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Victoria regia

(1903.)

 

—————

 

Es ging laut und lustig zu in der kleinen Stadt unten am Rhein.

Die Nacht war längst hereingebrochen. Die Thurmuhr in der alten Stadtkirche hatte neun Schläge gethan, die Stunde, in der sonst die Bewohner des Städtchens ihre Lichter auszulöschen und an die Nachtruhe zu denken pflegten. Heut aber regte sich noch in der Hauptstraße ein munteres Leben. Junge Mädchen, zu vieren oder gar sechsen untergefaßt, wandelten langsam auf dem breiten Fahrwege hin und her, einander Scherzworte zurufend, wenn sie sich begegneten, und den jungen Burschen, die etwa die Kette zu durchbrechen suchten, tapfer Stand haltend. Hin und wieder sangen sie auch, Eine voran, die Gefährtinnen mehrstimmig einfallend, Trutzliedchen oder schwermüthige Weisen, die damals im Rheingau im Schwange waren und die mitten in dem allgemeinen Muthwillen um so süßer an die Herzen rührten.

Des Abends, wenn ich schlafen geh',
Denk' ich an jene Stunde,
Denk' ich an den Herzliebsten mein:
Wo mag mein Schatz, mein Trauter sein,
Den ich so innig liebe?

Und eine Stimme unter den Begegnenden antwortete wohl:

Die Leut' sind schlimm, sie reden viel.
Das wirst du selber wissen.
Und wenn ein Herz das andre liebt,
Das andre nur kein' Falschheit übt.
So thut's die Leut' verdrießen.

Unter der Thür einer Schenke standen zwei junge Gesellen, die nahmen, als die Mädchen vorüberkamen, mit spöttischer Höflichkeit die Hüte ab, und einer sang:

Ich ging wohl über Berg und Thal,
Da hört' ich eine Nachtigall,
Sie sang so hübsch, sie sang so fein –
Heut Abend will ich bei dir sein!

Der andere aber lös'te ihn ab, indem er mit einer hohen Tenorstimme das Schelmenliedchen trällerte:

Muß denn ein Jeder wissen.
Was ich und du gethan?
Wenn wir uns beide küssen,
Was geht's die Andern an? –

worauf sie in ein schallendes Gelächter ausbrachen und sofort, die Marseillaise anstimmend, mit unsicherem Gang sich durch die Mädchen den Weg bahnten und in einer Seitengasse verschwanden.

Wer landkundig war, konnte auf den ersten Blick sehen, daß dieser Geist der Ungebundenheit, der in allen Köpfen spukte, vom neuen Wein herrührte, auch wenn ihn nicht der herbsüße Mostduft, der durch die Gassen schwebte, darüber belehrt hätte. Es war kaum ein Haus, in dem nicht ein Häuflein fröhlicher Leute beisammen saß und sich der eben zu Ende gegangenen Weinlese erfreute. Sie hatten guten Grund dazu. Der ungewöhnlich kühle und nasse Sommer des Jahres 180* hatte die ängstlichen Hoffnungen sämmtlicher Weingutsbesitzer niedergeschlagen, bis dann Ende September die Sonne sich glänzend hervorthat und nun den ganzen October hindurch sich so beharrlich befliß, das Versäumte nachzuholen, daß wider Erwarten noch ein guter Mittelherbst erzielt worden war. Mit der letzten Woche des Monats war denn auch, etwas später als sonst, das Geschäft der Lese zu Ende gegangen. Nur an wenigen Stellen der Weinberge, die gleich hinter dem Städtchen in die Höhe stiegen, blieb noch eine kleine Nachlese an den Stöcken hängen, weil die Besitzer nicht ganz damit zu Rande gekommen oder der Meinung waren, es möchte sich lohnen, noch die Edelfäule abzuwarten.

Morgen, am Sonntag, würde die ganze Stadtbevölkerung in der Kirche ihr dankbares Gemüth gegen den Geber alles Guten ausströmen. Doch heut in der Samstagnacht ließ man aller weltlichen Lust den Zügel schießen, in einer leichtsinnig schwärmenden Weinlaune, die durch die sommerlich schwüle Luft dieser vollgestirnten Nacht gesteigert wurde. Die schönen Kinder, die es verschmähten, beim Mostkruge festzusitzen, ergingen sich in den leichtesten Kleidern, die letzten Rosen ins Haar oder an den Gürtel gesteckt, und da alle Häuser erleuchtet waren und der Mond, freilich hinter einem silbernen Schleier hervor, auf die bewegte kleine Welt herabschien, konnte man nichts Hübscheres sehen als diese kleine Stadt, die in einen einzigen großen Festsaal verwandelt schien. Aus einigen Schenken hörte man auch Fiedel- und Flötenmusik, und es kam vor, daß einzelne Paare auf der Straße zu tanzen anfingen. Dazwischen klangen aus der Höhe hin und wieder Böllerschüsse zwischen den kahlen Weinstöcken herunter, und immer noch, obwohl im Lauf des Nachmittags reichlich gefeuerwerkt worden war, stiegen einzelne Raketen und Leuchtkugeln gegen den bleigrauen dunstigen Himmel, der nach und nach die Sterne einzuschlucken und auch gegen den Mond emporzurücken begann.

*

Die Winzerhäuschen droben in den Weinbergen standen dunkel und still zwischen den abgeernteten Rebstöcken. Während der heißen Sommermonate pflegten die Besitzer hier in der kühleren Höhe die Abende zuzubringen, um sich nach der Tagesglut zu lüften. Auch heute hätte man hier oben leichter geathmet als in dem schweren Dunstkreis unten am Fluß. Es mochte aber den Meisten zu unheimlich dünken, zwischen den leeren Pflanzungen zu verweilen, wie man sich nicht gern in einem Hause niederläßt, aus dem eben der Hausherr hinausgestorben ist.

Nur aus einem der schmucklosen hölzernen Hüttchen ging durch die nach dem Rhein geöffnete Thür noch ein Lichtschein und röthete in einem kleinen Halbkreise die welkenden Blätter, die an den reihenweis gepflanzten Stöcken hingen.

Man konnte drinnen an einem runden Tisch vier Menschen sitzen sehen, die schon seit einer Stunde ihr einfaches Nachtmahl eingenommen hatten und jetzt in einem Gespräch, das oft ins Stocken gerieth, von des Tages Last und Hitze ausruhten.

Der Thür gegenüber, so daß er den Berg hinab bis zu den Dächern der ersten Häuser blicken konnte, saß ein stattlicher Mann in der Mitte der Fünfziger, in einfach bürgerlicher Tracht, auf der breiten, niedrigen Stirn eine braune Perrücke, in dem schneeweißen Jabot eine Nadel mit einem großen Amethyst. Er rauchte aus einer langen Pfeife und zog, während er große blaue Wolken ausstieß, die Brauen mit einem seltsamen Ausdruck von Wichtigkeit in die Höhe, was zu den Zügen seines gutmüthigen derben Gesichts nicht recht im Einklang stehen wollte.

An seiner rechten Seite, eine Häkelarbeit in den zierlichen kleinen Händen, saß eine ältliche Frau, das Gesicht, das sehr hübsch gewesen sein mußte, von einer großen Tüllhaube eingerahmt, deren Bänder lose auf das geblümte Kattunkleid herabhingen. Es war ihr anzusehen, daß bei ihrer Wohlbeleibtheit die Schwüle ihr besonders zu schaffen machte, denn sie ließ die Arbeit oft in den Schooß sinken, trocknete seufzend mit einem Battisttüchlein ihre Stirn und nahm dann aus dem zinnernen Becher, der vor ihr stand, einen ganz kleinen Schluck Most, der freilich nicht dazu angethan war, ihr Kühlung zu verschaffen.

Trotz der großen Verschiedenheit der beiden Gesichter war doch ein Familienzug in ihnen, der sie als Bruder und Schwester erkennen ließ, bis auf den großen Gegensatz ihrer Gemüthsart. Denn während der Bruder, Herr Kaspar Heimeran, in jeder Miene den fest auf seinen Füßen ruhenden, seiner Würde vollbewußten Bürger verrieth, war die Schwester ein Bild ewig ängstlicher, hülflos verschüchterter Unterwürfigkeit, noch in ihrem Witwenstande so unselbständig und anlehnungsbedürftig, wie eine eben confirmierte Tochter strenger Eltern.

Es war freilich kein Wunder, daß sie nie hatte dazu gelangen können, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Kaum achtzehnjährig, hatte sie sich einem viel älteren Manne vermählt, der ihre junge Seele außer durch das Übergewicht der Jahre noch durch die Verehrung, die er von allen Mitbürgern genoß, in strengem Bann hielt. Der Rector der Stadtschule, Doctor Benedictus König, stand nämlich im Ruf einer ungemeinen Gelehrsamkeit, obwohl er weder vor seinen Schülern, noch im Kreise der Honoratioren, mit denen er im goldenen Löwen seinen Schoppen trank, Gelegenheit hatte, sein Licht leuchten zu lassen. Außer daß er dem einzigen studierten Manne in der kleinbürgerlichen Gesellschaft, dem Kreismedicus, gelegentlich durch die Correctur eines zweifelhaften lateinischen Ausdrucks imponierte.

Dieser große Mann, dem die kleine Stadt, in die ihn der Zufall verschlagen, kaum einen würdigen Wirkungskreis zu bieten hatte, war dennoch für seine ganze Lebenszeit hier gefesselt worden, theils weil es immer verlockend ist, die unbestrittene erste Rolle zu spielen, theils da er durch seine Verheirathung mit dem schönen, sanften Bürgerkinde sich hier wohl gebettet hatte. Denn er selbst war ohne Vermögen und doch durch seine leidenschaftliche Liebhaberei für Bücher zu einem Aufwand über seine Mittel verführt, während seine junge Frau ihm eine ansehnliche Mitgift zubrachte und nach dem Tode ihrer Eltern, die in ihrem Hause am Markt ein namhaftes Geschäft mit gemischten Waren betrieben, noch Aussicht auf eine reiche Erbschaft eröffnete.

Auch war er ehrlich in seine kleine Christine verliebt, und selbst nachdem der erste Rausch verflogen war und er nun erkannte, daß in das schöne Köpfchen von all der höheren Bildung, womit er es zu schmücken gehofft, nichts hineinging, hielt er das anspruchslose Geschöpf, das ihm sein Hauswesen behaglich machte und seinen Kindern eine zärtliche Mutter war, so gut und treu und ihren wenigen Wünschen gemäß, daß er zu seinem anderen Ruhm auch den eines musterhaften Gatten und Hausvaters bei seinen Mitbürgern davontrug.

Daß zu seinem vollen Glück ihm etwas fehlte, was seine einfache kleine Frau ihm nicht geben konnte, kam ihm selbst kaum zum Bewußtsein, da ihm ein Töchterchen geboren wurde, auf das er schon in den ersten Jahren der Kindheit mit einem ungemessenen Vaterstolz blickte und, je mehr es heranwuchs, je leidenschaftlicher all seine Zärtlichkeit übertrug.

Es war auch in der That ein ungewöhnlich schönes und geistig begabtes Kind, und die Namen, die ihm der eitle Vater in der Taufe gegeben hatte, Bertha Victoria, schienen recht für ein so seltenes Menschenbild geeignet – Bertha die Glänzende, Victoria die Siegerin. Denn da sie die Kinderschuhe ausgetreten, glänzte sie unter all ihren Gespielinnen hervor »wie der Mond unter den Sternen«, sagte von ihr in einem lateinischen Gedicht ihr stolzer Herr Vater, und schon mit fünfzehn Jahren fing sie an, unter den jungen Haussöhnen der Nachbarschaft Unheil zu stiften und bei allen festlichen Gelegenheiten ihre Kameradinnen auszustechen.

Seltsam war's, daß sie durch diese frühen Siege nicht hochmüthig wurde, sondern, als eine Tochter des Rectors König von witzigen Leuten Victoria regia genannt, das als etwas Natürliches und Selbstverständliches hinnahm, wie eine junge Königin es nicht anders weiß, als daß sie von Gottes Gnaden ihr Krönlein trägt. In ihre stille Freundlichkeit gegen Jedermann mischte sich freilich etwas wie Herablassung, doch nicht, weil sie sich besser dünkte als ihre Umgebung, sondern einzig darum, weil ihr Vater sie früh in allerlei Studien einführte, die den Mädchen sonst fern blieben, ihr so viel Latein beibrachte, daß sie die leichteren römischen Autoren zu lesen vermochte, daneben einiges von Geschichte und sogar die Anfangsgründe der Mathematik. Das hatte ihren jungen Sinn früh auf Anderes gelenkt, als was sonst ein Mädchengehirn und Mädchenherz zu beschäftigen pflegt, und da sie in ihrer Umgebung Niemand fand, der diese Neigungen mit ihr teilte, blieb sie am liebsten für sich und ließ es ruhig geschehen, daß man sie für stolz verschrie und die jungen Leute sie mit dem Namen Prinzeßchen hänselten.

Dann starben, als sie das siebzehnte Jahr erreicht hatte, die Großeltern bald nach einander, und ihr Vater mußte es noch erleben, daß sich die Vermögensverhältnisse weit ungünstiger erwiesen, als alle Welt geglaubt hatte. Von dem Heimeran'schen Besitz blieb nichts als das Haus am Markt mit dem Waarenbestande, beide tief verschuldet, und der ansehnliche Weinberg hinter der Stadt. Zum Glück war der einzige Bruder der kleinen Frau Christel schon ein Mann in gesetzten Jahren, um vieles älter als die Schwester und im Stande, die Sorge für den Nachlaß und das Geschäft auf seine rüstigen Schultern zu nehmen. Als dann nach kurzer Zeit auch Herr Benedictus König mit Tode abging und die Seinigen ziemlich hülflos zurückblieben, nahm Oheim Kaspar seine Schwester und ihre Kinder in sein Haus auf, ließ den Neffen erst die Schule durchmachen und gab ihm dann eine Lehrzeit in seiner Waarenhandlung, bis er so weit war, sich als erster Commis darin ein bescheidenes Gehalt zu verdienen.

Dieser junge Mann, jetzt zweiundzwanzig Jahre alt, saß dem Onkel und Principal gegenüber am Tisch in der Winzerhütte und hielt das schleppende Gespräch fast allein im Gange, da er von allem, was öffentlich oder heimlich im Städtchen unten sich ereignete, genau Bescheid wußte und auf eine lustige und doch für die alten Ohren nicht anstößige Art davon zu schwatzen verstand.

Er hatte eine schlanke Gestalt und ein offenes, anmuthiges Gesicht, doch in beidem seiner schönen hochgewachsenen Schwester nicht vergleichbar. Denn diese war in der That wie eine Erscheinung aus einer fremden Welt, auch in ihrem Anzug, so einfach sie sich trug, ihren bürgerlichen Stand überragend. Trotz der herbstlichen Jahreszeit war sie in ein leichtes weißwollenes Gewand gekleidet, nach dem Schnitt des Empire, hoch unter der schönen jungen Brust gegürtet und im Nacken tief ausgeschnitten, während das feine Gewebe vorn hoch hinaufreichte und nur wenig von dem schlanken Halse frei ließ. Am Rande oben lief ein schmaler, in rother Seide gestickter Mäanderstreifen hin, der auch die kurzen Ärmel einsäumte. Die Arme, die von besonders feiner und doch voller Bildung waren, blieben frei und waren nur bis zu den Ellenbogen mit durchsichtigen schwarzen Filet-Halbhandschuhen bekleidet. Auf dieser reizenden Gestalt saß ein Kopf von lieblichster Jugendschöne, das schwere braune Haar leicht aufgesteckt und in zwei Locken auf den Nacken zurücksinkend. Während sie so in ihrem sinnenden Schweigen den vierten Platz am Tische einnahm, hatte sie den Becher mit Most noch ganz gefüllt vor sich stehen und sah unverwandt in das kleine Rund hinein, als ob keiner ihrer Gedanken über diesen Kreis hinausginge.

*

Der Onkel stand auf, trug die ausgerauchte Pfeife nach dem offenen Seitenfensterchen und klopfte den Meerschaumkopf am Sims aus, dann kehrte er zum Tische zurück und hob den irdenen Krug mit dem Zinndeckel prüfend in die Höhe.

Er ist leer, Baltser, sagte seine Schwester. Ich habe dir vorhin den Rest eingegossen. Das Katherliesche hat den kleineren gebracht, aber wenn du willst, kann die Victor hinunterspringen und ihn noch einmal füllen lassen.

Sogleich erhob sich das schöne Mädchen und wollte nach dem Kruge greifen.

Laß! sagte der Onkel. Ich hab' genug, und er stillt auch den Durst nicht, 's ist ohnehin spät und Schlafenszeit. Die Victoire hat den Sandmann in den Augen und seit einer halben Stunde kein Wort gesprochen.

Eine tiefe Röthe stieg ihr ins Gesicht.

Ich hab' noch keinen Schlaf, Onkel, sagte sie rasch mit einer sanften, etwas verträumten Stimme. Ich hab' nur auf die Musik drunten hingehorcht und auf das, was gesprochen worden ist. Aber wenn der Herr Onkel den Durst stillen möcht', ich will gehen und ein paar Träuble schneiden, die sind gut pour la bonne bouche. Wir haben ja darum im Traminerwinkel die sechs Stöcke noch nicht abgelesen, daß wir was für auf den Tisch hätten.

Der Onkel nickte beifällig und zog die Augenbrauen in die Höhe, wie wenn sich's um eine wichtige Entscheidung handelte. Die Mutter aber sagte:

Das ist gescheit, Victoire. Geh, nimm das Brodkörbchen und such ein paar von den schönsten aus. Der Armand kann dir's tragen, während du schneidst. Aber thu den Shawl um; es ist kühl draußen.

O maman, ich fühl's nicht. Aber wenn Sie meinen –

Damit legte sie den großen, rothen, etwas abgetragenen crêpe de chine-Shawl, der auf ihren Stuhl zurückgefallen war, vor Zeiten ein theures Prachtstück ihrer Garderobe, leicht um die Schultern und griff nach dem Brodmesser, das vor ihr lag, während ihr Bruder aufsprang und das leere Körbchen nahm.

Den Namen Armand hatte ihm die Mutter gegeben in Erinnerung an eine erste Liebe, der sie im Herzen immer treu geblieben war. Ihr Mann war nicht einverstanden gewesen, hatte aber dies eine Mal seinen Willen nicht durchsetzen können.

Als die Geschwister das Hüttchen verlassen hatten und nebeneinander den Weg nach rechts einschlugen, sagte der Bruder mit einem leisen, munteren Lachen:

Du hast mir das Leben gerettet, petite soeur. Noch zehn Minuten meinem Herrn Prinzipal gegenüber, und immer mir das Hirn zermarternd, was ich schwatzen sollt', und ich wär' aus der Haut gefahren. Die Mutter immer stumm, bis auf ihre Seufzer, und auch du, Schwesterchen, hast mir nicht secundiert. Wenn ich nicht dann und wann das Licht hätt' schneuzen müssen, wär' ich vor Langerweil' des Teufels geworden. Und dabei warten sie unten im goldenen Löwen auf mich, der Jean Baptiste und der Fritz Koriander und –

Und die neue Kellnerin, die Bettine, nicht wahr? Nimm dich nur in Acht, Bruder, daß du da nicht hängen bleibst. Sie soll eine kluge Schlange sein.

Aber ohne Falsch wie die Tauben, lachte der Jüngling etwas gezwungen. Sei unbesorgt, chérie, mich fängt Keine so leicht, und das bissele Zeitvertreib ist mir wohl zu gönnen. Mort de ma vie, dies Hundeleben im Geschäft, Tag für Tag, ein elender Lohn für viel Arbeit, und dabei mich immer fühlen lassen, daß ich eigentlich das Gnadenbrod ess', weil ihr Beide euch mit an den Tisch setzt! Als ob ihr's nicht auch reichlich abverdientet, indem ihr ihm die Wirtschaft führt und das Haus im Stand haltet. Wär's nicht um euch, schon tausendmal hätt' ich ihm seine Gutthaten vor die Füße geworfen und wär' auf und davon. Einem frischen jungen Kerl wie mir kann's nirgend fehlen.

Er ballte die Faust und reckte sie gegen den Mond, der sich mehr und mehr verschleierte.

Wenn du über dein Leben klagst, erwiderte sie schwermüthig, indem sie unter den Blättern nach einer Traube suchte, was soll ich erst sagen? Du bist ein Mann, und wenn Feierabend ist, gehst du deiner Wege. Ich aber, ewig angeschmiedet wie ich bin, und seit ich den Vater verloren hab', von niemand geliebt –

Schwatz nicht so einfältig und undankbar! brauste er auf. Ein Mädel wie du, das von der ganzen Stadt adoriert wird –

O Armand! fiel sie ihm ins Wort, und du kannst denken, daß all das dumme Gaffen mich nur ein bischen glücklich macht? Daß ich eine so eitle Gans wär', zu meinen, all die Gecken, die mir, seit ich denken kann, Fladusen gesagt haben, kümmerten sich um das, was hinter dem bischen Larve steckt, um das Herz des armen Mädels, das gar kein Prinzessinnenherz ist, sondern durstig ist nach einem warmen Trunk Liebe wie das erste beste Mutterkind? Und meine Mutter, hat sie nicht alles, was an Liebe in ihr ist, auf dich gewandt? Vom Onkel ganz zu schweigen, der nur eitel darauf ist, eine schöne Nichte zu haben, um die ihn seine Nachbarn und Geschäftsfreunde anreden? Du selbst aber, Bruder, wenn du ehrlich sein willst, was bin ich dir? Du würdest, wenn du die Freiheit dazu hättst, lieber heut als morgen mich hier sitzen lassen und in der Fremde, wenn du deinen Freuden nachgingst, nur alle heiligen Zeiten einmal an das arme einsame Ding zu Hause zurückdenken.

Der Bruder war, während sie sprach, sehr ernst geworden. Du thust mir bitter unrecht, Victoire, sagte er. Ich werde dir hier keine Liebeserklärung machen, nachdem du mich durch dein Mißtrauen in meine brüderliche Gesinnung so schwer gekränkt hast. Nur an die Thatsache will ich dich erinnern, daß ich beständig bedacht bin, dir aus diesen erstickenden häuslichen Verhältnissen herauszuhelfen, und der chienne de vis, die du führst, ein Ende zu machen. Aber ist dir denn zu helfen? Hast du nicht die besten Partieen, die ich dir vorschlug, kaltblütig abgelehnt? Und kann ich mir etwas besseres davon versprechen, daß ich eben heut wieder den Auftrag habe, bei dir auf den Busch zu klopfen? Drunten im Löwen wartet der Fritz, mein Spezial, mit Angst und Herzklopfen darauf, welchen Bescheid ich ihm von dir bring', ein Mensch wie Gold, nicht bloß weil er alle Taschen voll davon hat, sondern ich kenn' ihn noch von der Schul' her, wo er in der Prima saß, während ich eben in die Sexta kam, und schon damals war er wie ein zärtlicher älterer Bruder zu mir, Gott weiß, warum. Und jetzt, wo sein Vater das große Weingeschäft aufgeben und ihm übertragen will –

Red nicht weiter! unterbrach sie ihn. Ich hab' dir schon früher gesagt, der Fritz möcht' tausendmal der beste Mensch von der Welt sein, und ich weiß ja, daß alle Mütter der Mutter Gottes eine Zehnpfundkerze gelobt haben, wenn er eine von ihren Töchtern heimführt – für mich ist er nun einmal kein Mann. Ich könnt' ihn nie so lieb haben, daß ich bis an den Tod mit ihm zusammensein und nichts Besseres wünschen möcht'. Komm, gieb das Körbchen her. Da ist eine Prachttraube.

Höre, sagte er stirnrunzelnd, ich fang' an zu glauben, was ich hin und wieder hören muß, wenn auf deinen stolzen Sinn die Rede kommt: dein Vicomte steckt dir noch im Kopf, nachdem er ihn dir so verdreht hat, daß du unter einem Grafen überhaupt von keinem Freier was wissen willst.

Sie ließ das Messer sinken, das sie schon angesetzt hatte, und warf ihm einen Blick zu, der ihn die Augen niederschlagen machte.

Du scheinst vergessen zu haben, Bruder, daß du mir vor Jahr und Tag versprochen hast, mit dieser alten Geschicht' mich nie mehr zu necken. Wenn du es noch ein einzig Mal thätst, wär's für immer aus mit unserer Freundschaft. Du weißt so gut wie ich, daß ich mich in der tiefsten Seel geschämt hab', einen Augenblick so kindisch gewesen zu sein, auf die Courschneiderei des windigen Pariser Herrn mir was einzubilden. Aber welches zwanzigjährige Bürgerkind wär' nicht verblendet worden durch die Huldigung eines so eleganten, vornehmen Fremden, der bei dem Ball, den er in seinem Hause zur Feier der Krönung des Kaisers gab, unter all den geladenen Frauen und Mädchen der Stadt nur sie auszeichnet und den ganzen Abend lang sie als die Königin des Festes am Arm herumführt? Auch das hab' ich dir gestanden, daß ich heiße Thränen vergoß, als der Herr Vicomte am andern Tage in Person sich bei uns erkundigte, wie mir der Ball bekommen sei, und der Onkel ihm erklärte, er müss' bitten, die Bekanntschaft nicht fortzusetzen und sein ehrbar Haus nicht wieder zu betreten. Dann hab' ich freilich dem Alten abbitten müssen, was er zu meinem Besten gethan, als ich allerlei Geschichten erfuhr, die der saubere Herr während des Jahrs, das er uns mit seiner Anwesenheit beehrte, im Städtchen angestellt hatte, und war wie von einem Alp erlöst, als endlich die ganze Emigrantenbagag' nach Frankreich zurückkehrte. Wenn ich aber einen Augenblick eitel genug war, galante Redensarten für baare Münz' zu nehmen, – daß ich nicht durch diese Erfahrung gewitzigt worden wär' für alle Zeit, sollte mein eigener Bruder nicht von mir denken. Daraus seh' ich erst recht, wie wenig ich ihm werth bin. – Sie wandte sich ab, da ihre Augen überquollen.

Petite soeur! sagte er mit seiner herzlichsten Stimme und haschte nach einer ihrer Hände, verzeih, ich bin ein Ungeheuer, dich so zu kränken. Aber gerad' weil ich dich liebe – sag selbst, was soll draus werden? Du wirst nächste Ostern vierundzwanzig – an eine Aenderung unserer Lage ist nicht zu denken, wär' es nicht raisonnabel, du wartetest nicht, bis plötzlich dein Herz zu sprechen anfinge, sondern machtest einen braven, schmucken, wohlconditionierten Jungen glücklich, der bis über die Ohren in dich verliebt ist und dich auf Händen tragen würde? Oder was stellst du dir unter der sogenannten ewigen Liebe vor, von der du in deinen Romanen mehr als gut war dir was hast vorfabeln lassen?

Sie schlug die Augen, die noch feucht schimmerten, voll gegen den Himmel auf.

Ewige Liebe – sagte sie langsam vor sich hin, wie wenn sie aus dem Traum spräche – ich weiß wohl, ihr spottet drüber, und ich selbst hab' nur in den Büchern davon gelesen und sie nie mit Augen gesehen. Die Mutter hat so den Vater nicht geliebt und er nicht sie, und was ich so in andern Familien hab' wahrnehmen können, von Ewigkeit in der Lieb' war da kaum was zu spüren, wenn Mann und Frau auch lange Jahre an einander festhielten aus Gewohnheit. Und doch, in mir fühl' ich, es giebt so etwas, das aller Zeit und alles Leids spottet und kein End' hat, weil's schon von Ewigkeit her zu bestehen schien, als es anfing, wo man meint, man hab' das andere gekannt noch eh' man seines eigenen Lebens bewußt worden. Das ist die große, heilige, ewige Lieb', von der in den Liedern gesungen wird, und wer an die glaubt, der kann nur den Kopf schütteln und mit den Achseln zucken, wenn man ihm vorredt, er werde sein Glück machen in einer großen Partie. Kann sein, das eigentliche, das wahre Glück erleb' ich wohl nie. Einmal schien mir's so; es war aber ein Irrwisch, und wie er erloschen war, sah die Nacht um mich her nur um so finsterer aus.

Ihre schöne weiße Stirn verdüsterte sich. Trotz der schwachen Helle, in der sie standen, bemerkte er es, und auch sein treuherziges junges Gesicht nahm einen finstern Ausdruck an.

Das war damals, nicht wahr, als du den Everard kennen gelernt hattest, petite soeur. Ich hab' dich nie so gesehen, wie an dem Tag nach jenem Ball in der Ressource, wo er so viel mit dir getanzt hatte; du hattest Augen, wie wenn das Herz da herausstrahlte, ganz verzaubert, und wenn man dich anredete, war's, als wachtest du aus einem tiefen Schlaf auf. Und dann, wie er dann Tage und Wochen nichts von sich hören ließ –

Still! sagte sie heftig. Nenne mir seinen Namen nicht. Ja, du hast es errathen, er war's, der mir zum erstenmal die Empfindung gegeben, als hätt' ich gefunden, was mein armes Herz sich erträumt. Träume sind Schäume. Ich dank' meinem Herrgott und der allerheiligsten Gottesmutter, daß ich's überwunden hab', und bete, daß ich nicht ein zweitesmal mich so jämmerlich betrügen lassen möcht'.

Da kannst du wahrlich Gott danken, sagte er, während er ihr nun folgte und das Körbchen hielt, in das sie die abgeschnittenen Trauben legte, denn dieser Everard – was er eigentlich ist, ob nur ein Spion im Dienste des Bonaparte oder der leibhaftige Teufel, der hier auf den Seelenfang ausgeht – es wird noch einmal an den Tag kommen. Warum war' er aus Colmar hieher übergesiedelt, wenn er weiter nichts auf dem Gewissen hatt', als daß er ein Mädchen unglücklich gemacht hat, wie die Leute reden? Mit seinem Talent und Vermögen – wär' nicht Paris der rechte Ort gewesen, wo so ein Vogel hätt' nisten können? Statt dessen kommt er in unser kleines Pfahlbürgernest und verhält sich ganz still, sticht aber mit seinem bunten Gefieder uns Andere alle aus und den Weibern in die Augen, obwohl er thut, als früg' er ihnen so wenig nach, wie der Paradiesvogel den Spatzenweibchen. Ha, ich hass' ihn, auch wenn er meiner petite soeur nie was zu Leide gethan hätt'! Grad' weil er sich so höflich beträgt, daß man nicht an ihn heran kann, und ist doch alles nur Heuchelei, und im Herzen dünkt er sich thurmhoch über einen schlichten Bürgerssohn erhaben. Hat er nicht, als Mosler und Compagnie das Haus des Vicomtes ersteigert hatten, nach dessen Abreise das bischen Weinberg, das dran hing, an sich gebracht, blos weil droben statt eines ordinären Hüttchens, wie unsre, der Pavillon steht, in dem Platz ist für ein halb Dutzend Menschen? Er aber lädt Niemand zu sich ein, hat nur die Rococogarnitur, die er auf der Auction erstanden, hineinschaffen lassen und bringt seine Abende mutterseelenallein drin zu, manchmal auch die Nacht, wenn's ihm in seiner Wohnung drunten zu heiß ist; den Weinberg aber hat er verpachtet. Da! regardez, petite soeur, er scheint wirklich auch heut' da drüben zu stecken, aus den Seitenfenstern kommt ein rother Schein, wer weiß, was er da treibt, ob er da im Geheimen seine Berichte schreibt an die Regierung – vielleicht auch hat sich eine schöne Freundin zu ihm gefunden, die ihm Gesellschaft leistet, der Fuchs, der er ist! Denn die Mariann' vom Steuereinnehmer, sagt man, ist ganz toll auf ihn versessen und hat sich gerühmt –

Armand! Victoire! Wo bleibt ihr denn? kam die hohe, dünne Stimme der Mutter vom Winzerhüttchen herüber.

Hier, Mutter! rief der Sohn zurück. Wir kommen gleich! Dann wandte er sich zu der Schwester: Geh du allein zurück, Liebchen. Ich darf die Zwei im Löwen nicht länger warten lassen, und bis der Onkel die Stufen hinunterhumpelt, dauert's eine Ewigkeit.

Er umfaßte sie und küßte sie zärtlich auf die Wange. Dann schlüpfte er durch die Lücke zwischen den Rebstöcken hindurch und verschwand rasch auf dem ziemlich steilen Abhang.

Die Schwester stand noch einen Augenblick in tiefen Gedanken, dann fuhr sie sich mit der Hand über die Augen, zog fröstelnd den rothen Shawl über die Schultern und ging eilig nach der Hütte zurück.

Sie fand die beiden Alten draußen vor der Schwelle, sehr ungehalten über ihr langes Ausbleiben. Der Bruder, entschuldigte sie sich, habe ihr von einem ärgerlichen Zwist mit einem Freunde erzählt, den beizulegen sie sich im Löwen zusammenbestellt hätten. Darum habe er sich hastig fortgemacht, das Rendezvous nicht zu versäumen. Der Onkel schalt auf die jungen Leute, die immer was zu hadern hätten, blos um sich dann einen Versöhnungsrausch anzutrinken, weigerte sich auch, von den Trauben hier oben noch zu essen, ein Wetter ziehe herauf, sie sollten machen, daß sie heimkämen, ehe sie's überrasche.

Es sei noch im Weiten damit, versetzte Victoire. Aber gehe der Herr Onkel mit der Mutter nur immer voran, sie wolle noch in der Hütte aufräumen und alles Geräth in den Korb thun, morgen könne das Katherliesche ihn dann noch vor der Mess' holen. – Versäum dich nicht zu lang, sagte die Mutter, die ihr die Trauben abnahm. Und nimm dich in acht, daß du keinem betrunkenen Gesindel in den Weg läufst. – O maman, versetzte die Tochter, ich fürcht' mich nicht. Und es geht auch noch so laut unten zu, an Schlafen wär' doch noch kein Gedanke. Legen Sie sich nur ruhig nieder, ich komm' schon nach.

So stand sie vor der offenen Thür und sah die beiden Alten eins hinter dem andern die Stufen des Weinbergtreppchens hinuntertappen, was bei dem nebligen Licht des Mondes unsicher und langsam von statten ging. Als sie ihr aus dem Gesicht waren, seufzte sie einmal tief auf, als fiele ihr eine Last vom Herzen, und setzte sich dann wie in großer Erschöpfung auf die hölzerne Stufe, die zu der Schwelle hinaufführte. Da stützte sie das Kinn in beide Hände, schloß die Augen und überließ sich ihrem schmerzlichen Sinnen.

Sie hatte dem Bruder nicht die Wahrheit gesagt, daß sie's überwunden habe. Es war ihr zu tief ins Leben gegangen. Gleich bei seinem Einzug in ihre Stadt vor etwa anderthalb Jahren hatte der Fremde einen Eindruck auf sie gemacht. Augen wie die seinen und ein so ernstes, blasses Gesicht waren ihr früher nie begegnet. Auch fiel ihr auf, daß er nicht, wie sie's von allen Andern gewohnt war, sie wie ein Wunderbild angestarrt, sondern nach einem flüchtigen Blick auf die junge Schönheit wieder vor sich hin gesehen hatte. Die abenteuerlichen Gerüchte, die über ihn in Umlauf kamen, von Neidern und Rivalen aufgebauscht, beschäftigten ihre Phantasie. Es schien ihr undenkbar, daß dieser feine, vornehme junge Mann etwas Schweres oder gar Ehrloses auf dem Gewissen haben sollte. Auch waren seine Papiere, die er zum Zweck der Niederlassung als Advocat dem Bürgermeister vorzulegen hatte, in bester Ordnung und wiesen ihn aus als den Sohn des Colmarer Rathsherrn und Generalpächters Louis Francois Everard, der auf die Namen Jean Jacques getauft worden war, in Paris studirt und das Brévet zur Ausübung der Advocatur erworben hatte. Befragt, wie er darauf verfallen sei, hieher überzusiedeln, hatte er einfach erklärt, bei einer Ferienreise habe er das Städtchen kennen und wegen seiner lieblichen Lage vor andern schätzen gelernt, und da er daheim einer allzu großen Concurrenz habe weichen müssen, sei ihm der Gedanke gekommen, hier sein Glück zu versuchen.

Er hatte es eben auch in ungewöhnlichem Maße gefunden, nicht blos in seinem Beruf, da sich das Vertrauen aller Processierenden bald ihm zuwendete, sondern auch bei dem weiblichen Theil der Bevölkerung. Von diesem jedoch machte er nicht den geringsten Gebrauch, war gegen die Honoratiorentöchter bei seinen Pflichtbesuchen in ihren Häusern nicht höflicher als gegen die hübschen Kinder der geringeren Familien, die ihm süße Augen machten, und schien, wie gesagt, auch für die Jugendblüte der Victoria regia keine wärmere Bewunderung zu hegen, als für irgend ein bescheidenes Mädchengewächs an seinem Wege.

Da war am Faschingsdienstag jener Ball in der Ressource gekommen, an dem trotz seiner sonstigen Zurückgezogenheit auch Maître Jean Jacques Everard Theil genommen hatte. Daß Demoiselle Victoire König diesmal wie immer Ballkönigin war, nahm Niemand Wunder. Das allgemeine Erstaunen erregte nur, den jungen Colmarer, der bisher für einen Weiberfeind gegolten hatte, plötzlich unter dem Zauber dieser schönen Augen in einen leidenschaftlichen Courmacher sich verwandeln zu sehen, der sich um die Gunst Demoiselle Victoire's so erfolgreich bewarb, daß sie kaum einem oder dem anderen ihrer gewöhnlichen Tänzer einen Tanz aufhob, sondern fast die ganze Nacht hindurch Monsieur Everard an der Seite blieb. Nur ihr eifrigster Anbeter, ein schüchterner Pastellmaler Ludwig Lindblatt, der ein Bild von ihr angefangen hatte, erhielt ein gnädiges Lächeln von ihr, als sie zwischen ihm und dem Advocaten beim Souper saß, und durfte aus ihrem Strauß gleich Jenem sich eine Blume wählen, mit der er das Knopfloch seines Fracks schmückte.

Man sah ihr aber deutlich an, daß etwas Tieferes in ihrem bis dahin völlig unberührten Herzen vorging, als das Gefühl einer eitlen Siegesfreude. Ihr schönes, glühendes Gesicht hatte einen Ausdruck von edler Verzückung, der ihm bis dato fremd gewesen war. Sie schwebte wie auf Wolken getragen an der Seite ihres Tänzers dahin und neigte das Haupt gegen ihn, wenn er leise zu ihr sprach, als würde diesem jungen Köpfchen die Last des Glückes zu schwer und sie hätte es am liebsten auf die Schulter ihres Freundes niedergelassen, wenn dies nicht allzu sehr gegen die Sitte verstoßen hätte.

Auch er schien von einer ähnlichen traumhaft wonnigen Empfindung beseelt, und die beiden schönen Menschen, die sich ganz einig zu sein schienen in der Verzauberung durch ein großes überirdisches Erlebniß, gewährten einen so reizenden Anblick, daß auch in allen Anwesenden keine Regung von Eifersucht oder Mißgunst aufkommen konnte, sondern nur das Eingeständniß, dieses Paar sei wahrlich von einer höheren Macht für einander bestimmt zur Augenweide für die unvollkommnere Menschheit, der ein solches Schauspiel nur selten gegönnt werde.

Daß auch Herr Balthasar Heimeran und Mama Christel ihr Wohlgefallen an diesem Anblick hatten und der Sorge um das stolze Kind, das bisher sich gegen alle Bewerber kühl verhalten, überhoben zu sein glaubten, braucht kaum gesagt zu werden.

*

Zwar das letzte Wort war zwischen dem jungen Paar nicht gesprochen worden. Doch hatte Herr Everard, als sie sich von Tisch erhoben und er seiner Partnerin in der Garderobe ihren Mantel um die schönen nackten Schultern gelegt hatte, leise gefragt, ob er am anderen Tage sich die Freiheit nehmen dürfe, der Demoiselle Victoire, ihrer Mama und dem Oheim aufzuwarten, und sie hatte ihm erröthend mit einem Kopfnicken und zarten Händedruck die Erlaubniß erteilt.

Der folgende Tag aber, der Aschermittwoch, verging, ohne daß der sehnlich Erwartete von dieser Erlaubniß Gebrauch gemacht hätte.

Auch in der Kirche, als die Victoire sich das Aschenkreuz auf die Stirn zeichnen ließ, war der stürmische Bewerber von gestern Nacht nicht zu erblicken gewesen. Bruder Armand, der sie mit dieser Eroberung weidlich geneckt hatte und selbst darauf gefaßt war, gleich heute den Besuch des künftigen Schwagers zu empfangen, schüttelte den Kopf und murmelte etwas von leichtsinnigen Franzosen, die in der Liebe nur eine Fastnachtsposse sehen. Dann sah er die starre, leidvolle Miene der Schwester hinter ihrer erkünstelten Heiterkeit und schwieg stille, da ihm ihre getäuschte Hoffnung Kummer machte. Auch verschwieg er ihr, daß Maître Everard, als er ihn Abends im Löwen traf, ihn nur mit einem fremden Aufblicken gegrüßt und kein Wort der Erkundigung nach der Schwester an ihn gerichtet hatte.

Die Ärmste blieb noch ein paar Tage trotz aller unruhigen Zweifel der festen Zuversicht, es seien nur äußere Hindernisse, die sein Kommen und Werben verzögerten. Zu deutlich klangen ihr die süßen, innigen Worte noch im Ohre nach, die er ihr zugeflüstert, als er sie im Tanz in den Armen hielt. Als aber eine ganze Woche verging, ohne daß er bei ihr eintrat, überfiel sie plötzlich ein so schneidender Schmerz, daß sie am Morgen, da sie aufgewacht war und im nüchternen Tageslicht die furchtbare Gewißheit, um ihr erträumtes Glück betrogen zu sein, ihr Herz erschüttert hatte, wie von einer Lähmung an Seele und Leib betroffen wurde und ein paar Tage unter dem Vorwand einer heftigen Migräne das Bett hüten mußte.

Dann aber stand sie auf und gewann es über sich, mit Hülfe ihres Stolzes und der Verachtung gegen den Falschen, der so schnöde mit ihr gespielt, ein heiteres, fast übermüthiges Gesicht zu zeigen, was bis auf den Bruder alle Übrigen täuschte. Sie fuhr auch fort, den jungen Leuten, die ihr den Hof machten, mit kühler Freundlichkeit zu begegnen, ja sogar bei Kahnfahrten oder kleinen ländlichen Festen minder zurückhaltend als sonst an aller Lustbarkeit Theil zu nehmen.

Sie hatte sich die plötzliche Wandlung in dem geliebten Treulosen damit erklärt, daß er am andern Morgen sich nach ihren Umständen erkundigt und erfahren habe, daß diese gefeierte Prinzessin ein ganz armes Ding sei und höchstens eine bescheidene Ausstattung von ihrem Oheim zu erwarten habe. Der Bruder, um ihr den Trost zu geben, daß sie froh sein könne, noch bei Zeiten dem Netz eines Unwürdigen entschlüpft zu sein, hatte ihr allerlei Geschichten über diesen verdächtigen Menschen zugetragen, dem in seiner Heimath das Pflaster unter den Füßen zu heiß geworden sei, Geschichten, die sich zuweilen widersprachen und die sie nicht glaubte, die aber doch einen Stachel in ihr zurückließen. Trotz seines Namens, der eben nur aus Eberhard französiert worden, sei er aus einer deutschen Familie, aber die welschen Sitten und Maximen seien ihm ins Blut gedrungen, sagte Armand. Und da sie nicht widersprach, glaubte er endlich sie beruhigt zu sehen.

Und doch war das Feuer unter der Asche fortgeglommen und hatte an ihrer armen jungen Seele gezehrt, und in schwülen Nächten, wie die heutige, schlug es wohl auch wieder in hellen Flammen auf.

Nie würde sie wieder einem Manne begegnen, dessen Stimme ihr Innerstes so bewegte, dessen Blick all' ihren Mädchenstolz so beugen und zu so demüthiger, grenzenloser Hingebung sie zwingen würde. Und wenn auch alle Hoffnung, ein solches Glück zu finden, eine Thorheit wäre – das Gefühl, so rettungslos verloren zu sein, sei beseligender, als alles Vorliebnehmen mit äußeren Vortheilen und Behaglichkeiten eines Ehestands, dem dies Höchste und Herrlichste gebräche.

In diese überschwängliche Stimmung verloren, saß sie lange unbeweglich auf der Stufe vor dem Hüttchen, als sie plötzlich vom Kirchthurm die Schläge hörte, die die halbe Stunde nach Neun ankündigten. Zugleich sah sie, aufblickend, das Fledermauspaar, das in seinem unsteten zackigen Flug über den Weinberg hin und her geschossen war, die Flügel senken und nah über ihrer Stirne kreisen. Da riß sie sich in die Höhe und ging über die Schwelle ins Innere.

Es sah unfreundlich darin aus. Die Talgkerze in dem zinnernen Leuchter war fast zu Ende gebrannt und leuchtete zuckend mit schwachem Schein über den Tisch, auf dem die Reste des Nachtessens und die leeren Becher standen. Mechanisch räumte sie alles in den großen Korb, den die Magd herausgetragen hatte, faltete das weiße Tischtuch sorgfältig zusammen und legte es darüber und wollte auch das Messer, womit sie die Trauben für den Oheim abgeschnitten hatte, dazu thun. Dann dachte sie, daß sie doch wohl wiederkommen würde, Trauben zu holen, wenn auch die Jahreszeit nicht mehr darnach wäre, hier oben öfters um den runden Tisch zu sitzen. So nahm sie das Messer nachdenklich auf und ließ das Licht auf der scharfen, spitzen Klinge spielen. Der rothe Schein fiel auch über ihren nackten, weißen Arm, in dessen zarter Haut eine blaue Ader hervortrat. Wenn du jetzt den Muth hättest, die blanke Schneide gegen den Arm zu kehren – nur ein rasches Zucken mit der Klinge, daß sie die Ader durchschnitte, und du wärst aller Qual entrückt!

Sie näherte die Klinge mehr und mehr der verhängnißvollen Stelle, schon fühlte sie den kühlen Stahl gegen die warme Haut, dann warf sie plötzlich das Messer auf den Tisch zurück.

Pfui! sagte sie laut, du bist ein armes, feiges Weib! Dir geschieht recht, wenn du dein Elend noch fünfzig Jahre weiter schleppst.

Das Licht loderte mit einem übelriechenden Dunst im Leuchter auf und sank dann zusammen. Da nahm sie den großen Strohhut, der hinten auf dem schwarzen Lederbänkchen gelegen hatte, hing ihn sich an den Arm und trat aus dem Hüttchen ins Freie, die Thür hinter sich mit dem Schlüssel verwahrend.

*

Als sie heraustrat, drang ihr die schwere Feuchte der Nacht beklemmend entgegen. Der Mond war nun so dicht umschleiert, daß nur ein silberner schwacher Schimmer den Ort, wo er stand, ankündigte. Unten das breite Strombett war von einem dichten, weißen Nebel völlig ausgefüllt, der auch die Gassen des Städtchens und drüben am linken Ufer die einzelnen Häuser ganz verschlungen hatte, daß nur hie und da ein größeres Licht schwach durchglänzte und die Spitze des Kirchthurms aus dem wallenden Dunstmeer herausragte. Eine unheimliche Spannung lag über der ganzen weiten Gegend, als halte die Nacht vor dem Ausbruch schreckenvoller Stürme den Atem an.

Um so seltsamer in der großen Stille klangen die abgerissenen Töne der Tanzmusik drunten zu dem einsamen Mädchen herauf, das wetterkundig genug war, um zu wissen, die Nacht werde noch ein Ungewitter bringen. Und doch beeilte sie sich nicht, hinunterzugehen und sich in ihrem Hause in Sicherheit zu bringen. Vielmehr schien es, als wäre sie froh gewesen, wenn der brütende Himmel sich sofort in schwerem Wolkenbruch entladen und ihre heiße Stirn gekühlt hätte.

Statt die mittlere Gasse, wo die Stufen hinabführten, zu betreten, wandte sie sich wieder nach rechts, an dem Traminerwinkel vorbei, und blieb an dem Thürchen in der niederen Mauer stehn, die ihren Bezirk von dem nachbarlichen trennte. Sie sah auch jetzt noch in dem Pavillon des Herrn Everard den Lichtschein, und ein abenteuerliches Verlangen stieg in ihr auf, einmal hineinzuspähen und zu sehen, was er treibe, ob er am Ende eine Freundin bei sich habe, deren Gesellschaft ihn das heraufziehende Unwetter nicht beachten ließ. Dann redete sie sich vor, daß er sie nichts mehr angehe, nichts mehr kümmern dürfe, sondern ihr so fremd sein müsse, wie der Mann im Mond. Doch da sie eben von dem Thürchen, auf das sie sich gestützt, zurücktreten wollte, fühlte sie, daß der Verschluß sich gelockert hatte und einem leichten Druck der Hand nachgab.

Ohne zu bedenken, was sie that, öffnete sie die kleine Pforte vollends und betrat den schmalen Pfad, der zwischen den Rebstöcken grad' auf den Pavillon zuführte. Auch hier war die Lese schon vorüber, der Pächter aber hatte allen Aufwand für Schwärmer und Raketen gespart, und so war es in dem schmalen Streifen zwischen den ansehnlicheren Weingütern sehr still zugegangen; vielleicht hatt' es der Besitzer so gewünscht. Er war auch im Übrigen als ein Sonderling bekannt geworden. Denn seit jenem Aschermittwoch hatte er sich im goldenen Löwen nur selten blicken lassen, blieb, wenn er nicht droben die Abende zubrachte, in seinem Junggesellenstübchen neben der Advocatur und schien nur für seinen Beruf Interesse zu haben.

Die kurze Strecke war bald zurückgelegt. Das Mädchen blieb vor der verschlossenen Thür des Pavillons stehen, die von zwei gewundenen, hölzernen Säulen flankiert und mit einem gebrochenen Giebel bekrönt war. Es wäre ein Leichtes gewesen, den zierlichen Bau zu umgehen und in eins der Seitenfenster zu spähen, aus denen der Lichtschein drang.

Das schien aber der späten Besucherin unschicklich. Und doch konnte sie sich nicht entschließen, sofort den Rückweg anzutreten. Eine geheimnißvolle Macht hielt sie zurück. Ohne einen klaren Gedanken, was sie erwartete, oder was etwa von ihrem Beginnen für ein ungünstiger Schein auf sie fallen möchte, wenn sie hier draußen von dem Besitzer entdeckt würde, näherte sie sich dem steinernen Bänkchen neben den Stufen, die zur Schwelle hinaufführten, und ließ sich in einer fieberhaften Besinnungslosigkeit darauf nieder.

Drinnen regte sich nichts. Es war so still, daß sie durch die dünne Bretterwand das Knistern einer Kerze zu hören glaubte, oder war's das bohrende Nagen eines Holzwurms, oder nur das Blut, das in ihren Ohren sauste? So fühlte sie sich, obwohl durch die Bretterwand getrennt, doch ihm nahe und allein mit ihm, der ihr einen ganzen Sommer lang fern geblieben war, obwohl sein Bild immer vor ihrer Seele gestanden hatte. Eine heimliche Wonne durchströmte ihr Herz; wenn sie in diesem Augenblick gestorben wäre, hätte ihr's geschienen, als wäre ihr höchster irdischer Wunsch noch kurz vorm Scheiden erfüllt worden.

Dann aber überfiel sie plötzlich die Angst, er möchte heraustreten und sie hier finden und glauben, sie sei gekommen, sich ihm aufzudrängen. Sofort erhob sie sich, zog den Shawl fester um ihre Schultern und trat mit unsicheren Füßen, denn ihr war, als könne sie die Last ihres schweren Herzens nicht tragen, von der Bank hinweg.

In demselben Augenblick öffnete sich die Thür, und auf der Schwelle stand die hohe Gestalt Dessen, vor dem sie hatte fliehen wollen.

*

Sie hier, Mademoiselle? sagte er. So hab' ich doch recht gehört, daß Jemand auf der Bank hier draußen sich niederließ. Eines so hohen Besuchs war ich mir freilich nicht vermuthend.

Es war kein Hauch von Spott im Ton seiner Stimme. Doch verwundeten sie seine Worte in ihrem ohnehin gequälten Herzen.

Ich muß um Verzeihung bitten, sagte sie, sich mühsam fassend. Ich bin in unserm Weinberg umhergegangen, und da ich das Pförtchen angelehnt fand und Niemand hier vermuthete, hab' ich mich so gedankenlos hereinverirrt und einen Augenblick hier ausruhen wollen. Ich gehe nun wieder; es soll nicht wieder geschehen.

Pardon, Mademoiselle, sagte er, indem er die Stufen hinunter und ihr in den Weg trat, Sie werden mir nicht die Kränkung anthun, sich von mir verscheuchen zu lassen, da ein glücklicher Zufall Sie in mein Gebiet geführt hat. Einen Augenblick wenigstens müssen Sie bei mir eintreten, wenn mein niederes Dach Ihnen auch nichts zu bieten hat, was eines königlichen Besuchs würdig wäre.

Eine tiefe Röthe überflammte ihr Gesicht. Er konnte es deutlich sehen, da das Kerzenlicht aus dem Innern den Platz vor den Stufen erhellte.

Wodurch hab' ich Ihren Hohn verdient, Monsieur Everard? kam es von ihren zitternden Lippen. Sie wissen nur zu gut, daß ich ein armes Mädchen bin, das nichts dafür kann, daß ihr Vater sie mit einem stolzen Namen in die Welt geschickt hat, der sie in ihrer Niedrigkeit beschämt. Es ist ungroßmüthig, daß auch Sie Ihren Spott damit treiben. Aber freilich –

Sie verstummte und that einen Schritt von ihm weg. Da fühlte sie sich an ihrem Handgelenk ergriffen und hörte ihn sagen:

Jetzt bestehe ich darauf, daß Sie meine Schwelle betreten, nur so lange, bis Sie den Vorwurf zurücknehmen, als hätte ich vergessen, was ich Ihnen schuldig bin. Es war freilich ein Scherz, aber er sollte nur meine Verlegenheit maskieren, als ich plötzlich ganz ahnungslos Sie vor mir sah, eine Erscheinung, die wahrlich wie aus einem Märchen in das armselige Leben sich verirrt zu haben schien.

Er gab sie frei und trat mit einer leichten Verbeugung zurück, um ihr den Weg zu öffnen. Sie empfand, daß sie ihm nachgeben müsse, wenn er sie nicht einer kindischen Empfindlichkeit zeihen sollte.

So trat sie in den Pavillon, blieb aber nahe an der Schwelle stehen.

Was sie sah, war in der That dazu angethan, zunächst nur ein Staunen zu erregen, das alle anderen Gefühle zurückdrängte.

Statt der Möblierung eines einfachen Weinberghüttchens war dieses wie das Boudoir einer Weltdame ausgestattet, groß genug, daß ein halb Dutzend oder mehr Besucher sich bequem hier niederlassen konnten. An einem der Fenster stand ein mit gelber Seide überzogenes Kanapee, über das eine weiche Decke von pfirsichfarbenem Stoff gebreitet war. In der Mitte ein zierlicher Tisch mit vergoldeten, geschweiften Füßen und einer mit bunter Mosaik eingelegten blanken Platte. Zwei gelbseidene Armsessel mit vergoldeten Füßen desselben Stils, im Hintergrunde auf einem schmalen Untersatz ein geschnitztes Glasschränkchen, hinter dessen Scheiben eine kleine in Leder gebundene Bibliothek hinter rothen Seidenvorhängen halb versteckt war, der Fußboden mit einem leichten geblümten Teppich belegt, das alles durch zwei Wachskerzen, die in einem silbernen Armleuchter brannten, hinlänglich beleuchtet, daß man das feine Muster der Rococotapete erkennen konnte und die Zierlichkeit der Krystallflasche, die nebst einem schlanken venetianischen Glase, mit einem dunklen Wein halb gefüllt, auf dem Tische stand.

In diese Umgebung paßten die beiden jungen Gestalten, die eben eingetreten waren, aufs Beste hinein, das schöne, schlanke Mädchen, dessen rother Shawl auf dem weißen Kleide im hellen Kerzenlicht wie Purpur leuchtete, und der junge Mann, der, einen halben Kopf größer als sie, in aller Einfachheit seines Anzugs wie ein Sprößling eines vornehmen Hauses erschien.

Denn sein blasses, nicht eben regelmäßiges Gesicht, die ernsten, dunklen Augen, die hohe Stirn unter dem Tituskopf, vor allem der strenge Zug um seinen schöngeschwungenen Mund ließen ein inneres Wesen erkennen, dem nicht nur das Gemeine, sondern auch schon das Alltägliche, Triviale fern lag. Er trug einen sommerlich leichten Frack von braunem Zeuge, eine gelbe gestickte Schooßweste darunter, enge Pantalons, die in Stulpenstiefeln steckten, um den offenen Hals ein loses seidenes Tuch geschlungen, an der weißen Hand, über die eine lange Manchette herabfiel, nur einen Siegelring mit einem großen Carneol. Auf dem Tisch neben dem Weinglase lag ein altes in Leder gebundenes Buch, so umgekehrt, daß man auf dem Rücken die Inschrift lesen konnte: Essais de Montaigne.

Ich bitte die Thür offen zu lassen, sagte Victoire, als er sich nach ihrem Eintritt anschickte, sie zu schließen. Ich gehe sogleich wieder, und trotzdem könnte der Zufall Jemand herbeiführen, der, wenn er mich bei Ihnen erblickte –

Sie fürchten, sich zu compromittieren? unterbrach er sie mit einem kaum merklichen bitteren Lächeln. Seien Sie ganz ohne Sorgen, Mademoiselle. Es ist stadtbekannt, daß Sie unnahbar sind. Aber wie Sie wünschen. Ich bitte nur, einen Augenblick Platz zu nehmen. Und dann –

Er ging nach dem Glasschränkchen und nahm aus dem untersten, von Büchern freien Fach ein zweites Krystallglas heraus.

Sie waren noch erschöpft, Fräulein Victoire, als Sie von der Bank aufstanden. Sie dürfen es mir nicht abschlagen, von diesem spanischen Wein zu kosten, wenn Sie mich nicht glauben machen wollen, daß Sie jede Gastfreundschaft von meiner Seite verschmähen.

Sie sah, in dem Armsessel sitzend, in tiefen Gedanken vor sich hin, während er den Wein eingoß. Ist dies alles ein Traum? stand in ihren halbgesenkten Augen. Mechanisch nahm sie dann den zarten Kelch und nippte daran. Der Shawl war auf die Lehne des Stuhls zurückgeglitten und hatte ihre Schultern und den weißen Nacken freigegeben. Ihm schien, als habe er jetzt erst gesehn, wie schön dieses Mädchen war. Mit einiger Mühe wandte er seine Augen von ihr ab und sah zu dem kleinen Fenster hinaus in die bleiche Nebelluft.

Ein paar Minuten blieben Beide stumm. Dann sagte das Mädchen, auch halb wie zu sich selbst:

Es ist schön hier. Ein so glänzender Raum – wohin man blickt, etwas Reizendes und Ausgesuchtes. Und doch, immer einsam dies alles bewundern – es würde mich traurig machen.

Wissen Sie denn, ob ich nicht ebenso empfinde? versetzte er, ohne den Blick zu ihr hinzuwenden.

Und sie: Dann begreif' ich nicht, warum Sie es aushalten, da es doch in Ihrem Willen steht.

In meinem Willen! Er lachte bitter auf. Hat ein Verbannter einen freien Willen, wenn das Heimweh ihn ergreift, dahin zurückzuwandern, wo er nicht einsam wäre?

Sie schwieg einen Augenblick.

Aber warum sind Sie verbannt? Was die Leute darüber reden, glaube ich nicht, so wenig ich Sie kenne.

Was haben die Leute Ihnen darüber gesagt? Sprechen Sie ganz offen.

Und sie, nach einem kurzen Zögern:

In Ihrer Heimat lebte ein Mädchen, dem Sie nicht die Treue gehalten, und da man Ihnen das zum Vorwurf machte, hätten Sie sich in der Fremde angesiedelt.

Er fuhr vom Sitz in die Höhe. Das also –! sagte er dumpf. Nun, man ist es ja gewohnt in dieser besten aller Welten, daß das Gegentheil der Wahrheit einem nachgesagt wird, weil die Wahrheit einem zur Ehre gereichen würde, was die lieben Nebenmenschen einem nicht gönnen. Ein Thor, wer es anders erwartet und sich darüber aufregt, daß er Leuten, die ihm gleichgültig sind, die Verleumdung nicht aus den Zähnen reißen kann. Was Sie aber von mir denken, mein Fräulein, ist mir nicht gleichgültig, und darum erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, weshalb ich mich selbst verbannt habe.

Es ist kein langer Roman, auch ein sehr alltäglicher. Ich hatte in meiner Vaterstadt schon ein paar Jahre die Advocatur ausgeübt, aber noch immer keine Neigung gezeigt, eine Frau zu nehmen, so sehr meine Mutter es wünschte. Es waren ihr freilich nur wenige Partien gut genug für ihren einzigen Sohn. Aber auch unter den glänzendsten, die sie mir vorschlug, fand ich keine nach meinem Geschmack, will sagen, nach meinem Herzen.

Da kam eines Tages ein junges Mädchen in mein Bureau, im Auftrage ihrer Mutter, einer Witwe, wegen eines Processes mich zu consultiren. Die Frau war verklagt worden auf Grund einer rückständigen Forderung, deren Berechtigung sie bestritt. Da sie bettlägerig war, konnte sie nicht selbst kommen und hatte die Tochter geschickt.

Ich war dem blassen, schlanken Mädchen kaum ein paarmal auf der Straße begegnet, erinnerte mich aber, daß sie mir durch ihre anmuthige Gestalt und den schüchternen Ausdruck ihres jungen Gesichts aufgefallen war. Sie war keine Schönheit. Aber wer sie einmal aufmerksam betrachtet hatte, konnte sie so leicht nicht wieder vergessen.

Sie setzte mir, um was sich's handelte, bescheiden, aber so klar auseinander, daß ich auch von ihrem Verstande eine vorteilhafte Meinung bekam, von ihrem Herzen durch die Thränen, die ihr aus den sanften blauen Augen stürzten, als sie von dem Leide ihrer Mutter sprach und den engen Verhältnissen, in denen sie lebte.

Ich versprach, die Mutter zu besuchen und mich ihrer Sache anzunehmen.

Ich fand eine Frau, die mir gerade so unsympathisch war, wie die Tochter mich für sich eingenommen hatte. In der Wohnung sah es so dürftig aus, daß sich mir die Luft darin wie ein Alp auf die Seele legte. Nur eine große Sauberkeit und ein paar Geranien auf dem Fenstersims und dazu der liebliche Hauch von reiner Jugend, der von dem Mädchen ausging.

Es kam dann, wie Sie sich denken können. Nach wenigen Wochen, in denen ich Gelegenheit gehabt hatte, das arme Kind immer inniger zu bewundern um den aufopfernden Gleichmuth und die heitere Resignation, womit sie das schwere Leben an der Seite der zänkischen, ewig unzufriedenen Mutter ertrug, war ich entschlossen, das Mädchen aus seiner Gefangenschaft zu befreien und so glücklich zu machen, wie sie es verdiente.

Ich brauche nicht zu sagen, wie sie selbst es aufnahm, als ich um sie warb. Freilich, auch wohl ein Anderer, der sie zu retten kam, wäre ihr liebenswerth erschienen. Noch immer steht das holde Gesicht vor mir mit einem Ausdruck ungläubiger Seligkeit, als ob ich ihr den Himmel offen gezeigt hätte.

Nun, sie sollte bald erfahren, daß der Himmel zuweilen einen armen Sterblichen in seine Herrlichkeit nur darum blicken läßt, um ihn dann nur um so grausamer in die alte Trübsal zurückzustoßen.

Als ich meinen Eltern die Absicht mittheilte, die Tochter dieser Frau zu heirathen, stieß ich auf einen unüberwindlichen Widerstand.

Der Vater erklärte, ich sei majorenn, und er habe mir nichts zu verbieten. Von Stund' an aber sei das Tischtuch zwischen uns durchschnitten; er werde mich hinfort nicht mehr für seinen Sohn anerkennen.

Die Mutter gerieth in eine Aufregung, die sie in eine ernstliche Krankheit warf. Jene Frau habe einen schlechten Ruf, ihre Tochter möge alle Tugenden der Welt besitzen, niemals werde sie ein Kind aus solchem Hause als ihre Schwiegertochter anerkennen und sich selbst damit allen Verkehr mit den angesehenen Familien der Stadt unmöglich machen.

Ich brachte es nicht übers Herz, gegenüber solchem Widerstande meinen Willen durchzusetzen. Ich beschloß, zunächst mich der elterlichen Autorität zu beugen und abzuwarten, ob die Zeit mir zu Hülfe kommen möchte.

Das hatte ich auch ihr gesagt, und sie hatte mir mit einem vollen Blick ihrer lieben Augen erwidert, daß sie mir vertraue.

Wie es dann kam, daß sie mir doch für immer geraubt wurde, ist mir noch heute nicht ganz klar geworden. Genug, eines Morgens las ich in der Zeitung ihre Vermählung mit einem mir ganz unbekannten Manne als eine vollendete Thatsache. Ein Tischlermeister, der in der Vorstadt sein Geschäft hatte – wie er dazu gekommen, meine Geliebte kennen zu lernen, durch welche Mittel sie dazu gebracht worden war, trotz meiner heiligsten Versicherungen auf mich zu verzichten – ob, wie ich in Stunden des ingrimmigsten Schmerzes argwöhnte, mein Vater dabei die Hand im Spiele gehabt hatte – genug, es war geschehen, ich hatte sie verloren.

Und mit ihr auch die Eltern, das Sohnesgefühl, das mich an sie geknüpft hatte. Zudem hörte ich, daß ihr Mann ein Trunkenbold sei und sie im Rausch mißhandelte. Als ich ihr ein einziges Mal begegnet war und ihr verhärmtes, blasses Gesicht gesehen hatte, war meines Bleibens nicht länger in der alten Heimath. Ich brach Alles ab, was mich dort gefesselt hatte, und zog in die Verbannung, weit genug, wie ich hoffte, um mit der Zeit vergessen zu lernen, was das Schicksal mir nicht hatte gönnen wollen. – –

Er stand auf, trat an eins der Seitenfenster und öffnete es, um die Nachtluft über sein erhitztes Gesicht wehen zu lassen.

Eine Weile war's still zwischen ihm und Victoire. Dann sagte sie mit bewegter Stimme:

Nun verstehe ich, daß Sie sich hier von allen Menschen zurückgezogen haben. Wer so etwas erlebt hat, dem ist alles verhaßt, was ihn seinen Erinnerungen, so traurig sie sind, untreu machen will.

Er wandte sich rasch zu ihr um. Nein, Mademoiselle, sagte er lebhaft, Sie irren. Ich bin nicht sentimental, nicht darauf versessen, meine Wunde offen zu halten und jeden Heilungsversuch abzuwehren. Ich ließ das Leben an mich kommen und wartete, ob es Mittel hätte, nach dieser schweren Enttäuschung mich wieder an Glück und Freude glauben zu machen. Im ersten Sommer freilich geschah dies Wunder nicht. Ich fand kein freundliches Gesicht, das die schmerzlichen Züge meiner Verlorenen in mir auszulöschen vermocht hätte. Bis zu jenem Abend auf dem Ball in der Ressource – vielleicht erinnern Sie sich –

Er schwieg und sah ihr so fest in die Augen, daß sie über und über erglühte und den Blick nicht aushielt. Dann aber überkam sie das bittere Gefühl dessen, was sie von ihm erlitten hatte, und sie sagte mit bebender Stimme, jetzt aber ihn fest anblickend:

Gewiß erinnere ich mich, Monsieur Everard. An jenem Abend hätte Niemand geglaubt, daß Sie das Andenken an ein verlorenes Liebesglück im Herzen trugen.

Er nahm das Glas, das vor ihm stand, und leerte es auf einen Zug, wie um etwas zu thun, was ihn einer sofortigen Antwort überhob. Dann sagte er mit dumpfer Stimme:

Es war ein Rausch, der mich um alle Besinnung brachte. Mir war zu Muth, als käme ich jetzt erst auf die Welt, als erführe ich jetzt erst, daß ein Herz in meiner Brust klopfte, daß meine Augen aufgethan würden zu erkennen, was Schönheit, Adel und Holdseligkeit sei, während alles Frühere verblaßte – auch das Gefühl für das einst geliebte unglückliche Wesen – denn da zuerst begriff ich, zur Hälfte war jenes Gefühl Mitleid gewesen, was aber Liebe sei, Leidenschaft, Taumel und Wonnerausch aller Sinne, das lernte ich erst kennen in jener Nacht, und auch mir schien sich ein Thor des Paradieses aufzuthun – ein Ausblick in eine Zukunft voll überschwänglichen Glücks – ein zauberhafter Traum, der nicht am Morgen zerrinnen würde –

Und doch am Morgen zerrann, als der Rausch verflogen war! hörte er sie sagen, indem sie sich der offenen Thür zuwandte, als ob sie das Gespräch abschneiden wollte. Er aber, der in seine Erinnerung versunken vor sich hingeblickt hatte, hob jetzt wieder den Kopf und sagte mit großem Nachdruck:

Was wissen Sie davon, mein Fräulein, was der Morgen mir brachte? Wissen Sie denn, daß mein erster Gedanke beim Aufwachen war, sobald die schickliche Besuchsstunde gekommen, mich zu Ihrem Oheim zu begeben und um Ihre Hand anzuhalten? Denn nach Allem, was zwischen uns Beiden auf jenem Fest gesprochen, geblickt und gelächelt worden war, glaubt' ich Ihrer selbst sicher zu sein. War's ein Leichtsinn, nach einem einzigen Ballabend über mein Lebensschicksal zu entscheiden, nun denn, Leidenschaft ist nicht immer blind; die meine, dacht' ich, ist hellsehend genug, um in der Wahl meiner Lebensgefährtin nicht irre zu gehen.

Und da, als ich eben den Hut nahm, um den Weg zu Ihrem Hause anzutreten, öffnete sich die Thür meines Zimmers und der einzige Mensch, den ich meinen Freund nennen durfte, kam, wie er zu dieser Stunde pflegte, mir guten Morgen zu sagen.

Ihr Freund? Herr Ludwig Lindblatt?

Sie haben es errathen. Sie wissen aber nicht, wie nah' er mir stand, wie viel ich ihm verdankte. Ich fand ihn vor, als ich hier übersiedelte, auch er war ein Fremder, hatte von seiner Vaterstadt Köln aus eine Kunstreise den Rhein herauf gemacht, überall verweilend, wo er einen Porträtauftrag bekam. Auch hier war man ihm gastlich entgegengekommen; er war ein Mensch, dem Niemand widerstehen konnte, die reinste Kinderseele mit der ernsten Begeisterung eines Künstleringeniums gepaart – was schildere ich ihn weiter, da Sie ihn ja gekannt haben? Nach wenigen Tagen liebt' ich ihn wie einen jüngeren Bruder, wir waren unzertrennlich und durchstreiften diese herrlichen Gegenden zu allen freien Zeiten. Wobei ich denn immer mehr inne wurde, daß er der Bessere von uns Beiden war, ein Mensch von einem schlichten Seelenadel, dem nichts Menschliches, aber auch nichts Göttliches fremd war.

Ihm hatte ich's verdankt, daß ich jenem Fastnachtsball nicht fern geblieben war, obwohl ich noch Trauer trug um mein zerstörtes Heimathsglück. Ich will dir ein Mädchen zeigen, hatte er gesagt, wie du noch keines je gesehen hast. Seit acht Tagen bin ich so glücklich, täglich eine Stunde lang ihr Gesicht betrachten zu dürfen, da ich ihr Porträt mache. – Ich hatte stille Zweifel, ob mir's der Mühe werth scheinen würde, Balltoilette zu machen. Ich kannte seine enthusiastisch übertreibende Art, wo er auch nur ein bescheidenes Naturgebilde entdeckt hatte, das sein Künstlerauge erfreute. Wie weit sein Lob hinter der Wirklichkeit zurückbleiben sollte, ahnte ich nicht.

Nun kam er, wie ich meinte, um zu hören, daß er nicht zu viel gesagt hätte. Als ich ihm aber vertraute, wohin ich zu gehen vorhatte und zu welchem Zweck, sah ich zu meinem Schrecken, daß eine tödtliche Blässe sein hübsches, offenes Gesicht überzog, und er, wie von einer plötzlichen Ohnmacht befallen, auf einen Stuhl niedersank.

Es dauerte lange, bis er sich so weit fassen konnte, mir zu beichten, was ihn so erschüttert hatte. Auch dann war's rührend, wie er sofort sein eigenes Schicksal als ein unabänderliches hinnahm, da er mit dem Freunde in keinen Wettstreit sich einlassen könne. Auch sah er es für hoffnungslos an. Das Fräulein habe ihm zwar gegen ihre sonstige Art allerlei Zeichen eines herzlichen Entgegenkommens gegeben, und so wenig er sich würdig glaube, dieses königliche Wesen als sein Eigenthum zu besitzen, so geschähen doch noch Wunder auf Erden, und ohne mein Dazwischentreten hätte er doch vielleicht dies große Loos in der Lebenslotterie ziehen können. Nun freilich, wenn ich die Hand darnach ausstreckte –

Er versank in einen so verzweifelten Jammer, daß ich kein Wort zur Erwiderung fand. Erst als er sich aufraffte, um ohne Weiteres das Zimmer zu verlassen, hielt ich ihn am Arme fest und sagte, ich sei entschlossen, meine Absicht aufzugeben, heute nicht um sie zu werben, auch all die folgenden Tage mich ihr fernzuhalten und ihm das Feld vollkommen freizuhalten. Die Gunst, die sie mir gestern gezeigt, sei vielleicht nur eine vorübergehende Laune gewesen, es habe ihr geschmeichelt, von einem so spröden, für weibliche Reize unempfänglich scheinenden Menschen ausgezeichnet worden zu sein. Wenn ich sie nun vergessen zu haben Miene machte, werde sie schon aus dépit mir abgeneigt werden und sich ihrem früheren Verehrer wieder zuwenden. Jedenfalls möge er alle Segel beisetzen, um sein Schifflein in den Hafen zu bringen. Erst wenn er auf der Fahrt scheiterte, würde ich mir kein Gewissen daraus machen, nun auch meinestheils mein Glück zu versuchen.

Der gute Junge sträubte sich erst, dies Freundschaftsopfer anzunehmen. Als ich aber unerschütterlich blieb, fiel er mir mit Thränen des Danks und der Rührung um den Hals, und ich merkte an seiner völlig aufgelösten Stimmung, daß ihm die Sache doch noch mehr ans Leben ging als mir.

Freilich konnte ich mich der egoistischen Hoffnung nicht erwehren, daß ich am Ende doch Sieger bleiben würde.

Es war aber bitter, daß ich vorläufig Nichts thun durfte, mein plötzliches Zurückziehen zu erklären. Ich litt schwer darunter. Ich vermied es, an Ihrem Hause vorbeizugehen, und wenn ich in der Stadt Sie von fern kommen sah, flüchtete ich wie ein Schuldbewußter in eine Seitengasse.

Das dauerte, so lange Ludwig an dem Porträt arbeitete. Auch er mied mich in all der Zeit, fast drei Wochen lang. Er wollte mich schonen, mich nicht sehen lassen, daß seine Hoffnungen von Tag zu Tage wuchsen, und ich, so lieb ich ihn hatte, konnte mich des brennendsten Neides nicht erwehren und lebte trostlos hin, in der tiefsten Melancholie.

Aber eines Mittags – ich hatte eben mein Bureau geschlossen – fand ich ihn in meiner Wohnung und erschrak über sein völlig verstörtes Gesicht.

Es ist aus! rief er mir entgegen. Ich bin abgewiesen! Sie hat mir erklärt, sie liebe mich nicht und könne nie die Meine werden. Das Bild ist heut' fertig geworden, sie war sehr entzückt davon, fand es nur geschmeichelt, was es denn auch ist. Denn das Gesicht zeigt keinen Zug von der grausamen Seele, die mit dem Lebensglück eines armen Verblendeten ein Spiel treiben kann, wenn er endlich den Muth gefaßt hat, zu sagen, wie's um ihn steht, mit einem hoheitsvollen Prinzessinnenlächeln ihm erklärt, er habe seine Augen zu hoch erhoben, er solle in seine Niedrigkeit zurücksinken. Sie hat vielleicht Recht. Nur schade, daß sie's so lange getrieben hat, bis der Schlag mich ins tiefste Leben trifft, denn nie, nie werde ich's verwinden – –

Und was an solchen desperaten Worten mehr der frische Schmerz ihm eingab.

Ich suchte ihn zu beruhigen. Sei froh, sagte ich, daß du nun weißt, wie wenig dies Bild ohne Gnade deiner treuen Hingebung werth ist. Wenn die Laune sie angewandelt hätte, dich zu erhören, und du hättest später erst erfahren, daß sie kein Herz hat, daß es ihrem Stolz nur schmeichelt, dich als ihren Sklaven neben sich zu haben, wäre dein Leben nur kläglicher verspielt gewesen. Ich selbst – ich bin dir Dank schuldig, daß du statt meiner die Probe gemacht und es an den Tag gebracht hast, in dieser schönen Hülle steckt die Seele einer Kokette, die Niemand lieben kann als sich selbst. Ich bin durch deinen Schaden klug geworden, und nun mußt du mir versprechen, mir nicht wehren zu wollen, wenn ich mir Mühe gebe, deine Wunde zur Heilung zu bringen.

Ich sah, daß alle meine guten Worte ungehört und unverstanden an ihm abglitten. Er verbiß sich in einem brütenden Schweigen und rannte endlich davon, ohne mir Lebewohl zu sagen.

Als ich gegen Abend ihn in seiner Wohnung aufsuchte, fand ich sie leer. Ein Brief an mich lag auf dem Tische, er schrieb, es sei ihm unmöglich, länger Eine Luft mit ihr zu atmen; wenn er noch weiterleben solle, so könne es nur so fern von ihr sein, daß er nie ihren Namen höre, er kehre nach seiner Heimath zurück, die guten Gesichter seiner Mutter und Schwester würden ihm vielleicht den Glauben an weibliche Güte und Wahrheit zurückgeben.

Werden Sie es nun begreifen, Mademoiselle, daß ich fortfuhr, den Weg an Ihrem Hause vorbei zu meiden, und in eine Seitengasse zu flüchten, wenn ich Sie von ferne kommen sah?

*

Er stand auf und trat in die offene Thür, aus der ein kalter Luftstrom in das Innere drang.

Da sagte sie nach einer Pause:

Sie haben mir vollauf erklärt, was mir ein schmerzliches Räthsel sein mußte. Nun bin ich auch Ihnen eine Erklärung schuldig, so schwer sie mir wird. Zwar weiß ich nicht, ob Sie mir glauben werden, daß ich, so viel Fehler ich haben mag, dem der Koketterie niemals verfallen bin. Daß ich schön bin, ist mir bis zum Überdruß von früh an so oft gesagt worden – ich müßte dumm und taub sein, wenn ich es nicht geglaubt hätte. Aber gerade darum, weil immer nur Bewunderung, nie eine stille, schlichte Neigung an mich herantrat, war mir all' die Huldigung so gleichgültig, als hätt' ich ein Bild von einem großen Maler in meinem Zimmer und die Leute liefen herzu, es anzugaffen. Wie? Kein Herz sollte ich haben? Oh, daß gerade Sie das sagen konnten! Sie, der mir – nein, es muß gesagt sein, zu meiner Strafe, wenn auch Scham und Stolz mir die Lippen schließen sollten: daß ich ein Herz hatte, ein so schwaches, bedürftiges, nach Liebe verlangendes, wie irgend ein Mädchen – in jener Nacht, da ich die Liebesworte von Ihnen hörte, sie einsog wie einen Zaubertrank, da hab' ich es gefühlt, und seitdem ist dieses Herz nicht mehr zur Ruhe gekommen und hat mir tausend Qualen bereitet, von denen kein Mensch etwas geahnt hat! –

Nein, fuhr sie lebhaft fort, da er etwas erwidern wollte, ich muß nun Alles sagen, muß mich nun auch der schweren Schuld anklagen, zu der mein armes, mißhandeltes Herz in seinem sinnlosen Kummer sich fortreißen ließ. Ja, ich habe mit Ihrem Freunde ein wenig gespielt, zum ersten Mal in meinem Leben hab' ich getändelt und mich anders gezeigt, als ich fühlte, freilich ohne zu ahnen, daß er es so furchtbar ernst nehmen würde. Denn ich bildete mir ein, Sie damit wieder zu mir zurückführen zu können, wenn die Eifersucht in Ihnen erregt würde, wenn Sie es dem Andern nicht gönnten und den Wettkampf mit ihm aufnehmen möchten. Mehr als einmal sprach ich von Ihnen, immer mit der Miene äußerster Gleichgültigkeit, fragte, ob Sie nicht einmal in das Atelier kommen würden, das Bild anzusehen. Ich zitterte vor diesem Besuch, so leidenschaftlich ich ihn wünschte. Ich wollte dann vor Ihren Augen mit dem guten Menschen schön thun, Sie auf die Probe stellen, ob wirklich alle Flammen, die mir in jener Nacht aus Ihren Blicken entgegengeschlagen, erloschen seien. Bis dann die Stunde kam, wo ich mit Schrecken sah, daß ich an dem Herzen dieses treuen Verehrers gefrevelt hatte, schwerer, als ich je geahnt, denn eine so tiefe Wunde hatte ich ihm nie zu schlagen gefürchtet, wenn ich ihn abwies, wie schon so Manchen vor ihm. Er war ja ein Künstler, und ich dachte, es ist ihm nur um mein hübsches Gesicht, und was weiß er von meinem inneren Menschen! Und doch – glauben Sie nur, es ist mir nie aus dem Sinn geschwunden, was ich da verbrochen hatte. Aber ist es denn wirklich eine Sünde, die nie vergeben werden kann? Heißt es nicht im Evangelium: dir soll viel vergeben werden, weil du viel geliebt hast? Ist es nicht Buße genug, daß ich Ihr Herz für immer verloren habe? Und glauben Sie nicht, daß auch Ihr Freund, wenn er diese meine Beichte mit angehört hätte, mich von der Schuld eines kalten Herzens freisprechen, meine Buße um Ihretwillen annehmen würde?

Er hatte sich längst zu ihr hingewendet und, während sie sprach, seine Augen fest auf ihrem von stillen Thränen überrieselten Gesicht ruhen lassen. Jetzt sagte er langsam mit einem eisigen Ton:

Sehr möglich, Mademoiselle. Ludwig Lindblatt war ein edler Mensch und jedes Opfers fähig. Nur schade, daß man ihn nicht mehr fragen kann, ob er auch dieses Opfer bringen wolle. Vor drei Wochen erhielt ich die Nachricht aus seiner Heimath, daß man seine Leiche aus dem Rhein gezogen habe.

*

Ein heftiger Windstoß fuhr zur Thür herein, die Zugluft zwischen ihr und dem Seitenfenster war so stark, daß beide Kerzen auf dem Armleuchter erloschen.

Einen Augenblick regte sich Nichts im Pavillon, nur ein dumpfer Donner klang über den Rhein herüber, dann war wieder eine Todtenstille.

Everard schloß das Fenster und nahm aus einem Wandschränkchen eine kleine Laterne, die er sofort anzündete. Er sah bei ihrem Licht, daß eine fahle Blässe das Gesicht Victoire's überzogen hatte, die Augen waren geschlossen, beide Arme hingen an den Seiten herab.

Kommen Sie, mein Fräulein, sagte er, nun wieder mit einem gleichmütigen Ton. Unseres Bleibens ist hier nicht länger, das Gewitter steht noch auf dem linken Ufer und kann nicht gleich über den Fluß. Es wird aber in Kurzem furchtbar losbrechen, und wir können Gott danken, wenn wir trocken nach Hause kommen.

Damit näherte er sich ihr, das Laternchen in der linken Hand, und bot ihr den Arm. Eine Weile rührte sie sich nicht, sie ruhte wie erstarrt in dem Sessel, ihre Augen sahen weit aufgerissen ins Leere, daß es ihm selbst einen Augenblick graute und ihn die Reue darüber anwandelte, was er ihr so schonungslos angethan hatte. Erst ein zweiter heftiger Wetterschlag riß sie beide aus ihrer Betäubung auf. Er sah, wie große Anstrengung es sie kostete, sich zu erheben, der Shawl war ihr von den Schultern gefallen; sorgsam breitete er ihn wieder über ihren Nacken, und ein Schauer überlief ihn, als ihre weichen Locken seine Hand streiften. Dann, da sie wie geistesabwesend stehen blieb, zog er ihren Arm unter den seinen und führte sie, die wie nachtwandelnd neben ihm hin ging, zum Pavillon hinaus und nach der Grenze seines Weinbergs.

Eine fahle Finsterniß empfing sie draußen, von Zeit zu Zeit durch grelle Blitze erhellt, denen stärker und stärker das Grollen des Donners folgte. Noch fiel kein Tropfen aus der Höhe, aber ein rasender Staub wurde rings um sie her aufgewirbelt, daß kaum einen Schritt weit der schmale Weg zwischen den Rebstöcken zu überblicken war. Die Landschaft unten am Rhein lag in schwarze Nacht begraben, weit und breit war nichts vernehmbar als das Heulen und Stöhnen des Sturms und das Ächzen der vom Wetter gepeitschten Bäume, die droben die Höhe des Hügellandes einfaßten.

Da hatten sie die kleine Thür zwischen den beiden Weingütern erreicht. Everard stieß sie ans und gab den Arm des Mädchens frei.

Hier muß ich mich von Ihnen beurlauben, sagte er. Ich darf Sie nicht nach Hause begleiten, ich müßte fürchten, Sie zu »compromittieren«, wenn Jemand Sie an meinem Arm die Stufen hinuntersteigen sähe. Aber Sie kennen ja den Weg, und er ist nicht weit. Auch lasse ich Ihnen die Laterne, falls die Blitze nicht hinlänglich Ihnen leuchten sollten. Leben Sie wohl, Mademoiselle. Ich danke Ihnen, daß Sie mir Gelegenheit gegeben, mich gegen Sie auszusprechen, und bedaure, daß ich Ihnen wehe thun mußte. Aber das Schicksal ist unerbittlich, und zu sagen bleibt nun nichts weiter. Für uns Beide wird es das Beste sein, Alles, was geschehen ist, in den Abgrund des ewigen Vergessens sinken zu lassen. Bon soir!

Er stellte das Laternchen auf die niedere Mauer, lüftete den Hut und entfernte sich mit raschen Schritten.

*

Kaum sah sie sich allein, so brach ihre mühsam aufrecht erhaltene Kraft zusammen.

Sie sank hinter der Thür in die Kniee und kauerte mit festgeschlossenen Augen am Boden, tiefe Nacht um sie her und in ihrem Innern. So vernichtet fühlte sie sich, daß sie nicht einmal einen Schmerz empfand, als läge sie schon im Grabe, und das Leben droben über ihr könne sie nicht mehr anrühren. Erst nach und nach regten sich wieder verworrene Erinnerungen an das, was ihr eben geschehen, in ihrem zuckenden Herzen. Einzelne Worte, die er gesprochen, wachten in ihr auf, sie sah in der Finsterniß dieser Betäubung sein blasses, kaltes Gesicht und wunderte sich, daß die furchtbare Erkenntniß, ihn für immer verloren zu haben, durch ihre Schuld, sie nicht sofort getödtet hatte. Und sie konnte ihm nicht einmal grollen, daß er sie so tief gedemüthigt hatte, so wenig wie der arme Sünder, dem der Richter das Urtheil spricht. Nur ein schneidendes Weh durchfuhr sie, als sie bedachte, daß sie ihm ihr ganzes Herz zu Füßen gelegt, ihn um Gnade angefleht hatte, die sie verdient zu haben glaubte, weil sie aus übermächtiger Liebe gesündigt hatte. Er aber hatte sie am Boden liegen lassen und die kostbare Gabe, die sie ihm geboten, verschmäht.

Freilich, der Todte stand zwischen ihnen. Dessen Erbschaft konnte er nicht antreten, ohne sich anzuklagen, daß er ihm nicht Treue gehalten, auf seine Kosten sich bereichert hätte.

Aber vergessen, wie er ihr gerathen, ehe er sie verließ, das einzige Glück vergessen, auf das sie jemals gehofft, wie sollte ihr das möglich sein, und wenn sie hundert Jahr alt wurde?

Eine wilde Gedankenflucht jagte ihr durch den Kopf, sie wußte nicht, wie lange, sie hatte die Empfindung für Raum und Zeit verloren und sagte nur immer das eine bewußtlos vor sich hin: Vorbei! Vorbei! Vorbei!

Da riß sie endlich ein furchtbarer Blitz, der in die Nacht ihrer geschlossenen Lider hineinflammte, und gleich darauf ein Donnerschlag wie das Knattern eines Gewehrfeuers aus ihrer Vernichtung in die Höhe. Im nächsten Augenblick zerriß auch die schwarze Wolkenschicht über ihr, und ein wuchtiger Regen fuhr hernieder, während zugleich ein heulender Orkan den Sand zwischen den Pflanzungen aufwühlte und in heftigen Wirbeln umherjagte.

Da erhob sie sich mit letzter Kraft, doch nicht so rasch, wie es bei dem Toben aller Elemente rathsam gewesen wäre. Vielmehr, während sie dem Winzerhüttchen zuschritt, hielt sie den Kopf nach oben gekehrt, wo nun Blitz auf Blitz fast ohne Unterbrechung das Firmament in eine einzige wehende Flammenbrunst verwandelte, als ob sie mit leidenschaftlicher Sehnsucht wartete, daß ein Strahl niederfahren und ihrem jammervollen Dasein ein Ende machen möchte.

Als sie die Hütte erreichte, hingen ihr die Kleider triefend am Leibe. Sie erstieg aber die Stufen, trat über die Schwelle und warf die Thür hinter sich ins Schloß.

*

Zu derselben Zeit, da das Unwetter sie trieb, ein Obdach zu suchen, war auch Everard in seine Wohnung gekommen.

Er hatte sich kaum zwanzig Schritte von ihr entfernt, als er auf dem abschüssigen Wege still stand und überlegte, ob er nicht umkehren und das einsame Mädchen vollends nach Hause begleiten sollte.

Der Groll gegen sie, den er noch beim Abschied gefühlt, die Genugthuung, daß er sie seine ganze Verachtung fühlen lassen und ihren Stolz gebeugt hatte, das Alles war plötzlich einem grenzenlosen Mitleid gewichen. Er sah sie nur immer, wie sie, todtenblaß in den Sessel zurückgesunken, die Nachricht von dem traurigen Ende Dessen empfing, den sie in den Tod getrieben, und dann wieder, wie sie kurz vorher ihm mit glühendem Gesicht das Geständniß ihrer unseligen Liebe gemacht und gefragt hatte, ob der nicht viel vergeben werden solle, die so geliebt habe. Dazu. war sie ihm nie so schön erschienen wie in dieser einsamen Nachtstunde so allein ihm gegenüber, und er fragte sich, wie er's über sein Herz und seine Sinne habe bringen können, von so viel Anmuth und hülfloser Reue sich nicht rühren zu lassen.

Doch nein, diese Nacht sollte ihre Buße noch währen, das wenigstens war er dem todten Freunde schuldig. Auch würde er sie schwerlich noch finden, wenn er zurückginge. Das rasende Wetter, das jetzt den Rhein überschritten hatte, mußte sie unaufhaltsam nach Hause gejagt haben. Zudem hatte er ihr ja das Laternchen zurückgelassen.

Gleichwohl konnte er, als er sein Zimmer erreicht hatte, den quälenden Gedanken, allzu grausam und unritterlich gehandelt zu haben, nicht los werden. Einen Augenblick war er drauf und dran, noch jetzt sich nach ihrem Hause aufzumachen und nachzufragen, ob sie ungefährdet heimgekommen sei. Was aber sollte er zur Erklärung dieses seltsamen Besuchs mitten in der Nacht vorbringen? Er mußte sich durchaus bis zum andern Morgen gedulden. Seine Aufregung aber war so groß, daß er sich nicht entschließen konnte, zu Bett zu gehen. Bis lange nach Mitternacht ging er bei dem trüben Schein eines Lämpchens in seinen beiden Zimmern auf und ab, den Hut auf dem Kopf, nur die Halsbinde abgelöst, da sie ihm, so lose sie war, das Blut gegen das Gesicht trieb. Als die Kerze niedergebrannt war, warf er sich in den Kleidern aufs Bett und versuchte zu schlafen.

Es gelang ihm erst gegen Morgen, nur auf kurze Stunden. Als das erste trübe Tageslicht ihm ins Zimmer drang, hörte er die Kirchenglocken zur Frühmesse läuten und richtete sich mühsam auf, da er sich an allen Gliedern wie zerschlagen fühlte. Es war sieben Uhr, doch litt es ihn nicht länger in seinem dumpfen Zimmer. Eilig machte er eine nothdürftige Toilette und verließ dann sein Haus.

*

Der rasende Sturm, der die ganze Nacht hindurch angehalten, hatte erst kürzlich ausgetobt. Man sah seine Spuren in den Pfützen und rieselnden Bächen, die, mit dürren Blättern überweht, durch die Gassen liefen. Nur wenige Fromme hatten sich schon aufgemacht, ihre Andachtspflicht zu erfüllen. Die Meisten waren in ihren Häusern geblieben, die Schrecken der Gewitternacht auszuschlafen.

Auch das Haus des Herrn Balthasar Heimeran am Markt war noch fest geschlossen. Erst nachdem Everard wiederholt die Glocke gezogen, wurde die Thür geöffnet, und das verschlafene Gesicht des jungen Armand erschien an der Schwelle mit der verdrossenen Frage, wer zu so unzeitiger Stunde Einlaß begehre.

Als er sah, wer draußen stand, und hörte, der frühe Besucher frage nach Demoiselle Victoire, schien er erst seinen Ohren nicht zu trauen. Mit der Miene der höchsten Überraschung erwiderte er, seine Schwester sei gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Das Gewitter werde sie oben im Weinberg überrascht haben, und sie habe es vorgezogen, in dem Hüttchen zu übernachten, statt sich durch den strömenden Regen in der stichdunklen Nacht nach Hause zu tasten. Wenn Herr Everard ein Anliegen an sie habe, werde er, der Bruder, es ihr ausrichten, sobald sie heruntergekommen sei.

Der Andere schwieg einen Augenblick. Dann sagte er mit fester Stimme, als ob sich's um etwas Alltägliches oder Selbstverständliches handle, er sei gekommen, Demoiselle König zu fragen, ob sie seine Frau werden wolle.

Armand starrte ihm ins Gesicht, als habe er einen Menschen vor sich, der plötzlich irrsinnig geworden sei. Als Everard aber ruhig hinzusetzte, er bitte, ihm sogleich eine Unterredung mit seiner Schwester verschaffen, alles Übrige werde sich aufklären, fand der junge Mann keine andere Antwort, als, er selbst habe eben in den Weinberg hinaufgehen und nach der Schwester sehen wollen. Wenn Monsieur Everard ihn begleiten wolle, könne er sein Anliegen selbst ausrichten.

So schlugen die Beiden den Weg nach dem Weinberg ein. Keiner sprach ein Wort, Armand immer in seine grübelnden Gedanken versenkt, wie es dazu gekommen sein könne, daß dieser Everard plötzlich einen solchen Entschluß gefaßt habe, nachdem er sich so unverantwortlich gegen Victoire betragen. So oft er aber einen verstohlenen Blick auf seinen schweigsamen Begleiter warf, mußte er sich sagen, daß von einer flüchtigen Laune desselben keine Rede sein konnte, so ruhig entschlossen waren seine Züge.

Es sah traurig aus zwischen den Rebstöcken. Die Regenfluten hatten tiefe Furchen im Erdreich gegraben, hie und da lagen die Wurzeln entblößt, die Pfähle schief gesunken oder herausgeflößt, die Ranken vom Schaft gerissen und über den Boden geschleift. Doch der Gedanke, wie viel Arbeit es kosten würde, die Verwüstung wieder gut zu machen, kam keinem der beiden Männer, während sie hastig die Stufen hinaufstiegen. Beide dachten nur das Eine, wie das einsame Mädchen droben die Botschaft, die sie ihr brachten, aufnehmen würde.

Als sie bei dem Winzerhüttchen angelangt waren, fanden sie es von innen verschlossen. Armand klopfte an die Thür und rief Victoire's Namen. Schläfst du noch, petite soeur? Öffne geschwind, du bekommst Besuch. Oder machst du Toilette? Du brauchst keine Umstände zu machen, es ist nur ein guter Freund bei mir, der dir etwas Wichtiges zu sagen hat.

In der Hütte blieb es ganz still. Sie wird die ganze Nacht kein Auge zugethan haben während des tobenden Wetters und ist erst vor Kurzem in einen bleiernen Schlaf gesunken, sagte Armand. Das arme Kind! Auf dem schmalen Bänkchen war sie schlecht gebettet. Aber wir müssen doch hinein. Die alte Thür wird nicht großen Widerstand leisten.

Er faßte den Thürgriff und rüttelte heftig daran. Wirklich gelang es ihm mit einem starken Ruck, das schwache Schloß aus den Fugen zu reißen. Als sie aber über die Schwelle traten, starrte ihnen das leere Dunkel entgegen.

Victoire! Petite soeur! rief der Bruder. Wo hast du dich versteckt? Wach auf! Hier ist der Monsieur Everard, der dich fragen will – –

Jesus Maria! schrie er plötzlich und stürzte nach der Rückseite der Hütte, wo das schmale Bänkchen stand. Da sah er in dem düsteren Schatten die Gestalt der Schwester am Boden liegen, den Kopf auf das Lederpolster zurückgelehnt, als wäre sie von dem Sitz herabgeglitten und so vom Schlaf festgehalten worden. Die Augen aber standen weit offen mit einem starren Ausdruck des Grams, während die rechte Hand unter dem rothen Shawl nach der Brust gegriffen hatte. Als Armand mit bebender Hast die Falten zurückschob, sah er, daß die weiße Hand den Griff des Messers umkrampft hielt, das tief ins Herz eingedrungen war. Nicht ein Tropfen Blut hatte das weiße Kleid besprengt.

Ein Jammerlaut drang von den Lippen des Bruders. Er brach einen Augenblick in die Kniee zusammen, raffte sich aber gewaltsam wieder auf und versuchte, die regungslose Gestalt aufzuheben und auf das Bänkchen niederzulegen. Als seine Kraft dazu nicht reichte, sah er sich, um Hülfe zu finden, nach seinem Begleiter um. Der lag mit dem Kopf zurückgesunken in tiefer Ohnmacht über die Schwelle des Häuschens gestreckt und gab kein Zeichen des Lebens von sich.

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