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Auf Tod und Leben.

(1885.)

 

Im grünsten, haldenreichsten Thale des Prättigau, rings von hohen Berggipfeln umschirmt und reich an Laubholz und Föhrenwäldern, liegt das Dorf Klosters, dessen Geschichte bis in das dreizehnte Jahrhundert hinaufreicht, das aber gleichwohl lange Jahre hindurch nicht mehr von sich reden machte, bis es eines Tages aus seiner Verschollenheit wieder hervortrat und seitdem neben den berühmteren Sommerasylen der Ostschweiz eines bescheidenen, aber wohlbegründeten Rufes genießt. Die wandernden Fremdlinge, die es entdeckten, fanden nämlich, daß sich hier oben, viertausend Fuß über dem Meere, in der schwülen Jahreszeit gut hausen lasse, weil die Sonnenglut, die an den gewaltigen Bergwänden zwischen dem Casanna und Silvretta in den breiten Alpenkessel niedertrieft, regelmäßig um die zehnte Morgenstunde durch einen frischen Wind gekühlt wird, der aus dem sanft ansteigenden, von Nord nach Süd gelagerten Thalgrunde herauskommt und anhält, bis die Sonne sich gegen den Bergrand neigt. Dazu gesellt sich der frische, feuchte Hauch, der das Flüßchen Landquart begleitet, welches, vom Silvretta-Gletscher genährt, sich zuerst in sanftem Fall durch den oberen Theil des Wiesenlandes ergießt, dann, unter Klosters-Brücke hindurchströmend, eine scharfe Biegung nach Norden macht und in schäumendem Sturz in den üppig grünenden Thalgrund hinunterrauscht. Dicht neben der Brücke steht der älteste Gasthof des Ortes, Hôtel Silvretta genannt, hundert Schritte aufwärts zwei andere Hôtels, behaglich eingerichtet und mit hoffnungsvollen Anpflanzungen umgeben. Auch flüchten die Sommergäste während der heißen Mittagsstunden gern in das Erlenwäldchen hinab, das an beiden Ufern der Landquart sich weit ins Thal hinaus erstreckt, und wo es lieblich ist, im leichten Schatten die sprühende Frische des Gletscherwassers zu athmen und, durch das Wellenrauschen in einen Halbtraum gewiegt, zu denken, daß zu dieser Zeit im Tieflande drunten die minder glücklichen Sterblichen in Staub und Hundstagsglut verschmachten müssen.

Nun ist es noch nicht gar lange her, daß an einem Hochsommertage in diesem gesegneten Weltwinkel drei Menschen sich zusammenfanden, die schon in der ersten Stunde sich so wohlgefielen, daß sie etliche Wochen hindurch unzertrennlich waren, obwohl sie sich vor dieser Zeit nicht einmal dem Namen nach gekannt hatten. Sie waren, da sie in verschiedenen Hôtels wohnten, sich erst in dem Erlenwäldchen unten begegnet, hatten aber schon denselben Nachmittag einen weitläufigen Spaziergang miteinander gemacht und für den folgenden Tag eine gemeinsame Fahrt nach der Alp Novai verabredet. Seitdem verging kein Tag, wo man nicht das junge Paar, den Hauptmann Rüdiger, der im Hôtel Brosi wohnte, und das schöne Freifräulein Lucile von Berningen, das im Hôtel Silvretta einquartiert war, in der Mittagsstunde am Flüßchen auf und ab lustwandeln oder auf einer der zahlreichen Bänke plaudernd beisammensitzen sah, während der alte Baron einer seiner vielen Liebhabereien nachging, mit der Angel den Forellen im Gletscherbach auflauerte, botanische Studien auf der Wiese trieb, oder in einem Zeichenbüchlein leidenschaftliche Versuche machte, einen Heustadel oder ein paar wunderlich gekrümmte Erlenstämme nachzubilden. Es konnte nicht fehlen, daß unter den Kurgästen, die nicht viel Wichtigeres zu thun hatten, als über ihre Nebenmenschen Glossen zu machen, das stete Beisammensein dieser drei Menschen zu eifrigem Gerede und Geraune Anlaß gab, um so mehr, als diese selbst sich ausschließlich mit sich beschäftigten und von ihrer sonstigen Umgebung wenig Notiz nahmen. Doch war im Grunde nichts Unerhörtes dabei, daß ein ritterlicher Mann, nicht mehr in den jüngsten Jahren, einem schönen Fräulein unter den Augen ihres Vaters den Hof machte. Als es daher in die vierte Woche ging, verlor dies Thema den Reiz der Neuheit, und man hörte auf, in den Damensalons, bei den Crocketpartien und an den runden Kaffeetischen im Garten von einem Verhältniß zu sprechen, das mit der Zeit so selbstverständlich erschien, als wenn es sich um ein verlobtes Paar und den künftigen Schwiegerpapa gehandelt hätte.

Wer aber als unsichtbarer Zeuge dem Paar auf Schritt und Tritt gefolgt wäre, würde zu seinem Erstaunen nie ein Wort vernommen haben, das jenen Verdacht eines zärtlichen Einverständnisses bestätigt hätte. Auch in Blick und Geberde ging der Hauptmann nie über die Grenze einer ehrerbietigen Courtoisie hinaus, und auf dem hellen Gesicht des schönen Mädchens war nie der Schatten einer Befangenheit oder leidenschaftlichen Spannung zu entdecken, wie sie in kritischen Zeiten, wo es sich um entscheidende Lebenswendungen handelt, ein weibliches Gemüth zu bedrängen pflegen. Was sie miteinander sprachen, hätte jeder Dritte hören können, und das anmuthige harmlose Lachen, das oft von den Lippen des Fräuleins kam, mußte Jeden beschämen, der an einen heimlichen oder eingestandenen Liebeshandel der beiden Leutchen gedacht hatte.

So saßen sie wieder eines Mittags beieinander auf einer der Bänke im Wäldchen, von wo sie die blühende Halde, die zum Dorf hinaufsteigt, überblicken und den alten Herrn im Auge behalten konnten, der in seinem hellen Sommerhabit mit dem großen Strohhut unter dem Schattendach der letzten Wipfel auf einem Feldstühlchen hockte und eifrig bemüht war, den ganzen Umriß des Ortes sammt Kirchthurm und Berghintergrund in sein Skizzenbuch zu kritzeln. Es war schon leer geworden in dem kühlen Revier. Die Meisten hatten ihre Zimmer aufgesucht, um sich für die Mittagstafel umzukleiden. Lucile, in ihrem zierlichen Morgengewande, den Hut über die Lehne der Bank gehängt, war noch in ihre Stickerei vertieft, während der Hauptmann tiefsinnig neben ihr saß, die kleinen Strähnchen vielfarbiger Seide in der Linken, mit der Rechten sich mühend, die verworrenen Fäden zu schlichten. Er sah seine Nachbarin nicht an, und Beide hatten seit einer Viertelstunde kein Wort mit einander gewechselt.

Plötzlich ließ sie die Leinwand, die sie mit bunten Seidenblumen bedeckte, in den Schooß sinken und sah auf, erst zu dem zeichnenden Vater hinüber, dann über das Flüßchen hinweg nach dem anderen Ufer, wo auf einer ziemlich versteckten Bank eine weibliche Figur in einem blauen Kleide, halb unterm Gezweig verborgen, zu entdecken war. Dann wandte sie sich zu ihrem Nachbarn, der mit düsterem Gesicht auf seine Handarbeit starrte, und sagte plötzlich:

Haben wir nicht gerade Mittag? Und steht um Zwölf die Sonne nicht im Zenith, so daß, wenn man einen Stock in die Erde stößt, er keinen Schatten wirft?

Der Hauptmann fuhr auf, mit einem zerstreuten, nur halb wachen Blick, wie Jemand, der durch einen leichten Schlag aus tiefen Betrachtungen aufgeschreckt wird. Er sah das Fräulein befremdet an, ohne ein Wort zu erwidern.

Aus welchem fernen Welttheil kehren Sie zurück, lieber Freund? fuhr Lucile lachend fort. Geben Sie mir den grünen Faden da, den Sie so unbarmherzig zerzausen. Sie sind heute nicht gut gelaunt, Sie mißhandeln meine armen Seidensträhnchen, die zum Glück fühllos sind, aber Sie vernachlässigen auch ganz herzlos die blaue Dame, die leider nur allzu gefühlvoll ist, und der Sie heute noch keinen Blick geschenkt haben.

Die blaue Dame? fragte er, indem er immer noch wie geistesabwesend umherblickte.

Sehen Sie sie nicht da drüben sitzen und unverwandt herüberspähen? Sie wissen ja, daß sie mein Schatten ist, den ich nur kurz vor Tisch verliere, weil sie da große Toilette macht zur table d'hôte. Und heute bleibt sie mir unerschütterlich treu und spottet aller Gesetze der Physik und Astronomie.

Er antwortete nicht gleich, sah auch nicht nach der Bank am anderen Ufer, sondern bohrte die Spitze ihres kleinen Sonnenschirmes, der zwischen ihnen an der Bank lehnte, so tief er konnte in den Kiesgrund; dann seufzte er mit einem trübsinnigen Lächeln, das gleich wieder verschwand.

Ich mache es nicht besser, sagte er. Auch ich folge Ihnen ja wie Ihr Schatten und respectire heute nicht einmal die Mittagsstunde.

Der Ton, in welchem er sprach, war ihr offenbar ungewohnt. Sie sah ihn mit einem prüfenden Blick von der Seite an, zog dann aber einen neuen Faden in ihre Nadel und erwiderte, indem sie scheinbar gleichmüthig fortarbeitete:

O Sie! Mit Ihnen ist es etwas Anderes. Sie sind ein freundschaftlicher Schatten, und wenn wir Sie verlören, würden wir uns wie rechte Schlehmile vorkommen. Und Sie sind brünett, wie ein richtiger Schatten sein soll, nicht bloß von Haar und Teint, sondern auch von dunkler Gemüthsart, heute besonders. Die Schildwach da drüben aber – ich sollte nachgerade daran gewöhnt sein, einen solchen blauen Schatten mir auf den Fersen folgen zu lassen; manchmal aber wird er mir doch lästig, und das Mitleid mit dem armen Geschöpf verwandelt sich in Aerger und Ungeduld darüber, beständig mit Feindesblicken angegafft zu werden.

Er sah nun auch nach der Bank hinüber, wo der blaue Fleck unbeweglich, von spielenden Sonnenlichtern überflogen, unter den Zweigen saß.

Feindesblicke? wiederholte er langsam. Sie thun ihr doch wohl Unrecht. Was hätten Sie ihr zu Leide gethan? Ich denke, es sind nur Neugierblicke, mit denen sie Sie verfolgt. Sie steht hier ganz allein, Niemand kümmert sich um sie, da kümmert sie sich denn um Alle.

Meinen Sie? Es ist hübsch von Ihnen, daß Sie sich der verlassenen Jungfrau so ritterlich annehmen. Aber glauben Sie mir, wir Frauen verstehen uns besser darauf, die Fehler und Tugenden an unserm eigenen Geschlecht zu würdigen. Diese blonde Unheimliche, der ich sonst nichts Böses nachsagen will, auf mich hat sie einen tödtlichen Haß geworfen. Wir fanden Sie hier vor, da wir vor einem Monat ankamen. Sie saß bei Tische neben einem jungen Mann, der sie sehr zu verehren schien, da sie die edelsten Gesinnungen und Gefühle zu äußern liebt und eine Menge guter Bücher halb auswendig weiß. Ich hatte das Unglück, die Aufmerksamkeit ihres Nachbarn auf mich zu ziehen; wir entdeckten, daß wir gemeinsame Freunde hatten. Seitdem theilte er sein Herz zwischen uns Beiden, was sie mir nicht vergab, und reis'te endlich ab, indem er nicht einmal die eine Hälfte seines Herzens in ihrem Besitze ließ. Darauf kam ein junger Maler, der ihr offenbar sehr gefiel, was er aber nicht erwiederte. Sie hatte mich im Verdacht, ihn ihr abtrünnig zu machen, obwohl es nur Papa war, der sich näher mit ihm einließ, um Kunstgespräche mit ihm zu führen und das Geheimniß von ihm herauszulocken, wie man das Wasser eines Wildbachs skizzirt. Am erbittertsten machte sie die Erfahrung, daß ein Professor, den sie hier erwartete, von dem sie als einem theuren Jugendfreund schon viel erzählt hatte, sich offenbar ein wenig in mich verliebte. Sie veranstaltete eine förmliche Intrigue, damit er Hals über Kopf wieder abreisen mußte, und seitdem ist sie meine Todfeindin, der ich das Leben retten könnte, und sie bisse mir zum Dank in den Finger. Ich habe Ihnen nie davon gesagt. Vielleicht, dacht' ich, gefällt sie Ihnen, und Sie halten sie schadlos für so viele Enttäuschungen. Dann wollte ich ihrem Glück nicht im Wege stehen.

Sie sah ihn schalkhaft von der Seite an. Auf seinem männlich schönen stark gebräunten Gesicht war aber kein Zug von Heiterkeit zu entdecken.

Das arme Wesen! sagte er vor sich hin, ohne sich viel dabei zu denken.

Sie schwiegen dann eine Weile. Lucile stickte eifrig weiter, und er betrachtete wie gebannt die schlanken weißen Finger, die so klug und ernsthaft ihr Werk verrichteten.

Wissen Sie, sagte sie auf einmal, ohne aufzublicken, daß ich diese meine intime Feindin eigentlich mehr bewundere als bedaure? Sie hat etwas Heroisches in ihrem Charakter, zu dem ich hinaufstaune. Sie will heirathen, um jeden Preis. Gehört da nicht ein Muth dazu, der noch weit größer ist, als wenn ein Offizier um jeden Preis eine feindliche Schanze stürmen will?

Beides ist ein Wagestück auf Leben und Tod. Aber wenn Sie sich auf einen Feind stürzen, dessen Stärke Sie nicht genau kennen, so entscheidet sich's in einer kurzen Stunde, ob Sie siegen oder unterliegen. Ein Mädchen aber, das einen Mann haben will, bloß um eine Frau zu werden, ohne durch äußere Noth dazu gedrängt zu sein, muß die nicht dreifaches Erz um die Brust haben? Denn wenn es nicht glücklich ausfällt, was sie auf Tod und Leben unternommen – hat der Tod kommt so langsam, und das Leben ist so unerbittlich. Meinen Sie nicht auch?

Er nickte vor sich hin. Gewiß! sagte er. Aber wer sagt Ihnen, ob Ihr blauer Schatten nicht vielleicht aus purer Desperation das Wagestück unternehmen will, nur um nicht ewig zur Schattenrolle verurtheilt zu sein, sondern auch endlich etwas für sich vorzustellen? Oder sie hat ein Herz, das auf jede Gefahr sich an ein anderes hingeben will, weil selbst die unholdeste Gesellschaft ihm lieber wäre als die Einsamkeit?

Lucile ließ die Hände in den Schooß sinken und sah nachdenklich vor sich hin.

Es mag so sein, versetzte sie. Ich will ihr alles Gute zutrauen, obwohl ich noch kein Zeichen an ihr gesehen habe, das auf ein bedürftiges Herz deutete. Sie kann an Kindern vorbeigehen, ohne sie nur anzublicken, geschweige sie zu liebkosen, und vor Hunden hat sie erklärten Abscheu. Dennoch bleibt es mir unfaßbar, wie man dem Ersten Besten sein Leben anvertrauen kann, den man nur zweimal gesprochen, ohne daß man jenen übermächtigen Zug der Seele empfindet, der aller Hindernisse und Gefahren spottet. Mein Gott, wenn ich denke, die langen Tage, Wochen, Monate und Jahre mit einem einzigen Menschen verbunden zu sein, der nicht so natürlich zu einem gehört, wie die linke Hand zur rechten –! Ich bin immer nur froh, daß ich nicht in die Gefahr kommen kann, das zu erleben.

Sie nicht? warum Sie nicht Fräulein Lucile? Haben Sie das Gelübde gethan, nie zu heirathen?

Nein, lieber Freund, sagte sie mit stillem Lächeln, das halb geheimnißvoll, halb schwermüthig um ihre schönen rothen Lippen schwebte, Gelübde derart soll man ja nicht thun, weil sich dann sofort die Versuchung meldet, sie zu brechen. Aber wie Sie uns kennen gelernt haben, werden Sie doch begreifen, daß sich die Sache ohne alle Feierlichkeit von selber versteht. Wie soll ich es je übers Herz bringen, mein großes Kind in der Welt allein zu lassen? Und wo fände sich ein Mann, der eine solche Zugabe in seine junge Ehe sich gefallen ließe?

Indem sie dies sagte, blickte sie zu dem kleinen Herrn hinüber, der noch immer auf dem Feldstühlchen saß und es gar nicht bemerkte, daß die höhersteigende Sonne ihn im Rücken überfallen hatte und schwer auf seinen Nacken niederstrahlte. Nur die Halsbinde hatte er gelockert und wischte sich mit seinem Tuch die Schweißtropfen von der Stirn, die unter dem Strohhut vordrangen und hin und wieder schon auf die Zeichnung niederfielen.

Seine Tochter war augenblicklich bei ihm. Du mußt mehr in den Schatten rücken, Papa, sagte sie, indem sie ihn mit sanfter Gewalt aufzustehen nöthigte. Siehst du, hier an dem breiten Stamm hast du eine prächtige Lehne. Aber willst du nicht lieber aufhören und morgen das Blatt fertig machen?

Ich habe nur noch das bischen Vordergrund zu entwerfen, Kind, sagte der eifrige alte Kunstjünger. Morgen ist da vielleicht ein Wolkenschatten, der Alles verändert. Wie findest du den Entwurf?

O, sehr schön! erwiderte sie ganz ernsthaft. Sehen Sie doch einmal, Herr Hauptmann, Papa ist beinah schon fertig mit dem ganzen Dorf. Finden Sie nicht auch, daß er Fortschritte macht?

Sie hielt dem Freunde das Büchlein hin, der es mit höflichem Kopfnicken betrachtete. Es war eine sehr kindliche Strichelei auf grauem Papier, die beleuchteten Stellen mit weißer Farbe aufgehöht, auch am Himmel das Weiß nicht gespart, was dem Ganzen auf eine gewisse Entfernung den Anstrich einer kecken Studie gab.

Nur Eins, Papa, sagte Lucile, indem sie die Zeichnung abermals sorgfältig zu studiren schien, dein Dorf rutscht den Abhang hinunter. Du hast den Thurm nach links geneigt, und alle übrigen senkrechten Linien haben sich danach gerichtet. Dem ist aber leicht abzuhelfen. Wart' einen Augenblick.

Sie sprang nach ihrem Arbeitskörbchen, nahm eine Scheere heraus und machte sich daran, das Blatt ringsum zu beschneiden, so daß die Thurmwände in den rechten Winkel zu stehen kamen. Der alte Herr, der zuerst etwas ängstlich zugesehen, da sie mit seinem Kunstwerk so eigenmächtig verfuhr, küßte sie hocherfreut auf die Wange, als sie ihm das gerichtete und gerettete Blatt zurückgab. Du bist eine Tausendkünstlerin, Lucile! rief er. Was finge ich ohne dich an? Sehen Sie nur, lieber Rüdiger, nun ist Alles in Ordnung. Ich hätte es sonst umzeichnen müssen, und die Frische des ersten Striches, die bei Skizzen den Hauptreiz ausmacht, wäre verloren. Nur noch zehn Minuten, so bin ich fertig.

Er hockte sich wieder auf seinen niedrigen Sitz, und sein Stift fuhr aufgeregt über den unteren Rand des Blattes, an welchem allerlei Wasserpflanzen und Gräser sprießen sollten.

Lucile ließ noch eine Weile ihre Augen auf ihm ruhen mit einem fast mütterlichen Ausdruck, wie auf einem geliebten Kinde, das ganz in ein harmloses Spiel vertieft ist.

Haben Sie es nun gehört? sagte sie leise. Was finge er ohne mich an! Und er hat ganz Recht. Sein Leben würde allen Halt verlieren. Solange die Mama noch lebte, an der er so rührend hing, hatte er doch noch eine Aufgabe: ihr die Hände unter die Füße zu legen. Sie verdiente es auch. Sie übersah ihn weit und ließ es ihn doch nie empfinden, weil seine unergründliche Güte ihr doch Mehr gab, als manch höherer und reicherer Geist ihr vielleicht geboten hätte. Und dann: sie war eine Französin und verstand bis an ihr Ende kein Deutsch, und so erkannte sie nie so recht seine Grenzen, den Geist kann man doch nur in seiner Muttersprache haben. Und daß er eigentlich nie eine ernste Beschäftigung gehabt, fiel ihr auch nicht auf, weil sie Beide an unserm kleinen Hofe lebten und Hofdienst immer für etwas außerordentlich Wichtiges angesehen wird, obwohl im Grunde Alles darauf hinausläuft, mit ernsthaftem Anstande um taube Nüsse zu spielen, als ob Kerne darin wären, nur um die Satisfaction zu genießen, daß man mit an dem hohen Spieltisch sitzen darf. Meine beiden Eltern waren in großer Gunst bei den Herrschaften; auch mir stand das vielbeneidete Loos bevor, irgend eine Hofdamenstelle zu erhalten, dafür wurde ich aufs Beste erzogen in einem hochadligen Institut – und plötzlich brachen die Weltgeschicke herein, die auch in unserem kleinen Fürstenthum das Unterste zu oberst kehrten, und mein armer Papa, der bisher ein so vielgeschäftiges, verantwortliches Leben geführt hatte, mit lauter Pflichten ausgefüllt, die sich um glänzende Nichtigkeiten drehten, hatte auf einmal keinen Lebenszweck mehr. Wären die kleinen Künste nicht gewesen, die er bisher zur Unterhaltung der höchsten Herrschaften betrieben, so hätte er in der traurigsten Langenweile seine Tage hinbringen müssen. Aber glauben Sie mir: so heiteren Temperaments er erscheint, ein Fond von Melancholie ist in ihm, die nur seine liebenswürdige Frau zuweilen zerstreuen konnte, und seit ihrem Tode seine Tochter, über deren Tyrannei er sich zuweilen beklagt, die er aber doch nicht entbehren könnte, und wenn man ihm ein Königreich böte und ein Heer von dienstbaren Geistern – die er freilich nicht zu regieren verstände.

Er schwieg beharrlich und bohrte wieder mit dem Sonnenschirm in die Erde. Sie warf ihm einen befremdeten Blick zu.

Finden Sie es unkindlich, daß ich so von meinem Vater spreche? fragte sie nach einer Weile. Glauben Sie nicht, daß man Jemand sehr lieben und doch alle seine Schwächen klar erkennen kann? Warum sind Sie heute so stumm? Ich habe durch irgend etwas Ihr Mißfallen erregt – nein, leugnen Sie es nicht. Sagen Sie mir lieber, was es war. Ich bin es gewöhnt, daß Sie sich über Alles offen gegen mich aussprechen. Warum nicht über mich selbst? Sie wissen doch, daß ich weder eitel noch empfindlich bin und ein leidenschaftliches Bedürfniß nach Wahrheit habe.

Er stand auf. Sein Gesicht war noch düsterer geworden als vorher.

Theuerstes Fräulein, sagte er, Sie irren durchaus, wenn Sie glauben, irgend Etwas hätte mich gegen Sie verstimmt. Sie sollten wissen, daß das unmöglich ist. Wenn ich Ihnen zerstreut und unfroh erscheine, so hängt das freilich auch mit Ihnen zusammen. Wir müßten diese ganze Zeit nicht Alles so traulich miteinander getheilt haben, einander nicht so freundschaftlich nahe gekommen sein, wenn – wenn der Abschied mir gleichgültig sein sollte.

Der Abschied?

Sie wandte sich hastig nach ihm um, als ob sie in seinen Augen lesen wollte, daß er in vollem Ernst gesprochen habe.

Ja, Fräulein Lucile, fuhr er mit sichtbarer Anstrengung fort, es ist so – es muß endlich sein – ich habe es von Tag zu Tage hinausgeschoben – ich fürchtete mich davor wie vor einer grausamen Operation – warum es mir so schwer wird, können Sie freilich nicht ganz verstehen, aber ein wenig werden doch auch Sie mich vermissen – ich hoffe wenigstens, fügte er mit einem mühsamen Lächeln hinzu, ich habe mich so gut aufgeführt, daß Sie mir zum Abschied eine gute Censur nicht versagen werden.

Sie verwandte keinen Blick von ihm, während er die Augen am Boden haften ließ.

Und warum müssen Sie schon fort? fragte sie endlich. Sie sagten doch, Sie seien völlig frei, auch Ihr Töchterchen bei den Großeltern so gut aufgehoben, daß es Ihrer nicht bedürfe. Irgend Etwas muß sich plötzlich ereignet haben, was Ihnen diesen Aufenthalt und unser friedliches Beisammensein verleidet. Darf ich es nicht wissen? Aber verzeihen Sie: wenn ich es wissen dürfte, würden Sie es mir ja wohl sagen. So reisen Sie denn. Ich entbinde Sie Ihres Wortes, mir meine Seidenfäden nachzutragen, bis die Decke hier fertig geworden. Obwohl – es ist doch schade drum. Wir haben uns gut miteinander vertragen.

Sie verstummte, da sie wohl fühlte, daß der scherzhafte Ton, zu dem sie sich gezwungen, nicht natürlich klang. In diesem Augenblick hörten sie vom Hôtel Silvretta aus die Glocke läuten, die zu Tische rief.

Der Zeichner stand eilfertig auf, klappte sein Büchlein zusammen und kam auf die Bank zugeschritten, von der Lucile sich erhoben hatte.

Kind, rief er, es ist die höchste Zeit! Wir werden wie gewöhnlich die Letzten sein.

Ich denke mich nicht umzukleiden. Papa, erwiderte sie nun wieder mit ihrer ruhigen Stimme, indem sie die Arbeit zusammenlegte. Aber was sagst du, Papa: unser Freund will fort. Er hat soeben Abschied von mir genommen.

Das gute runde Gesicht des alten Herrn nahm plötzlich einen hülflos erschrockenen Ausdruck an.

Fort? Unser Hauptmann? Und der Abschied so ganz vom Zaune gebrochen? stammelte er.

Es muß endlich einmal sein, versetzte Jener und reichte dem kleinen Manne herzlich die Hand. Ich will Ihnen keine Gründe angeben, die aus der Luft gegriffen wären. Es sind keinerlei Geschäfte, keine Nachrichten von zu Hause, die mich eilig zurückriefen. Im Gegentheil gedenke ich noch eine Zeit lang herumzustreifen, etwas höhere Regionen aufzusuchen, da mir hier im Thale – wie soll ich es sagen? – es klingt seltsam, wenn man ein baumstarker Mensch und ein Soldat ist – aber die Luft sagt mir hier nicht zu, ich schlafe jede Nacht schlechter und esse immer weniger – ich will heute Abend noch fort und in Davos übernachten.

Heute schon? O, das ist wirklich fatal! Und unsere Gletscherpartie? Und die Fahrt nach Spina? Lucile, du solltest den Herrn Hauptmann doch bitten –

Der Herr Hauptmann wird wissen, was er thun und lassen muß, Papa. Findest du nicht auch, daß er angegriffen aussieht? Und er ist nicht mehr so heiter wie in der ersten Zeit. Es wäre sehr selbstsüchtig von uns, wenn wir uns bemühten, ihn festzuhalten, bloß der angenehmen Gesellschaft wegen. Reisen Sie glücklich, Herr Hauptmann, und versprechen Sie nur, einmal ein Wort zu schreiben. Wir wüßten gern, ob Sie sich in Ihren höheren Regionen erholt haben. Nicht wahr, eine Postkarte können Sie an zwei Menschen wenden, die es aufrichtig gut mit Ihnen meinen?

Er ergriff Ihre Hand, die sie ihm mit sichtbarer Erregung entgegenstreckte, und drückte sie lebhaft. Das Wort, das er erwidern wollte, erstarb ihm auf den Lippen. Dann gab er die Hand wieder frei und setzte den Hut auf.

Und das soll der ganze Abschied sein? rief der Baron und schüttelte höchst unwillig das Haupt. Nein, das lass' ich nicht zu. Sie müssen heute noch durchaus mit uns essen, ein kleines Henkersmahl in einem aparten Zimmer und eine Flasche Schweizer Champagner, den Sie sonderbarerweise trinkbar finden. Dann auf ein fröhliches Wiedersehen angestoßen und was sonst dazu gehört. Mort de Dieu, man geht doch nicht vier Wochen so brüderlich miteinander um und läßt sich dann sans façons laufen wie eine erste beste Eisenbahnbekanntschaft!

Sie sind die Güte selbst, erwiderte der Hauptmann, und ich werde als ein recht ungeschliffener, undankbarer Mensch vor Ihnen dastehen, wenn ich gleichwohl bitte, es bei unserem Abschied hier im Wäldchen bewenden zu lassen. Ich habe in der That noch einen wichtigen Brief zu schreiben und möchte den Weg nach Davos dann beizeiten antreten, zu Fuß; meinen Koffer kann Abends die Post nachbringen. Bestehen Sie nicht auf einer Verlängerung meiner Abschiedswehen, bester Freund. Ich kann nichts weniger ertragen als Aufschub einer traurigen Nothwendigkeit. Für all Ihre Güte und Freundschaft – Sie haben mir so unvergeßlich schöne Tage bereitet –

Er stockte und sah zu Boden. Dann ergriff er noch einmal beide Hände des ganz versteinerten alten Herrn, schüttelte sie herzhaft, verneigte sich leicht gegen die Tochter und wandte sich hastig hinweg.

Sie sahen ihn über das Brückchen schreiten und am anderen Ufer hineilen, ohne noch einmal umzublicken. Die Dame in Blau erhob sich, sobald er an ihr vorüber war.

Laß uns gehen, Lucile, sagte der alte Herr mit einem Seufzer. Curioser Mensch, der Hauptmann! Wenn er mich jetzt plötzlich um deine Hand gebeten hätte, ich wäre weniger dadurch überrascht worden, als daß er so de but en blanc auf und davon geht. Hast du dich mit ihm gezankt? Aber wie könnte irgend ein Mensch dir etwas übelnehmen! Nun, du wirst dich jetzt wieder mit deinem langweiligen alten Papa allein behelfen müssen.

*

Der Hauptmann war mit starken Schritten, wie wenn er einem unsichtbaren Verfolger entfliehen wollte, die Straße hinaufgeeilt, die nach dem Hôtel Brosi führt. Als er droben in sein heiteres Zimmer trat, das, an der Ecke gelegen, von der Morgen- und Mittagssonne durchstrahlt wurde, schloß er sofort die Fensterläden, so daß plötzlich eine goldene Dämmerung ihn umgab. Hierauf warf er sich wie ein tief erschöpfter Mann auf einen Stuhl und lag wohl eine halbe Stunde mit geschlossenen Augen, während ihm das Blut in den Schläfen klopfte und seine Zunge fieberhaft am Gaumen klebte. Er hörte unten die Tischglocke durchs Haus schallen, blieb aber regungslos sitzen. Erst nach einer geraumen Zeit besänftigte sich sein stürmendes Blut. Er erhob sich schwerfällig und begann durch das dunkle Zimmer langsam auf und ab zu schreiten. Auf seinem Tische stand noch eine angebrochene Flasche Veltliner Wein; die trank er nach und nach im Vorüberwandeln in kleinen Zügen aus und fühlte sich endlich ein wenig besser. Er stieß den Laden des einen Fensters auf, das nach Süden gegen die Brücke und das Silvretta-Hôtel sich öffnete. Ein Fenster in diesem, nach welchem er täglich seine Blicke zu richten pflegte, war fest geschlossen. An manchem Morgen hatte er wohl eine Stunde lang gewartet, bis eine wohlbekannte Hand den Laden drunten zurückstieß, um die erfrischende Morgenkühle hereinzulassen. Jetzt war es ihm fast lieb, daß nichts mehr dort sich regte. Er klingelte und ließ sich etwas zu essen herausbringen. Er konnte es nicht über sich gewinnen, unter den vielen gleichgültigen Gesichtern unten im Speisesaal sich blicken zu lassen. Als er dann seinen geringen Hunger gestillt hatte, zog er seinen Koffer hervor und fing an einzupacken, in großen Pausen, während deren er mitten im Zimmer stand oder saß und, irgend ein Stück seiner Habseligkeiten in der Hand, träumerisch vor sich hin sah. Immer war es, als zupfe ihn Jemand am Arm, ihn von einem unseligen Beginnen freundschaftlich zurückzuhalten. Doch brachte er das Geschäft endlich nothdürftig zum Schluß; nur sein Schreibgeräth hatte er noch draußen gelassen und setzte sich nun, einen schweren Seufzer tief aus der Brust heraufholend, an den Tisch neben dem Fenster, um folgenden Brief zu schreiben:

 

»Mein theures, innig verehrtes Fräulein!

Vielleicht wäre es besser, ich hielte Alles, was ich Ihnen noch zu sagen wünschte, zurück und ließe Sie in dem Glauben, irgend eine wunderliche Laune hätte mich plötzlich bestimmt, dem Glück Ihrer Nähe zu entsagen. Denn was mich heute von Ihnen treibt, wird Ihnen, da ich das letzte Wort unausgesprochen lassen muß, nicht minder räthselhaft erscheinen als die Erklärung, die ich Ihrem Vater gab, ein Luftwechsel sei mir dringend nöthig. Sie haben freilich diese kümmerliche Ausrede sofort durchschaut. Mit Ihrem hellen Blick waren Sie zu lange gewohnt, jede Regung in meinem Inneren zu erkennen, um nicht zu wissen, daß mein jäher Abschied einen tieferen Grund haben muß als eine physische Verstörung. Und doch sprach ich nicht die Unwahrheit. Ich habe wirklich seit einer Woche Schlaf und Eßlust verloren. Aber die Luft dieses schönen Thalgrundes trägt nicht die geringste Schuld daran, nur die Staffage der Landschaft, und zwar von Allen, die sie bevölkern, nur eine einzige Person.

Muß ich sie Ihnen nennen? Haben Sie nicht bei aller anspruchslosen Meinung, die Sie von Ihrem eigenen Werthe hegen, längst herausgefühlt, wie sehr ich Ihnen zugethan bin? Ich darf mir nachsagen, daß ich mich vom ersten Augenblick an, wo ich dies erkannte, streng überwacht und mir jedes Wort, jedes noch so erlaubte Zeichen meines innersten Gefühls versagt habe.

Und doch müßten Sie nicht Die sein, die Sie sind, mit dem unbestechlichen reinen Instinct für alles Menschliche begabt, wenn es Ihnen ein Geheimniß geblieben wäre, daß ich eine tiefe, leidenschaftliche Neigung zu Ihnen gefaßt habe, die durch jede gemeinsame Stunde dieser wundersamen Tage, jede einsame Meditation meiner Nächte nur heller angefacht wurde.

Da Sie mich öfters Ihren ›Freund‹ genannt, darf ich, muß ich nun auch hinzufügen, daß ich mich des beglückenden Gefühls nicht erwehren konnte, auch Ihnen nicht gleichgültig zu bleiben, wenn ich auch die thörichte Einbildung nicht hege, einen ebenso unauslöschlichen Eindruck auf Sie gemacht zu haben, Ihnen ebenso unentbehrlich, unschätzbar, unvergleichbar erschienen zu sein, wie Sie es mir gewesen sind. In jedem Verhältniß ist Geben und Empfangen ungleich vertheilt. Es hätte mich nicht beschämt, als der Aermere neben Ihnen zu stehen, zumal Sie es gewohnt sind, mit den Menschen, die durch Sie glücklich gemacht werden, nicht zu rechnen.

Und nun gehe ich von Ihnen, als wäre dies Alles nicht die schönste, lebendigste Wirklichkeit, mit Händen zu greifen, wenn man sich nur das Herz faßte, eine Hand danach auszustrecken.

Was sollen Sie von mir denken? Ist das der Dank für so viel freundschaftliche Offenheit , wie Sie mir bewiesen haben?

Sie wissen, daß ich seit sieben Jahren verwittwet bin, und ob ich auch das Glück meiner ersten Liebe und Ehe noch so treu in meiner Erinnerung hege – ich bin nicht zu alt, um noch ein neues Leben wünschen und hoffen zu können. Daß die Rücksicht auf Ihren trefflichen Vater, von dem Sie sich nie trennen würden, mir ein Hinderniß wäre, können Sie, da Sie gesehen, wie gut wir Drei zusammen taugen, nicht im Ernst meinen. Ich weiß nicht, ob Ihnen selbst bisher der Gedanke gekommen ist, ich könne um Sie werben, ob Sie sich die Frage vorgelegt haben, was Sie in diesem Falle beschließen würden. Doch liegt ein solcher Fall in unserem Verhältniß zu nah, als daß Ihnen nicht wenigstens jetzt das Räthsel entgegentreten sollte: wie hat er es übers Herz gebracht, mich so zu lieben und so ohne Weiteres, ohne den Schatten eines zwingenden Grundes auf mich zu verzichten?

Nun denn, meine theure Freundin, dieses Räthsel kann und darf ich Ihnen auch jetzt nicht lösen. Nur bitten und beschwören will ich Sie in diesen Zeilen, daß Sie ebenso an den Ernst der bitteren Nothwendigkeit, Ihnen zu entsagen, glauben möchten, wie an die Tiefe und Kraft meiner Liebe zu Ihnen. Es ist mir eine schmerzlich-süße Genugthuung, es wenigstens vor dem Scheiden ein einziges Mal Ihnen auszusprechen, daß ich es für ein überschwänglich großes, unverdientes Glück halten würde, mein Leben mit Ihnen theilen zu dürfen, daß ich auch ein gutes Zutrauen zu mir hätte, wenn Sie mich annähmen, Sie so glücklich zu machen, wie ein Mensch von mäßigen Gaben und Eigenschaften ein Ausnahmswesen wie Sie zu machen vermöchte.

Und nun bitte ich Sie ernstlich, lassen Sie mich meines einsamen Weges gehen, ohne sich über mein unabwendbares Schicksal sonderlich zu betrüben. Es ist sehr erhellt und erquickt worden durch diese Wochen, die ich mit Ihnen theilen durfte. Denken Sie meiner wie eines Menschen in einem anderen Welttheil, dem Sie nun einmal die Hand nicht reichen können, so gütig Sie auch gegen ihn gesinnt bleiben. ›Das Wasser ist viel zu tief‹.

Leben Sie wohl!

In unwandelbarer Gesinnung Ihr
Rüdiger.«

*

Er saß lange vor dem Blatt, ohne es noch einmal durchzulesen, den Kopf in die Hände gestützt, die Augen zugedrückt. Dann schüttelte er die letzte Unentschlossenheit ab, faltete den Brief zusammen, versiegelte ihn und klingelte dem Hausknecht, dem er auftrug, seinen Koffer drunten in der Post aufzugeben, daß er ihm heute Abend nach Davos nachgeschickt würde. Diesen Brief, setzte er hinzu, besorgen Sie selbst an seine Adresse, aber verstehen Sie wohl, erst morgen früh; ich verlasse mich darauf.

Der Bursche nahm, seine Dienstwilligkeit betheuernd den Brief in Empfang und das reichliche Trinkgeld, das Rüdiger ihm gab, belud sich mit dem Koffer und wünschte dem Herrn Hauptmann eine glückliche Reise. Dieser blieb dann wieder allein. Er sah nach der Uhr. Es war noch zu früh, um die heiße Davoser Straße hinaufzuwandern. Auch wollte er das Haus nicht verlassen, ohne dem wackeren Wirth, der gerade abwesend war, Lebewohl zu sagen. So packte er seine letzten kleinen Habseligkeiten in die Reisetasche, die er umzuhängen pflegte, und ging dann aus dem Zimmer.

Er schlug den Weg nach der Brücke ein, immer mit beklommenem Herzen nach dem Fenster drunten spähend, ob Niemand sich dort zeige, der seine Schritte bewache. Die Läden aber blieben geschlossen. Da bog er rechts ab in den schmalen Wiesenpfad, der längs des brausenden Flüßchens hinführt, und ging langsam am Rande der Schlucht dahin. Es that ihm wohl, daß der Lärm der Wellen seine Gedanken übertäubte. Er kam sich schon wie abgeschieden vor und wunderte sich, daß er die schmerzliche Trennung, vor der er sich seit lange gefürchtet, so glimpflich überstanden hatte. Er ließ seine Augen über die Landschaft wandern, die ihn hier zuerst gefesselt hatte, ehe er noch ahnte, welcher Menschennatur er auf diesen Pfaden begegnen sollte. Als er eine Stelle erreichte, wo er oft mit Lucile gestanden und sich an der Aussicht geweidet hatte, fühlte er sein Herz heftiger pochen und warf sich im Schatten eines Heuschuppens ins Gras. Vor ihm breitete der herrliche Thalgrund sich aus, dessen sanft niedersteigende Wände sich in den schönsten Linien zusammenschlossen. Die letzten Höhenzüge leuchteten in zartem Sonnenduft herüber, immer bestimmtere Formen schoben sich davor, ein Paradies sonnengoldiger Wipfel füllte die Tiefe, in welchem jede Spur menschlicher Ansiedelung vom Laubwalddickicht überwuchert ward; nur am Saum der schwarzen Fichten an den Bergabhängen zur Rechten sah man zerstreute Blockhäuschen und die dichteren Häusergruppen von Klosters Dörfli und Mezzaselva, in denen jedoch nicht der leiseste Herdesrauch an menschliches Dasein erinnerte. Die Sonne hatte sich schon gegen den Kamm des Casanna herabgeneigt, und die Steile des schwarzen Abhangs zur Linken, an dessen Fuß der wilde Fluß hinrauschte, war tief verschattet. Es that dem einsamen Manne wohl, die heißen Augen in diese Finsterniß zu tauchen. Zuletzt fielen sie ihm völlig zu, und ein leichter Tagestraum spann seine Gedanken ein.

Die Uhr des Kirchthurms aber, die fünf harte Schläge that, riß ihn aus dieser kurzen Ruhe auf. Er besann sich, daß es nun Ernst werden müsse mit seiner Flucht, warf noch einen Blick in die verzauberte Tiefe hinab und eilte dann auf dem gradesten Wege durch die Wiesen dem Gasthof zu, wo er nun auch den Herrn des Hauses antraf und die letzten freundlichen Abschiedsworte tauschte.

Als er aber noch einmal sein Zimmer betrat, die Wandertasche zu holen, erschrak er. Auf dem Tische lag ein kleiner Brief, er erkannte trotz der Dämmerung hinter den geschlossenen Läden die Handschrift, und das Couvert mit zitternder Hast öffnend, las er die folgenden Zeilen:

»Wir haben zwar schon feierlich Abschied genommen, werthester Freund. Da Sie aber erst am Abend aufbrechen wollen, ist eigentlich kein Grund, weßhalb wir unseren gewohnten Nachmittagsspaziergang nicht noch einmal zusammen machen sollten – vorausgesetzt, daß Ihre Briefe bereits geschrieben sind. Wir versprechen, von der bevorstehenden Trennung nicht weiter Notiz zu nehmen und mit Ihnen zu plaudern, als ob wir uns heute zufällig zum ersten Mal begegneten. Hernach sagen wir uns Adieu, als sollte es mit Grazie in infinitum täglich so fortgehen.

Das Leben ist ein so unsicheres Vergnügen, daß man sich nicht ohne Noth der wenigen guten Stunden, die es bietet, selbstwillig berauben sollte. Finden Sie nicht auch? – Wir warten also auf Sie wie gewöhnlich.

Lucile.«

Es soll nicht sein! murmelte er vor sich hin, als er gelesen hatte. Ich soll den Kelch bis auf die Nagelprobe leeren. Nun, Zeit und Stunde rennt auch durch den rauhsten Tag.

Er steckte das kleine Blatt sorgfältig in seine Brieftasche, trat dann ans Fenster und sah zum letzten Mal nach »Silvretta« hinüber. Jetzt waren die Läden geöffnet, einen Augenblick glaubte er am Fenster eine Gestalt sich bewegen zu sehen, die aber gleich wieder verschwand. In seinem Herzen stieg plötzlich eine lodernde Sehnsucht auf, das reizende Gesicht noch einmal zu betrachten, das ihm jetzt noch erreichbar war.

Sie hat Recht, sagte er seufzend, man muß jeden guten Augenblick genießen. Ich war ein Narr, daß ich den letzten Tag mir noch verkürzen wollte.

Nun ging er mit beflügelten Schritten, die Reisetasche leicht über die Schulter gehängt, die Treppe hinab, nickte den Dienerinnen einen freundlichen Abschied zu und stürmte aus dem Hause. An der Brücke schon sah er Vater und Tochter seiner harren. Der Baron trug seine grüne Botanisirtrommel und ein Schmetterlingsnetz an einem derben Bergstock befestigt, einen grauen Schleier um den Hut geschlungen, der ihm den entblößten Hals gegen den Sonnenbrand schützen sollte. Lucile in ihrem schlichten Wanderanzug hatte wie gewöhnlich das Ledertäschchen umgeschnallt, in welchem sie die kleinen Siebensachen trug, deren ihr großes Kind etwa unterwegs bedürfen konnte: ein Skizzenbüchlein von besonderem Format für den Nachmittag, wo aber in der Regel nicht gezeichnet wurde, einige Tüchlein für die windigen Stellen, etwas Mundvorrath und ein kleines Fernrohr. An einem Riemen über der Schulter trug sie noch ein zusammengerolltes Plaid aus sehr feiner Wolle, auch mehr zum Schutz für den Vater als für sich, da sie die Gesundheit selbst und sehr wetterfest war. Wie oft hatte Rüdiger ihr Plaid und Tasche abnehmen und sich damit beladen wollen. Sie behauptete aber, sie sei eine zu leichte Person ; ohne einen solchen Ballast laufe sie Gefahr, von der ersten besten lustigen Felsspitze in den Abgrund hinabgeweht zu werden.

Nun sah sie unter ihrem Strohhütchen dem Herankommenden mit dem heitersten Gesicht entgegen, daß er fast irre an ihr wurde. Die Miene, mit der sie vor Tische ihn verabschiedet hatte, war ihm viel lieber gewesen, obwohl sie ihm nicht verbarg, daß er in Ungnaden entlassen wurde. Er bereute jetzt, den Brief geschrieben zu haben, um einen Unmuth zu versöhnen, der überhaupt nicht vorhanden zu sein schien. Doch während er noch überlegte, ob er die Beichte nicht zurücknehmen sollte, die vielleicht unverstanden bleiben würde, war der alte Herr schon mit freundschaftlichen Vorwürfen über sein heutiges Zaudern ihm entgegengeeilt.

Lucile will uns mit Gewalt den Berg hinaufschleppen durch den Rütiwald. Sie wissen, daß wir schon einmal dort vergebens nach einem Punkt herumgeklettert sind, von wo aus man den Blick in das Thal von Serneus genießt. Heute soll nun nicht geruht werden, bis wir darüber klar geworden sind. Im Grunde ist es mir ganz lieb. Die Flora an den tieferen Abhängen ist von Mähern und weidendem Vieh bereits so zugerichtet worden, daß für meine Sammlung nicht viel mehr abfällt. Hoffentlich finde ich oben noch einige Ausbeute. Wie geht es Ihnen? Sind Sie schon reisefertig?

Husch, Papa! machte Lucile indem sie ihm ihre kleine Hand leicht vor den Mund hielt. Du kennst unsere Abrede. Das Wort »reisefertig« steht nicht in unserem Lexikon. Es ist hübsch von Ihnen, Herr Hauptmann, daß Sie zufällig desselben Weges kommen und uns eine Strecke begleiten wollen. Sobald Sie genug haben, lassen Sie uns ohne Umstände allein. Aber nun wollen wir unsere Wanderung antreten.

Sie setzte ihren langen Sonnenschirm, die einzige Stütze, deren sie sich, auch mehr spielend, bediente, in Bewegung und schritt leichtfüßig voran.

*

Doch schlug sie nicht den gelinde auf und ab sich schlängelnden Weg am unteren Saume der Landquartschlucht ein, sondern den steileren Anstieg, der, in geradem Lauf den oberen Rütiwald durchschneidend, zu den Weideplätzen des Hausviehes führt. Wie gewöhnlich ging sie voran, so rasch und leicht, daß der alte Herr, der nur im Schweiß seines Angesichts selbst mäßigere Höhen gewann, sehr bald weit zurückblieb und nur Rüdiger dicht hinter ihr sich zu halten vermochte. Sie machte dann aber geduldig Halt, bis der Papa sie wieder erreicht hatte, zuerst an der Stelle, wo man die freie Bergwand verläßt, um dann in den Schatten der Föhren und Rothtannen zu verschwinden. Als sie ihre Blicke hinuntergleiten ließ, sah sie auf einer Bank am unteren Wege die »blaue Dame« sitzen, die ihnen mit unverhohlenem Neide nachblickte.

Ein Schatten sollte doch so flinke Beine haben und einen so leichten Athem wie sein Körper, sagte Lucile lächelnd zu ihrem Begleiter. Aber der Arzt hat ihr das Klettern verboten. So müssen wir uns mit dem Waldesschatten begnügen.

Er erwiderte nichts auf ihren Scherz, auch war es das letzte Mal, daß sie den alten lustigen Ton anschlug. Von jetzt an sprach sie nur selten ein gleichgültiges Wort, nur um den keuchenden alten Herrn bei guter Laune zu erhalten. Ihr feines, kluges Gesicht, das durch die Mühe des Steigens sich kaum röther färbte, behielt beständig den heiter sinnenden Ausdruck, mit dem sie Rüdiger schon unten an der Brücke begegnet war. Er fragte sich, warum sie Werth darauf gelegt habe, noch diese Stunden in seiner Gesellschaft zu verbringen, wenn sie sich nicht die geringste Mühe gab, dies letzte Beisammensein in traulicher Mittheilung zu genießen.

So waren sie schweigend eine Strecke weit hinaufgestiegen. Dann und wann hatte der alte Herr auf einem Felsblock gerastet und die benachbarte Halde mit botanisirenden Augen gemustert. Ueber einige Pflänzchen, die ihm merkwürdig waren, hielt er sachkundige Vorträge, denen der Hauptmann andächtig wie ein Schüler zuhörte, während Lucile, die Hände leicht um den Griff des Schirmes gelegt, über die schwarzen Wipfel hinweg ins Blaue schaute. Auch sie war in des Vaters Pflanzenkunde ein wenig eingeweiht, heute aber überhörte sie Alles, was er zum Besten gab.

Dann mahnte sie zuerst wieder zum Aufbruch. Die Sonne stand noch ziemlich hoch, es war keine Gefahr, daß die Dämmerung sie hier so bald überraschte; aber eine seltsame Rastlosigkeit flackerte ihr in den Augen und trieb sie mit unermüdlicher Hast den Abhang hinan.

Auf einmal hörte sie hinter sich eine französische Verwünschung ausstoßen, die dem Papa nur bei ganz feierlichen Anlässen entfuhr. Als sie sich erschrocken umwandte, mußte sie bei all ihrem töchterlichen Mitgefühl doch lächeln. Denn es sah possirlich genug aus, wie der ehrwürdige kleine Mann bis an die Knöchel in einen moosigen Wiesenfleck versunken stand, beide Arme wie ein hülfloses Kind in die Höhe streckend, während ein kurzer Sprung ihn aufs Trockene gebracht haben würde.

Sogleich, noch ehe der Hauptmann sich besinnen konnte, war Lucile an der Unheilsstätte und rief dem Vater zu, ihr seinen Bergstock entgegenzustrecken. Der alte Herr gehorchte mechanisch, und in zwei Minuten, wie wenn er an einem Zauberstabe in die Höhe gehoben worden wäre, hatte er sich aus dem sumpfigen Boden herausgearbeitet und begann auf dem steinigen Grunde des Fußweges ein drolliges Stampfen und Schürfen, um seine Bergschuhe zu reinigen.

Hol' der Teufel diese Genzianenvarietät, die mich in die nasse Fallgrube gelockt hat! rief er, sich die Stirn mit seinem Tuche trocknend. Nun ist mir der ganze Spaß verdorben, denn ich habe so viel Schlamm in den Schuhen, daß ich den Tod davon haben könnte, wenn ich keine trockenen Strümpfe anzöge. Lucile, hast du nicht zufällig ein paar Reservesocken bei dir? Nicht? Nun, dann bleibt mir nichts übrig, als umzukehren und im Hôtel mein Fußzeug zu wechseln. Es ist ohnehin hier oben keine Flora, die der Rede werth wäre, und zum Zeichnen wäre ich nach diesem Abenteuer noch weniger aufgelegt. Sie müssen mich schon entschuldigen, lieber Hauptmann. Aber ich hatte gleich eine Ahnung, ich begriff das Kind nicht, daß es sich so fest auf diese Excursion steifen konnte, zumal nachdem wir schon heute im Erlenwäldchen –

Lieber Papa, unterbrach ihn Lucile, ich glaube allerdings, daß du gut thun würdest, für trockene Füße zu sorgen. Was mich betrifft, da du mich dazu nicht brauchst, möchte ich doch noch ein wenig höher hinaufsteigen; noch jedesmal sind wir gerade in dieser Gegend wieder umgekehrt. Ich will endlich einmal den Bann brechen und über die Hütten dort noch eine Strecke weit hinaufschauen.

Wie du willst, mein Schatz, sagte der kleine Herr. Nur sieh dich vor, wenn es steiler werden sollte. Geben Sie Acht auf das wagehalsige Mädchen, Herr Hauptmann. Sie hat einen Fuß, auf den sie sich nicht ganz verlassen kann. Und übrigens viel Vergnügen zur Entdeckung des nordwestlichen Durchblicks – und sans adieu, lieber Freund, ich respectire unsere Verabredung.

Er winkte den Beiden, die schweigend nebeneinander standen, treuherzig zu, und sie sahen ihn mit vorsichtigen kleinen Schritten den steilen Weg hinunterklimmen und um die nächste Waldecke verschwinden.

Was meinte Ihr Vater mit seiner Warnung? fragte Rüdiger. Ich höre zum ersten Mal, daß Sie an irgend einer körperlichen Schwäche leiden.

Sie schien die Frage erst überhört zu haben, so unbeweglich starrte sie zu Boden. Dann hob sie wieder ihren Schirm zum Weitergehen und sagte langsam:

Ich habe mir vorm Jahr den linken Fuß übertreten, davon ist Etwas im Knöchel zurückgeblieben, das mir, wenn ich den Fuß scharf anstrenge, beschwerlich wird. Papa denkt nie daran, solange ich bei ihm bin. Er hält sich für meine irdische Vorsehung, unter deren Obhut mir nichts Menschliches zustoßen könne. Sobald er mich allein weiß, zittert er vor jedem rauhen Lüftchen, das mich umblasen könnte. Aber es ist keine Gefahr. Ich nehm' es noch mit manchem Gemsenjäger auf.

Nun ging sie wieder voran, und er blieb dicht hinter ihr, gesprochen aber wurde kein Wort, obwohl der Weg nicht so beschwerlich war, um den Athem sparen zu müssen, und überall kühler Schatten sie umgab. Zuweilen freilich öffnete sich der Wald, und sie sahen ein einsames Blockhaus auf einer sammetgrünen Halde liegen, wo sie einige Augenblicke anhielten, um in die Tiefe hinabzuschauen, aus welcher die wohlbekannten Häuser heraufschimmerten. Nach Norden zu stiegen nur schwarze Wipfel über Wipfeln empor, und ein Gewitter hing an jener Himmelsgegend, während die Luft über ihnen sich mit einem leichten Dunst überflorte.

Sie kamen durch die weidende Herde der »Heimkühe« und Ziegen hindurch. Ein Versuch aber, mit dem Hüterbuben sich darüber zu verständigen, ob dieser Pfad zu einem Aussichtspunkt führe, scheiterte an der Härte des unverfälschten Prättigauer Idioms. Ein leichter Schatten legte sich über das Gesicht des schönen Mädchens. Wir werden es aufgeben müssen, sagte sie wie zu sich selbst. Ihm lag nicht das Mindeste an dem Blick in die Thalgründe, den sie so eifrig suchte. Er konnte die Augen nicht wegwenden von der schlanken, schmiegsamen Gestalt seiner Führerin, und mit verstohlener Wonne, in die sich freilich ein bitteres Gefühl des nahen Verlustes mischte, setzte er seine Füße sorgsam in die Stapfen, die ihre schmalen Sohlen auf dem feuchten, vielfach von Quellen durchsickerten Wege zurückließen.

Da blieb sie plötzlich stehen und deutete nach einem Blockhaus, das ein wenig stattlicher erschien als die anderen Hütten, an denen sie vorbeigekommen waren. Der obere Theil, der zur Bergung des Heues bestimmt war, sprang weiter als gewöhnlich vor, und vor dem vergitterten Eingang in den darunterliegenden Stall war ein geräumiger, mit neuen Brettern gedielter Vorplatz, von dem aus die übliche Stiege ins Obergeschoß hinaufführte. Auch hier war keine Menschenseele zu erblicken. Aber ein Brünnlein sprudelte dicht am Hause und belebte die stumme Einsamkeit. Nicht sehr tief senkte sich vorn die Halde hinab, bis die Föhren wieder ihre Aeste verschränkten, und auch dicht hinter dem Holzschuppen stieg der Wald gleich wieder hinan. Es lag aber ein verirrter Sonnenschimmer auf dem Schindeldach und den Steinen, die es beschwerten, und lud gastlicher zum Verweilen ein als irgend eine andere Stelle am Wege.

Sie band ihren Hut ab, trat dicht an das Brünnchen heran und war eben im Begriff zu trinken, als er noch zur rechten Zeit dazwischensprang. Sie müssen erlauben, daß ich meine Rolle als Stellvertreter Ihrer irdischen Vorsehung beginne, sagte er. Sie sind viel zu erhitzt, und dies Bergwasser ist eisig.

Ich weiß, was ich thun darf, erwiderte sie kurz angebunden. Aber wenn es Ihnen Sorge macht, will ich mich noch fünf Minuten gedulden. Einstweilen wollen wir uns dort auf die Bank setzen. Unsere Expedition gebe ich auf. Auch möchte ich doch bald nach dem Papa sehen.

Damit ging sie auf die Holzhütte zu, deren braunrothe Stämme durchglüht von der Kraft der Abendsonne leuchteten, und setzte sich unter das vorspringende Gebälk, immer ohne ihn anzusehen. Er folgte ihr und ließ sich neben ihr nieder. Gleich darauf erblich der Sonnenglanz, eine Wolke war dazwischengetreten. Sie sahen im Westen eine horizontale, blauschwarze Wolkenschicht schwer über den Berggipfeln lagern, mit scharfem Rande gegen den entfernteren Himmel abgegrenzt, der kupferfarben in durchsichtigem Schimmer brannte und wetterleuchtend zuckte und loderte. Ueber ihnen war es noch hell, nur verlorene Tropfen fielen aus dem Blauen herab, man wußte nicht, woher sie kamen.

Wenn der Wind das Wetter herauftriebe, könnte sich's noch über unserem Heimweg entladen, sagte Rüdiger. – Es war ihm nicht eben Ernst damit, sie zu raschem Aufbruch zu mahnen. Viel zu glücklich schlug ihm das Herz in dieser feierlichen Bergeinsamkeit neben dem Mädchen, das er liebte. Als er sein Gewissen beruhigt hatte und sie nichts darauf erwiderte, saß er ganz still. Er wagte nicht, sie offen anzusehen; doch entging ihm kein Zug in dem lieblichen Gesicht, das sich ihm nur halb zuwendete. Warum schwieg sie noch immer, während sie sonst gerade unter vier Augen mit ihm so zutraulich zu plaudern pflegte, als wäre er ihr ältester Freund oder mehr, eine schwesterliche Freundin, vor der man das Innerste sich zu sagen getraut?

Auf einmal öffnete sie die Lippen und sagte, immer noch den Blick zu Boden gekehrt: Sie haben mir einen Brief geschrieben, den ich nicht ganz verstehe. Wollen Sie nicht die Freundlichkeit für mich haben, mir zu erklären, was mir darin dunkel geblieben ist?

Er zuckte zusammen, wie von einem Wetterstrahl getroffen. Meinen Brief? stammelte er. Sie haben ihn schon gelesen? Sie sollten ihn doch erst, wenn ich schon weit fort wäre –

So hatten Sie es freilich bestimmt. Aber es ist vielleicht gut, daß es anders gekommen ist, daß ihr Bote dem Zimmermädchen aus unserem Hôtel begegnete und, um sich morgen früh einen Gang zu sparen, den Brief gleich heute ablieferte. Sie mußte ihm versprechen, Ihren Befehl pünktlich zu vollziehen. Aber ein Frauenzimmer kann sich nicht vorstellen, wie man einen Brief zwölf Stunden ungelesen lassen kann, der schon fix und fertig geschrieben ist. Und diesmal hat diese Schwäche unseres Geschlechts auch mich angesteckt, die ich sonst von der weiblichen Neugier ziemlich frei bin. Was konnten Sie mir zu sagen haben, das nicht heute so gut wie morgen zwischen uns besprochen werden könnte? Wir sind doch so gute Freunde geworden in dieser kurzen Zeit. Auch betheuern Sie es mir ja ausdrücklich schwarz auf weiß. Können Sie mir's nun verdenken, wenn ich an dieser guten Freundschaft irre werde, die mir plötzlich den Rücken wendet aus einem geheimnißvollen Grunde, der mir nicht anvertraut werden darf? Warum nicht? Trauen Sie mir nicht die nöthige Verschwiegenheit zu oder – nicht das volle Verständniß? Wenn das Letztere der Fall wäre, müßte ich mich freilich bescheiden, trotz der Lobrede, die Sie meinem Mitfühlen alles Menschlichen halten. Aber ein anderes Hinderniß lasse ich nicht gelten. Und um hierüber keinen Zweifel bestehen zu lassen, lud ich Sie noch zu einem letzten Spaziergang ein. Wollen Sie nun offen gegen mich sein? Oder haben wir uns ganz umsonst hier heraufbemüht?

Sie sah ihm jetzt zum ersten Mal voll ins Gesicht, mit einem so seelenvollen, halb bekümmerten, halb kindlich vertrauenden Blick, daß ihm das Herz zu springen drohte vor stürmischer Bewegung.

Sie haben ihn gelesen! war Alles, was er zunächst herauszubringen wußte. Mein Gott, was werden Sie von mir denken!

Nun, nichts allzu Schlimmes, erwiderte sie. Wollen Sie es ganz genau wissen? Ich denke mir, daß Sie eine Art Hypochonder sind, der, durch lange Trauer vereinsamt und verstört, weder sich noch die Menschen um sich her richtig zu beurtheilen versteht und sich mit selbstquälerischen Einbildungen zu schaffen macht. Glauben Sie nur, Sie haben mich ganz recht taxirt: ich habe viel Menschenkenntniß – ich meine, viel dunkles, aber scharfes Gefühl vom Werth und Unwerth der Menschen, ihrem Charakter nach, nicht in Bezug auf ihren Geist, wozu ich mich nicht befähigt glaube. Und so steht es mir ganz fest: wenn Sie daran verzweifeln, eines glücklichen Lebens noch einmal theilhaftig zu werden, wenn Sie sich dessen nicht würdig halten, so ist das nur eine krankhafte Grille, und Sie sollten Ihren Freunden, die Sie besser kennen, nicht so eigensinnig den Rücken wenden.

Er schwieg und sah mit zusammengezogenen Brauen vor sich hin. Wissen Sie das so gewiß? brach es endlich von seinen Lippen, die erblaßt waren und leise bebten. Wissen Sie, was für ein Schicksal auf mir lastet, das mir jedes Aufstreben niederwuchtet, jeden Lebens- und Zukunftsmuth lähmt und im Angesicht des liebenswürdigsten Glückes mich zu ewigem Verzichten und Verzagen zwingt?

Seine Stimme klang so schneidend trostlos, daß sie all ihren Muth zusammennehmen mußte, um sich nicht völlig niederschlagen zu lassen.

Ich weiß von Ihrem Leben nicht viel, sagte sie einfach. Aber von Ihrem inneren Wesen hab' ich genug erfahren, um der festen Ueberzeugung zu sein: etwas Niedriges, wahrhaft Böses, was man sich selbst nie vergeben könnte, was alle Fasern des Gemüths vergiftet, kann nie in Ihnen gewesen sein. Und was für Schicksale, außer eigenen unvergeßlichen Sünden, können einen Menschen so zu Boden drücken, daß er nie wieder sich aufrichten und heiter gen Himmel blicken lernte?

Sie wagte jetzt, ihn anzusehen. Er saß mit zugedrückten Augen, den Kopf zurückgelehnt gegen die dunkle Balkenwand, das gebräunte Gesicht fahl und hager, wie wenn ein schweres Fieber in seinem Blut tobte. Seine Hände lagen auf den Knieen; sie sah, wie von Zeit zu Zeit ein leises Zucken die Finger bewegte.

Lieber Freund, sagte sie endlich mit ihrer weichsten Stimme, Sie leiden sehr. War es unrecht von mir, daß ich so in Sie drang? Verzeihen Sie es mir. Sie sollen nicht antworten; wir wollen hier noch eine kleine Weile still beisammensitzen und dann uns trennen. Daran aber zweifeln Sie gewiß nicht: wenn ich Ihnen weh that, so war es nur das Ungeschick eines herzlich guten Willens, der Ihnen gern geholfen hätte.

Er öffnete langsam die Augen und that einen tiefen Athemzug. Ich danke Ihnen, sagte er. Ich weiß, Sie meinen es gut mit mir, besser als ich es verdiene. Wir wollen thun, wie Sie sagen, hier noch eine kleine Weile rasten und dann voneinander gehen. Ich muß Ihnen aber erst sagen, was ich noch nie einem Menschen gesagt habe und nie einem zweiten sagen werde – ich werde es freilich auch keinem wieder schuldig sein. Sie aber – Sie haben ja den Brief gelesen – Sie wissen, welch unbegrenztes Vertrauen ich auf Sie setze, so sehr, daß ich Ihnen blindlings mein ganzes Leben anvertrauen könnte – wenn das eben noch möglich wäre. Aber Sie selbst – wenn Sie erst wissen, was ich mit mir herumtrage – Sie werden begreifen, daß ich so schreiben mußte, daß für mich nicht mehr die Rede davon sein kann, glücklich zu werden. Ich – – ich habe meine Frau getödtet. – –

Auf diese Worte blieb es eine Weile todtenstill zwischen den beiden Menschen in der grünen Wildniß. Nur das Rauschen des Brunnens tönte fort, und dann und wann trug der Wind den Schall der Heerdenglocken durch das Tannendickicht herauf. Rüdiger hatte sich wieder zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Das schöne Mädchen neben ihm hielt den Athem an.

Erst nach einer langen stummen Pause sagte sie: Wie entsetzlich ist das! Wie furchtbar müssen Sie gelitten haben! O, ich kann es so gut verstehen, daß ein solches Unglück einem das ganze Leben hindurch nachgeht!

Er erhob sich plötzlich und schien gehen zu wollen. Im nächsten Augenblick sank er wieder auf die Bank.

Ein Unglück! sagte er dumpf. Ich könnte Sie dabei lassen, und es wäre genug, um Ihnen mein widerspruchsvolles Betragen zu erklären. Aber Sie haben mir nun einmal so viel Freundschaft gezeigt, Sie sollen mich ganz kennen. Ein Unglück war's freilich, aber das größte, das einem Menschen begegnen kann. Denn was ist jammervoller, als gezwungen zu werden, gezwungen von einem guten und reinen Gefühl, Etwas zu begehen, das nie gesühnt werden kann? Ich bin Schuld an dem Tode meiner Frau nicht aus Versehen, weil etwa ein Gewehr losging, das ich in der Hand hielt, sondern ich habe ihr den Tod gegeben mit vollem Bewußtsein dessen, was ich that, und habe eine ganze Nacht hindurch ihrem Todeskampf zugeschaut, ohne Himmel und Erde zu ihrer Rettung in Bewegung zu setzen.

Ja, fuhr er fort, als er sah, wie sie erblaßte und die Augen in verzweifelndem Entsetzen, ob sie auch recht gehört, zu ihm aufschlug, hieran ist keine Silbe übertrieben. Mit dieser Hand habe ich dem geliebtesten, unschuldigsten, liebevollsten Wesen, das die Erde trug, den Todeskelch gereicht, und habe dann den armseligen Muth gehabt, weiterzuleben. Wenn ich an jene Stunde denke – er drückte die Hände gegen die Stirn, und ein Schauer lief ihm vom Scheitel bis zur Sohle durch den Leib – Sie begreifen, mein theueres Fräulein, obwohl es nichts Niedriges und im gemeinen Sinne Böses war, so was vergiftet einem dennoch, wie Sie sagten, jede Faser des Gemüths. Man kann sich nicht wieder davon erholen, auch wenn man sich noch so eifrig Vernunft predigt.

Und daran hab' ich es gewiß nicht fehlen lassen. Ich sagte mir immer wieder, daß sie selbst es von mir gefordert hatte und daß ich heute so wenig wie damals es übers Herz bringen würde, ihr diese Bitte abzuschlagen. Wir hatten nur ein paar Jahre miteinander gelebt, in einem Glück, einem Einverständniß, das jeden Tag zunahm. Unser Kind fing eben an zu sprechen; es war das lieblichste Geschöpf, das man sehen konnte. Alles um uns her trug dazu bei, uns das Leben zu einem beständigen Fest zu machen. Ich war aus dem Kriege mit einer leichten Verwundung zurückgekehrt. Die Eltern meiner Marie, die ein Landgut in der schönsten und gesundesten Lage am Fuß des Gebirges bewohnten und mir von früher her freundlich gesinnt waren, luden mich ein, meine volle Genesung in ihrem Hause abzuwarten. Da verlor ich mein Herz an ihre Tochter, und wir wurden schon im nächsten Winter ein glückliches Paar. Immer, wenn mich der Dienst auf Monate abrief, vertraute ich meine Frau ihrer Mutter an. Ich glaubte, es könne keinen begnadigteren Menschen unter der Sonne geben als mich. Wenn Sie dies seltene Wesen gekannt hätten, das nur für mich lebte, ihre Heiterkeit, ihren Ernst, wo es darauf ankam – ich habe späterhin nur einmal eine ähnliche Vereinigung von so viel herrlichen Eigenschaften des Geistes und Herzens gefunden!

Und nun stellen Sie sich vor, wie ich erschrak, als ich einst im Frühherbst von den Manövern kam und diese geliebte Frau in einem kläglichen Zustande traf. Da sie sich nie schonte, hatte sie sich in einer rauhen Nacht, wo es galt, einer armen Wöchnerin im Dorf beizustehen, eine Erkältung geholt, und von dem heftigen rheumatischen Fieber, das sie darauf befallen, war ein Herzleiden zurückgeblieben. Sie achtete es Anfangs kaum, auch der Dorfarzt, den die Eltern befragten, machte nicht viel daraus. Das Uebel aber nahm so reißend überhand, daß, als ich kam, die Schmerzen und Aengste schon einen unerträglichen Grad erreicht hatten.

Der Vater hatte bereits in die Stadt geschrieben und den berühmtesten Arzt, der mit der Familie befreundet war, hinauscitirt. Er traf einen Tag nach mir ein. Marie wollte Anfangs nichts davon wissen, sich von ihm untersuchen zu lassen. Du wirst sehen, sagte sie, er entmuthigt uns nur, ich habe dann nicht die Courage, trotz alledem wieder gesund zu werden; um Herzleiden zu überwinden, muß man sich ein Herz fassen. – Als der alte Herr ihr allerlei Trost zusprach, sah sie ihm fest ins Gesicht. Ich bin für Sie noch immer das Kind wie vor sechs Jahren, sagte sie. Aber glauben Sie mir, mir ist mit guten Worten gar nicht gedient, wenn die bösen Thatsachen, die sie Lügen strafen, hinterdreinkommen. Sagen Sie mir, ob ich leben oder sterben soll? – Er gab eine ausweichende Antwort, die ein Scherz sein sollte; darauf schwieg sie und bat nur, daß man sie allein lassen möchte. Als der Arzt weggefahren war, rief sie mich in ihr Zimmer, wo sie die Tage auf einem Ruhebett verbrachte, da jede Bewegung ihre Leiden steigerte. Du brauchst mir nichts zu sagen, flüsterte sie, da ich mich neben sie setzte; ich weiß, daß er dir keine Hoffnung gegeben hat. Sage mir nur, ob es noch lange dauern kann. – Ich wollte sie beschwichtigen und einen heiteren Ton anstimmen, so furchtbar ich litt seit dem letzten Gespräch mit dem Doctor. Sie sah mich aber mit ihrem stillen Auge so durchdringend an, daß ich unsicher wurde und nur noch sagen konnte: ihre Jugend, ihre treffliche Natur würde sie gewiß über die Gefahr hinwegheben. – Das meinst du vielleicht, erwiderte sie. Das hat aber der Doctor gewiß nicht gesagt, ich kenne sein Gesicht, wenn der Fall hoffnungslos ist; ich entsinne mich noch gut, wie er aussah, da die gute Tante starb. Nun, ich muß es eben leiden. Ich murre auch nicht. Ich bin so glücklich gewesen wie Wenige; ich habe, seit ich denken kann, nie etwas Schmerzliches erlebt, und meine Träume von Glück sind Alle überschwänglich in Erfüllung gegangen. Ich habe dich besessen und unser Kind. Nun bleibt mir noch ein einziger Wunsch, den mußt du mir erfüllen, ich sage ihn dir aber erst morgen. Heute thut mir das Sprechen zu weh.

Sie war den übrigen Tag so heiter, als wäre nichts vorgefallen, nur das Kind durfte nicht bei ihr sein. So oft sie es ansah, füllten sich ihre Augen mit Thränen. Am Abend des folgenden Tages, da ich glaubte, sie schlafe schon, und ganz leise zu Bett gehen wollte, richtete sie sich plötzlich in den Kissen auf und sagte: Du mußt mich erst noch anhören. – Ich erschrak, denn eine entsetzliche Ahnung hatte mich schon den ganzen Tag verfolgt. Und wirklich, sie trug mir ohne Umschweife ihre Bitte vor. Sie wollte sterben, und ich sollte ihr dazu behülflich sein, daß es ohne Aufsehen geschähe, daß ihre Eltern, die sehr strenggläubig waren, nur an eine natürliche Todesursache glaubten. Sie fürchte sich nicht vor dem Ende, nur vor den Qualen, mit denen gerade Kranke wie sie aus dem Leben zu gehen pflegten. Sie wisse, daß ich mein Herzblut hingeben würde, ihr Leben glücklich zu machen. Nun sollte ich ihr den höchsten Beweis meiner Liebe geben, indem ich ihr zu einem sanften Tode verhülfe. Wenn sie glauben könnte, mit einer verlängerten Schmerzenszeit mir oder ihrem Kinde oder irgend wem zu nützen, würde sie nicht feige ihren Posten verlassen. Sie könne aber uns Alle nur dadurch betrüben; denn was sie leide, wenn die furchtbaren Anfälle kämen, sei über alle menschliche Vorstellung. Ich wußte, wie sehr sie Recht hatte; ich war Zeuge eines solchen Erstickungskrampfes gewesen, der entsetzlicher war als jede Agonie. Und doch – Sie begreifen – der Gedanke, dies arme, ängstlich flackernde Lebenslicht mit eigenem Hauch auszulöschen –

Ich hatte einen Kampf zu bestehen, der mir selbst den Wunsch, das Leben abzuwerfen, nahe legte. Das sagt' ich ihr, und daß ich bereit sei, mit ihr zu gehen. Aber sie wurde durch diesen Gedanken so aufgeregt, daß ich Mühe hatte, sie wieder zu beruhigen. Sie beschwor mich, an unser Kind zu denken, mein Leben doppelt sorgsam zu hüten, wenn das arme Geschöpf keine Mutter mehr hätte. So mußte ich mich ergeben.

Ich bat sie, noch drei Tage und Nächte sich zu gedulden; sie willigte ein, obwohl widerstrebend. Wie ich diese Zeit überstanden, ist mir selbst ein Räthsel geblieben. Ein zum Tode Verurtheilter kann nicht halb die Pein erdulden, die ich in diesem Henkersbewußtsein mit mir herumtrug.

Und sie immer heiter, liebevoll, ja zu Scherzen aufgelegt, zumal wenn ihre Mutter bei ihr war, an der sie sehr hing. Nur wenn wir Zwei allein waren, fühlte ich zuweilen ihr Auge ernst auf mir ruhen wie mit einer stillen Frage, ob ich ihre Hoffnung auch nicht täuschen würde.

Ich war mehr als einmal nahe daran ihr zu erklären, es gehe über meine Kräfte. Am dritten Tage aber hatte sie wieder einen so fürchterlichen Anfall, daß ich jedes feige Zaudern von mir warf.

Wir verbrachten den Abend darauf in der wundersamsten Stimmung. Was sie mir da sagte, wie sie sich betrug – nie wird das bis auf den kleinsten Zug in mir erlöschen. Dann stand sie noch einmal auf und ging in das Zimmer, wo das Kind schlief, sah es lange an, küßte es auf die Stirn und nickte der Wärterin zu, die aus dem ersten Schlaf auffuhr. Darauf, ohne eine Thräne zu weinen, ging sie auf den Zehen wieder hinaus, legte sich ruhig in ihr Bett und sagte, indem sie mich mit einem überirdischen Lächeln ansah: Ich danke dir, mein geliebter Mann, für das tausendfache Glück, das du mir geschenkt hast, und für den letzten großen Dienst. Und nun laß mich einschlafen.

Ich stürzte neben ihrem Bett auf die Kniee und weinte auf ihre Hand, die still und weiß wie eine Todtenhand auf der Decke lag. Sie entzog sie mir sanft. Mach uns nicht weich, sagte sie. Und was du thun willst, thue bald.

Da that ich es.

*

Wieder war es eine geraume Zeit ganz still droben auf dem kleinen freien Flur des Blockhauses. Auch das Wetter, das dann und wann durch ein fernes Murren im Westen sich verkündigt hatte, war durch den Abendwind hinter die Berge gewälzt und die Sonne wieder hervorgetreten. Drüben die hohen Gipfel und das ewige Eis des Silvretta brannten in einer sanften Glut, und in der Tiefe wogten leise die schwarzen Tannenhäupter.

Ich weiß, daß Sie jetzt im Geiste von mir wegrücken, fing der düstere Mann wieder an zu sprechen. Nur weil sie mich schonen wollen, unterdrücken Sie jeden Ruf des Abscheues und Entsetzens. Nicht daß Sie mich als einen gemeinen Mörder betrachteten. Aber wen ein schadenfrohes Schicksal zum Werkzeug einer verhängnißvollen That ausersehen hat, der ist gezeichnet, den meiden die Glücklichen. Nein, leugnen Sie es nicht, ich würde es Ihnen nicht glauben. War ich mir selbst doch ein Gegenstand des Grauens und bin es geblieben. Es geschah nichts Gewaltsames, meine Hand ist nicht mit Blut befleckt. Und was ist der Tod eines Menschen? Ich habe Schlachten mitgemacht, aus denen ich mit der Ueberzeugung hinwegging, ein mehr als siebenfacher Mörder zu sein. Aber das war Männerkampf, und die heiligsten Pflichten trieben uns in das wilde Getümmel, so daß dem weichsten Menschenfreund ein Panzer um die Brust wuchs. Hier aber – eine Frau – die ich über Alles geliebt hatte, die so still und klaglos abwartete, daß ich zu dem Arzneikasten neben meinem Bette ging, zu welchem ich allein den Schlüssel hatte, ihn aufschloß und das Fläschchen mit dem tödtlichen Saft herausnahm. Der Arzt hatte aufs Strengste verboten, ihr mit Morphium Linderung zu verschaffen. Nun goß ich den ganzen Inhalt in das Glas mit Mandelmilch, das neben ihrem Bette stand. Meinst du, daß es genug sein wird? fragte sie. Ich brach in Thränen aus und fiel auf einen Stuhl. Als ich mich wieder aufrichtete, stand das Glas geleert auf dem Tischchen. Sie winkte mir mit der Hand und zog mich zu sich herab. Ich danke dir, mein einzig geliebter Freund! hauchte sie. Und nun – laß mich allein!

Sie legte sich, von mir abgewandt, in die Kissen zurück und schloß die Augen. – Nichts mehr davon! Die Schrecken dieser Nacht, die ich in halbem Irrsinn neben diesem Sterbebette zubrachte – sieben lange Jahre haben sie nicht in meiner Seele auslöschen können.

Wie der Morgen eben heraufdämmerte, war es vorüber.

Als ihre Mutter dann eine Stunde später anklopfte, um sich zu erkundigen, wie die Nacht vergangen, konnte ich mich mit Mühe nach der Thür schleppen. Ein Wort zu sprechen, war mir unmöglich, mein Blut war wie eingetrocknet, meine Augen brannten wie Kohlen, und kein Tropfen linderte die Glut. Rings um mich her Jammergeschrei, Weinen und Wehklagen, und ich wie ein steinernes Bild mitten unter den Lebendigen, die der Schmerz hin und her wirbelte.

Der Dorfarzt wurde herbeigeholt; er constatirte eine Lähmung des Herzens, einen Nervenschlag in Folge eines jähen Krampfanfalls; Niemand bezweifelte seine Aussage. Auch fand Niemand die Versteinerung, die über mich gekommen, befremdlich. Wußte man doch, wie ich diese Frau geliebt hatte; es war kein Wunder, daß sich der ungeheure Schmerz auf ungewöhnliche Art offenbarte, nicht in Thränen, wie um einen alltäglichen Verlust, sich Luft machte.

Und dann bin ich fortgereis't gleich nach dem Begräbniß. Ich konnte den Anblick unseres kleinen Mädchens nicht ertragen. Ein Jahr hab' ich es noch über mich gebracht, das Leben wie sonst zu führen, meinen Dienst zu thun, mit Menschen, die mir condolirten, die landläufigen Gespräche zu tauschen. Dann nahm ich meinen Abschied und blieb lange ganz einsam, in Studien vertieft, die ich als junger Mensch mit Vorliebe getrieben, mathematische, physikalische, kriegswissenschaftliche.

Die Mathematik war mir noch am vertrautesten. Sie ist so gemüthlos, ihre Probleme liegen fern ab von allem Sittlichen. Aber wenn ich von meinen Figuren und Zahlen wieder aufsah, war doch immer wieder der blasse Kopf auf dem Kissen vor meinen Augen und die ewig bohrende Frage: ob ich auch thun durfte, was ich gethan.

Nun, der Mensch ist wie jedes Naturgeschöpf dazu angelegt, sich den Umständen anzupassen. Der Nacken härtet sich am Joch. Eine Kugel, die man mit sich herumträgt, wird mit der Zeit förmlich zu einem Bestandtheil unseres Organismus, der nur etwa bei einem Witterungswechsel noch als ein fremder Körper empfunden wird. So auch dieser Gedanke, diese ewige Frage. Ich wurde wieder fähiger, Menschen zu ertragen, ich reis'te und hatte Interesse an den neuen Dingen, die ich sah, ich war beinah wieder ein freudenfähiger Mensch geworden. Aber das stand mir über allem Zweifel: auch wenn sich mir wieder ein Glück genähert hätte, das jenem ersten ebenbürtig erschienen wäre, ich durfte ihm nicht wieder den Eingang in mein Herz verstatten.

Glauben Sie nicht, theure Lucile, daß ich je bereute, so gehandelt zu haben. Ich wußte, wenn die That mit all ihren jetzt wohlbekannten Folgen noch einmal in meine Hand gelegt würde, ich müßte sie wieder thun. Aber wer so etwas gethan hat, der ist wie der Henker, der auch nur seine Pflicht thut und doch zu den Unehrlichen gehört. Wer ihn kennt und weiß, was für ein trauriges Amt er auf sich genommen, der weicht ihm aus. Eine unsichtbare Schranke ist zwischen ihm und den harmlosen Menschen aufgerichtet, die nie in die furchtbare Lage gekommen sind, dem langsamen Gericht der Natur vorzugreifen, den dünnen Faden, an welchem ein Menschenleben hängt, zu zerschneiden. Und Jener vollzieht den Spruch des Rechts über Ungerechte. Ich aber – es hat nie ein schuldloseres Herz in einer Weiberbrust geschlagen als ihres.

Er stand auf und blieb vor der athemlos Lauschenden stehen.

Haben Sie Dank, sagte er, daß Sie mich geduldig angehört haben. Sie begreifen, wenn man so lange Jahre solche Gedanken in sich nährt und Tag für Tag herumwälzt, so ist es eine Wohlthat, seine Brust einmal lüften und Alles aussprechen zu können. Und nun leben Sie wohl. Es ist Zeit –

Nein, mein Freund, unterbrach sie ihn. So dürfen Sie nicht von mir gehen. Ich kann das unbegrenzte Vertrauen, das Sie mir geschenkt, nicht annehmen, ohne es zu erwiedern. Aber wenn ich Sie noch so tief in den innersten Grund meines Herzens blicken ließe, nicht eine Regung würden Sie darin entdecken, die mich Ihnen entfremdet hätte, seit ich Alles weiß. O mein Gott, wie könnte ich an das Schicksal dieser armen jungen Frau denken, ohne bei allem Jammer sie glücklich zu preisen, daß sie einen solchen Freund besessen, der ihr treu blieb auf Tod und Leben. Haben Sie vergessen, was ich heute im Wäldchen drunten von dem Wagniß sagte, als welches mir jede Ehe erschiene? Nun, ihr ist es geglückt. Sie hat in der höchsten Noth den Helfer gefunden, nach dem so Manche sich vergebens sehnen wird. Nein, lieber Freund, fuhr sie erregter fort und stand von dem Bänkchen auf, Sie sind mir nicht unheimlich geworden, durch das, was Sie gethan. Ich gestehe Ihnen, daß ich oft den Kopf geschüttelt habe, wenn ich sah, wie Aerzte es für ihre Pflicht halten, ein verlorenes Leben, das ihnen jammervoll unter den Händen hinschwindet, mit aller Mühe und Kunst noch um Wochen, Tage und Stunden zurückzuhalten, Qualen zu verlängern, nur um das arme Dasein, das allen Werth verloren, noch zu fristen; wie mit den letzten Athemzügen noch gegeizt wird, als wollte man die Galgenfrist eines Verurtheilten um jeden Preis verlängern. Ist das nicht eines der grausamsten, gedankenlosesten Vorurtheile unserer menschlichen Gesellschaft? Wenn wir ein Thier leiden sehen, beeilen wir uns, seine Qualen zu verkürzen. Einen armen Schmetterling, der sich an einer Kerze halb verbrannt hat, erlösen wir geschwinde von seinem verstümmelten Dasein. Und die, die uns die Liebsten und Nächsten sind, sehen wir nicht nur unthätig sich in Todesschmerzen hinquälen, sondern entfernen aus ihrer Nähe Alles, was ihnen in einem Augenblick der Verzweiflung dazu helfen könnte, ein Ende zu machen! Von jedem kleinsten Schmerz suchen wir sie zu befreien, jeden Splitter, den sie sich in die Haut geritzt, ziehen wir sorgsam aus, und mit der größten, der unerträglichsten Qual, dem Sterbenwollen und Nichtsterbenkönnen, haben wir kein Erbarmen. Der Arzt mag vielleicht das Recht zu eigenmächtiger Hülfe sich nicht anmaßen dürfen. Wie vielem Mißbrauch wäre da Thor und Thür geöffnet! Aber ein Freund – ein Gatte – der den Muth haben sollte, die Verantwortung für einen solchen Liebesdienst auf sich zu nehmen – und der wendet den Rücken und versinkt in ein thatloses Mitgefühl, aus feiger Selbstsucht! Ich habe oft darüber nachgegrübelt und mich nur damit getröstet, daß kommende Zeiten, wie mit anderem Aberglauben, auch mit diesem so verhängnißvollen aufräumen werden. Wer aber jetzt schon den Muth hat, in diesem Punkt nur seine Liebe und sein Gewissen zu befragen, sollte ich den – wie Sie sagten – verabscheuen? nicht vielmehr bewundern und glücklich darüber sein, ihn auch meinen Freund nennen zu dürfen?

Sie erröthete, da die letzten Worte ihr entfallen waren, aber die Bewegung des Augenblicks hob sie darüber hinweg. Auch schien er nicht darauf geachtet zu haben, welch ein Sinn aus diesen Worten herauszuhören war.

Sie haben völlig Recht, sagte er, und Alles, was Sie empfinden, entspricht auch meinem innersten Gefühl. Darum aber können Sie sich doch nicht ganz in meine Lage hineindenken. Gerade weil Zwei, die sich so innig angehören, Eins werden, kann nach solchem Schicksal der Eine, der übrig bleibt, nie wieder sich eines eigenen Glückes würdig fühlen. Ein Liebespaar, das zusammen zu sterben beschließt, weil es sich nicht angehören soll, ist weit klüger. Der Mann, der erst die Geliebte und dann sich selbst tödtet, thut seine Schuldigkeit, und Lob und Tadel seiner That sind ihm sehr gleichgültig. Aber Sie glauben nicht, wie niederschlagend das Gefühl für einen Mann ist, einer Frau diesen Dienst geleistet zu haben, ohne ihr nachzusterben. Die Sorge für das Kind – nun ja, im ersten Moment mag diese Rücksicht sich geltend machen. Aber auf die Länge ist das unhaltbar. Unser kleines Mädchen ist so gut aufgehoben, auch wenn ich nicht bei ihr bin – ja besser, als wenn ich ihre Erziehung übernähme. Unfrohe Menschen taugen nicht zur Gesellschaft für Kinder. Und wie soll Jemand Freude um sich verbreiten, der das Organ, sich zu freuen, verloren hat? Ist Ihnen das nicht klar? Können Sie dagegen mit irgend einem Argument aufkommen, das sich immer nur an den Verstand, nicht an das Gefühl wendet?

Sie haben vielleicht Recht, erwiderte sie nach kurzem Besinnen. Was Sie nicht verwinden können, ist eben etwas Unfaßbares: Sie glauben, eine unritterliche That begangen zu haben. Das ist ein Begriff, der mit der eigentlichen Sittlichkeit nichts zu schaffen hat, der aber doch in vielen Fällen stärker ist als alle moralischen Erwägungen. Aber wenn nun Eine von dem Geschlecht, gegen das Sie sich verschuldet zu haben glauben durch diese vermeintliche Unritterlichkeit, Sie im Namen aller ihrer Schwestern losspricht? Wenn ich Ihnen die ehrliche Versicherung gebe, daß ich Sie um nichts höher schätzen würde, wenn Sie in jener Nacht Ihrer armen Frau nachgestorben wären?

Er sah einen Augenblick zu Boden. Dann blickte er sie innig an und hielt ihr beide Hände hin.

Sie sind ein Engel, sagte er; ich werde es Ihnen ewig danken, was Sie an mir gethan. Aber glauben Sie mir, es ist umsonst. Ich muß die Last noch eine Weile weitertragen, Niemand kann sie mir abnehmen. Ich würde eine neue Schuld auf mich laden, wenn ich irgend Jemand zumuthete, dies verstörte Leben mit mir zu theilen. Sie wissen Alles, was ich noch sagen möchte. Sie haben meinen Brief gelesen. Es ist nun auch für mich ein unschätzbarer Gewinn, daß Alles so kommen mußte, daß wir das letzte Wort einander sagen konnten. Nun aber bitte ich Sie herzlich, bleiben Sie Ihren Grundsätzen getreu und verhelfen auch mir zu einem raschen Ende. Sie wissen nicht, welchen Kampf ich zu kämpfen habe.

Er ließ ihre Hände fahren und griff nach seiner Reisetasche und dem Hut, die er auf die Bank gelegt hatte. Sie erwiderte kein Wort; auch einen schweren Seufzer, der sich ihrer Brust entringen wollte, zwang sie hinab. Ein seltsamer Ausdruck von Entschlossenheit lag plötzlich in ihrem Gesicht, als sie sich ganz ruhig zu ihm wandte und sagte: Wir haben hier schon zu lange gerastet. Der Papa möchte unruhig werden, denn in einer halben Stunde ist es Nacht. Kommen Sie! Sie werden spät in Davos eintreffen. Uebrigens wandert es sich gut bei Sternenlicht.

Dann schritt sie wieder voran, und er folgte ihr, ein wenig betroffen über ihren plötzlichen Gleichmuth nach so aufregenden Gesprächen. Sie ging behutsam die abschüssige Straße hinab, mit der Spitze ihres Schirms den Weg prüfend. Zuweilen stand sie still und sah wie träumend über die Wipfel hinweg in die abenddunklen Thäler. Sie sprach aber kein Wort. Es war völlig, als hätten sie sich schon getrennt und Jeder ginge nun allein seines Weges weiter.

Auf einmal hörte er, wie sie leicht aufschrie, und sah sie ausgleiten und seitwärts niedersinken. Im Augenblick war er neben ihr und versuchte sie aufzurichten.

Sie wehrte ihn nicht ab. Eine tiefe Blässe hatte ihr Gesicht entfärbt. Doch versuchte sie zu lächeln.

Es ist Nichts, sagte sie. Ein ungeschickter Tritt – mein unzuverlässiger linker Fuß, der mir wieder einmal einen Streich gespielt hat. Papa hat Recht behalten mit seiner Warnung. Warum versteigt man sich auch in solche Regionen, von denen man nur schwer den Rückweg findet!

Eine seltsame Bitterkeit lag in dem Ton, mit dem sie diese Worte sagte. Er überhörte es aber, ganz erfüllt von der Sorge, daß sie sich ernstlich beschädigt haben möchte.

Nein, beruhigte sie ihn, es ist ganz gewiß nichts Arges, ich kenne das leider schon; nicht zum ersten Mal läßt mich der schlecht geheilte Knöchel im Stich. Aber er treibt es zum Glück nicht bösartig. Nur eine ruhige Nacht und eine kleine Compresse mit Franzbranntwein, den ich deßhalb immer mit mir führe – und morgen ist alles wieder in bester Ordnung.

Morgen? rief er. Aber um Gottes willen, wie wollen Sie bis morgen – hier in dieser Wildniß – Sie müssen mir erlauben, hinunterzueilen und eine Sänfte oder einen Wagen –

Bemühen Sie sich ja nicht! unterbrach sie ihn lebhaft. Eine Sänfte ist im Ort nicht aufzutreiben, und einem Wagen würde ich mich auf diesem bedenklich schmalen, abschüssigen Pfade nimmermehr anvertrauen, zumal es tiefe Nacht werden würde, bis die Hülfe käme. Nein, seien Sie ohne Sorge, es wird Alles gut und glatt abgehen. Zum Glück sind wir nur eine kurze Strecke von unserem Blockhaus entfernt. Da oben im weichem Heu eine schöne Sommernacht hinzubringen, ist wahrlich kein Unglück. Eine rechte Alpenfreundin thut so etwas zu ihrem Vergnügen. Wenn Sie mich nur bis dahin begleiten und ein wenig stützen wollen, bergauf kann ich die hundert Schritte wohl noch ohne Schaden zurücklegen. Und wenn ich dann droben installirt und häuslich eingerichtet bin, brauche ich weiter Nichts, und Sie sollen in Ihrem Reiseplan keineswegs gestört werden.

Was muthen Sie mir zu, theures Fräulein! rief er in hellem Unmuth. Sie glauben, ich würde Sie in dieser einsamen Höhe Ihrem Schicksal überlassen? Meine einzige Sorge ist nur, daß Ihr guter Papa Sie vergebens erwarten und sich todt ängstigen würde. Aber auch dafür – wenn Sie wirklich auf Ihrem Entschluß bestehen – kann ja Rath geschafft werden. Ich führe Sie erst hinauf und eile dann in den Ort hinab, Ihren Vater zu benachrichtigen. Er mag dann selbst überlegen, was er thun will. Jedenfalls lasse ich Sie nur die kurze Zeit allein.

Sie sah nachdenklich vor sich hin. Nein, sagte sie endlich, er würde gewiß nicht unten bleiben, sondern bei Nacht und Nebel zu mir heraufklettern, um hier oben eine abscheuliche Nacht zu verbringen, da er all seine gewohnten Bequemlichkeiten vermissen würde. Wir müssen ihn freilich beruhigen, aber auf eine Art, daß er den Gedanken, mich aufzusuchen, nicht fassen kann. So geht's am Besten – so brauchen auch Sie sich nicht ohne Noth zu bemühen.

Sie hatte sich auf dem Rasenabhang, auf dem sie ruhte, halb aufgerichtet und öffnete jetzt das Täschchen mit ihren kleinen Unentbehrlichkeiten. Rasch hatte sie ein Blatt aus des Vaters Skizzenbuch ausgerissen und schrieb nun darauf mit großen, hastigen Buchstaben:

»Liebster Papa, mein Fuß hat sich wieder einmal unnütz gemacht, ich bin ausgeglitten und habe ihn natürlich wieder ein bischen verstaucht. Eine Bagatelle, Papa. Aber du weißt, wenn ich mich nicht ganz still verhalte, schwillt das Gelenk wieder an. Zum Glück ist hier ein Bauernhaus in der Nähe, wo ich die Nacht ganz comfortabel zubringen kann und auf einem weichen Lager prächtig aufgehoben bin. Also ängstige dich ja nicht, liebster Papa, geh ruhig zu Bett – du fändest mich ja doch nicht, wenn du nicht den ganzen Ort aufbötest und jedes Blockhaus im Rütiwald mit Laternen durchsuchen ließest, was sehr feuergefährlich wäre. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wiederum geweckt von deiner dich zärtlich liebenden landstreichenden Tochter

Lucile.«

So! sagte sie, indem sie das Blatt künstlich in Kreuzform zusammenfaltete und die Adresse darauf schrieb, nun müssen Sie nur die Güte haben, das Billet noch hundert Schritte weiter bergab zu tragen und dem Hüterbuben einzuhändigen, der eben im Begriff ist, seine Heerde zusammenzutreiben, um sie für die Nacht in die Ställe drunten zu führen. Er muß ja an unserem Hôtel vorbei. Obwohl er nicht der Weltkundigste ist, so gescheit wird er schon sein, diese Botschaft richtig zu bestellen. Er braucht nur im Vorübergehen dem Portier das Briefchen zu übergeben, nicht einmal den Namen, der darauf steht, zu behalten. Er soll königlich belohnt werden. Aber eilen Sie, ehe es zu spät wird.

Er wollte etwas erwidern. Aber ihr Blick und ihre Rede waren so bestimmt, daß er jeden Widerspruch aufgab. In fünf Minuten bin ich wieder bei Ihnen! rief er. Rühren Sie sich ja nicht vom Fleck. Sie dürfen keinen Schritt allein gehen.

*

Als er nach einer kleinen Weile wieder heraufkam, fand er sie noch auf derselben Stelle sitzend. Sie hatte ein Fläschchen neben sich stehen, mit dessen Inhalt sie ein Tüchlein getränkt und dann den Verband um ihren schlanken Knöchel herumgelegt hatte. Vielen Dank! rief sie ihm entgegen. Und nun lassen Sie uns die Herberge aufsuchen.

Sie erhob sich mit sichtlicher Mühe, ehe er noch hinzuspringen konnte, nahm dann aber seinen Stock und die Stütze seines Armes ohne Weigerung an. Es gehe leidlich, bergan, versicherte sie, immer mit leichtem Erröthen, während sie sich kaum fühlbar auf seinen Arm stützte. – Soll ich Sie nicht tragen? fragte er. Der Weg ist nicht steil, und Sie sind eine leichte Last. – Davon aber wollte sie nichts hören. Sie haben ohnehin Mühe und Ungelegenheit genug mit mir, und ich störe Ihnen Ihren Reiseplan. Aber wahrhaftig, es ist völlig unnöthig, daß Sie mich hier oben bewachen. Keine Menschenseele würde mich in der Heuhütte suchen, und reißende Thiere, wie Sie wissen, hausen im Prättigau nicht mehr. – Er erwiderte nichts, sorgsam den Boden im Auge haltend, um jeden Stein zu vermeiden. Erst als sie das Blockhaus wieder erreicht hatten und sie erschöpft auf das Bänkchen gesunken war, sagte er sehr ernst: Ich bitte Sie nochmals, theure Lucile, lassen Sie mich Hülfe von unten holen und Sie sicher zu Ihrem Vater zurücktransportiren. Daß ich Sie hier unter keinen Umständen verlassen werde, steht fest. Aber eben darum – ich möchte Sie auch nicht müßigem Geschwätz aussetzen. Wer weiß, wie dieser Unfall herumgetragen und glossirt werden wird! Sie setzen sich leicht über boshafte Verläumdungen hinweg. Mir aber darf es nicht gleichgültig sein; es ist meine Freundespflicht, Sie daran zu erinnern.

Sie reichte ihm die Hand, doch ohne ihn anzusehen. Ich danke Ihnen, sagte sie. Aber machen Sie sich keine Sorge. Ich nehme alle Folgen auf mich und bin überzeugt, es hat keine Gefahr. Wenn Sie aber wirklich darauf bestehen, Ihre Ritterdienste dem fahrenden Fräulein zu widmen – bitte, schöpfen Sie mir ein wenig Wasser; ich bin ganz verschmachtet.

Sie nahm einen kleinen silbernen Becher aus ihrer Vorrathstasche und reichte ihn Rüdiger.

Darf ich Ihnen nicht von meinem Wein anbieten? fragte er. Meine Reiseflasche ist heute erst mit gutem Sassella gefüllt worden, und Sie werden eine Stärkung nachdem Schrecken gebrauchen können.

Sie schüttelte den Kopf. Sie wissen, ich liebe den Wein nicht. Aber nun fällt mir erst aufs Herz, daß man in dieser Waldherberge auf Gäste nicht eingerichtet ist. Sie werden hungern müssen, auch wenn ich meinen ganzen Vorrath Ihnen auftische – sehen Sie: ein einziges Brödchen mit etwas kaltem Fleisch, das ich für den Papa mitgenommen habe. Er ist auch darin wie ein großes Kind, daß er alle Augenblicke Hunger bekommt und eigentlich zu jeder Stunde essen kann. Nehmen Sie nur. Ich selbst könnte um die Welt nichts genießen – wenn ich Schmerzen habe. Und hier ist noch ein Päckchen Chocolade. Wenn Sie Ihren Wein nicht schonen, halten Sie's doch am Ende mit diesem Souper bis morgen aus.

Sie hatte ein reines Tüchlein auf die Bank gebreitet und lud nun ihren Gast ein, sich zu Tisch zu setzen. Sie selbst leerte den Becher, den er ihr am Brunnen füllte, mehreremal. Dabei sprachen sie nur verlorene, gleichgültige Worte; doch wurde sie immer heiterer, da sie dem Reiz dieses wunderlichen Beisammenseins in der Bergeinsamkeit nicht widerstehen konnte. Ihr verbundener Fuß ruhte ganz behaglich auf einem runden Holzklötzchen, das er herbeigeschafft. Er fragte zuweilen, ob sie noch Schmerzen habe. – Bis morgen früh werden keine Bulletins mehr ausgegeben! erwiderte sie abweisend. Es schien, daß sie nicht gern an dies Gebrechen erinnert sein wollte. Sie betrachtete lange voll Entzücken den Sternhimmel, an dem die Milchstraße sich in besonderer Leuchtkraft hervorthat. Einige der Sternbilder kannte sie, andere nannte er ihr, und sie vertieften sich in ein astronomisches Gespräch. Dann bestand sie darauf, daß er das Brödchen essen mußte, das er noch nicht angerührt hatte. Sie gehe nicht eher schlafen, versicherte sie. Dann müsse sie von der Chocolade kosten, verlangte er, was sie auch endlich that. Unten sitzen sie nun nach einem langweiligen Abendessen im Damensalon oder vor der Thür und ahnen nicht, wie schön es hier oben ist! sagte sie. Ich glaube, an mir ist eine gute Sennerin verloren. Ich erschrecke oft selbst, wenn ich mich darauf ertappe, wie wenig ich die Menschen brauche und wie viel interessanter als das gewöhnliche Geplauder ich das Gebimmel einer Kuhglocke finde oder das knuspernde Geräusch einer Ziege, die Kräuter abweidet. Verrathen Sie mich ja nicht! Ich bin ohnehin unbeliebt genug.

Er hatte nicht das Herz, mit einer zierlichen Redensart zu antworten. Auch ihm war es nicht um die Menschen zu thun; desto inniger genoß er die Nähe dieses Mädchens, das hier so traulich an seiner Seite saß und – wie er wohl fühlte – mit ihm wie mit sich selber sprach. Ihm war nach der langen schmerzlichen Beichte das Herz so leicht geworden, wie er es seit all den Jahren nicht mehr gekannt. Aber seine Entschlüsse blieben unerschüttert.

Neun Uhr schlug es unten vom Kirchthurm. Sie erhob sich ein wenig unbeholfen, aber ohne einen Schmerzenslaut.

Es ist Zeit, zu Bett zu gehen, sagte sie; nicht für civilisirte Menschen, aber für Waldmenschen wie unsereins. Wenn Sie mir die Fallthür öffnen wollten, die über dem Treppchen zu liegen pflegt – ich krieche dann in die Beletage hinauf und überlasse Ihnen das Parterre. Aber wie werden Sie hier unten sich betten können? Im warmen Stall ist's nicht reinlich, und hier draußen auf dem harten Boden ist nicht einmal ein Leintuch vorhanden, das Sie ausstopfen und zum Kopfkissen nehmen könnten.

O, sagte er lächelnd, sorgen Sie nicht um einen alten Soldaten, der an viel unwirthlichere Bivouacs gewöhnt war! Wenn Sie nur ein erträgliches Lager finden.

Er klomm die kleine Stiege hinauf, stemmte sich gegen die derbe Klappe, mit welcher der obere Raum verschlossen war, und tauchte dann in das Dunkel hinein, das nur durch die Ritzen zwischen den schweren Balkenwänden einen schwachen Lichtschein und Luftzug von außen erhielt. Nach wenigen Minuten glitt er die Stiege wieder hinab.

Ich habe Ihnen droben ein Lager zurechtgemacht, so gut es die Umstände gestatten, sagte er lächelnd. Breiten Sie Ihr Plaid über das Heu und wickeln ein Tuch um den Kopf, so werden Sie Morgen kaum Nachwehen Ihres ungewohnten Nachtlagers empfinden. Und wenn Sie mir folgen, trinken Sie einen Becher Wein. Gerade weil Sie ihn nicht gewöhnt sind, wird er Ihnen zu einer guten Nacht verhelfen.

Sie nickte und sah ihn freundlich an. Sie sind sorgsam wie eine Kinderfrau. Ich will aber auch ein gehorsames Kind sein.

Sie trank von dem Wein und stieg dann mit einiger Mühe das Treppchen hinan. Als sie droben war, rief sie ihm noch eine gute Nacht hinunter. Dann schloß sie leise die Fallthür. Die Zugluft ist so empfindlich! entschuldigte sie sich. – Sie haben Recht! antwortete er. Auf der Alm soll man nicht bei offenen Thüren schlafen.

Nun war er allein. Der heitere Zug, der, während sie mit ihm war, sein Gesicht belebt hatte, verschwand sofort, und die düstere Falte zwischen seinen Brauen zog sich wieder zusammen. Er goß den Rest des Weines in das Becherchen, das sie auf die Bank gestellt hatte, und trank an der Stelle, die von ihren Lippen noch warm war. Dann nahm er eine Cigarre, zündete sie an und blies, langsam über den schmalen Vorplatz auf und ab schreitend, den blauen Rauch in die Nacht hinaus.

Ihm zu Häupten regte sich Nichts mehr. Tausend Gedanken gingen ihm in wilder Flucht durch den Kopf, immer kehrte der eine zurück, daß er hier nur durch eine dünne Bretterdecke von dem getrennt war, was sein bestes Glück, der einzige Trost in seinem verödeten Leben sein konnte. Und er schritt hier unten hin und wieder wie ein Wächter, der ein Schatzhaus bewacht, von dessen kostbarem Inhalt ihm selbst nichts gehören soll.

Er wiederholte sich jedes Wort, das sie auf sein langes Bekenntniß erwiedert hatte. Er mußte sich sagen, daß er eine vollständigere Begnadigung nie aus irgend einem sterblichen Munde erwarten durfte. Aber die alte Gewohnheit der Selbstzucht und Selbstverdammniß war mächtiger als jede Lockung zu Glück und Versöhnung.

Er konnte den Streit seines Inneren endlich nicht mehr ertragen, warf die Cigarre weg und bereitete sich zu seiner Nachtruhe vor. Das runde Klötzchen, auf das sie den kranken Fuß gestützt, legte er an das Kopfende, seine Reisetasche darauf und streckte sich dann genügsam auf den hölzernen Boden, der ihm kein allzu unsanftes Lager schien, wenn er an die Laufgräben vor Paris und die Schneefelder dachte, in denen er manche Nacht campirt hatte.

Eben hatte er sich zurechtgelegt, da öffnete sich die Fallthür, und ein großes Bündel Heu, in ein dunkles Tuch zusammengeknüpft, fuhr die Stufen hinab und rollte ihm gerade vor die Füße. Er sah erschrocken auf.

Was thun Sie? rief er, sich aufrichtend. Wollen Sie mir nicht glauben, daß ich nichts mehr zu meiner Bequemlichkeit bedarf?

Besser ist besser! hörte er die Stimme seines unsichtbaren Schutzgeistes wispern, während die Klappe der Fallthür sanft wieder geschlossen wurde. Ich gebe Ihnen nur von meinen Ueberfluß ab. Heu habe ich à discrétion, und das Plaid, das mir in meinem warmen Bett ganz überflüssig ist, wird Ihnen unter freiem Himmel gute Dienste leisten

Ich werde es nie und nimmer zugeben! rief er zurück; so gern ich von Ihrem Ueberfluß mitgenieße, das Tuch aber müssen Sie auf jeden Fall zurücknehmen.

Gut! hörte er sie sagen. Dann verspreche ich Ihnen, daß ich die ganze Nacht kein Auge zuthun werde, aus Angst, Sie möchten um meinetwillen sich erkälten. Sie kennen die Bergnebel nicht, die in dieser Höhe so tückisch herumspuken. Wollen Sie es darauf ankommen lassen, daß ich eine schlechte Nacht habe und mich mit Ihnen ernstlich überwerfe? Und wenn es nur eine Grille von mir wäre – seien Sie der Vernünftigere und geben Sie nach. Wenn Sie mich lieb haben, kein Wort weiter als eine letzte gute Nacht!

Sie wußte wohl, welchen Trumpf sie mit diesem Wort ausspielte. Schweigend erhob er sich, bereitete sich auf dem Heu eine etwas weichere Lagerstatt und zog das große dunkle Tuch über sich her, mit stiller Wonne den leisen Duft athmend, den Alles, was sie besaß, ausströmte. Als er so nach ihrem Willen gethan, rief er leise hinauf: die Rollen sind vertauscht; die Kinderfrau ist nun selbst zu einem artigen Kinde geworden und hofft morgen früh gelobt zu werden! Schlafen Sie wohl, Fräulein, und haben Sie gute Träume!

Gute Nacht! klang es ebenso leise von oben. Dann blieb Alles still. Man konnte deutlich das Rauschen der Landquart hören, die tief unten in der Schlucht ruhelos zu Thal stürmte.

*

Das eintönige Schlaflied aber hielt ihn wach, statt ihn einzulullen. Er horchte mit überspannten Sinnen umher und wälzte sich wie ein Fieberkranker auf seinem kühlen Lager. Die Stunden gingen träge und schauerlich hin; Mitternacht hatte längst auf dem Thurm unten ausgeklungen, und noch starrte er mit heißen offenen Augen gegen die Balkendecke über seinem Haupt. Er stand endlich auf, tastete sich nach dem Brunnen hin und kühlte sich die brennenden Schläfen unter dem sprudelnden Strahl. Dann suchte er wieder sein Lager auf, wickelte sich fest in Lucile's Plaid, und indem er immer nur an ihre Augen dachte und alle anderen Bilder und Gedanken entschlossen abwehrte, kam endlich eine Stille über ihn, und er schlief fest und traumlos ein.

Als er die Augen wieder aufschlug, war es hell um ihn. Doch konnte er sich nicht sogleich besinnen, wo er sich befand, und ob er wirklich wache oder einen abenteuerlichen Traum träume. Denn auf dem Bänkchen neben ihm saß Lucile, schon in ihrer vollständigen Wanderausrüstung, die Tasche umgegürtet, den Hut auf dem Kopf und den Sonnenschirm in Händen.

Seine Augen trafen die ihrigen, die mit einem heiteren, doch etwas verschleierten Glanz auf ihm ruhten.

Guten Morgen, Herr Hauptmann, hörte er sie sagen. Sie haben für einen Wachtposten fest genug geschlafen, und inzwischen hätte ich Ihnen zehnmal entwischen können. Aber Sie hätten am Ende geglaubt, ich sei Ihnen gestohlen worden, deßhalb blieb ich. Nun aber wird es Zeit sein zur Reveille. Es ist halb sechs Uhr. Der Papa wird bald aufstehen und dann doch ängstlich sein, was über Nacht aus seiner verlorenen Tochter geworden ist.

Er sprang in heller Beschämung in die Höhe. O Fräulein Lucile, rief er, denken Sie nicht zu schlimm von mir! Ich habe die halbe Nacht umsonst auf Schlaf gewartet, und war davon so ermattet, daß er mich nachher überfallen konnte wie ein gewappneter Mann. Nun aber steh' ich zu Diensten. Wie haben Sie geschlafen? Was macht Ihr Fuß?

Geschlafen hab' ich, als ob ich ein gutes Gewissen hätte, und mein Fuß hat sich über Nacht eines Besseren besonnen, antwortete sie erröthend. Den Verband hab' ich nur aus Vorsicht erneuert, der Schmerz ist völlig verschwunden. Indessen Sie schliefen, hab' ich auch schon ein wenig Morgentoilette gemacht dort am Brunnen. Hoffentlich sieht man mir nicht mehr an, daß ich im Heu übernachtet habe. Jetzt hab ich nur zwei lebhafte Verlangen: meinen guten Papa zu umarmen und mich an einem reichlichen Frühstück für das mangelhafte Souper von gestern Abend zu entschädigen. Also kommen Sie!

Sie stand von dem Bänkchen aus, trat an ihn heran und begann ohne Weiteres ihm die Heuhälmchen vom Rock zu lesen und mit ihrem Tuch den Staub von seinem Hut zu klopfen. So! sagte sie, nun sind Sie präsentabel, und nun bitte ich um Ihren Arm. Niemand, der uns begegnet, wird ahnen, woher wir kommen und daß wir die Nacht nicht in ganz normalen Gasthofsbetten zugebracht haben.

Sie stützte sich leicht auf seinen Arm, doch schien ihr das Gehen in der That keine Mühe zu machen. Aber der scherzhafte Ton, den sie angestimmt, versagte ihr, je weiter sie auf ihrem langsamen Wege hinabkamen. Sie fanden die Kühe und Ziegen aus dem Dorf schon wieder auf ihren Weideplätzen zerstreut; der Hüterbub lag unter einer Tanne und schlief. Unten im Thal war noch eine graue Nebellust verbreitet, aber die Gipfel glühten herrlich im Morgenlicht. Für all das schien sie weder Auge noch Herz zu haben; vielmehr stand sie öfters still, athmete schwer, wie wenn es nicht bergab, sondern eine steile Höhe hinanginge, und ihr Blick irrte unstät am Boden hin. Auch er blieb stumm. Er hatte ein paarmal auf der Zunge, zu fragen, ob sie sich hier nicht trennen sollten; die Rücksicht darauf, wie man es deuten möchte, wenn man sie zu dieser unerhörten Stunde Arm in Arm aus dem Wald herabsteigen sähe, ängstigte ihn beständig. Doch konnte er es nicht über sich gewinnen, da sie noch so unsicher sich auf den Füßen hielt, sie hier sich selbst zu überlassen, und spähte nur scharf umher, ob kein verdächtiger Zeuge um den Weg sei.

Plötzlich erschrak er und blieb stehen. Er hörte einen eiligen Schritt hinter der nächsten Waldecke herauskommen. Soll ich nicht lieber von Ihnen gehen? fragte er.

Sie sah ihn ruhig an. Ich habe Ihnen gesagt, was ich von dem Gerede der Leute halte, erwiderte sie. Thun Sie nun, was Ihnen gut dünkt.

Dann, nach einem kurzen Lauschen: Ihre Sorge ist umsonst gewesen. Der frühe Bergwanderer ist Niemand anders als mein großes Kind, das seiner Bonne entgegeneilt. Papa! rief sie, lieber armer Papa, bist du sehr böse auf deine Lucile? Hab' ich dir sehr viel Sorge gemacht?

Sie ließ den Arm ihres Begleiters fahren und flog die kurze Strecke hinab dem alten Herrn in die Arme, der mit hochgeröthetem Gesicht, aber vor Freude leuchtenden Augen ihr entgegenkam.

Gott sei gepriesen! rief er noch athemlos, als er sich aus ihrer stürmischen Umarmung losgemacht hatte. Da ist das ungerathene Mädel! Da hab' ich die Landstreicherin wieder! Laß dich ansehen, du böses Kind! Heil vom Kopf bis zu den Füßen? Und so rosige Bäckchen, als ob das unartige Fräulein, das seinem Papa so viel Noth gemacht, den Schlaf des Gerechten geschlafen hätte? Hundert Mal hab' ich mich einen Thoren und Schlimmeres gescholten, daß ich mich so ohne Weiteres gefügt und nicht dennoch Alles aufgeboten habe, um dich in deinem Nachtquartier aufzusuchen. Aber ich bin leider zu sehr an Gehorsam gewöhnt – die reine verkehrte Welt – ein noch ganz rüstiger, wohlconservirter Vater, der sich von seinem unartigen jungen Kinde gängeln läßt, als ob er ein decrepiter Greis wäre. Damit hat's nun aber ein Ende. Von heute an – ah, der Herr Hauptmann! Sie auch schon auf den Beinen, werther Freund? Und wie sind Sie auf den Gedanken gekommen – oder hätten Sie gar –

Er verstummte, da ihm jetzt erst der Gedanke kam, daß er die Tochter ja in dieser Gesellschaft gestern zurückgelassen hatte. Erkläre mir, Kind – stammelte er, indem er seine Augen mit drolligem Entsetzen von Einem zum Andern gehen ließ.

Alles soll dir klar werden, lieber, bester Papa! unterbrach ihn die Tochter, indem sie seinen Arm ergriff und sofort Anstalten machte, sich von ihm hinabführen zu lassen. Nur gedulde dich noch ein kleines Weilchen. Wir haben noch nicht gefrühstückt, ich bin halb ohnmächtig vor Hunger, und ehe wir nicht an einem gedeckten Tische sitzen, kannst du keinen zusammenhängenden Bericht über dies Intermezzo von mir verlangen. Uebrigens war es nicht so interessant, wie du vielleicht glaubst. Ich bin jedoch dem Herrn Hauptmann den größten Dank schuldig, daß er so ritterlich bei mir ausgeharrt hat.

Das Gesicht des kleinen Herrn war sehr nachdenklich geworden.

Der Hauptmann – stammelte er – er hat wirklich –? – Nun allerdings, auch ich bin ihm sehr verpflichtet. Aber im Grunde – du hättest es doch nicht von ihm annehmen sollen. Die Bauersleute, in deren Hause du übernachtet hast, hätten dich wohl allein bis zum Morgen behüten können. Man muß denn doch – es giebt Rücksichten – wenn du nicht immer bloß an das Nächste dächtest –

Nicht schelten, Papa! sagte sie leise. Wenn er es hörte! Er hat nicht so bequem ruhen können wie ich; stell dir vor: auf dem gedielten Vorplatz vor dem Hause, im Freien, nur ein Bündel Heu unterm Kopf – aber von all dem nachher. Jetzt ist die Hauptsache, daß wir ohne neuen Unfall unten ankommen.

Da hörten sie die Stimme des Hauptmanns hinter sich.

Sie werden mich entschuldigen, bester Baron, wenn ich mich hier von Ihnen verabschiede. Ich habe droben etwas vergessen, was ich noch suchen muß, ehe es ein Anderer findet. Fräulein Lucile bedarf meines Schutzes nicht mehr, da ich sie jetzt in so guter und sicherer Obhut sehe. Ich selbst – ich möchte nicht erst in mein Hôtel zurück, wo man mich seit gestern Abend abgereis't glaubt. Man würde sich wundern, daß ich diese Nacht hier in der Gegend und nicht unter dem gewohnten Dache zugebracht habe. Hoffentlich hat der kleine Unfall keine weiteren Nachwehen. Und da wir schon gestern Abschied genommen haben –

Der Baron war stehen geblieben und hatte den seltsamen Freund mit verblüfftem Gesicht angestarrt. Aber, theurer Freund – brachte er stotternd hervor – ich bitte Sie um Alles – wenn Sie doch schon einmal Ihre Abreise verschoben haben – es wäre mir ein so herzliches Bedürfniß – Sie haben meiner Lucile einen so großen Dienst erwiesen –

Ihr Fräulein Tochter wird Ihnen erzählen, wie wenig ich für sie thun konnte. Statt alles Dankes erlauben Sie mir, so unhöflich es auch scheinen mag, gleich jetzt meiner Wege zu gehen. Vielleicht – wer kann es wissen – das Leben führt die Menschen so räthselhaft auseinander und wieder zusammen – lassen Sie uns auf Wiedersehen! sagen und jetzt einander zum letzten Mal die Hand drücken.

Er trat auf Lucile zu, die todtenblaß, keines Wortes mächtig, neben ihrem Vater stand, ergriff ihre Hand, die er rasch an seine Lippen drückte, schüttelte dem ganz entgeisterten alten Herrn die Rechte und wandte sich dann hastig ab, einen Richtweg einschlagend, der wieder in die Höhe führte.

*

Fast ohne ein Wort auszutauschen, hatte das Paar seinen Niedersteig fortgesetzt, der alte Herr sichtbar bekümmert durch einen Gedanken, der ihn trieb, zuweilen still für sich den Kopf zu schütteln, seine Tochter so völlig nach innen gekehrt, daß sie sich wie mit verbundenen Augen der Führung ihres Vaters überließ. Als sie den Gasthof unten erreicht hatten, der schon von früh Abreisenden zu Fuß und zu Wagen belebt wurde, ließ sie den Arm ihres Papa's fahren und sagte: Du mußt mir erlauben, auf meinem Zimmer zu frühstücken, wenn ich mich erst ein wenig ausgeruht habe. Ich fühle mich unsäglich erschöpft, aber ängstige dich nicht, du kennst meine Natur, ich bin leicht zusammengeknickt und gleich wieder in der Höhe. Sorge nur für dich selbst. Du bist das frühe Klettern nicht gewöhnt und mußt mir versprechen, sehr gründlich zu frühstücken.

Sie machte einen schwachen Versuch, ihn anzulächeln, streichelte ihm die Wange und küßte seine Hand; dann ging sie in ihr Zimmer hinauf und schloß sich ein.

Kaum aber fand sie sich allein, so brach die lange zurückgehaltene Erregung in einen Strom von Thränen aus, den sie nicht zu hemmen suchte. So wie sie ging und stand, mit Hut und Wandertasche, war sie auf das Ruhebett gesunken und lag zusammengekauert, schluchzend wie ein Kind, wohl eine halbe Stunde, ohne auch nur den Versuch zu machen, die Herrschaft über sich selbst, die sie lange genug geübt, wiederzugewinnen. Als die Thränen endlich zu fließen aufhörten, richtete sie sich ein wenig auf und fing langsam an, ihr schmerzliches Inneres zu mustern, gleichsam das Inventar aller qualvollen Gefühle und Gedanken aufzunehmen, deren sie sich nach und nach mit immer deutlicherer Schärfe bewußt wurde.

Er war von ihr gegangen, jetzt unwiderruflich und für immer. Wie sie ihren Verlust verschmerzen sollte, begriff sie noch nicht; das aber war nicht ihr bitterster Kummer. Ihn jetzt wieder in das öde, glücklose Leben hinauswandern zu wissen, von jenem Gespenst verfolgt, das nur von ihm lassen konnte, wenn wieder eine warme Hand in seiner ruhte und eine vertraute Stimme ihm im Ohre klang – und denken zu müssen, daß sie nun unabsehliche Jahre darauf warten würde, ob sein Wort sich erfüllen, ob wirklich das räthselhafte Leben sie wieder zusammenführen sollte – –

Aber sie durfte sich diesen lebensfeindlichen Gedanken nicht wehrlos überlassen. Sie hörte die Stimme ihres Vaters draußen, der leise anklopfte und fragte, wie sie sich fühle und ob sie ihn nicht sehen wolle. Sie bat noch um eine halbe Stunde. Dann aber mußte sie ihm ein heiteres Gesicht zeigen; ihr großes Kind durfte nicht darunter leiden, daß sie ein schweres Schicksal zu tragen hatte.

Sie fing an sich umzukleiden. Alles, was sie an diese Nacht erinnerte, mußte sie sich aus den Augen schaffen. Als sie sich dann im Spiegel betrachtete, sagte sie ernsthaft vor sich hin: »Das ist die Lucile von gestern nicht mehr – und wird's auch nie wieder!« – Dann aber erhob sie sich gefaßt und wollte eben Anstalten machen, ihren Thee zu bestellen, da klopfte es abermals an der Thür. Herein! rief sie und schob den Riegel zurück. Die Thür ging auf, und herein trat nicht der Vater, wie sie erwartet hatte, sondern Rüdiger.

Er sah noch ernster aus als bei dem Abschiede vor wenigen Stunden, und seine bräunlichen Wangen waren geröthet.

Verzeihen Sie, theure Lucile, daß ich so früh bei Ihnen eindringe, sagte er mit dem Ton verhaltener Erregung. Zweimal habe ich Abschied von Ihnen genommen; nun komme ich doch wieder und muß Sie fragen, oh Sie damit einverstanden sind, wenn es nun überhaupt keine Trennung zwischen uns mehr geben soll?

Sie sah ihm schweigend mit gespanntem Blick, als verstände sie kein Wort von seiner Rede, ins Gesicht.

Ich komme, fuhr er fort, um Sie zu fragen, ob Sie nach Allem, was Sie nun von mir wissen, das Herz haben, es mit mir zu wagen. Daß Sie mir Ihre Freundschaft darum nicht entzogen, habe ich mit tiefer Dankbarkeit empfunden. Was ich aber jetzt fordere, ist Mehr als ein Gefühl menschlicher Theilnahme. Ich weiß ja, wie Sie davon denken, daß Sie es für eine Tollkühnheit halten, sich auf Tod und Leben, wie Sie sagten, einem Anderen hinzugeben. Auch bilde ich mir nicht ein, das Bekenntniß, das ich Ihnen gemacht, lasse Ihnen dies Wagestück minder gefährlich erscheinen. Vielmehr bin ich selbst nur noch zaghafter geworden, es Ihnen zuzumuthen; und gewiß, ich wäre jetzt schon auf dem Wege, weit fortzugehen, die Kluft zwischen uns immer breiter zu machen, so daß die Versuchung, sie zu überspringen, immer schwächer würde. Ich habe aber inzwischen Etwas erlebt, was es mir zur Pflicht macht, Sie selbst entscheiden zu lassen.

Sie war auf einen Stuhl gesunken, immer noch unfähig, ein Wort hervorzubringen. Er stand am Tische, auf den er sich in sichtbarer Erschöpfung stützte, daß die Platte leise zitterte.

Als ich Sie unten angekommen glaubte, fuhr er fort, stieg ich selbst aus dem Walde hinab. Ich war entschlossen, noch am Morgen den Weg nach Davos zu machen, mit der Post, die um halb zehn Uhr von unten heraufkommt. Denn Alles, was die letzten Stunden gebracht, lag mir in den Gliedern – ich schäme mich, wie hart es mir zugesetzt hat – Sie erlauben wohl, daß ich mir einen Stuhl nehme. Nun also – um die paar Stunden hinzubringen, ging ich in das Erlenwäldchen, das noch ganz menschenleer war. Ich warf mich auf eine Bank und starrte besinnungs- und gedankenlos in den Fluß. Es währte aber nicht lange, so hörte ich Schritte den Gang hinter mir herkommen und sah, durch die Stämme hinter meinem Rücken selbst den Blicken entzogen, Ihre »blaue Dame« mit irgend einer anderen langsam sich nähern, in so eifrigem Gespräch, daß sie auf nichts in ihrer Nähe achteten. Denken Sie nur, meine Liebe, sagte die Blaue, die ganze Nacht ist sie ausgeblieben, der Himmel weiß wo, aber jedenfalls wird man es noch erfahren. Und er, der es sehr klug zu machen glaubte, wenn er seinen Koffer nach Davos vorausschickte und vorgab, er wolle ihm zu Fuß folgen, er ist ebenfalls noch heute früh hier herum gesehen worden. Nun, man weiß, daß sie ein extravagantes Geschöpf ist; es ist nicht viel an ihr verloren. Nur der arme alte Papa thut mir leid. Ich habe eine Cousine, die in derselben Stadt lebt und die Familie ganz gut kennt. Sie hat mich in ihrem letzten Brief ausdrücklich gewarnt, mich mit diesem hochmüthigen Ding nicht zu liiren. Nun wird sie die Hände überm Kopf zusammenschlagen! Was an dem Ruf dieser Prinzessin noch heil war – nach einem solchen Abenteuer, begreifen Sie wohl – Das Uebrige blieb mir unverständlich. Die beiden Damen entfernten sich von meiner Bank, und ich sah nur noch das blaue Morgenkleid Ihres liebevollen Schattens durch die Stämme schimmern. Muß ich noch etwas hinzusetzen? Werden Sie es nicht selbst begreifen, daß plötzlich alles Zaudern alle Rücksicht aus mich selbst und die Vorsätze, die ich für mein Leben gefaßt, schwinden mußten, daß ich nur noch den einen Gedanken habe, Ihnen, theure Lucile, jeden Kummer zu ersparen, Ihr Leben so leicht und glücklich zu machen, wie es irgend in meiner Macht steht?

Er war aufgesprungen und vor sie hingetreten. Sie aber saß, den Kopf tief auf die Brust gesenkt, und eine Weile schien es, als ob die alte Schranke zwischen ihnen unüberwindlich bleiben sollte.

Endlich hob sie den Kopf ein wenig. Aber ihr Gesicht zeigte noch keinen Schimmer von Freude.

Es überrascht mich nicht, sagte sie leise. Auch dies sieht Ihnen so ähnlich. Für sich selbst haben Sie auf jedes Glück verzichtet. Sobald es aber gilt, einen Stein aus dem Wege zu räumen, an dem mein Fuß sich stoßen könnte, kennen Sie keine andere Pflicht als sich mir zu widmen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie tief mich das rührt. Wenn Sie mir nicht schon so theuer gewesen wären, wenn ich nicht hundert Beweise von ihrer selbstlosen Güte, Ihrer Ritterlichkeit hätte – die Art, wie Sie mir jetzt begegnen – Aber eben darum, weil ich Sie für den besten Menschen auf Erden halte, bin ich jetzt so tief erschrocken, daß Sie mir Ihr ganzes Leben schenken wollen. Denn mich – mich kennen Sie nicht so gut, wie ich Sie kenne; Sie wissen nicht – o mein Gott, wenn ich geahnt hätte, daß es so kommen würde –

Theuerste Lucile, rief er leise und beugte sich zu ihr hinab, was ist Ihnen? Was für seltsame Zweifel und Sorgen? Ich Sie nicht kennen? Ich lege die Hand dafür ins Feuer, daß ich Sie nur inniger und grenzenloser lieb gewinnen kann, je mehr ich jede Faser Ihres Herzens kennen lerne.

Sie schüttelte langsam den Kopf. Und doch habe ich Sie betrogen, sagte sie tonlos. Ja, ich habe Sie hintergangen und begreife jetzt nicht, wie ich es übers Herz bringen konnte. Ich war aber so rathlos, so verzweifelt, ich griff nach dem Ersten Besten, was mir ein Auskunftsmittel schien, und wenn es eine Lüge sein sollte. Als Sie nach unserem langen Gespräch droben bei der Blockhütte Ihr letztes Wort gesagt hatten, daß, wer eine solche Erinnerung an eine unselige That mit sich trage, nicht würdig und fähig sei, ein neues Leben zu beginnen, als Sie dann aufstanden und sich anschickten, den letzten Weg anzutreten, der uns für immer auseinander führen sollte, da rief es in mir: So kannst du ihn nicht gehen lassen! In dieser Stimmung könnt ihr euch nicht trennen! Du mußt ihn festhalten um jeden Preis; Zeit gewonnen, ist Alles gewonnen, und vielleicht bringt die Nacht guten Rath. Es ist ja unmöglich, daß du weiterlebst, wenn du ihn draußen in der Welt mit diesem Schicksal herumirren weißt. Und da – da gerieth ich auf den Einfall – der Papa hatte mich an meinen Fuß erinnert – ich glitt in der That ein wenig aus – aber ich verletzte mich durchaus nicht, und nur wie Sie fragten, ob ich mir nichts gethan, da sagte ich die Lüge, die mich jetzt in Ihren Augen so tief erniedrigen muß, denn damit begann die ganze Komödie, die ich vor Ihnen gespielt und an die ich jetzt nur mit tiefster Scham und Reue zurückdenken kann.

Als er hierauf noch immer schwieg, fuhr sie nur noch trauriger fort: Sie haben ganz Recht, es war unverzeihlich. Am Abend konnte ich mir noch darüber weghelfen. Immer noch hoffte ich, es würde wenigstens zu einem guten Ziele führen, ein erlösender Gedanke würde mir kommen. Ja, lassen Sie mich Alles gestehen: selbst daran dachte ich, daß Sie vielleicht thun würden, was Sie jetzt gethan: nur darum von Ihrem Entschluß ablassen, weil – weil Sie mich compromittirt hätten. Gewiß, als ich den Fall that, dachte ich daran noch nicht; mir war's nur um eine Bedenkzeit zu thun, um Aufschub unserer Trennung. Aber in der Nacht, wie es mich nicht schlafen ließ – denken Sie nur, ich wünschte, man möchte uns aufsuchen und uns so unter demselben Dache finden. Als ich dann aber am Morgen aufwachte und Alles war noch wie am Abend vorher – wie mir da zu Muthe war, kann ich nicht beschreiben. Und dann trafen wir den Vater, und dann nahmen Sie zum zweiten Mal Abschied – da glaubte ich, das Herz müsse mir mitten entzweispringen. Das ganze täuschende Spiel war umsonst gewesen, und zu allem Kummer um Ihr Schicksal noch der Gedanke, daß Sie mich verachten würden, wenn Sie wüßten, welch niedriges Mittel ich angewendet, um Sie zu halten. O, die bösen Zungen, die so hämisch meinen Ruf vernichten möchten – was sie mir nachsagen mögen, ist mir sehr gleichgültig, und wahrhaftig, um ihretwillen brauchen Sie Ihrem Entschluß nicht untreu zu werden. Ich werde mit freier Stirn nach Hause zurückkehren und mich so ausführen, daß die Lästerer verstummen müssen. Wenn Sie mir nur sagen, daß Sie mir Ihre Freundschaft nicht völlig entziehen wollen, wenn auch freilich Ihre Gefühle für ein Mädchen, das Sie so hintergehen konnte –

Sie sollte das Wort nicht zu Ende bringen. Sie fühlte sich plötzlich von seinen Armen umschlungen und an seine Brust emporgezogen. Geliebtes Herz! rief er, ist es möglich? Das hast du für mich gethan? Du, die Wahrhaftigste deines Geschlechts – um mein verlorenes Leben zu retten, hast du die Wahrheit verleugnet? O, wenn es eine Sünde war, so beschämt sie viele Tugenden, die aus einem kälteren Herzen entspringen! Welchen höheren Beweis kann ich noch verlangen, daß es nicht bloß himmlisches Erbarmen ist, wenn du dich auf Tod und Leben mir ergeben willst! Sag, ist es denn wahr? du liebst mich? fast so sehr, wie ich dich liebe? Dein Glück und Leben hängt daran, daß ich nicht von dir gehe? So wäre ich ja ein selbstsüchtiger Thor, ein todeswürdiger Verbrecher, wenn ich nur an mein Schicksal dächte, und die lebenslange Buße, die ich auch fernerhin allein zu tragen entschlossen war, würde auf dich zurückfallen. Nein, sage kein Wort mehr! Laß mich deine Lippen küssen, die nach einer feierlichen Absolution von dieser ersten und letzten Sünde verlangen! Lucile – ist es denn möglich –

Sie hörten es nicht, daß an der Thür gepocht wurde, daß sie dann leise sich öffnete und der alte Herr hereintrat.

Dieu de Dieu! rief er. Sie hier? Nehmen Sie zum dritten Mal Abschied – und so zärtlich? – Ich kenne mein sprödes Kind gar nicht wieder!

O liebster Papa, sagte die Tochter, indem sie sich erröthend aus Rüdiger's Umarmung losmachte und an die Brust ihres Vaters warf – dein sprödes Kind ist nicht mehr vorhanden; du hast nur noch ein glückliches Kind!

 

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Buchdruckerei von Gustav Schade
(Otto Francke) in Berlin N.

 


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