderte, würde sie von einer Maurersfrau nicht verlangt haben.

Sie hat selbst eine Forderung gestellt? sagte Herbert, dem das Blut ins Gesicht gestiegen war.

Nein, erst nachdem ich es verlangt hatte. Schriftlich wäre es ihr doch wohl lieber gewesen, obwohl sie sich des exorbitanten Preises für ihre große Bemühung – dreißig Mark – nicht einmal zu schämen schien. Nun, man muß Lehrgeld zahlen.

Schade! lachte Bob. Das Geld wäre freilich besser angewendet gewesen, wenn wir's in Sekt vertrunken oder in Havannas verraucht hätten.

*

Als Herbert sich nach dem Besuch bei seiner Tante wieder auf der Straße befand, war ihm sehr unbehaglich zu Muthe.

Was die Baronin von Hanna's Honorarforderung gesagt hatte, konnte er mit ihrem Charakter, wie er sich ihm sonst gezeigt, nicht in Einklang bringen. Auch hätte er gewünscht, daß sie ihre Rathschläge nicht sogleich in aller Schroffheit vorgebracht hätte, so daß sie keine Aussicht haben konnte, sie befolgt zu sehen. Er schob dies freilich auf ihren Mangel an Erfahrung, wie man mit Menschen aus diesem Stande umgehen müsse, um etwas zu erreichen. Immerhin war es ihm schon darum betrüblich, da er ihr in der Sache Recht geben mußte und gern gesehen hätte, daß sie mit etwas mehr Takt und Vorsicht das Vertrauen der Baronin sich errungen hätte.

Am liebsten wäre er gleich wieder zu ihr hingeeilt, den widrigen Eindruck durch ihre Gegenwart zu verwischen und sich mit ihr auszusprechen. Denn schon fühlte er sich trotz der kurzen Bekanntschaft ihr gegenüber wie einen alten Freund, der es einer Freundin schuldig ist, Nichts, was einem Vorwurf ähnlich sieht, gegen sie auf dem Herzen zu behalten.

Er besann sich aber, daß es Sonntag war, wo sie ihren Spaziergang mit dem Zerlinchen zu machen pflegte. So verschob er den Besuch auf morgen, und da er am nächsten Tage bis in den Nachmittag durch den Dienst abgehalten war, konnte er erst nach Sechs, zu ihrer zweiten Sprechstunde, den Weg nach ihrer Wohnung antreten.

Die alte Susel, die auf sein Klingeln öffnete, stutzte zuerst, gerade so wie ihre Herrin, da sie ihn in der Uniform nicht gleich erkannte.

Es ist gerade Sprechstunde, sagte sie dann. Der Herr Baron werden warten müssen, es sind noch Patienten da. Aber ich will das Kind rufen, dem Herrn Baron Gesellschaft zu leisten. Zerlinchen sitzt bei ihren Schulaufgaben.

Lassen Sie sie dort nur sitzen, Frau Susanne, und führen Sie mich in das Wartezimmer. Ich habe Zeit. Übrigens bin ich kein Baron, nur der Hauptmann von Rheinfels.

Er folgte der Alten, die ihm eine Thür rechts öffnete. In dem großen Zimmer standen beide Fenster offen, an den Wänden rings saß ein halb Dutzend Frauen, kleine und größere Kinder neben sich, ein paar alte Männer standen in einem Winkel, hüstelnd und keuchend, Alle in sehr dürftiger Kleidung. Um einen runden Tisch in der Mitte hockten auf Schemeln und niedrigen Stühlchen einige halbwüchsige Knaben und Mädchen, die Bilderbücher vor sich aufgeschlagen hatten und sehr darin vertieft schienen. Ein Knabe von etwa zehn Jahren stand an den Schooß seiner Mutter angelehnt und las eifrig in einem abgegriffenen Büchlein.

Herbert hatte noch nicht lange auf dem letzten freien Stuhl Platz genommen, als die Thür gegenüber aufging und die Doctorin ihren Kopf heraussteckte. Sie bemerkte sogleich die blanke Uniform, nickte Herbert freundlich zu, zuckte aber zugleich die Achseln, um anzudeuten, daß er sich gedulden müsse, bis die Reihe an ihn komme, da sie keine Ausnahme von der Regel machen dürfe. Dann winkte sie der Mutter des lesenden Knaben am Fenster, der aber nicht geneigt schien, das Buch wegzulegen, und den Lockenkopf schüttelte, als die Mutter es ihm nehmen wollte.

Möchtest du die Geschichte gern auslesen, Heinz? hörte man Hanna sagen. So nimm das Buch mit, ich schenk' es dir. Jetzt aber mußt du folgsam sein und zu mir hereinkommen.

Der Knabe sah sie mit einem strahlenden Blicke an und ließ sich geduldig hineinführen. Die Zurückbleibenden steckten die Köpfe zusammen. Herbert's nächste Nachbarinnen flüsterten sich zu, wie gut die Doctorin sei, und erzählten sich allerlei andere Züge eines freundlichen Herzens. Dann wurde nach und nach die kleine Gesellschaft immer spärlicher, bis die letzte Patientin hineingerufen war.

Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Herbert trat an den Tisch, wo er außer der Kinderlectüre noch ein paar illustrirte Reisebeschreibungen fand, statt der üblichen »Fliegenden Blätter«. Er hatte sich eben an einigen sehr kindlichen Märchenbildern erbaut, als er seinen Namen aussprechen hörte. Hanna war unbemerkt hinter ihn getreten.

Nun bin ich frei, sagte sie. Aber kommen Sie herein in mein Ordinationszimmer, da kann ich Ihnen einen bequemen Stuhl anbieten. Welche Überraschung, daß ich Sie heut schon wiedersehe! Hoffentlich gilt Ihr Besuch nicht der Ärztin.

Ja und nein, erwiderte er ein wenig befangen. Ich habe allerlei auf dem Herzen, was nur das Fräulein Doctor mir herunternehmen kann.

Sie waren in das Nebenzimmer getreten, ein kleineres Gemach, ganz von dem Zuschnitt der gewöhnlichen Zimmer, in denen Ärzte ihre Patienten empfangen. Auf dem großen Tische, der mit Instrumenten verschiedener Art bedeckt war, brannte eine hohe Lampe, an der Wand daneben stand ein offener Schrank, der eine Menge Flaschen, Fläschchen, Kartons und Schächtelchen enthielt.

Hanna setzte sich auf den Armstuhl neben dem Tisch und bot Herbert den Sessel ihr gegenüber an. Nun lassen Sie hören, sagte sie lächelnd, woran Sie leiden. Ich fürchte nur, ich habe mit Ihnen nicht mehr Glück als mit Ihrer Tante, die mich wie eine Kurpfuscherin behandelt hat, nein, eine solche hätte eher Gehör bei ihr gefunden, da ja die vornehmen Damen jedem Kräuterweibe gläubiger folgen als Unsereinem. Was für Räubergeschichten hat sie Ihnen von mir gesagt? – Und da Herbert zögerte: Gewiß hat sie mich auch für eine unverschämte Person erklärt, wegen des Honorars, das ich verlangte, als sie so brüsk darnach fragte, wie einen Tischler nach dem Arbeitslohn für eine Reparatur. Ich merkt' es an ihrer Miene, sie hatte keine Ahnung, daß ich durchaus im Recht war, mir die Consultation, an die sich ja keine weitere Behandlung knüpfen konnte, genau so honorieren zulassen wie jeder meiner männlichen Collegen, wenn ich meine Praxis auch nicht im zweispännigen Wagen ausübe. Oder wären Sie auch der Meinung, Frauenarbeit müsse schlechter bezahlt werden als Männerarbeit, obwohl wir genau so viel Zeit und Geld auf unsere Studien verwenden müssen?

Und da er lächelnd den Kopf schüttelte: Sehen Sie, werther Herr Hauptmann, für mich giebt es noch ein anderes Motiv, mich nicht lumpig bezahlen zu lassen von denen, die es dazu haben, weil ich denen, die es nicht haben, keine großen Rechnungen stelle und oft genug überhaupt keine. In der Regel freilich lasse ich mir auch von armen Leuten meinen ärztlichen Rath vergüten. In diesen »niederen Schichten« weiß man, daß der Arbeiter seines Lohnes werth ist, und ein Doctor, der seine Recepte gratis schreibt, wird nicht einmal für voll angesehen. Überdies – ich habe kein Vermögen, um sonst für die Meinigen zu sorgen, und brauche eine große Wohnung. Aber Sie trauen mir wohl zu, daß ich das bischen, was die Ärmsten mir geben, ihnen zehnfach wieder zukommen lasse, indem ich ihnen die Arzneien unentgeltlich mit nach Hause gebe und, wo ihr Hauptleiden Noth und Mangel ist, so viel in meiner Macht steht, auch die nöthigen Heilmittel gegen den Hunger ihnen verschaffe. Wie könnt' ich das, wenn ich die Reichen nicht ordentlich besteuerte?

Nun, das versteht sich Alles von selbst, und von mir will ich nicht weiter sprechen. Sie sollen nur keine falsche Meinung von mir fassen. Jetzt aber zu Ihnen. Haben Sie wirklich über etwas zu klagen? Sie sehen so frisch und blühend aus –

Nein, theures Fräulein, sagte er und wurde wieder ein wenig roth, nicht in eigener Sache möchte ich Ihre Ansicht wissen, sondern – Sie werden begreiflich finden, daß mein nahes verwandtschaftliches Verhältnis – nun, gerade heraus, es interessiert mich in hohem Grade, zu wissen, wie Sie den Zustand meiner Cousine beurtheilen.

Sie schwieg einen Augenblick. Dann aber sagte sie: Ich bedaure, Herr Hauptmann, Ihnen hierüber keine Auskunft geben zu können. Es ist Grundsatz gewissenhafter Ärzte, sich über ihre Patienten nur gegen die zu äußern, die berechtigt sind, die Wahrheit wissen zu wollen, und der Mutter hab' ich nicht verschwiegen, was ich zu wissen glaubte, obwohl widerstrebend, da eine erste Untersuchung noch keinen sicheren Schluß erlaubt. Sie aber –

Auch ich, Fräulein Cameron, sagte er zögernd – denn Sie müssen wissen, ich glaube ein ebenso großes Anrecht darauf zu haben, über Jella's Zustand aufgeklärt zu werden. Ich kann Ihnen keinen größeren Beweis meiner Hochachtung für Ihren Charakter und meines Vertrauens zu Ihrem ärztlichen Scharfblick geben, als wenn ich Ihnen gestehe, daß vielleicht das Glück meines Lebens – kurzum, ich habe manchmal daran gedacht, das zur Wahrheit zu machen, worauf, wie ich weiß, meine Tante schon seit lange mit Sicherheit rechnet: Jella zu meiner Frau zu machen.

Ehrlich gesagt: von einer leidenschaftlichen Empfindung für das gute Kind ist bei mir nicht die Rede, nur von einer herzlichen Zuneigung, die dadurch genährt wird, daß sie mir leid thut in der ganz unerquicklichen Umgebung, in der sie aufwächst. Ich fühle eine Art ritterlicher Verpflichtung, die natürlichen Anlagen, die bei ihr noch schlummern, zu pflegen, mit einem Wort: aus der anmuthigen Puppe einen Menschen zu machen. Das kann nur geschehen, wenn ich unbedingt Macht über ihre Erziehung erhalte, die jetzt so thöricht verpfuscht wird. Aber wenn sie mit der Anlage zu einer unheilbaren Krankheit, mit der Aussicht auf einen frühen Tod zu mir käme – Sie begreifen, ich würde dann nicht den Muth und die Freudigkeit behalten, Rettungsversuche mit ihrer jungen Seele anzustellen, wenn doch Alles verlorene Liebesmüh' wäre.

*

Er schwieg und sah ernst vor sich hin. Auch sie saß eine Weile stumm und schien mit sich zu Rathe zu gehen, wie sie antworten sollte. Endlich sagte sie:

Ich bin nun eigentlich froh, daß ich mir nach der einen vorläufigen Untersuchung kein maßgebendes Urtheil erlauben darf. Denn selbst, wenn ich subjectiv überzeugt wäre, das Gespenst des in den Tropen verstorbenen Großonkels rage drohend in das Leben des jungen Fräuleins herein, würde ich doch Bedenken tragen, über ihre Zukunft mit abzustimmen. Unser medicinisches Wissen ist Stückwerk. Wer darf sich herausnehmen, mit Sicherheit zu sagen, ein Keim zu einem verderblichen Siechthum müsse sich unaufhaltsam entfalten! Wie oft erlebt man, daß eine gefährliche Anlage unter günstigen Lebensbedingungen, bei leiblichem und seelischem Überfluß an Glück und Freude, völlig zurückgedrängt wird! Welcher Arzt kann die Verbindung zweier Menschen apodiktisch für unheilvoll, ja wohl verbrecherisch erklären, von denen der eine Theil schwerlich zu einem hohen Alter kommen wird? Sind denn nicht auch ein paar Jahre eines wirklichen Herzensglückes etwas so Köstliches, daß es grausam wäre, es zu verhindern? Ich habe die radicalen Theorien, daß der Staat gesetzlich verhüten solle, erblich Belastete Ehen schließen zu lassen, immer für eine vorwitzige Thorheit gehalten. Die Natur ist so geheimnißvoll, sie hat so tausend Mittel und Wege, unserer klugen Rathschlüsse zu spotten, durch die wir gerade so recht mit ihr im Einklang zu handeln denken, daß es lächerlich ist, diese Frage nicht von Fall zu Fall zu behandeln.

So auch, was bei Ihnen noch hinzukommt, das Problem der Heirath zwischen Cousin und Cousine. Auch hierbei hat man es zu keiner sicheren Erfahrung gebracht, da uns die Statistik dabei im Stich läßt. Und somit, Herr Hauptmann, kann ich nur sagen, daß Sie selbst der Schmied Ihres Glückes sein müssen. Eins freilich liegt offen vor Augen: wenn Ihre Cousine nicht die nächsten Jahre ernstlich dazu anwendet, aus der sündhaften Verwahrlosung und Verweichlichung ihrer zarten jungen Kräfte herauszukommen, wird kaum Hoffnung dazu sein, daß sie als Gattin und Mutter ihren Pflichten gewachsen sein möchte, gleichviel ob ein naher Vetter oder ein wildfremder Mann ihr Gatte geworden ist.

Die Thür des Wohnzimmers nebenan wurde hastig aufgemacht, das Zerlinchen stürzte herein, blieb aber, da sie Herbert erblickte, plötzlich stehen.

Komm nur näher, mein Herzblatt, und sag dem Herrn Hauptmann guten Abend. Wie? ist es schon acht Uhr?

Aus der Küche herüber hörte man eine Kuckucksuhr Acht schlagen. Auf dem Tisch drinnen stand die Lampe und beleuchtete ein einfaches Mahl. Das Mädchen trat auf Herbert zu und gab ihm die Hand, doch sichtbar widerwillig, wandte sich dann auf den Hacken um und flog hinaus.

Hanna sah ihr lächelnd nach.

Meine abendliche Sprechstunde ist gewöhnlich Punkt acht Uhr zu Ende, wenn mich nicht ein schwererer Fall darüber hinaus beschäftigt; dann essen wir zu Nacht. Es ist aber nicht deßhalb, daß mein Kind Ihnen so unholde Augen gemacht hat, sondern weil ich ihr vorm Schlafengehen vorzulesen pflege, Schwab's Geschichten und Sagen oder die Geschichten aus dem Alterthum. Wir halten gerade bei den Haymonskindern, und sie hat so großes Mitleid mit dem Pferd Bayard, das die vier gepanzerten Brüder tragen mußte. Nun fürchtet sie, wenn Sie hier blieben, käme es heute nicht zur Fortsetzung, und darum müssen Sie schon entschuldigen, daß ich Sie nicht einlade, an unserm frugalen Tische Platz zu nehmen. Wenn Sie nächsten Samstag wiederkommen wollten – freilich, ich weiß nicht, ob meine Habitués Ihnen zusagen.

Er erwiederte etwas Höfliches.

Nein, sagte sie, ich könnte es Ihnen nicht verdenken, wenn Ihnen diese guten Leutchen keine anziehende Gesellschaft schienen. Man muß die kleine Hinkel näher kennen, um zu wissen, was in ihr steckt, wie viel Feinheit des Herzens und großartige Ergebung in ihr Schicksal. Dazu ihre seltene Menschenkenntniß. Nächst uns Ärzten haben ja auch die Schneiderinnen die beste Gelegenheit, ihren Kunden all ihre Schwächen und Gebrechen abzusehen. Und unser Fridolin – sein schweres Handwerk, das fast eine Kunst ist, hält ihn nicht ab, seine geistigen Bedürfnisse zu befriedigen, ich leihe ihm Bücher und weise ihm ein bischen den Weg. Wenn er nicht zu blöde wäre, um zu sprechen, würden Sie erstaunen, wie viel er in den zwei Jahren profitiert hat.

So, und nun sagen wir uns gute Nacht! Und noch Eins: ich habe Ihnen noch gar nicht für Ihre wunderschönen Blumen gedankt. Sie waren nur zu kostbar für mich, diese Orchideen, und Sie müssen mir versprechen, wenn wir uns übers Jahr noch kennen und Sie an meinen Geburtstag denken, dann schenken Sie mir nur meine Lieblingsblumen, Sie rathen nicht, welche das sind: die von allen Liebhabern sonst übersehenen Levkojen und der schlichte Goldlack. Über deren Duft geht mir keine Marschall Niel-Rose. Wollen Sie sich's merken? Adieu! Ich danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie mir bewiesen haben. Auf Wiedersehen!

In dieser Nacht fand Hanna viele Stunden lang keinen Schlaf. Das Gespräch mit Herbert klang ihr noch immer nach. Sie wiederholte sich Alles, was sie ihm über sein Mühmchen gesagt hatte, und fand jedes Wort richtig. Und doch war sie wieder im Zweifel, ob sie wohlgethan, ihm nicht auch die möglichen Gefahren einer solchen Verbindung lebhafter vorzustellen.

Denn im Grunde ihres Herzens schien er ihr viel zu gut für eine Frau, wie Jella offenbar werden würde, wie ja ihre Mutter geworden war. Sie hatte gelacht, als Röschen Hinkel jene schwärmerische Liebeserklärung für den Hauptmann zum Besten gab. Aber in allem Ernst schien er auch ihr von innen und außen ein Mann, wie man ihn selten findet, wie sie selbst wenigstens noch keinem begegnet war.

Sie war dreißig Jahr alt geworden, ohne ein Herzensabenteuer zu erleben, das tiefere Spuren in ihr zurückgelassen hätte. Einmal, gleich nach ihrer Übersiedelung mit Mutter und Schwester nach München, hatte ein flotter junger Maler sich ihr genähert, der ihre Phantasie mehr als ihre Sinne bestrickte. Zum größten Theil seinetwegen, da er nicht Ernst zu machen geneigt war und ihre Vernunft und keuscher Stolz sich gegen eine ziellose Liebschaft sträubten, war sie damals nach Zürich geflohen. Dort mußte sie so hart arbeiten, um neben ihren Studien ihren Unterhalt auf mancherlei Art zu gewinnen, daß es buchstäblich die Wahrheit war, wenn sie auf die anzüglichen Neckereien ihrer Bekanntinnen wegen ihrer Tugend erwiederte: zur Untugend habe sie keine Zeit.

Herbert hatte ihr gleich in der ersten Stunde ungemein gefallen, zunächst durch seine ernste männliche Schönheit, dann durch die ritterliche Zartheit, mit der er sich gegen sie benahm, und daß er sich ohne herablassende Manieren so freundlich in ihre Umgebungen fand. Eine gewisse Weichheit seines Wesens, im Widerspruch zu seinem soldatischen Beruf, diente ihm eher zur Empfehlung bei ihr, da alle kräftig genaturten Frauen gleichsam zur Ergänzung ihrer selbst sich zu Männern hingezogen fühlen, die keinen Anspruch auf eine herrschende Rolle machen. Und doch nahm sie es ihm übel, daß er in der wichtigsten Lebens- und Zukunftsfrage offenbar keinen eigenen Entschluß faßte, sondern sich von der Tante, deren flachen Sinn er durchschauen mußte, zu einer Heirath bestimmen ließ, die nur nach dem gesellschaftlichen Vorurtheil für ihn passend und ebenbürtig war.

Es wird zuletzt doch dazu kommen, sagte sie sich, und wenn er mit der Zeit einsieht, daß seine Erziehungshoffnungen fromme Wünsche bleiben müssen, da die Macht der Convenienz zu groß und zu wenig eigenes Naturell vorhanden ist, mit dem sich ein Bildungsexperiment anstellen ließe, so wird das mit der Zeit eine Ehe wie tausende unter den oberen Zehntausend werden. Schade drum! Aber im Grunde – was geht's mich an?

Daß es sie denn doch anging, so recht »im Grunde«, gestand sie sich nicht ein. Fast aber that es ihr heimlich wieder wohl, daß es nicht anders war. Sie fühlte sich durch die Gewißheit, daß der Mann, den sie so hoch stellte, einer Anderen angehöre, gegen ihr eigenes Herz geschützt, dem es ja nun nicht einfallen konnte, sich ernstlicher einer so verlorenen Neigung hinzugeben. Dafür durfte sie sich desto unbedenklicher erlauben, an dem Gegenstande ihrer hoffnungslosen Bewunderung immer neue Liebenswürdigkeiten zu entdecken und gefahrlos für ihn zu schwärmen, als wenn es sich um den Mann im Mond handelte. –

In denselben Stunden, die für Hanna mit diesen etwas verworrenen Betrachtungen ausgefüllt waren, hielt die Beschäftigung mit ihr auch Herbert wach.

Ihm freilich war sie nicht blos ein reizendes Problem, über das er sich mit vernünftiger Überlegung Klarheit zu schaffen suchte. Er fühlte vielmehr sein ganzes Inneres von ihrem Bilde ausgefüllt und gab sich dieser Empfindung mit reiner Glückseligkeit hin, wie ein ganz junger Mensch einer ersten Liebe.

In seinen jungen Jahren hatte er hin und wieder etwas Ähnliches zu erfahren geglaubt, auch in ein paar leicht geknüpften Verhältnissen Studien des weiblichen Geschlechts gemacht, die sein Herz leer ließen und ihn fast zu einem Weiberfeind hätten machen können. Seit er als Freund des Fürsten sein unerquickliches Garnisonsleben führte, glaubte er auch wirklich, mit allen Herzensthorheiten sei es für immer vorbei, er könne nichts Klügeres thun, als sich, wenn die Zeit gekommen, das heißt, seine schöne Cousine achtzehn Jahr geworden sei, unter das Ehejoch zu schmiegen und als biederer Hausvater, freilich nicht eben sehr vergnügt, seine Pflichten gegen das engere und weitere Vaterland zu erfüllen.

Nun hatte diese neue Bekanntschaft alle seine Zukunftsgedanken erschüttert. Denn während er sonst an die ihm bestimmte Braut Tage lang nur dachte, wenn die Stunde kam, wo er gewohnt war, ihr Haus zu besuchen, blieb ihm jetzt, wo er ging und stand, das Gesicht dieser seiner neuen Flamme gegenwärtig, obwohl er selbst nicht sagen konnte, daß sie schön sei, und sie nicht den leisesten Versuch gemacht hatte, ihn durch kleine kokette Reize ihres Betragens zu fesseln. Aber seltsam: gerade die ruhige Verständigkeit ihres Wesens, die ihn bei jeder Anderen kalt gelassen hätte, übte einen Zauber auf ihn, der ihn ganz überwältigte.

Er mußte sich vorstellen, wie dies schlichte Gesicht, diese klaren, ruhigen Augen sich verwandeln würden, wenn ein Mann ihr Herz zu rühren vermöchte. Wie oft hatte er sein schönes Mühmchen umarmt, ohne daß sein Blut wärmer geklopft hätte, und jetzt geschah es ihm, wenn Hanna's Hand nur einen Augenblick in seiner lag.

Aber das war's doch nicht, was ihm dies Mädchen so theuer machte. Jene wundersame Verbindung von kühlem Verstand und Innigkeit des Gemüthes war's, die ihn in ihrer Nähe so glücklich machte, wie er sich nur als Kind neben seiner Mutter gefühlt hatte, obgleich er sich gestehen mußte, daß diese gute Frau zu Hanna's Höhe nicht herangereicht hätte.

Und so, in einer Stimmung, die es ihm als Unmöglichkeit erscheinen ließ, jemals sich einem anderen Weibe fürs Leben hinzugeben, am wenigsten dem zierlichen Geschöpf, das man ihm ausgesucht hatte, fiel er endlich in einen Schlaf, aus dem er wie verjüngt am frühen Morgen erwachte.

*

Was daraus werden sollte, ob er im Ernst daran denken dürfe, das so hochverehrte Mädchen zu seiner Frau zu machen, bekümmerte ihn so wenig, wie einen Studenten, der sich in die Tochter seiner Hauswirthin verliebt. Einstweilen genoß er die Wonne, sich recht aus dem Vollen glücklich zu fühlen in dem Bewußtsein, daß ein so seltenes Wesen überhaupt auf der Welt sei und ihm erlaube, sich an ihrem Umgang zu erfreuen.

Doch nahm er sich fest vor, diese Erlaubniß nicht zu mißbrauchen. Den nächsten »Jour« wollte er jedenfalls vorüberlassen, um nicht zudringlich zu erscheinen.

Als dann der Samstag kam, machte er sich entschlossen auf, um in seinen Schachklub zu gehen. Doch ohne daß er wußte, wie er dahin kam, fand er sich plötzlich in dem Arbeiterviertel, wo sie wohnte, und nun blieb freilich nichts Anderes übrig, als die drei Treppen zu ihr hinaufzusteigen.

Er fand droben um den Theetisch heut zu den ihm schon bekannten Hausfreunden noch ein paar neue Gesichter: den Redacteur des »Volksblattes«, den er an jenem Abend im Frauenverein flüchtig kennen gelernt hatte, und einen wunderlichen Alten, in einem langen Nangkingrock und weißer Cravatte, der ihm als der Hofapotheker von Hanna vorgestellt wurde.

Das Männchen, das einen welken alten Kopf mit einem buschigen grauen Schopf über der Stirn hatte, war ein Humorist von Profession, der keine zwei Sätze sprechen konnte, ohne zum Lachen herauszufordern. Er begrüßte Herbert mit ungebundener Heiterkeit und sagte, er freue sich, die Bekanntschaft eines seiner schlechtesten Kunden zu machen, da der Herr Hauptmann seines Wissens nie krank gewesen sei, er müßte denn heimlich eine Semmel- oder Wasserkur durchgemacht haben. Überhaupt komme er in seinem Geschäft immer mehr zurück. Seit vollends das Fräulein Doctor sich hier niedergelassen habe, verkaufe er fast nur noch Schönheitsmittel an die Damen vom Hofe, und Bartwichse an die Herren Offiziere. Überdies beziehe Fräulein Hanna den Bedarf für ihre Hausordinationen aus den Fabriken und treibe, da sie die Mittel unter dem Kostenpreis hergebe, unlauteren Wettbewerb. Er habe, um ihr das Handwerk zu legen, ihr einen Heirathsantrag gemacht, sich aber einen Korb geholt, da sie ihn für zu jung befunden habe. Seine einzige Hoffnung sei nun, bei dem Zerlinchen besseres Glück zu haben, die er, bis sie aus der Schule sei, einstweilen als seine kleine Braut ansehe.

Damit wollte er das Kind auf seinen Schooß ziehen, das sich aber mit zornigen Augen von ihm losmachte und zu Fridolin flüchtete. Die Anderen lachten zu den Späßen des Apothekers, nur der Redacteur, ein etwas düster blickender Mann von mittlerem Alter, verzog keine Miene und fing an, Hanna zu fragen, ob sie das Buch über die russischen Gefängnisse, das er ihr geliehen, schon gelesen habe.

Nur erst den vierten Theil, sagte sie. Ich habe aber nicht viel Neues daraus gelernt. Junge Russinnen, mit denen ich in Zürich verkehrte, haben mir schon dieselben und noch weit ärgere Greuel erzählt. Die Zustände dort sind so empörend, daß, wer sie miterlebt, nothwendig Nihilist oder gar Anarchist werden muß. Wenn ich in Moskau oder Petersburg wäre, ich stünde nicht dafür, daß ich nicht wie Wera Sassulitsch eines Tages meinen Revolver auf eine dieser Bestien in Menschengestalt abschösse. In unseren menschlicheren Zuständen wär's ein Verbrechen und eine Dummheit obenein, was dort nur der Aufschrei eines hochsinnigen Herzens, ein Protest gegen die unerhörteste Barbarei ist.

Sie sprachen dann eine Zeit lang von den Aussichten zu einer besseren Gestaltung der Dinge hüben und drüben, der Redacteur mit großer Heftigkeit, sichtbar, um Herbert aus seiner Zurückhaltung herauszulocken, was ihm denn auch gelang. Doch verständigte man sich auf der Grundlage vernünftiger Freiheiten und Ausgleich der gröbsten socialen Gegensätze.

Fridolin hatte schweigend zugehört, oder eigentlich nur vor sich hin gebrütet, während Zerlinchen, die das Gespräch langweilte, ihm über das borstige Haar strich und zuweilen ihm etwas ins Ohr flüsterte.

Als der Redacteur sich jetzt an ihn wendete und bemerkte, er irre wohl nicht in der Voraussetzung, daß er auf dem Boden der socialdemokratischen Theorieen stehe, sagte er:

Ich kann das nicht mehr behaupten. Die richtigen Genossen wollen mich nicht mehr zu den Ihrigen rechnen. Anfangs dachte ich ganz wie sie, auch über den Zukunftsstaat und die allgemeine Gleichheit. Mein Vater aber durfte davon nichts wissen. Er war ein Wachtmeister. Hätte er gedacht, ich könnte mich nur einen Augenblick besinnen, auf das Volk zu schießen bei einem Aufstand, würde er mich verstoßen haben. Ich kam dann zu einem Meister, da hörte ich dieselben Reden, die mir sehr vernünftig schienen. Aber obwohl ich nichts dagegen einwenden konnte, war doch 'was in mir, das mich warnte, mit einzustimmen. Das kam daher, daß meine Arbeit mir zusagte, daß ich jeden Tag etwas machte, was mich freute. Man spricht so viel von dem Unglück der Arbeiter, das ist eine leere Redensart. Wer seine Sache versteht, findet nicht blos seinen Unterhalt, sondern auch eine höhere Befriedigung. Die Herren mögen mir glauben: schon ein Stück Eisen erst in die Glut und dann unter den Hammer zu halten und mit Hin- und Herwenden einen schlanken, vierkantigen Stab daraus zu schmieden, macht einem Vergnügen, wie viel mehr eine Arbeit, bei der es auf höhere Geschicklichkeit und Geschmack ankommt. Trotz alledem wäre ich am Ende wohl auch zu den Socialisten gegangen, bloß wegen der guten Kameradschaft. Da aber – (er stockte und wurde roth und sah mit einem scheuen Aufleuchten seiner Vergißmeinnichtaugen auf Hanna) – da lernte ich das Fräulein kennen, die gab mir Bücher und setzte mir den Kopf zurecht, und seitdem bin ich keinem Werber und Wanderredner von der Internationale ins Netz gegangen.

Alle hatten mit respectvoller Verwunderung zugehört, wie sich dem sonst so Schweigsamen plötzlich die Zunge lös'te.

Auch seine Gestalt schien verwandelt, die Brust breiter, der Kopf höher auf dem Nacken, in dem schwärzlichen Gesicht brannte eine schöne Glut der Begeisterung für das, was er als das Rechte erkannt hatte, und die dunklen Brauen waren scharf über den leuchtenden Augen gespannt.

Eben wollte der kleine Apotheker, der eine feierliche Stimmung nicht lange ertrug, mit einem seiner Späße sie auflösen, als das Zerlinchen, das, während Fridolin sprach, kein Auge von ihm verwandt hatte, plötzlich sehr ernsthaft sagte: Das war eine schöne Rede, Onkel Fridolin!

Zugleich schlang sie ihre dünnen Ärmchen um seinen Stiernacken und drückte einen Kuß auf seine bärtige Wange.

Alle lachten, und Fridolin streichelte ihr mit der breiten Tatze den blonden Kopf. Das Kind aber sah mit zornigen Augen im Kreise herum und rief: Ihr seid Alle abscheulich. Gute Nacht!

Dann huschte sie zur Thür hinaus, ohne, wie sonst, einem Jeden die Hand zu geben.

*

Seit diesem Abend machte Herbert nicht wieder einen vergeblichen Versuch, am Samstag von Hanna's »Jour« fortzubleiben.

Die Gesellschaft, die er dort fand, war so sehr verschieden von der, in der er bisher verkehrt hatte, daß er ein lebhaftes Interesse empfand, sie zu studieren, obwohl er sie an jedem anderen Ort nicht sonderlich beachtet hätte. Da sie aber alle ihre Hochachtung für Hanna deutlich an den Tag legten, fühlte er einen verwandten Zug in ihnen.

Er lernte so nach und nach die verschiedensten Menschen aus der mittleren Schicht seiner Mitbürger kennen, gleich am nächsten Samstag den Rector der höheren Töchterschule, der mit Hanna pädagogische Fragen besprach, die Vorsteherin der Frauenarbeitsschule, die in jener Sitzung des Frauenvereins präsidiert hatte, einmal einen in diese sonst sehr kunstfremde Stadt verschlagenen Düsseldorfer Maler, einen nicht mehr jungen Mann, der in den Hofkreisen durch einige gelungene Porträts einen gewissen Ruf erlangt hatte.

Er hatte Hanna gebeten, ihm zu sitzen, worauf sie nicht eingegangen war, da sie keine Zeit dazu habe. Was haben Sie auch an meinem spießbürgerlichen Gesicht? sagte sie. Oh, Fräulein, hatte er erwidert, Sie wissen selbst gar nicht, wie Sie sich verleumden, darum eben möchte ich Ihnen zeigen, was Alles in Ihrem Gesicht steckt, wenn das rechte Malerauge es herausholt. Lassen wir's stecken, hatte sie etwas erröthend gesagt. Wenn Sie meine Schwester gekannt hätten! Und da ist das Zerlinchen. So ein Kindskopf, auch wenn's nur die beauté du diable ist, ist immer der Mühe werth.

Wirklich hatte das Kind ihm an ein paar Sonntagvormittagen sitzen müssen, und das hübsche Bild hing nun über dem Sopha zur Freude aller Hausfreunde. Das bin ich gar nicht, hatte die Kleine gesagt. Ich seh' aus wie ein Fräulein. Findst du nicht auch, Onkel Fridolin?

Der Angeredete nickte zerstreut. Er war seit einigen Wochen in unwirscher Stimmung, Alle bemerkten es, das Zerlinchen sogar, das ganz richtig die Ursache ahnte: seinen Unmuth darüber, daß Herbert allsamstäglich sich einfand. So viel er sich bemühte, sein eifersüchtiges Gefühl zu verbergen, verstummte er doch immer verbissener, wenn Hanna mit dem Hauptmann sich in ein angeregtes Gespräch einließ. Zerlinchen suchte ihn dafür zu entschädigen, indem sie ihr Geplauder nur an ihn richtete, während sie Herbert mit offenbarer Kälte begegnete. Es half aber nicht viel. Auf die Länge ertrug er es nicht und blieb von den Samstagen weg, unter nichtigen Ausflüchten.

Hanna that er leid. Aber da sie der Meinung war, keinen Grund dazu gegeben zu haben und Jedem ihrer Gäste mit der gleichen gütigen Gesinnung zu begegnen, versuchte sie nicht, ihn von seinem grilligen Wesen zu bekehren. Auch, wenn sie sich zwischen Beiden hätte entscheiden sollen, wäre sie nicht im Zweifel gewesen, daß sie Herbert nicht hätte entbehren mögen.

Sie war sich nach und nach ganz klar über ihr Gefühl für ihn geworden. Sie wußte, daß es eine reine, große Liebe war, die sie zu ihm hinzog, und daß es immer so bleiben, daß sie nie einen Mann finden würde, der ihr theurer wäre. Aber da sie zugleich sich keinen Augenblick verhehlte, von einem anderen Liebesglück als dieser inneren Hingebung könne nie die Rede sein, fand sie auch keine Gefahr dabei, Tag und Nacht an ihn zu denken und sich mit seinem Bilde zu beschäftigen.

Das gab ihr eine Freudigkeit auch in der Ausübung ihres Berufs, wie sie nie zuvor empfunden hatte. Auch wurden ihr jetzt die Abende, wo sie sonst nur ein Ausruhen in vertrauter Geselligkeit gefunden hatte, zu wahren Festen, die sie die ganze Woche hindurch mit sehnsüchtiger Ungeduld erwartete.

Ihm ging es ebenso. Auch er lebte nur von einem Samstag zum andern und versah inzwischen seine Dienstgeschäfte zerstreut und mit mechanischer Gleichgültigkeit. Der Gedanke, daß es anders werden könnte, beunruhigte ihn keinen Augenblick, ja er fragte sich nicht einmal, ob sie seine Neigung erwidere. Er sah sie in einer Art verklärender Glorie über sich und konnte sie sich in der Gestalt einer Gattin und Mutter kaum vorstellen. Mit dem alten von der Tante gehegten Wunsch, sein Mühmchen heimzuführen, hatte er ein- für allemal abgerechnet, aber nach seiner weichen Art, sich stets vom Geschick lenken zu lassen, auch keine anderen Pläne für seine Zukunft gesponnen.

Und so ließen beide Liebende, da Keines glaubte, daß eine Entscheidung über ihre Zukunft in seine Hand gelegt sei, sich willenlos vom Strome ihrer geheimen Neigung treiben und lebten nur für den beglückenden Augenblick.

Daß Fridolin darum, weil er ihm dies Glück beneidete, seinen Anblick vermied, war ihm nicht einmal aufgefallen. Auch andere von den Intimen erschienen nicht regelmäßig. Die kleine Schneiderin pflegte, wenn sie zum »Jour« hinunterkam, erst bei Susel sich zu erkundigen, wer da sei. Wenn viel fremde Gäste sich eingefunden hatten – manchmal stieg die Zahl bis auf neun oder zehn – sagte sie kopfschüttelnd: 's ist ja wieder der reine Rout. Da pass' ich nicht 'rein. Ich will Ihnen helfen, Suselchen, Butterbröde schmieren, und dann wieder in meinen stillen Winkel zurückkriechen.

*

Die Pausen zwischen dem Wiedersehen mit Hanna erschienen Herbert von Woche zu Woche länger.

Er hatte Hanna einmal gefragt, ob er sie nicht am nächsten Tage auf ihrem Sonntagsspaziergange begleiten dürfe. Sie hatte aber mit einem eigenthümlichen Lächeln den Kopf geschüttelt.

Sie würden Ihre Rechnung nicht dabei finden, lieber Freund, und dann: ich will Sie nicht compromittieren.

Wie können Sie so sprechen, Hanna!

(Er nannte sie in einer vertraulichen Stunde schon mit ihrem Vornamen.)

Gewiß, versetzte sie, immer mit heiterem Gesicht, man würde nichts Schlimmes denken, wenn man Sie mit der Doctorin Hanna unter freiem Himmel spazieren sähe. Höchstens daß Sie thöricht genug wären, sie etwa für einen Rheumatismus zu consultieren. Aber meine Gesellschaft, mein »Gefolge«, wie Röschen es nennt, würde Ihnen nicht anstehen, und ich könnte es Ihnen nicht verdenken.

Sie ließ sich nicht weiter darüber aus. Aber schon am nächsten Sonntag sollte er erfahren, wie es gemeint war.

Es war ein heißer Hochsommertag, Mitte August. Ein Gewitter, das schon von früh an gedroht hatte, war am Nachmittag niedergegangen und hatte die Einwohner der Stadt, die in die Umgegend hinausgewandert waren, mit starken Regengüssen überrascht. Als der Himmel sich wieder aufgehellt hatte, ließ die Baronin ihren Wagen anspannen und drang darauf, daß Herbert sie und Jella auf ihrer Spazierfahrt begleite. Eine Generalin, die mit ihnen gespeist hatte, nahm den vierten Platz im Wagen ein.

Jella saß auf dem Rücksitz neben ihrem Vetter, blaß und still, in ein seidenes, golddurchwirktes Shawltuch gewickelt, das aus dem Orient stammte. Sie sah trotz ihrer bleichsüchtigen Farbe und den etwas verschleierten Augen reizend genug aus, um die Augen der Vorübergehenden auf sich zu lenken, aber eine verdrossene Miene, die sie nicht verbarg, raubte ihr in Herbert's Augen alle Anmuth. Sie schmollte mit ihm, weil er sie vernachlässigte, und ließ es ihn durch allerlei spitze Reden, die er kaum beachtete, empfinden.

Auch jetzt gab er auf die Fragen der Damen nur zerstreute Antworten, da er im Geist weit weg bei der Einen war, die sein Herz ausfüllte. Und auf einmal glaubte er sie sogar leibhaftig vor sich zu sehen, dort auf dem Fußweg unter den hohen Bäumen, der neben der Fahrstraße im Park hinlief. War es nur eine Vorspiegelung seiner sehnsüchtigen Phantasie, oder sie selbst? Nein, wenn er noch gezweifelt hätte, ihre Begleiter, ihr »Gefolge« hätte ihn darüber aufgeklärt, daß es wirklich Hanna war, die von ihrem Sonntagsspaziergang zurückkam.

Und allerdings in einer so wunderlichen Umgebung, daß sie ihn »compromittiert« hätte, wenn er dabei gewesen wäre.

Der kleinen Karawane voran ging das Zerlinchen, hübsch und zierlich wie immer unter dem großen, mit einem blauen Band aufgesteckten Strohhut, aber eine große Botanisiertrommel umgehängt und einen Stock mit einem Stahlhämmerchen in der Hand. Neben ihr schritt mit ihren langen Beinen die alte Susel, auf dem weißen Haar ihre schwarze Sammethaube mit einer sonntäglich großen Schleife, ein carriertes Umschlagetuch um die hageren Schultern geknüpft.

Diesem sehr ungleichen Paar folgte ein noch seltsameres Dreigespann, in der Mitte die hohe, schlanke Gestalt Hanna's, in einem leichten Sommerkleid, ein schlichtes Strohhütchen auf dem reichen braunen Haar, hier wie überall ein Anblick, der Niemand auffiel, aber jede noch so genaue Kritik weiblicher Mißgunst ertragen konnte. Desto befremdlicher stach das zwergenhafte, schiefe Figürchen an ihrer rechten Seite von ihr ab, um so mehr, da Fräulein Hinkel nach der Art aller verwachsenen kleinen Frauenzimmer es liebte, große Sorgfalt auf ihren Anzug zu verwenden, der freilich zu der von der Natur so arg vernachlässigten Gestalt und der großen Brille auf ihrer beträchtlichen Nase in einem drolligen Gegensatz stand.

Sie trug überdies einen großen Regenschirm aufgespannt in der Hand, um ihn trocknen zu lassen, da der erste Regenguß vor einer halben Stunde auf ihn niedergegangen war. Jetzt, da längst wieder die Sonne schien, lächelte jeder Begegnende über die verspätete Vorsorge.

Und auf Hanna's linker Seite der schwärzliche Fridolin, der in seinem schwarzen Sonntagsrock sich unvortheilhafter ausnahm, als im Werktagsanzug oder in Hemdärmeln an seinem Arbeitstisch. Dazu trug er ein schwarzes Filzhütchen etwas schief auf dem struppigen Kopf und stieß einen schweren Spazierstock zuweilen heftig gegen die Wurzeln der Alleebäume.

Dies Trüpplein konnte seinen Weg nicht fortsetzen, ohne Aufsehen zu erregen. Die Gegenwart Hanna's, die allgemeine Achtung genoß, bändigte freilich die Spott- und Lachlust, die selbst, wenn sie vorübergewandelt waren, sich nur gedämpft vernehmen ließ. Sie selbst schien davon nicht berührt zu werden. Sie horchte, den Kopf ein wenig zu der kleinen Freundin hinabgeneigt, auf Röschens lebhaftes Gespräch, das, nach der Wirkung zu schließen, sehr lustig und witzig war.

Auf einmal blieb das Zerlinchen stehen, deutete mit den Augen nach dem vorbeirollenden Wagen und rief: Schau, Tantle, da ist Onkel Herbert! Er scheint uns aber nicht zu sehen.

Hanna blickte auf und sah noch, wie Jella sich zu ihrer Mutter vorbog und ihr etwas zu sagen schien. Auch Herbert hatte sich jetzt nach ihnen umgewendet.

Das ist ja deine Doctorin! hatte Jella ihm zugeflüstert. Nein, mit was für Leuten sie spazieren geht! Welche Toiletten! Die reine Menagerie!

Was Herbert erwiderte, konnte Hanna natürlich nicht hören. Sie sah nur mit ihrem scharfen Auge, daß er roth geworden war, als er jetzt mit steifer Höflichkeit den Hut lüftete. Dann rollte der rasche Wagen vorbei.

Zerlinchen blieb noch einen Augenblick stehen und sah ihm nach. Er scheint uns nicht ordentlich erkannt zu haben. Er hat den Hut gezogen, als wären wir ihm ganz fremd. Wer ist das schöne Fräulein neben ihm?

Hanna antwortete nicht und überließ es der Alten, den Namen zu nennen. Auch Fräulein Hinkel war plötzlich stumm geworden, bis auf gewisse Naturlaute, die sie brummend hören ließ.

Fridolin lachte einmal kurz und ingrimmig auf und ließ seine feindselige Stimmung an den Bäumen aus, daß die Spitze seines Stockes abbrach.

*

Am Abend des nächsten Tages schickte die kleine Schneiderin ihr Laufmädchen, das alle Botengänge machte, die fertigen Sachen zu den Kunden trug und Einkäufe besorgte, zu Hanna hinunter, mit der Frage, ob Fräulein Doctor wohl Zeit hätte, sich zu ihr hinauf zu bemühen; sie hätte etwas mit ihr zu reden.

Es war sieben Uhr Abends, und die letzte Patientin hatte sich aus der Sprechstunde entfernt, als Hanna die Treppe zu der Wohnung Röschens hinaufstieg.

Diese bestand aus einem hohen, in das Dach hineingebauten Raum, der vor Zeiten einem Maler zum Atelier gedient hatte. Er war mit einem breiten Fenster nach Norden und Oberlicht versehen, so daß hier Luft und Helle genug war, um drei oder vier junge Arbeiterinnen zu beherbergen, die unter Rosa Hinkel's Leitung die Toilettenkunstwerke schufen, die ihrer Meisterin mehr Ruhm und Geld eintrugen, als was der frühere Inwohner mit seinen Pinseln erworben hatte.

Zu beiden Seiten neben dieser Werkstatt lag noch je eine Kammer, in deren einer das einfache Bett Röschens stand, während die andere das Boudoir hieß und zum Empfang vornehmerer Kunden diente, die sich die vier Treppen heraufbemüht hatten.

Wer dies zu thun scheute und die kunstfertige Modistin doch sprechen wollte, mußte sie in einer Droschke abholen lassen, da sie, wie gesagt, bei Tage sich auf der Straße nicht mehr blicken ließ, außer wenn Hanna sie unter ihre Fittiche nahm.

Als diese bei ihr eintrat, war Rosa damit beschäftigt, im Atelier aufzuräumen und die angefangenen Arbeitsstücke, die ihre Näherinnen, als Feierabend gemacht wurde, hastig hingeworfen hatten, säuberlich zurechtzulegen.

Zu dem großen Fenster sah die letzte Rothe des Sommerhimmels herein, durch die geöffneten Scheiben drang eine milde Abendluft, ein paar Blumentöpfe auf dem Sims davor verbreiteten einen leisen Duft, und in dem Bauer, der zwischen ihnen stand, hüpfte ein Kanarienvogel zwitschernd von Sprosse zu Sprosse.

Was ist's, Röschen? fragte Hanna mit einem freundlichen Kopfnicken. Ihr habt mich sprechen wollen. Doch hoffentlich kein Unwohlsein?

Die Andere legte eben die letzte Robe über einen Stuhl, drehte sich dann zu der Freundin um und sagte:

Umgekehrt wird ein Schuh draus. Ich bin diesmal die Doctorin und Ihr die Patientin, die sich den Puls fühlen lassen soll. Aber kommt mit mir ins Boudoir, das mein Ordinationszimmer ist. Ich hab' Euch heraufbitten lassen, weil wir hier ungestörter sind. Unten läuft immer das Kind herein, und die Susel hat feine Ohren.

Ich versteh' Euch nicht, erwiderte Hanna, indem sie der Kleinen in die Nebenkammer folgte. Ich eine Patientin? Ich bin ganz gesund.

Nu, das wird sich zeigen. Setzt Euch da auf das Sopha, Schatz. Ich tripple lieber herum, hab' den ganzen Tag still gesessen. Und nun seid so gut, mir aufrichtig zu antworten: wie steht Ihr mit unserm schönen Herrn Hauptmann?

Eine dunkle Röthe überflog Hanna's Gesicht. Sie hatte sich dem Fenster abgekehrt, das in das schräge Mansardendach eingebaut war und nur ein schwaches Zwielicht hereinließ.

Eine wunderliche Frage! versetzte sie nach einem kurzen Besinnen. Wie ich mit ihm stehe, seht Ihr ja selbst alle Samstage.

Ja, und auch gestern am Sonntag hab' ich's gesehen und mir meine Gedanken darüber gemacht. Ich möcht' aber wissen, Liebchen, was Ihr davon denkt. Denn daß es nicht so fortgehen kann, das zu begreifen, seid Ihr doch alt und gescheidt genug.

Gestern? Was ist gestern geschehen, daß es nicht so fortgehen könnte?

Nu, nicht viel, nur nichts sehr Schönes. Der Herr Hauptmann hat sich geniert gefühlt, als er im Wagen an uns vorbeifuhr, und hätt' uns am liebsten nicht erkannt, und das habt Ihr wohl bemerkt, so wie ich, und seid dunkelroth geworden. War's nur, weil Ihr Euch für ihn geschämt habt, daß er nicht die Courage hatte, vor den hochnäsigen Damen einzugestehn, daß Ihr seine gute Freundin seid, oder – weil Ihr mehr für ihn seid, als eine bloße gute Freundin, wenn auch nur in Eurem Herzen? Das möcht' ich jetzt von Euch hören, liebes Herz, weil ich Euch lieb habe und wie 'n alter Nachtwächter Euch ins Gesicht leuchten möcht' und rufen: Bewahrt das Feuer und das Licht, damit meiner Hanna kein Schade geschicht.

Sie war nah an das Tischchen vor dem Sopha herangetreten, auf dem Hanna regungslos saß, nahm die Brille ab, die angelaufen war, weil es ihr feucht in den Augen schwamm, und wischte die Gläser mit dem Zipfel ihrer weißen Arbeitsschürze ab.

Röschen, hörte sie jetzt sagen, warum fangt Ihr von dieser Sache an, mit der ich über Nacht schon fertig geworden bin? Es hat mich freilich einen Augenblick geschmerzt, daß es ihm offenbar unangenehm war, sich zu uns bekennen zu müssen vor diesen vornehmen Damen. Dann aber sagt' ich mir: wenn er erst wegsah, so war's aus Zartgefühl, weil er es nicht hören wollte, daß diese seine Tante, die mir nicht grün ist, vielleicht eine spöttische Bemerkung machte, wenn sie mich mit meinem »Gefolge« daherkommen sah. Auch Anderen fallen wir ja auf. Darum ist er doch, so wie wir ihn kennen, über dumme Standesvorurtheile erhaben und stellt sich auf den Fuß der Gleichheit mit uns.

Wieder ein kleines Schweigen.

Dann, während die Brille wieder aufgesetzt wurde:

Glaubt Ihr wirklich, daß er Euch heirathen würde?

Und als Hanna nicht sogleich antwortete: Denn, daß er dich liebt, so wie du in ihn verliebt bist – sie fand plötzlich das Du, das sie bisher nicht gewagt hatte – das wirst du mir doch nicht ableugnen wollen, 's ist ja auch ganz natürlich, er so ein reizender Mensch und du – nu, ich will dir keine Complimente machen, Schatz. Aber so hübsch und in der Ordnung das ist, 's ist doch eine tolle Geschichte und kann ein Unglück werden, wenn nicht bald dazu gethan wird, daß alles wieder in die Reih' kommt.

Ein Seufzer rang sich aus Hanna's Brust, den sie vergebens zu unterdrücken suchte. Dann aber sagte sie, der kleinen Freundin gerade ins Gesicht blickend:

Ein Unglück? Ja, wenn es ein Unglück ist, einen Menschen, der an Geist und Gemüth so adlig ist, von ganzem Herzen zu lieben, auch wenn man ihn nie besitzen kann. Denn das hab' ich mir nie eingebildet, auch wenn er mit seiner Cousine nicht so gut wie verlobt wäre, weil – nun eben, weil wir in zwei getrennten Welten leben. Und auch er, ich bin überzeugt, er denkt gar nicht daran, aus demselben Grunde. Es ist, wie wenn ein breiter Abgrund zwischen uns wäre, Eins steht hüben und Eins drüben, und wir sehen uns herzlich an und winken uns zu und sprechen auch miteinander über die Kluft hinweg, aber keine Brücke führt uns zu einander. Ist es darum eine »Tollheit«, daß wir uns dies Vergnügen gönnen, einmal in der Woche? Und muß es anders werden?

Nu, jeden Falls, wenn er das bleichsüchtige Baroneßchen geheirathet hat. Oder denkst du, auch seine Frau werde euch das Vergnügen gönnen, euch über den Abgrund weg lieb zu haben? Bis es aber dahin kommt, wo es dir und ihm dann sauer werden wird, euch ganz fremd zu werden, kann noch manches Andere euch unangenehm werden.

Was meinst du?

Ich habe mich erst lange besonnen, ob ich dir's sagen soll, aber es ist besser, du weißt, woran du bist, und kannst dich darnach einrichten. Eine meiner Kunden – ich will den Namen nicht nennen, es ist auch egal, es ist eine Dame aus der Hofgesellschaft – nu, die fragte mich heute so nebenbei, ob ich die Doctorin kenne, die unter mir wohne, ein Fräulein Cameron. Man erzähle sich, daß sie mit dem Hauptmann von Rheinfels »ein Verhältniß« habe, er besuche sie oft, habe sogar die Dreistigkeit – Naivetät nannte sie's – gehabt, sie seiner Tante als Ärztin zu empfehlen – »es sei ja sonst nichts dabei«, setzte sie geschwind hinzu, als sie merkte, daß mir die Galle ins Gesicht stieg – »ein Offizier, der sich zu einem Mädchen aus dem Volk herablasse, das sehe man ja alle Tage, und da diese Person« – wirklich, Person sagte sie – »ja ohnehin kein Hehl daraus mache, daß sie ein Kind habe –«

Da fuhr ich aber los. Du weißt, daß ich kein Blatt vor den Mund nehme, wenn ich gereizt werde, und so eine Gräfin, mag sie noch so hochgeboren sein und mir mit dem Verlust ihrer Kundschaft drohen – wenn sie mir mit niederträchtigem Klatsch unter die Augen zu kommen wagt, die kriegt's zu hören. Nu, ich will dich damit verschonen, was ich Alles sagte, zahm und höflich war's nicht, und die »Person« wird sich's nicht hinter den Spiegel stecken. Aber du wirst nun wohl einsehen, Schatz, daß ich Recht habe: es kann nicht so weiter gehen. Du magst mir's danken oder nicht, ich muß dafür sorgen, daß meine einzige Freundin auf dieser schlechten Welt von keiner bösen Zunge verdächtigt wird, sondern daß Alle sie so sehen, wie ich.

Sie schwieg, durch die Gemüthsbewegung und die eifrige Rede sichtbar erschöpft, und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Sopha.

Röschen, sagte Hanna nach einer kurzen Pause, komm her und gib mir einen Kuß. Du hast ein goldenes Herz, und ich danke dir für Alles, was du im besten Glauben für mich gethan hast. Aber glaube mir, ich brauche keinen Schutz gegen die böse Welt. Mein gutes Gewissen ist mir Schutz genug, dazu mein bischen gesunde Vernunft, die sagen mir, daß es eine Thorheit wäre, mich selbst eines Glücks zu berauben, blos weil niedrig denkende Menschen es mir nicht gönnen. Daß er in der Meinung der Welt nicht leidet durch dies »Verhältniß«, hat die edle Dame ja selber zugestanden, und wenn man mich geringer schätzt, als ich verdiene – die Kranken, die sich an mich wenden, werden mir darum nicht untreu werden, das wäre das Einzige, was mich bewegen könnte, an meinem Leben und seiner besten Freude etwas zu ändern. Kannst du mir das nicht nachfühlen? Komm doch und setz dich hier neben mich!

Die Kleine stand von ihrem Sitz auf und näherte sich ihrer Freundin, die sie innig umarmte. Beiden waren die Augen feucht geworden.

Ach, Liebchen, sagte dann das gute Wesen, du kannst glauben, wenn ich dir gerathen hab', ihm den Stuhl vor die Thür zu setzen, – wie schwer dir's werden würde, hab' ich mir wohl vorgestellt. Ich selbst, so ein Stiefkind unseres Herrgotts, das von früh an drauf verzichten mußte, von irgend Jemand geliebt zu werden – meine eigene Mutter schämte sich meiner – auch ich habe immer einen Riß im Herzen gefühlt, wenn ich wieder einmal drauf und dran war, mich zu verlieben, und mir doch sagen mußte, dies schöne Blümchen sollte ich so geschwind als möglich wie ein Unkraut mit den Wurzeln ausreißen. Nu, darin bekam ich mit der Zeit Übung genug, bis gar nichts mehr Wurzel faßte. Aber daß du's auch solltest, da du mehr als irgend ein Weib dazu berechtigt bist, das schönste Liebesglück zu erleben, und nun doch dir's selbst verwehren solltest – o, Liebchen, es geht ganz verrückt zu in dieser Welt, und unserm Herrgott muß manchmal selber bange werden, wie nichtswürdig sich seine Kinder zuweilen durchschlagen müssen, nicht nur die Mißgeburten à la Röschen Hinkel, sondern auch ein Fräulein Doctor Hanna Cameron, für die das beste Glück gerade gut genug wäre.

*

Auch Herbert hatte das Begegnen vom Sonntag mit Hanna's »Karawane« und die verlegene Rolle, die er dabei gespielt hatte, nicht aus dem Sinn bringen können.

Gleich nachdem der Wagen vorübergerollt war, hatte er sich mit einem heißen Schamgefühl gesagt, wie sehr es seine Freundin gekränkt haben müsse, daß er sie wie die erste beste Bekannte begrüßt hatte, der er nur einmal flüchtig begegnet wäre. Freilich war er nicht verpflichtet, den hochmüthigen Damen einzugestehn, wie sein Herz an ihr hing. Aber ein heimlicher Blick und Wink zu ihr hinüber hätte ihr sagen müssen: Beklage mich, daß ich in dieser Gesellschaft ausharren muß, die ich so tausendmal lieber mit deiner vertauschte.

Allerdings wäre er nicht geneigt gewesen, sich ihr ganzes Gefolge gefallen zu lassen. Sie hatte Recht: er hätte sich »compromittiert«, zwischen der kleinen verwachsenen Schneiderin und dem Kunstschlosser unter den sonntäglichen Spaziergängern hinwandelnd. Daß sie selbst aber zu groß dachte, um ihre Hausfreunde vor der Welt zu verleugnen, rechnete er ihr zur Ehre an und fand sich sehr klein im Vergleich zu ihr, da er über solche niedrigen Vorurtheile sich nicht erhaben fühlte.

Nun saß er in der widerwärtigsten Stimmung während der ganzen Fahrt den spöttischen Damen gegenüber und verabschiedete sich von ihnen, sobald sie nach Hause gekommen waren.

Es gelang ihm auch in seiner einsamen Wohnung nicht, seiner Verstimmung Herr zu werden. Er vertiefte sich sofort in ein kriegswissenschaftliches Werk, das ihn an anderen Tagen lebhaft gefesselt hatte. Aber wenn er eine Seite gelesen, merkte er, daß nur die Augen dabei gewesen waren, während vor seinem inneren Sinn das Bild der schlanken Gestalt, die so fragend und wie bedauernd zu ihm hinübergeblickt hatte, nicht weichen wollte.

Am andern Tag rief ihn der Dienst früh in die Kaserne. Als er an einem Blumenladen vorbeikam, wo ein paar Levkojenstöcke am Schaufenster standen, ging er hinein, kaufte sie und war eben im Begriff, Hanna's Namen und Wohnung auf eine Karte zu schreiben und die Blumen hinschicken zu lassen, als er sich noch besann, daß sie darin das Bemühen sehen würde, etwas wieder gut zu machen, was nun einmal nicht auszulöschen sei. So gab er seine eigene Adresse an und entfernte sich mit einem Seufzer.

Den ganzen Tag grübelte er darüber nach, ob er wohl zu ihr gehen und sich mit ihr aussprechen solle. Was aber sollte er ihr im Grunde sagen, was sie nicht schon wußte? War's wirklich ein so großes Heldenstück gewesen, ganz cordial ihr zuzuwinken und vor der Tante kein Hehl daraus zu machen, daß er die »Doctorin« wieder aufgesucht habe, um den Eindruck der geringschätzigen Behandlung bei jener Consultation in etwas zu verwischen, und daß er in der That ein sehr gescheidtes und liebenswürdiges Frauenzimmer in ihr gefunden habe?

Wenn ihn das »compromittiert« hätte, wäre es immerhin kein Schade gewesen, da ihm das Urtheil dieser höheren Kreise sehr gleichgültig war.

Nun mußte er's zu seiner Strafe leiden, daß er noch die ganze Woche nicht erfahren sollte, ob Hanna die Sache so schwer nahm, wie er selbst.

Als er aber am Dienstag Morgen eben gefrühstückt hatte und sich eine Cigarre anzündete, kam sein Bursche herein und meldete, ein Herr Fritz Specht stehe draußen und wünsche den Herrn Hauptmann zu sprechen.

Ein dunkles Vorgefühl von etwas Unerfreulichem stieg in Herbert auf. Etwas Wichtiges mußte es auf jeden Fall sein, was den guten Fridolin, der ihn sonst geflissentlich vermied, an einem Werktag um neun Uhr Morgens von der Arbeit weg zu ihm führte.

Vielleicht eine Botschaft Hanna's, die Bitte, sich nicht ferner zu ihren Hausfreunden zu rechnen, da er vor der Welt von ihr nichts wissen wollte.

Aber nein, das konnte es nicht sein. Auch hätte sie ihm dann mündlich gesagt, was ihn jedenfalls schmerzen mußte.

Laß den Herrn eintreten, Johann. Und während er hier ist, will ich nicht gestört sein.

Der Bursche öffnete Fridolin die Thür, der, den Hut abnehmend und Herbert mit einer steifen Verbeugung begrüßend, über die Schwelle trat.

Guten Morgen, lieber Herr Fridolin! sagte Herbert so unbefangen, als er vermochte, seien Sie mir bestens willkommen. Das ist ja eine Überraschung, Sie einmal bei mir zu sehen. Bitte, nehmen Sie Platz und stecken Sie sich eine Cigarre an. Mit mir zu frühstücken, darf ich Sie wohl nicht einladen. Das werden Sie schon lange besorgt haben.

Der junge Mann, der seinen Sonntagsanzug trug, stand ruhig, seinen Stock und Hut in der Hand, auf dem dicken Teppich vor dem Sopha, von dem Herbert sich erhoben hatte. Er hatte im Eintreten nur einen flüchtigen Blick durch das elegante Zimmer geworfen und die alterthümlichen Waffen, Musketen, Pistolen und Säbel gestreift, die, ein Rheinfels'sches Familienerbe, in einem Winkel malerisch angebracht waren. Dann sah er still vor sich nieder und sagte:

Ich möchte den Herrn Hauptmann um eine kurze Unterredung bitten.

Ich stehe zu Dienst, lieber Herr! Aber wollen wir's uns nicht bequem dazu machen? Legen Sie doch Hut und Stock ab.

Ich werde mich nicht lange aufhalten, Herr Hauptmann. Ich komme nur, Ihnen etwas mitzutheilen, was auch Ihnen vielleicht wichtig sein wird.

Nun, wenn Sie es durchaus im Stehen thun und nicht rauchen wollen, so erlauben Sie wohl, lieber Freund, daß ich mich wieder setze und meine Cigarre nicht kalt werden lasse.

Fridolin nickte nur stumm und sah unverwandt auf den Teppich nieder.

Nämlich, sagte er, gestern Abend – ich hatte meiner Mutter etwas zu sagen, und nachdem ich das gethan hatte, fühlte ich Durst und trat in das Wirthshaus, dem Haus von Fräulein Hanna schräg gegenüber, und ließ mir ein Glas Bier bringen. Es war eben kurz nach Feierabend und das Zimmer noch ganz leer. Die Wirthin, die mich kennt, brachte mir das Bier selbst und setzte sich zu mir, um ein bischen mit mir zu plaudern. Und wie man so von einem zum andern kommt, sagt sie auf einmal: Ist's denn wahr, Herr Specht, daß die Fräulein Doctor, bei der Ihre Mutter ist, ein – ein – nun ja, ein Verhältniß mit einem Baron hat? sagte sie. Er kommt alle Wochen zu ihr und schenkt ihr allerlei kostbare Sachen, einmal einen Blumenstrauß, der gewiß zwanzig Mark gekostet hat, und die ganze Nachbarschaft spricht davon, und Alle sagen, es sei doch schade um das gute Fräulein, daß sie sich so wegwirft, denn ehrlich mit ihr meinen könne es der vornehme Herr doch gewiß nicht, und wie so was ausgehe, wisse man ja schon, und – und so weiter.

Ich hatte sie ausreden lassen, obgleich mir die helle Wuth zu Kopfe stieg und meine Faust sich ballte, als ob sie gleich losschlagen müßte. Aber ich beherrschte mich, und wie sie endlich schwieg, sagte ich: Wer Ihnen das gesagt hat, dem bestellen Sie nur von mir, daß er ein Schuft ist und ein niederträchtiger Verleumder, und daß er sich in Acht nehmen soll, mir in den Weg zu kommen, denn dann –

Und da – ich schäme mich jetzt, daß ich mich so fortreißen ließ – aber ich konnte es nicht bändigen, ich stieß das Glas so heftig gegen den Tisch, daß es in Stücke ging und das Bier über die rothe Decke floß.

Mein Gott, Herr Specht, sagte die Frau ganz erschrocken, warum werden Sie so wild? Ich selbst bin ja so unschuldig an der Schwätzerei, wie ein neugeborenes Kind, und Sie könnten mich todtschlagen, ich wäre nicht imstande, Ihnen zu sagen, wer die Geschichte aufgebracht hat. Das Fräulein Doctorin ist ja in dem ganzen Viertel bekannt, und Jeder hat bis jetzt nur Gutes von ihr gesprochen, und meinetwegen möchte sie zehn Barone und Grafen zum Besuch empfangen, sie thut der armen Menschheit so viel Gutes, daß man's ihr auch gönnen mag, wenn sie ihr Vergnügen hat. Aber eben darum wollte ich von Ihnen wissen, da Sie ja die Wahrheit kennen müssen –

Ich ließ sie nicht weiter reden, sondern stand auf, bezahlte das Bier und das zerbrochene Glas und sagte nur noch unter der Thür: Wer Ihnen in Zukunft wieder so infame Lügen zuraunt, dessen Namen schreiben Sie mir auf und sagen ihm, daß ich ihm darauf dienen werde. Und damit ging ich aus dem Hause.

Nach diesen Worten, die wie wuchtige Hammerschläge geklungen hatten, war's ein paar Augenblicke still zwischen den Beiden.

Dann sagte Herbert, indem er bedächtig die Asche seiner Cigarre abstreifte:

Ich danke Ihnen, lieber Freund, daß Sie mir diese Mittheilung gemacht haben. Daß es auch mir sehr ärgerlich ist, daß Fräulein Hanna durch mich ins Gerede kommen sollte, brauche ich nicht zu versichern. Aber ich sehe nicht ein, was dabei zu thun ist. Niemand steht so hoch, daß die gemeine Welt ihn nicht verdächtigen und nach ihrem eigenen schlechten Gewissen taxieren möchte. Sie kennen ja Ihren Schiller, wie mir das Fräulein gesagt hat. »Es liebt die Welt das Strahlende zu schwärzen« und so weiter. Dagegen giebt es nur Ein Mittel: ruhig seines Weges zu gehen und nach dem Geschwätz nicht hinzuhorchen, dann wird es endlich von selber still.

Jetzt zuerst hob Fridolin das Gesicht, sah Herbert mit einem finsteren Blick an, senkte dann aber gleich wieder die Augen.

Ich bin anderer Meinung, Herr Hauptmann, sagte er, die Brauen zusammenziehend und jedes Wort stockend, aber heftig hervorstoßend. In Ihrer vornehmen Gesellschaft mag das richtig sein. Da hätte man wohl viel zu thun, wenn man jeder Medisance, wie die häßliche Sache da mit einem glatten Namen genannt wird, nachlaufen wollte. Aber in bürgerlichen Kreisen, wo wir leben, nimmt man so eine niederträchtige Rederei nicht auf die leichte Achsel. Man läßt freilich auch bei uns fünf gerade sein, und eine richtige Liebschaft und allen Falls auch ein lediges Kind, wenn Zwei, die sich gern haben, sich nicht heirathen können – das hält man nicht gerade für eine Todsünde. Ist aber nichts daran, so stopft man denen, welche die Lügengeschichte herumbringen, das Maul, das können Sie mir glauben, Herr Hauptmann, es brauchte sich noch nicht einmal um so ein vorzügliches Wesen zu handeln, wie Fräulein Hanna, auf deren Ehre diejenigen, die ihr nahe stehen, nicht den kleinsten Flecken dulden können.

Herbert nickte langsam vor sich hin.

Gewiß, sagte er, Sie haben durchaus Recht. Ich sehe nur nicht ab, wie man diese unbekannten Mäuler stopfen soll. Wir leben nicht mehr in den Ritterzeiten, wo jeder Tapfere, dessen Dame verunglimpft wurde, in die Schranken ritt und die Verleumder ihrer Ehre vor seinen Speer forderte. Wenn Sie mir ein zeitgemäßeres Mittel angeben könnten, wie dem albernen Gerücht Einhalt zu thun wäre –

Der junge Mann trat einen Schritt näher an Herbert heran und sagte:

Ein sehr einfaches Mittel giebt's, Herr Hauptmann: Sie besuchen Fräulein Hanna nicht mehr.

Herbert sah in die Höhe, die Blicke der Beiden begegneten sich, aber keiner schlug vor der Herausforderung, die darin lag, die Augen nieder.

Sie sind sehr naiv, lieber Herr Specht, sagte Herbert lächelnd, mir zuzumuthen, daß ich mich vor dem Geschwätz des Gassenpöbels flüchten und den Verleumdern das Feld lassen soll. So lange mir Fräulein Hanna die Ehre erzeigt, mich zu ihren Hausfreunden zu rechnen, würde ich diesen Vorzug mir durch kein böswilliges Gerede rauben lassen, auch wenn ich nicht Offizier wäre und gewohnt, allen Feinden das Gesicht zuzukehren. Wenn Sie also kein anderes Mittel wissen –

Es gäbe wohl noch eins – kam es zögernd aus Fridolin's Munde – aber das ist ja wohl ausgeschlossen.

Was meinen Sie?

Nun, wenn Sie es ehrlich mit ihr meinten und sie heirathen wollten. O – Sie brauchen nicht aufzubegehren, ich weiß, daran denken Sie nicht, Sie sind ja auch halb und halb verlobt, auch glaube ich nicht, daß Fräulein Hanna ihren ärztlichen Beruf aufgeben möchte, um als Frau Hauptmann die Hände in den Schooß zu legen. Und auf eine andere Manier –

Herbert stand auf. Sein Gesicht hatte sich verfinstert, während der junge Mensch sprach, eine Falte war zwischen seinen Brauen erschienen. Doch hatte er sich noch hinlänglich in der Gewalt, um mit ruhiger Stimme zu sagen:

Ich muß Sie bitten, mein Herr, in dieser »Manier« nicht fortzufahren. Ich zweifle nicht daran, daß Sie es gut meinen, aber Sie sind zu wenig welt- und lebenserfahren, um zu wissen, daß Ihre Worte ganz ungehörig sind. Ich habe Ihnen kein Recht gegeben, sich in so plumper Weise in meine persönlichen Angelegenheiten zu mischen; wenn Sie mir daher nichts Anderes zu sagen haben, möchte es wohl besser sein, das Gespräch zu enden.

Auch ich habe keinen Grund, es fortzusetzen, versetzte der Andere, sichtbar bemüht, so kaltblütig zu erscheinen wie sein Gegner. Ich habe nur noch eine einzige Frage zu thun: Werden Sie Ihre Samstagsbesuche fortsetzen, Herr Hauptmann, oder sie aus Rücksicht auf Fräulein Hanna's Ruf einstellen?

Auf Ihre Frage, lieber Herr, gebührt nur die eine Antwort: daß ich Ihnen kein Recht dazu einräumen kann und jede Antwort verweigere.

Nach Ihrem Belieben. Ich erkläre Ihnen nur, daß ich meinerseits Ihnen das Recht nicht einräume, das Fräulein in schlechten Ruf zu bringen. Wenn Sie noch einmal wagen sollten, sich in ihrem Hause blicken zu lassen, würden Sie sich die Folgen selbst zuzuschreiben haben.

Er hatte sich in seiner ganzen Figur aufgereckt und hielt Herbert's funkelnden Blick, ohne eine Wimper zu zucken, aus. Der junge Offizier schritt ruhig nach der elektrischen Glocke auf seinem Schreibtisch und drückte auf den Knopf. Dann zu dem eintretenden Johann gewendet:

Der Herr kann die Thür nicht finden. Zeig ihm doch den Weg. Adieu, mein Lieber!

*

Als Herbert sich nach Fridolin's Abgang wieder allein sah, blieb er noch eine Weile unbeweglich auf demselben Fleck und starrte auf die Thür, durch die Fridolin hinausgegangen war, trotz der schnöden Verabschiedung mit langsamem, festem Schritt und den Kopf aufrecht auf den breiten Schultern, wie einer, der das Bewußtsein hat, trotz des Rückzugs nicht als Besiegter den Kampfplatz zu verlassen.

Die Ahnung hiervon ging auch seinem Gegner auf. Ein brennender Unmuth nagte an ihm, ein dumpfer Ingrimm gegen die elende Welt, die stets nach dem Schein urtheilt, und gegen sich selbst, der sich dieser Erbärmlichkeit gegenüber wehrlos fühlte. Er rief sich jedes Wort zurück, das zwischen ihm und dem Anderen gewechselt worden war, und nahm sich's übel, daß er ihn nicht noch schärfer in seine Schranken zurückgewiesen hatte. Dann gestand er sich wieder heimlich ein, daß er selbst an Fridolin's Stelle nicht anders gehandelt hätte, daß dieser simple »Schlossergesell« sich vollkommen correct und nach dem strengsten Ehrencodex betragen und ihn im Grunde beschämt hatte. An ihm wär' es gewesen, wenn er auf Hanna's Freundschaft Anspruch machte, Alles zu vermeiden, was ihre bisherige Unbescholtenheit gefährden konnte. Und nun hatte er die Dinge so weit kommen lassen, daß nur ein heroisches Mittel die verworrene Lage schlichten konnte.

Er wollte die weggelegte Cigarre wieder anzünden, warf sie aber nach wenigen Zügen weg, da sie ihm bitter schmeckte. Dann ging er eine Stunde lang in seinem Zimmer auf und ab, durch seinen Kopf jagte eine fieberhafte Gedankenflucht, ohne daß es ihm möglich war, zu irgend einem klaren Entschluß zu kommen. Endlich warf er sich auf seinen Divan, schloß die Augen und verschränkte die Arme hinter seinem heißen Kopf.

Sein Bursche, der gewohnt war, den Herrn Hauptmann Tag für Tag zu derselben Stunde für den Dienst anzukleiden, wagte endlich, in der Meinung, Herbert habe einen Nachschlaf gehalten, da er erst nach Mitternacht zu Bett gegangen, leise einzutreten, um ihn daran zu erinnern, daß es hohe Zeit sei.

Herbert fuhr auf und befahl dem Burschen, in die Kaserne zu gehen und zu melden, er sei unwohl und könne heute keinen Dienst thun.

Dann legte er sich wieder zurück und brütete weiter.

Als die Essenszeit herangekommen war, ließ er sich – erst da Johann ihn daran erinnerte – etwas aus dem nächsten Gasthause holen, genoß aber kaum einen Bissen und stürzte nur ein paar Gläser Wein hinunter. Der Bursche, der ihm sehr anhänglich war, fragte schüchtern, ob er nicht den Doctor holen solle, sein Herr aber schickte ihn zu allen Teufeln und verbot ihm, irgend Jemand einzulassen.

So verharrte er auch die langen Nachmittagsstunden in tiefster Versunkenheit, aus der er doch endlich mit einem leuchtenden Blick aufsah, wie Einer, der ein schwieriges Problem zu seiner Genugthuung gelös't hat.

Er ließ sich seine Uniform bringen, legte sogar die beiden Orden an, die er besaß – freilich im Friedensdienst erworben – und steckte den Degen an die Seite. Dann verließ er seine Wohnung und schlug den Weg nach Hanna's Hause ein.

Es war schon weit über Sechs, die Sprechstunde hatte längst begonnen.

Als er in das Wartezimmer eintrat, wo heute nur wenige Kranke sich eingefunden hatten, ging gerade der Letzte zu der Ärztin hinein, blieb aber eine volle halbe Stunde, die Herbert unerträglich lang dünkte. Endlich öffnete Hanna wieder die Thür und begrüßte, obwohl sie einen kleinen Schreck empfand, den Freund mit ihrem gewöhnlichen guten Lächeln.

Doch kein ärztlicher Anlaß? fragte sie, als er ihr in das kleinere Zimmer folgte. Ist etwa das Befinden Ihrer Cousine bedenklicher geworden, so daß man doch zu dem Naturheilverfahren der Quacksalberin seine Zuflucht nimmt?

Nein, sagte er, nachdem sie wieder an ihrem Tische Platz genommen hatte, während er vor ihr stehen blieb, diesmal handelt sich's in der That um mich selbst. Sie müssen mir einen Dorn aus dem Herzen ziehen. Vorgestern, als ich Ihnen draußen im Park begegnete–

Sie brauchen kein Wort hinzuzusetzen, unterbrach sie ihn. Ich weiß Alles, was Sie mir sagen wollen, und wahrhaftig, es ist nicht der Rede werth. Ich sah es Ihnen am Gesicht an, wie peinlich es Ihnen war, sich nicht so offen, wie Sie gewünscht hätten, zu mir bekennen zu dürfen. Aber wirklich, unser Aufzug war der Art, daß, wie Goethe sagt, der beste Freund sich nur »schonend unser erfreuen« konnte. Sie hätten mich natürlich gern geschont, indem Sie die Aufmerksamkeit Ihrer Damen von unserm Trüpplein abgelenkt hätten, und es war Ihnen empfindlich, daß es nicht gelang. Nein, darüber brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen. Ich habe es Ihnen ja gesagt, als Sie fragten, ob Sie uns nicht auf unseren Sonntagsgängen begleiten könnten, es wäre nichts für Sie. Ich bin daran gewöhnt, und doch ist es selbst mir sogar zuweilen ärgerlich, wenn mein Röschen neben meiner großen Figur doppelt auffällt. Aber ich bestehe nun einmal darauf, daß das gute arme Geschöpf wenigstens einen Tag von sieben an die Luft kommt, damit das drohende Brustleiden sich nicht ausbildet. Und so schlepp' ich sie in Gottes Namen mit, verdenk' es aber niemand, wenn er unser fünfblätteriges Kleeblatt mehr drollig als schön findet.

Es macht Ihrem Herzen Ehre, versetzte Herbert, leise ihre Hand drückend, die er gleich wieder fahren ließ. Daß ich mich zu dieser Ihrer Höhe nicht aufschwingen konnte, werde ich mir dennoch nicht verzeihen, auch nachdem Sie in Ihrer himmlischen Güte mich losgesprochen haben.

Nochmals: reden wir nicht mehr davon! Wir Zwei leben in verschiedenen Welten, und jeder hängt, er mag innerlich noch so frei sein, von den Vorurtheilen seines Standes ab. Hier in meinem Zimmer sind wir auf neutralem Boden. Das wollen wir uns zu Nutze machen und all den elenden Kram vergessen, mit dem die Menschen sich selbst das Leben erschweren.

Er schwieg eine Welle. Dann sagte er:

Wenn wir's nur immer könnten und – dürften!

Wer will uns hindern?

Meine theure Freundin, fuhr er fort, Sie haben Recht, wir Zwei gehören verschiedenen Welten an, aber so vornehm wir uns darüber hinwegsetzen und hier, auf dem »neutralen« Boden, unserer menschlichen Wahlverwandtschaft uns erfreuen möchten – man scheint uns das doch nicht erlauben und uns das Spiel verderben zu wollen.

Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen. Was hat die Welt für ein Recht, sich einzumischen?

Gewiß kein Recht, aber eine Macht. Sie, Theuerste, mögen über alles Gerede der Welt erhaben sein. Sie waren es schon, seitdem Sie sich auf Ihre eigenen Füße stellten und unter die Nihilisten gingen. Aber Ihre Freunde dürfen es nicht gleichmüthig mit anhören, wenn über Sie gelästert, Ihr guter Name verunglimpft wird.

O! machte sie. Ihre Frau Tante –

Nein, nicht die Tante. Das würde mir sehr gleichgültig sein, denn bei der absoluten Verständnißlosigkeit für eine Natur wie Sie, die in diesen Kreisen herrscht, gilt jedes Wort, das dort Ihren Ruf antastete, nicht Ihnen, und alle Pfeile der Bosheit gleiten an Ihnen ab. Daß Sie aber in Ihrer nächsten Umgebung verdächtigt werden, als ob Sie sich über die Schranken der guten bürgerlichen Sitte hinwegsetzten – nein, man knüpft keinen Vorwurf daran – wenn Sie es thäten, würde sich niemand zu Ihrem Richter aufwerfen – nur da es eine Lüge ist, werden Sie es einem treuen Freunde nicht verdenken, daß er sich dagegen empört und darauf denkt, Alles aufzubieten, um Ihre Ehre von jedem Makel rein zu erhalten.

Sie nickte vor sich hin.

Also das ist's! Nichts weiter! Diese große Sache hat mir schon das gute Röschen vorgetragen und eine große Wichtigkeit daraus gemacht. Ich kann das gewiß begreifen, daß es die »Welt«, die große oder die kleine, anstößig findet, wenn ein Herr von Rheinfels bei der Doctorin Hanna Cameron sich einmal in der Woche als Hausfreund einfindet, denn irgend einen Stoff zum Niedrigdenken und -schwatzen müssen sie ja haben, und in Ermangelung eines besseren nehmen sie mit einem Hirngespinnst vorlieb. Und daran sollen wir uns kehren? Darum etwas aufgeben, was so traulich und hübsch und unschuldig ist und wozu wir uns getrost vor jedem Richterstuhl bekennen dürfen?

Sie stand auf und machte ein paar Schritte durch das Zimmer. Dann blieb sie vor Herbert stehen.

Sagen Sie's gerade heraus, lieber Freund: Ihnen ist dies »Verhältniß« unbequem. Sie sind mir herzlich zugethan, das weiß ich und werde es auch nicht bezweifeln, wenn Sie es zweckmäßig und Ihrer socialen Stellung angemessen finden, Ihren Umgang mit mir einzustellen. Jeder muß Rücksicht nehmen auf das, was er seinem Berufe schuldig ist, und der Ihre, lieber Freund, erheischt ganz besonderen Respect vor dem Herkommen. Daß es mir leid thun wird, Sie nicht mehr zu sehen –

Sie kränken mich tief, rief er leidenschaftlich, wenn Sie glauben – nein, nein, Sie, Sie ganz allein sind es, deren Wohl und Weh für mich in Betracht kommt.S Ich kann und will und werde es nicht hinnehmen, daß Ihre Nachbarn hier in der Straße mit Fingern auf Sie weisen und Sie für meine Geliebte ansehen! Und darum –

Nun denn, wenn es so weit gekommen ist – ich begreife, daß Sie es nicht weiter kommen lassen möchten. Es giebt aber ein einfaches Mittel dagegen, das ich schon erwähnt habe. Jeder Klatsch verhallt, wenn er keine neue Nahrung erhält. Stellen Sie Ihre Besuche ein und lassen Sie uns heute als gute Freunde von einander scheiden.

Er trat ihr noch einen Schritt näher und ergriff ihre Hand, indem er seinen Blick innig auf ihr ruhen ließ.

Giebt es nicht ein noch besseres Mittel, Hanna? Wenn wir, statt als gute Freunde zu scheiden, als noch bessere beisammen bleiben, beisammen, Hanna, bis an den Tod?

Sie war so völlig auf ein solches Wort unvorbereitet, es erschütterte sie bis in's tiefste Herz. Das aus seinem Munde zu hören, da sie eben zu dem schweren Opfer eines völligen Verzichtes bereit gewesen war, den Gedanken eines Glücks zu fassen, das über alles Hoffen und Glauben hinaus war – sie mußte sich an der Lehne des Sessels festhalten, da die Kniee ihr versagen wollten.

Eine heiße, unsagbar süße Wonne überströmte sie. Wenn sie nicht den festen Druck seiner Hand gefühlt, seine Augen mit so dringender Gewalt auf ihr Gesicht geheftet gesehen hätte, es wäre ihr zu Muthe gewesen, als könne dies Alles nur ein trügerischer goldener Traum sein.

Auch er empfand das Glück, ihr endlich gesagt zu haben, was sie ihm war. Er sprach kein Wort weiter, er betrachtete sie nur mit einem ängstlich gespannten Blick, wie sie es aufnehmen würde, was sie freilich überraschen mußte, während er selbst diesen ganzen Tag nur damit zugebracht hatte, sich darüber klar zu werden, daß dies die einzige seiner würdige Lösung der Schicksalsfrage sei.

Dann glaubte er an ihrer Miene, die nach dem ersten Aufleuchten der Freude ernster und ernster geworden war, zu erkennen, daß er sich vergebens Hoffnung gemacht habe, sie zu gewinnen. Da ließ er ihre Hand aus der seinen und sagte mit einem schmerzlichen Seufzer:

Sie lieben mich nicht, Hanna. Verzeihen Sie, daß ich mir habe einbilden können, Sie fühlten nur halb so warm für mich, wie ich für Sie. Dann wird allerdings nichts übrig bleiben, als uns zum letztenmal die Hand zu drücken.

Sie glitt auf den Sessel nieder, schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln.

Oh, lieber Freund, sagte sie mit bewegter Stimme, wie wenig kennen Sie mich doch! Wie schlecht wissen Sie von meinem Herzen Bescheid, da ich mir freilich alle Mühe gegeben habe, seine geheimsten Regungen zu verbergen. Setzen Sie sich da mir gegenüber und jetzt – sie hielt ihm beide Hände hin – jetzt lassen Sie sich danken für das, was Sie mir eben gesagt haben. Glauben Sie mir: daß Sie mich gefragt haben, ob wir zusammen bleiben wollen bis an den Tod, das wird für mich ein unvergängliches Glück sein, eine stolze Freude bis an den Tod, und ich kann es Ihnen nicht anders danken, als durch das Geständniß, daß ich Sie lieb habe, wie ich nie vor Ihnen einen Mann geliebt habe und nach Ihnen lieben werde. Aber eben deßhalb – um Ihretwillen – kann ich dies große, große Geschenk Ihres Herzens und Ihrer Hand nicht annehmen.

Nein, werden Sie nicht böse, hören Sie mich ruhig an. Obgleich ich nur ein Weib bin – ich habe so viel Ernstes im Leben erfahren, daß ich von uns Beiden mehr imstande bin, die Vernunft zu Worte kommen zu lassen. Und sehen Sie, lieber Freund, vor der kann der Gedanke, daß wir unsere Geschicke miteinander verbinden sollen, nicht bestehen. Nimmermehr würde das Offiziercorps, dem Sie angehören, seine Zustimmung dazu geben, daß Sie ein Mädchen meines Schlages zu Ihrer Frau machten, eine »Emancipierte«, die unter russischen Nihilisten Medicin studirt und sich hier niedergelassen hat mit einer jungen Nichte, die allgemein für ihre eigene Tochter gilt. Haben Sie wirklich nicht daran gedacht, daß Sie durch eine solche Heirath nicht nur Ihre gesellschaftliche Stellung verscherzen, sondern dazu gezwungen werden würden, Ihren Lebensberuf aufzugeben?

Meine liebe Freundin, sagte er mit einem stillen Lächeln, Sie denken doch von meiner Vernunft schlechter, als sie verdient. Ob ich daran gedacht habe? Natürlich habe ich daran gedacht, aber es hat mich durchaus nicht in meinem Entschluß wankend gemacht. Glauben Sie, daß mein Herz mehr an diesem öden Garnisonsdienst hängt, als an Ihnen? Daß es mich nur einen Seufzer kosten würde, meinen Abschied zu nehmen, wenn Sie mich nicht verabschieden wollen? Oder, daß das Heer mich vermissen würde, wenn ich ihm meinen Degen zurückgäbe, bis etwa ein Krieg kommt und das Vaterland erwartet, daß Jedermann seine Schuldigkeit thue?

Sie antwortete nicht sogleich. Sie brauchte einige Zeit, um ihr aufwallendes Herz, das sie stürmisch drängte, ihm um den Hals zu fallen und zu sagen: Nimm mich hin! Die Liebe ist höher als alle Vernunft! zu beschwichtigen und Worte zu sprechen, die neben den seinen so kalt und armselig klingen mußten.

Aber sie fühlte, daß diese Antwort über sein und ihr Leben entschied, und daß sie es sich nicht vergeben würde, wenn sie sich von ihrem Herzen übermannen ließ.

Nein, theurer Freund, sagte sie, es ist unmöglich. Daß Sie es nicht dafür halten, werde ich Ihnen nie vergessen. Aber glauben Sie mir, es ist unmöglich. Sie denken nur an das Nächste. Ich aber sehe in die Zukunft hinaus, die es uns beide bereuen lassen würde, vielleicht nicht schon über Jahr und Tag, dann aber gewiß, daß wir nur auf unser Herz gehört haben, nicht auf die Stimme der Vernunft, die Ihnen in diesem Augenblick als eine engherzige Mahnerin erscheinen wird. Sie wollen Ihren Beruf aufgeben, um meinetwillen. Aber welchen anderen Beruf könnten Sie dafür eintauschen? Nur der Mann Ihrer Frau zu sein? Wie lange würden Sie daran Genüge finden? Sie, der Sie mir gesagt haben, daß Sie mit Leib und Seele Soldat sind, schon von Ihren Voreltern her? Was können Sie für eine Thätigkeit finden, die Sie in gleicher Weise befriedigte? Und ein Mann, der keine Lebensaufgabe hat, der nicht jeden Morgen an eine bestimmte Arbeit geht, gleichviel ob sie ihm Freude macht, oder er nur eine Pflicht erfüllt – ein solcher Mann, wenn er von höherer Natur ist und mehr vom Leben verlangt, als täglich satt zu werden und sich die Langeweile durch Lectüre und Schachspiel zu vertreiben, muß auf die Länge todunglücklich werden. Zumal an der Seite einer Frau, die von früh bis spät arbeitet. Diese Frau selbst, bei aller Liebe und obwohl sie weiß, daß er das Opfer nur ihr gebracht hat, kann ihn nicht so recht achten. Und sehen Sie, auch das wird sein häusliches Glück bald untergraben, daß er erkennt: sie wird nicht durch die Liebe ihres Gatten ausgefüllt, sie hat noch andere Interessen, die ihr sehr am Herzen liegen, und sieht ihren Mann ja auch nur bei den Mahlzeiten, in den Pausen zwischen ihren schweren Pflichten, wenn sie müde und zerstreut zu ihm zurückkehrt. Eine solche Frau würde es Sie bald bereuen lassen, daß Sie um ihretwillen mit Allem, was bisher Ihre Welt war, gebrochen haben.

Hanna, sagte er, es ist grausam, was Sie da sagen, nicht nur für mich, sondern auch für Sie! Wenn Sie Recht hätten, würden Sie mit dieser Gesinnung auch für sich auf ein häusliches Glück, wie man es nur in der Ehe findet, verzichten.

Nein, versetzte sie ernst, nur auf eine ungleiche Ehe, wie die unsere sein würde. Ich hatte immer gehofft, einen wackeren Mann zu finden, der, wie ich, ein rüstiger Arbeiter wäre, während seines Tagewerkes mich nicht vermißte und dann froh wäre, wenn es abgethan, mich zu finden und in den freien Stunden an meiner Seite fröhlich aufzuathmen. Ich machte mir keine Illusionen, daß ich gerade eine glänzende Partie finden würde, ich wollte schon mit einem bescheidenen Lebensgefährten vorlieb nehmen. Denn daß ich es nur gestehe: als das höchste Glück schwebte mir nicht die Liebe eines geliebten Mannes vor, sondern der Besitz eigener Kinder. Sie wissen, wie ich auch in meinem Beruf an den Kindern hänge. Doch so herzlich ich mein Zerlinchen liebe, es ist immer nicht die Erfüllung meines heißesten Wunsches.

Als ich Sie dann kennen lernte, begriff ich zum ersten Mal, daß eine solche Liebe das Herz ganz ausfüllen und jeden anderen Wunsch zurückdrängen könne. Ach, ich habe genug in mir zu kämpfen gehabt, um mir immer vorzuhalten: Es ist unmöglich! Und jetzt – daß ich es Ihnen sagen mußte, nachdem Sie mir Alles opfern wollten, was bisher der Inhalt Ihres Lebens war – o, mein Freund, es ist nicht grausam von mir, sondern vom Schicksal, das mich vor diese Wahl gestellt hat und mir zugleich im Innersten keine Wahl läßt, wenn ich mir selbst und – Ihnen nicht untreu werden soll.

Er blieb noch eine Weile regungslos sitzen und starrte ins Leere hinein; dann stand er mühsam auf.

Aus alledem, was ich nicht widerlegen kann, sehe ich nur das Eine: Daß Sie mich nicht so lieben, wie ich Sie. Sonst würden diese Vernunftgründe keine entscheidende Macht über Sie haben. Sie würden sich auf alle Gefahr mir anvertrauen und das Weitere der Zukunft überlassen. Nein, ich mache Ihnen keinen Vorwurf, Jeder handelt nach seiner Natur, die Ihre ist besonnener und somit – ich habe Ihnen nur zu danken, daß Sie mir offen eingestanden haben, Einer wie ich könne Sie nicht ganz glücklich machen. Das ist auch für mich entscheidend. Leben Sie denn wohl!

Er machte eine Bewegung nach der Thür. Sie regte sich aber nicht.

Ich muß auch das leiden, sagte sie mit einem schmerzlichen Ton. Wer von uns den Andern inniger liebt, wird Gott im Himmel wissen. Vielleicht erkennen Sie selbst es, in späterer Zeit. Heut aber lassen Sie uns wenigstens nicht unfreundlich scheiden.

Sie streckte ihm beide Hände entgegen, und er ergriff sie und zog sie an sich in überströmender Bewegung und hielt sie an seine Brust gedrückt, bis sie sich leise losmachte.

So! hauchte sie. Es ist vollbracht! Und nun versprechen Sie mir noch Eins, mein geliebter Freund: daß dies das letztemal sein soll, daß wir uns begegnen. Erschweren Sie mir das Opfer nicht, das ohnehin fast über meine Kräfte geht!

Er sah düster vor sich nieder.

Auch über meine Kraft! sagte er dumpf. Und doch – am nächsten Samstag muß ich mich noch einmal zu Ihren anderen Intimen als abgedankten Hausfreund einfinden.

Sie sah ihn verständnißlos an.

Es hat sich nämlich Jemand unterstanden, mir Ihr Haus zu verbieten, in wohlmeinender Absicht, weil auch er glaubte, meine Besuche seien Ihrem Ruf nachtheilig. Sie begreifen, daß ich Niemand das Recht einräumen kann, mir vorzuschreiben, was ich thun und lassen soll, am wenigsten, wenn eine Drohung daran geknüpft wird. Ich werde also kommen, um zu zeigen, daß ich diese Drohung verachte. Und da ich gesonnen bin, um Urlaub einzukommen, wird dies eine Mal wohl ohnehin das letzte sein.

Wer hat Ihnen – versetzte sie hastig. Aber Sie brauchen ihn mir nicht zu nennen. Wenn er Ihnen gedroht hat, kann es kein Anderer als Fridolin gewesen sein.

Ich muß ihm das Zeugniß geben, daß er sich für einen einfachen Arbeiter sehr anständig und würdig dabei benommen hat. Er ist Ihnen, wie Sie wissen, auf Tod und Leben zugethan, kein Wunder also, daß er die Pflicht zu haben glaubte, Ihren Ritter zu machen. Doch um so mehr muß ich auch den leisesten Schein vermeiden, als ob seine Einmischung mich eingeschüchtert hätte. Ich werde nicht lange bleiben, Sie nicht aufregen und am wenigsten versuchen, Sie in Ihrem Entschluß doch vielleicht noch wankend zu machen. Leben Sie wohl bis dahin, und möchten Sie niemals –

Die Stimme versagte ihm; er ergriff die Hand nicht mehr, die sie ihm bot, sondern verneigte sich nur tief, ergriff die Mütze und stürzte aus dem Zimmer.

*

Als sie sich allein sah, sank sie in den Sessel, drückte die Hände vors Gesicht und brach in heiße Thränen aus.

So saß sie wohl eine Stunde und ließ den Sturm von Wonne und Weh, der ihr Herz durchbebte, vertoben, unfähig, irgend etwas Anderes zu denken, als daß sie auf ein überschwängliches Glück in demselben Augenblick, wo es sich ihr geboten, hatte verzichten müssen.

Als das Zerlinchen, über das lange Ausbleiben der Tante unruhig geworden, sich endlich zu ihr hineinwagte, waren ihre Thränen längst versiegt, ihre Aussage, ein heftiges Kopfweh habe sie überfallen, erklärte zur Genüge ihr verstörtes Aussehen.

Sie hatte dann eine fast schlaflose Nacht und konnte am andern Tage und den folgenden ihren ärztlichen Pflichten nur mit Aufgebot ihrer ganzen Willenskraft nachgehen.

Dazwischen stand immer das Gespenst vor ihrer Seele, das Herbert's Entschluß, wiederzukommen, um in Fridolin's Augen nicht feige zu erscheinen, heraufbeschworen hatte.

Sie wußte, was dem jungen Hitzkopf zuzutrauen war, und daß er keine leere Drohung, bloß um zu schrecken, ausgestoßen hatte. Um jeden Preis also mußte ein Zusammentreffen der Beiden verhütet werden, und da auf Herbert nicht einzuwirken war, blieb nichts übrig, als den Andern zu bändigen.

Sie ließ ihm durch seine Mutter sagen, daß sie ihn am Samstag zu sprechen wünsche und ihn bitte, eine Stunde früher als gewöhnlich sich bei ihr einzufinden. Ihren anderen Hausfreunden schrieb sie eine Zeile, daß der »Jour« diesmal ausfalle.

So erwartete sie Fridolin's Kommen in demselben Zimmer, wo sie das letzte Gespräch mit Herbert gehabt hatte. Sie war in einer Aufregung, die sie ruhelos hin und her trieb. Die Lampe, die Susel hereintrug, löschte sie wieder aus, um sie gleich darauf wieder anzuzünden. Nicht als ob sie an dem irre geworden wäre, was sie sich all die Tage her vorgenommen hatte. Aber das Herz that ihr weh dabei, um so mehr an diesem Ort, wo die Worte, die ein Anderer zu ihr gesprochen, alle wieder aufzuwachen schienen.

Als sie dann endlich draußen seinen festen Schritt hörte, trat sie rasch an ihren Arbeitstisch heran und stützte sich mit der Hand darauf. Ihr Herein! auf sein Anklopfen klang matt und leise. Aber der Anblick des guten, redlichen Menschen, der schüchtern eintrat und sie treuherzig grüßte, gab ihr ihre ruhige Haltung wieder.

Was muß ich hören, lieber Fridolin! sagte sie. Sie haben sich erlaubt, dem Herrn Hauptmann zu erklären, Sie würden es nicht gestatten, daß er fernerhin mein Haus betrete? Sie haben sogar eine Drohung daran geknüpft? Warum thaten Sie das? Und was gab Ihnen ein Recht dazu?

Er senkte den Blick, den er beim Hereintreten fragend auf sie gerichtet hatte, und suchte einen Augenblick nach Worten. Dann hob er den Kopf und sah ihr unerschrocken ins Gesicht.

Verzeihen Sie mir, Fräulein Hanna, sagte er mit fester Stimme, wenn ich etwas gethan habe, was Ihr Mißfallen erregt. Ich mußte es aber thun, ich würde es, auch wenn es Sie es mir verböten, wieder thun, denn ich bin es Ihnen schuldig, daß ich jede Kränkung von Ihnen abwehre. Wenn ich es nicht thäte, wäre ich in meinen Augen ein elender, undankbarer Mensch und in dem Fall dem Herrn Hauptmann gegenüber eine Memme. Sie werden begreifen, Fräulein Hanna –

Er stockte und sah wieder zu Boden.

Nein, lieber Fridolin, versetzte sie nach einer Pause, ich begreife nicht, wie Sie dazu kommen, sich gegen einen meiner Freunde, der ein Ehrenmann ist, meiner Ehre anzunehmen, für die ich selbst einzustehen pflege. Über das, was Sie dazu veranlaßt hat, habe ich mich mit Herrn von Rheinfels ausgesprochen, und Sie können nun völlig darüber ruhig sein, eine Kränkung droht mir nicht, außer durch Ihren übermäßigen Eifer, sie zu verhüten. Ich fordere also, daß Sie mir versprechen, die Sache auf sich beruhen zu lassen und nichts Feindseliges gegen ihn im Sinne zu haben. Wenn Sie das verweigern – so leid es mir thäte – könnten wir fernerhin keine guten Freunde mehr bleiben.

Sie sah, daß ihre Worte ihn heftig erschütterten. Über sein ernstes, junges Gesicht zuckte es und wetterleuchtete in den hellen Augen. Er zerknüllte den Hut, den er in beiden Händen hielt, und der Athem ging schwer aus der breiten Brust.

Fräulein Hanna, brach es endlich von seinen Lippen, haben Sie Nachsicht mit meiner Erregung. Ich weiß, ich stehe vor Ihnen als ein ungeschliffener Geselle, zumal im Vergleich mit dem eleganten Herrn, der sich hier bei Ihnen eingeschlichen hat. Aber Gott weiß, wer von uns Beiden es treuer und redlicher mit Ihnen meint. Ich war immer gewohnt, Sie mehr als alle Menschen zu verehren, jedes Wort von Ihnen war mir ein Evangelium, und ich hätte mir das Herz aus der Brust gerissen und es Ihnen vor die Füße gelegt, wenn Sie es gewünscht hätten. Diesmal aber – nein! diesmal kann ich Ihnen nicht gehorchen. Ich weiß, daß es zu Ihrem eigenen Unheil wäre, ich weiß auch, was Ihren klaren Blick dagegen verblendet, und Gott ist mein Zeuge: nicht meinetwegen, weil ich selbst darunter leide, habe ich mir herausgenommen, einzugreifen, eh' es zu spät ist. Wenn Sie mich dafür bestrafen wollen und mir nicht ferner erlauben, zu Ihnen zu kommen, was die einzige Freude meines Lebens ist, so muß ich es hinnehmen, so bitter es für mich sein wird. Aber von meiner Pflicht, über Ihr Glück zu wachen, werden Sie mich nicht abbringen, so wenig wie man einen Hund, dessen Treue einem lästig geworden ist, mit Schlägen dazu bringen kann, sich einen andern Herrn zu suchen. Er kommt doch immer wieder zurück und legt sich auf der Schwelle des Hauses nieder, und wenn er dort auch verhungern müßte!

Der leidenschaftliche Ton, mit dem er dies hervorstieß, bewegte sie im Innersten. Sie fühlte, daß aus jedem Wort ein unerschütterlicher Wille sprach, gegen den sie bei aller Gewalt, die sie sonst über ihn gehabt hatte, machtlos war.

Fridolin, sagte sie endlich, glauben Sie mir, ich weiß Ihre treue Gesinnung nach ihrem vollen Werth zu schätzen. Aber sie äußert sich so maßlos, das kann nur unheilvoll enden! Was wollen Sie thun?

Fragen Sie mich nicht, Fräulein Hanna. Ich thue nur, was ich muß.

Sie müssen mir's sagen, oder ich kann Sie nie wiedersehen.

Er kämpfte sichtbar mit sich selbst.

Was ich thun will – darüber bin ich nur meinem Gewissen Rechenschaft schuldig. Aber wenn Sie so sprechen, Fräulein Hanna – daß Sie mich nie wiedersehen wollen – nun wohl, so mögen Sie's wissen: ich werde unten an Ihrem Hause Wache stehen und abwarten, ob er trotz Allem, was ich ihm gesagt habe, kommen wird. Und dann –

Dann –

Dann werde ich ihm den Weg vertreten und ihn auffordern, umzukehren, da er hier nichts mehr zu suchen habe. Wahrscheinlich wird er sagen, ich hätte ihm nichts zu verbieten, und wird doch eintreten wollen. Dann – werde ich ihn an der Brust packen und ihn zurückstoßen. Na und dann –

Sind Sie wahnsinnig, Fridolin? Vergessen Sie, daß er Offizier ist?

Nein, eben weil ich daran denke und weiß, daß er mich auslachen würde, wenn ich ihn zum Duell herausforderte, der gemeine Schlossergesell den hochgeborenen Herrn Hauptmann, eben darum muß ich mir auf andere Art helfen, Mann gegen Mann, nicht der Proletarier gegen den Aristokraten. Ich weiß auch, was dann kommt, seine sogenannte Offiziersehre wird's ihm zur Pflicht machen, den Degen zu ziehen und ihn dem unverschämten Tölpel durch den Leib zu rennen. Aber dafür sind wir auch noch da, wie ein Lamm läßt man sich nicht übern Haufen stechen, und wenn das Duell nicht reglementsmäßig vor Zeugen ausgefochten werden kann, 's ist im Grunde gleichgültig, wenn nur überhaupt einer auf dem Platze bleibt.

Fridolin!

Oh, Fräulein Hanna, glauben Sie nicht, daß ich daran denke, den Handel mit ungleichen Waffen auszufechten, ihn mit einer Kugel niederzustrecken, während er nur seine Klinge hat. Ich habe keinen Revolver in der Tasche, nein, ich lasse ihm sogar den Vortheil, er mag seinen Degen brauchen, ich nur mein Messer. Aber ich stehe Ihnen dafür, ich werde mein Leben und Ihre Ehre theuer verkaufen, und wenn ich dennoch den Kürzeren ziehe – nun, dann macht die Sache doch so viel Lärm, daß er sich hier in der Straße, wo er mich niedergestochen hat, nie mehr blicken lassen kann, und dann hab' ich meinen Zweck erreicht.

Der plötzliche Schrecken hatte sie so heftig überfallen, daß sie eine Weile wie gelähmt stand. Erst als er eine Bewegung machte, wie wenn er sich entfernen wollte, da die Zeit, sein Vorhaben auszuführen, heranrückte, faßte sie sich mit einer großen Anstrengung und stammelte:

Das – das haben Sie vor? Wie ein wildes Tier wollen Sie über ihn herfallen, über einen Mann, den ich – der sich als ein Ehrenmann mir gegenüber –

Nein, Fräulein Hanna, unterbrach er sie, nicht wie ein wildes Tier, nur wie ein treuer Hund über einen Einbrecher, einen Dieb, der Ihnen die Ehre stehlen will. Sagen Sie, was Sie wollen – hier kann nur ein Mann wissen, was er zu thun hat, und der Herr Hauptmann soll nicht spotten dürfen, ich hätte nur ins Blaue hinein gedroht, um ihn abzuschrecken, hernach aber nicht das Herz gehabt, meinen Mann zu stehen. Und somit –

Er that ein paar Schritte nach der Thür. Das entschied sie. Es blieb nichts anderes, um das Entsetzliche zu verhüten.

Schade, schade! sagte sie mit dem ruhigsten Ton, den sie erschwingen konnte. Ich hatte mir's so anders gedacht, einen dieser Tage wollte ich auch Ihnen davon sprechen. Nun aber muß ich's wohl bleiben lassen.

Er blieb stehen und sah sie fragend an.

Nein, nein, fuhr sie fort, gehen Sie nur und lassen sich nicht aufhalten. Sie wissen ja so gut, was ein Mann zu thun hat, dem ein Anderer im Wege ist: über ihn herzufallen wie ein wildes Thier, oder meinetwegen wie ein treuer Hund, auch wenn man seinen Schutz nicht wünscht und braucht. Wenn Sie aber dies blutige Werk vollbracht haben, dann kommen Sie nur nicht, Ihren Lohn in Empfang zu nehmen von der, die Sie nun erst recht in der Leute Mäuler gebracht haben. Ich weiß Treue und Tapferkeit gewiß zu schätzen, so sehr, daß ich mir vorgenommen hatte, sie zu belohnen, mit dem höchsten Lohn, den ein armes Mädchen gewähren kann. Ich weiß seit lange, wie innig Sie mir zugethan sind und auch, daß ich bei keinem Anderen besser aufgehoben sein könnte. Darum wollte ich Sie fragen, ob es Ihnen recht wäre, wenn ich – nun, ich will es nur sagen – wenn ich Ihre Frau würde – nicht sogleich, erst in Jahr und Tag, wenn Sie Ihr Meisterstück gemacht und eine eigene Werkstatt aufgethan hätten. Das schien mir für alle Theile das Beste, Ihre Mutter bliebe bei uns, Zerlinchen bekäme einen Vater, den sie lieb haben könnte, und ich hätte nebenher meine Praxis, die ich nicht aufgeben möchte. Aber wie gesagt: es ist schade, daß daraus nichts werden kann. Einem wilden Thier kann ich meine Hand nicht reichen!

Sie wandte sich ab, ihre Bewegung zu verbergen. Da hörte sie ihn mit zitternder Stimme sagen:

Sie wollen Ihr Spiel mit mir treiben, bloß um mich zurückzuhalten. Das, was Sie da sagen – das ist ja unmöglich – das können Sie nie im Sinn gehabt haben. –

Sie sah ihm mit stillem Kopfnicken ins Gesicht. Ja, lieber Freund, sagte sie, so einen thörichten Gedanken hab' ich wirklich einmal gehegt. Ich kannte Sie noch nicht genug, wußte nicht, was für ein Dämon in Ihnen steckt, der eines Tages rasend ausbrechen könnte und furchtbares Unheil anrichten. Wenn Sie mir nun einen Freund, den ich sehr schätze, aus wüthender Eifersucht über den Haufen stechen wollen, bereue ich meine Schwäche für Sie, und aus meinem Vorhaben kann nun nichts werden. Aber schade ist's freilich, für Sie und mich!

Immer noch starrte er sie ungläubig an.

Nein, nein, es ist unmöglich! Wenn Sie's wirklich einmal vorgehabt haben in Ihrer Engelsgüte, und weil Sie sehen mußten, wie sehr ich – wie ich Sie von der ersten Stunde an – aber dann kam Er, und so ein Narr bin ich nicht, mir einzubilden, ich könnte neben ihm – nein, nein, ich bin und bleibe nur ein armer Bursch, der nicht werth ist –

Das Wort stockte ihm in der Kehle, die Augen wollten ihm übergehen, aus aller Macht suchte er sein Gefühl zu bezwingen.

Sie sollen auch das wissen, Fridolin, sagte sie leise. Ja, er ist mir sehr werth geworden, und auch ich ihm – er hat mich gefragt, ob ich seine Frau werden wolle. Ich habe es abgeschlagen, es wäre für uns Beide kein Glück gewesen. Mit Ihnen aber, Fridolin, kann ich hoffen, wenn wir beide erst ruhiger geworden sind – denn ich habe Sie sehr lieb gewonnen und sehr schätzen gelernt, bis Sie heute mich mit Ihrer Wildheit – Ihrer zügellosen Heftigkeit erschreckt haben, so daß ich nun für die Zukunft –

Sie konnte den Satz nicht aussprechen. Wie wenn ein schwerer Schlag ihn niedergeworfen hätte, brach er vor ihr in die Kniee, die Thränen stürzten ihm aus den Augen, und laut aufschluchzend haschte er ungeschickt nach ihrer Hand, die an ihrem Kleid herabhing, und preßte seine heißen Lippen wieder und wieder darauf.

Stehen Sie auf, flüsterte sie, zu ihm herabgebeugt, steh auf, lieber Freund! Was thust du? Wenn das Kind hereinkäme –

Er richtete sich taumelnd auf, griff in seine Brusttasche und zog ein altes Dolchmesser heraus in lederner Scheide. Das ließ er auf den Boden fallen, fuhr sich mit der Hand über die Augen und sagte dumpf, mit einem tiefen Blick in ihre Augen: Ich schwöre – ich will versuchen – ein besserer Mensch zu werden, bis ich vielleicht einst – wenn Sie nicht an mir verzweifeln – leben Sie wohl!

Damit wandte er sich ab und ging mit taumelnden Schritten aus dem Zimmer.

*

Draußen im Vorplatz blieb er stehen. Er versuchte, seine Gedanken zu sammeln, die in wildem Aufruhr ihm durch den Kopf jagten. Es zog ihn zurück, nur um noch einmal zu fragen, ob er auch wirklich das Alles richtig gehört und verstanden habe. Dann schoß ihm die glückselige Freude ins Herz, daß dies nie Geahnte, Unglaubliche sich wirklich ereignet hatte, und mitten unter dem Zweifeln und Zagen mußte er in sich hinein jauchzen. Bis er Schritte aus dem Wohnzimmer sich nähern hörte. Da flüchtete er hastig hinaus. Er konnte in dieser Verfassung sich vor keinem Menschenauge sehen lassen.

Wie er langsam Stufe für Stufe hinunterging, hörte er von unten einen Männerschritt entgegenkommen. Auf dem Treppenabsatz des ersten Stocks traf er mit seinem so lange still gehaßten Gegner zusammen. Seine erste Regung war, auf ihn zuzutreten, ihm die Hand zu reichen und etwas Herzliches zu sagen. Die starre Miene aber, mit der Herbert ihn anblickte, als erwarte er, was nun geschehen werde, brachte ihn davon ab. Er nahm nur mit einem stummen Gruß die Mütze ab, ließ den Andern höflich vorbeigehen und setzte dann seinen Weg die Treppe hinunter fort.

Herbert stieg vollends hinauf, im Stillen höchlich erstaunt, daß es zu nichts Anderem gekommen war. Er trug wieder die Uniform und hatte sich auf einen heftigeren Zusammenstoß gefaßt gemacht. Daß es nicht dazu kam, ohne daß er seiner Ehre etwas zu vergeben gehabt, war ihm um Hanna's willen nicht unerwünscht.

Im Wohnzimmer oben traf er nur Rosa Hinkel und das Zerlinchen, die ihn ungewöhnlich ernst begrüßten. Die alte Susel trat gleich darauf herein. Der Herr Hauptmann möchte entschuldigen, Hanna sei unwohl geworden und könne ihn heute nicht sehen, lasse ihn freundlich grüßen und werde ihm noch schreiben. Zerlinchen werde ihre Stelle am Theetisch einnehmen.

Er könne nicht bleiben, sagte er, seine schmerzliche Enttäuschung, so gut es ging, verbergend. Er sei überhaupt nur gekommen, um Abschied zu nehmen, da er zu einer Reise Urlaub erhalten habe. Er bitte, Fräulein Hanna seine Grüße zu bestellen und gute Besserung zu wünschen. Hoffentlich werde sie morgen wieder ganz hergestellt sein.

Dann gab er Röschen und der alten Susel herzlich die Hand, küßte das Zerlinchen auf die Stirn und verließ, nachdem er noch einen traurigen Blick durch das ihm so lieb gewordene Zimmer hatte herumgehen lassen, die drei Zurückbleibenden, die kein Wort darüber austauschten, was seine Stimmung so seltsam verwandelt habe.

*

In der Frühe des anderen Tages brachte ihm sein Bursche ein Briefchen, das eben für ihn abgegeben worden sei. Es war von Hanna's fester, schöner Hand geschrieben und lautete:

 

»Mein theurer Freund!

Ich hatte gestern Abend nicht den Muth, Sie wiederzusehen. Kurz zuvor hatte ich Fridolin erklärt, daß ich mich entschlossen, in Jahr und Tag, wenn er sich selbständig gemacht, seine Frau zu werden.

Ich hab' es so eilig gethan, um mich gegen mein unvernünftiges Herz zu schützen. Es wäre vielleicht doch noch schwach genug geworden, sich an ein Glück zu klammern, das dem, der mir der Theuerste ist, nicht zum Heil ausgeschlagen wäre. Aber es hat mich dieser Verzicht so viel Herzblut gekostet, daß ich unfähig war, gleich darauf unter Menschen zu treten.

Denken Sie im Guten an mich, theurer Freund. Fürchten Sie nicht, daß ich nicht die Kraft haben würde, auch diese Prüfung zu bestehen. Ich bin überzeugt, daß ich dem guten treuen Manne, den ich erwählt habe, eine gute treue Frau sein werde und sogar wieder heiter. Denn wir sind ja in der Welt, um zu entsagen, und das Bewußtsein, Andere glücklich zu machen, muß uns Ersatz dafür sein, wenn ein vollkommenes Glück uns selbst nicht beschieden ist.

Aber Sie – Ihre Zukunft – Ihr Glück, wenn ich darüber so ruhig sein könnte – –

Ich schreibe nicht weiter. Ich würde kein Ende finden. Nie, nie werde ich vergessen, was Sie mir gewesen sind, was Sie mir gönnen wollten. Möchte es auch Ihnen ein wenig das Herz erwärmen, zu wissen, wie theuer Sie mir ewig bleiben werden!

Hanna.«

 

Er nahm, ohne sich zu besinnen, ein Blatt und warf die Worte darauf:

 

»Leben Sie wohl, Hanna! Ich gehe in die Welt hinaus, um nicht zurückzukehren. Irgendwo in einem fernen Welttheil werde ich hoffentlich Gelegenheit finden, etwas Anderes zu wirken, als sonst Einer meinesgleichen in einer thatenlosen Zeit. Daß ich aus tiefstem Herzen wünsche, Sie möchten glücklich werden – brauche ich es zu versichern? Nur ein Zeuge dieses Glückes zu sein, bin ich nicht selbstlos genug. Darum leben Sie wohl – für immer!

Herbert.«

—————

 


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