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Himmlische und irdische Liebe.

(1885.)

 

Eines Sonntagmorgens im Hochsommer öffnete ein junger Gelehrter das Fenster seines rings mit Büchern überhäuften Studirzimmers, sah in die noch schattenkühle Gasse hinab, auf der nur wenige Kirchgänger und spielende Kinder zu erblicken waren, und verfolgte dann am Himmel ein helles Wölkchen, das langsam wie ein stillvergnügter Spaziergänger durch die blaue Unermeßlichkeit dahinwallte. Von dem Gesicht des Mannes schwand die leichte Spannung, welche seine Morgenarbeit darauf zurückgelassen hatte. Er lächelte vor sich hin und nickte ein paar Mal mit dem Kopf, wie Jemand, der einen guten Einfall gehabt hat und sich im Stillen dazu Glück wünscht. Dann verließ er das Fenster, kramte eine Weile auf dem Schreibtisch herum, bis er eine Cigarrentasche und ein Notizbüchlein unter seinen Heften und Papieren fand, und trat dann mit lebhaften Schritten, nachdem er die Thüre sacht geöffnet hatte, in das Nebenzimmer.

Hier saß, den Rücken ihm zugekehrt, an einem Schreibtischchen neben dem Fenster eine hochgewachsene Frau, deren Gestalt, da die Jalousieen herabgelassen waren, von einer grünen Dämmerung umflossen war. Ueber ihr an der Wand konnte man einen schönen, schwarzeingerahmten Kupferstich, Raphael's Poesie darstellend, nur in den Umrissen erkennen, darunter jenes spätentdeckte Dantebildniß aus dem Florentiner Bargello in farbiger Nachbildung, in dem übrigen, nicht gar großen Raume eine Fülle schöner Kunstwerke, sorgfältig gewählt und geordnet, auch einen Strauß frischer Rosen auf dem Tisch vor dem Sopha. Das Zimmer, dessen Fenster nach dem Hausgärtchen gingen, war noch stiller als das Arbeitszimmer nebenan. Und wenn es in seiner ausgesuchten künstlerischen Ausstattung, deren Krone die Trippelsche Goethebüste unter einem Schirmdache lebender Palmen war, sich ganz wie ein kleiner Musentempel ausnahm, erschien die Bewohnerin auf den ersten Blick als eine würdige Priesterin dieses geweihten Raumes.

Sie saß und schrieb eifrig in ein Buch, das in weiße Seide gebunden war, so ganz in ihre Gedanken vertieft, daß sie erst aufblickte, als sie eine sanfte Hand auf ihrer Schulter fühlte und die Stimme hinter sich hörte, die mit gutmüthiger Schalkhaftigkeit zu ihr sagte: Verzeih, wenn ich deine Weihestimmung unterbreche, liebe Frau. Du bist für den übrigen Tag desto sicherer vor jedem Ueberfall; denn ich habe mich eben entschlossen, nicht auf der Eisenbahn zu unserm Fest zu fahren, sondern schon jetzt aufzubrechen und den Weg zu Fuß zu machen. Es sind kaum anderthalb Stunden, und es thut mir Noth, mich einmal wieder auszulüften nach der Versessenheit der letzten Wochen. Wenn du dich entschließen könntest, mit mir zu gehen – der Weg am Fluß ist so hübsch und bequem, du könntest dann, wenn ich dich verlassen muß, mit dem Mittagszuge zurück, und wer weiß, ob die neun Musen mit dieser Sonntagsfeier nicht zufriedener wären, als wenn du ihnen, wie gewöhnlich, hier in deinem Schattenwinkel Audienz giebst. Willst du, Gina?

Sie hatte sich halb nach ihm umgewendet und dabei das Buch zurückgeschoben, daß er nicht erkennen sollte, was sie schrieb. Die großen dunklen Augen in dem edelgebildeten Gesicht ruhten mit einem unfreundlichen Ausdruck auf seinen heiteren Mienen.

Du weißt, erwiderte sie, daß ich deine Scherze über meine Beschäftigung nicht liebe, und könntest mich nach meiner Art und meinen Bedürfnissen gewähren lassen, wie ich dich; zumal ich es mir längst abgewöhnt habe, dir ein Interesse an dem, was mir lieb und wichtig ist, zuzumuthen. Daß du einen Morgengang der Eisenbahn vorziehst, finde ich sehr vernünftig; ich aber mag diese Sonntagsfrühe lieber für mich genießen. Also leb wohl und viel Vergnügen!

Sie nickte ihm kühl einen Gruß zu und sah wieder von ihm weg. Er aber blieb ruhig neben ihr stehen.

Wie kannst du glauben, Gina, daß ich dir deine stillen Freuden nicht gönnen oder mir gar einen unartigen Scherz darüber erlauben würde! Jeder hat seine eigene Manier, sich mit seinem lieben Gemüthe zu verständigen, sich selber dann und wann Beichte abzunehmen. Du thust es in gebundener Rede in einem gebundenen Buch, ich, indem ich auf einer einsamen Wanderung mit dem Stock Funken aus den Steinen schlage oder eine harmlose Distel köpfe, wodurch ich mich meiner überflüssigen Grillen und Schrullen entledige. Ich bin unmuthig, Liebste. Ich habe schlechte Arbeit gemacht in den letzten Tagen, ein paar Bogen Manuscript zerrissen, weil ich plötzlich merkte, daß ich in einen ganz verwünschten wohlweisen Professorenstil verfallen war, statt einer frischen, farbigen und naiven Geschichtsdarstellung. Nun kommt mir die heutige kleine Festivität gerade gelegen, mich aus meinem Bücherstaube zu machen und etwas Lebensluft zu athmen. Komm, Gina, gieb mir die Hand, sei mir hold und gut! Kennen wir uns so lange, um uns nicht wirklich unsere kleinen Menschlichkeiten freundschaftlich nachzusehen?

Er beugte sich zu ihr hinab und ergriff ihre rechte Hand, in der sie noch immer die Feder hielt. Sie überließ sie ihm, ohne ihre Miene aufzuhellen.

Es scheint, du kannst deinen sarkastischen Ton heute nicht ablegen, sagte sie sehr gelassen. Daß du das, was mir das Göttliche ist, zu den Menschlichkeiten rechnest, die wir einander zu verzeihen haben –

Nein, Herz, unterbrach er sie, thu mir das nicht an, daß du meine Worte auf die Goldwage legst. Und zumal, kurz ehe wir uns für viele Stunden trennen. Denn es wird Abend werden, ehe ich mich von der Gesellschaft losmachen kann. Soll ich den ganzen Tag den Stachel in der Brust fühlen, daß ich dich absichtslos gekränkt habe? Lieber bleib' ich zu Hause, und wir machen am Nachmittag eine Fahrt zusammen. Ja wahrhaftig, das ist das Gescheidteste! Auch taug' ich immer weniger in diesen Kreis, in dem ich doch keinen wirklichen Freund besitze.

Sie stand plötzlich auf. Du verkennst mich sehr, sagte sie, wenn du glaubst, mich mit einem flüchtigen Wort verletzen zu können. Es ist mir nur leid um dich selbst, daß du manche Dinge leicht nehmen kannst, an deren Gewichten am Ende doch Alles hängt, was unser Leben adelt. Aber ich weiß, daß es dir mit solchen Scherzen nicht Ernst ist, und du hast Recht: es wäre traurig, wenn wir uns nicht endlich verstehen gelernt hätten. Also genieße den Tag ohne jedes Mißgefühl, und um mich sei unbesorgt. Ich habe zuweilen Einsamkeit nöthig. Abends erwarte ich meine Intimen; wir lesen heute bei mir.

Ich komme wohl noch früh genug, um mich still dazuzusetzen, sagte er, sichtbar erleichtert. Was habt ihr vor?

Den Philoktet. Aber du liebst ja das Lesen mit vertheilten Rollen nicht. Nein, ich erwarte dich nicht vor neun Uhr zurück. Und so leb wohl!

Sie reichte ihm die linke Hand, die jetzt das Buch hatte fahren lassen.

Nicht die rechte? sagte er heiter schmollend. Und keinen Kuß?

Sie neigte ihren schönen Kopf ein wenig ihm entgegen und bot ihm die Wange.

Es scheint, die Lippen sind mir versagt.

Wenn du wiederkommst und sehr liebenswürdig bist, erwiderte sie.

Das heißt, wenn ich mich gut aufgeführt habe und mir keine Champagnerlaune anzumerken ist, lachte er. Nun, das ist mein geringstes Laster. Mein bischen dürre Vernunft loszuwerden und den Professor über den Zaun zu werfen, danach gelüstet mich freilich dann und wann. Aber der Rausch, der aus einer gekelterten Traube dampft, ist mir zu billig. Du wirst mich, gerade weil rings um mich her verschiedene fünf Sinne ins Schwanken gerathen werden, nur um so aufrechteren Hauptes wiedersehen. Adieu, Liebe! und gute Muse!

Er nickte ihr noch einmal herzlich zu und verließ das Gemach.

*

Als er auf die Straße hinaustrat, blieb er einen Augenblick stehen, nahm den Hut ab und that einen tiefen Athemzug, als fiele ein schweres Gewicht von seiner Brust. Das letzte Wort, das er seiner Frau zugerufen, klang ihm noch im Ohr. Wenn sie die unschuldige Neckerei wieder als einen bösen Spott verstanden hätte und nun den übrigen Tag im Gefühl der Kränkung verbrächte? Doch konnte er es nicht über sich gewinnen, noch einmal die enge Treppe des alten Hauses hinaufzueilen, um sie zu versöhnen. Sie war in der letzten Zeit so wunderlich reizbar geworden. Wer konnte wissen, ob er nicht mit einem gutgemeinten Wort das Uebel ärger machen würde.

Doch währte es eine Weile, bis er seine freie Stimmung wiedergewonnen. Dazu halfen ihm vor Allem die Kinder, die ihm begegneten, und mit denen er sich, seiner Gewohnheit nach, im Vorübergehen einließ. Die in seiner Straße wohnten, kannten ihn alle; manche kamen auf ihn zugesprungen und hielten ihm ihre kleinen Hände zutraulich entgegen. Zu den schüchternen trat er wohl heran, strich ihnen übers Haar und erkundigte sich nach ihren kleinen Sonntagsfreuden. Aber auch mit ganz unbekannten und zumal den ärmlichsten und scheinbar mißvergnügten knüpfte er kleine Discurse an, die selten verfehlten, sie vertraulich zu machen. Dieser seiner Neigung konnte er nur nachhängen, wenn er allein wandelte. Frau Gina war kinderlos und liebte die Kinder nicht.

So war er ein paar Straßen weit gegangen, als er, um eine Ecke biegend, eine Männergestalt vor sich erblickte, die desselben Weges zu gehen schien, mit solcher Eile, daß er gut ausschreiten mußte, um den Wohlbekannten einzuholen. Erkennen mußte er ihn schon von Weitem. Denn es war eine Figur, die schon vom Rücken gesehen oder im Schattenriß sich von allen anderen unterschied. Kurze Beinchen in schlotternden Hosen trugen einen unverhältnißmäßig langen und mächtigen Oberkörper, zu dessen Seiten übermäßig lange Arme herabhingen, dazu auf dem struppigen Haupthaar ein glänzender Seidenhut mit breiter Krämpe, der von den eiligen Bewegungen des rasch dahin Schreitenden beständig schwankte und zu fallen drohte.

Wohin so im Sturm? rief der Nachkömmling den Eiligen an, als er ihn endlich eingeholt hatte. Zur Predigt kommen Sie doch zu spät.

Der Angerufene blieb stehen und sah sich um. Ueber sein breites Gesicht, das wegen seiner geistreichen Häßlichkeit berühmt war, ging ein gutmüthiges Lächeln, wobei er zwei Reihen großer weißer Zähne zeigte.

Sie sind es, Chlodwig! sagte er. Seit wann sind Sie im Dienst der inneren Mission und notiren die Abtrünnigen, die Sonntags hinter die Kirche gehen? Und Sie selbst, der Sie den Feiertag an Ihrem Schreibtisch zu heiligen pflegen? Wie steht es mit Ihrem großen Werk über Ihren fränkischen Namensvetter?

Nicht zum Besten, lieber Freund, erwiderte der Gelehrte. Ich war gestern so unvorsichtig, ein paar Kapitel im Herodot zu lesen. Seitdem will mir unser verzwickter wissenschaftlicher Stil nicht mehr schmecken. Zum Glück ist gerade heute das Jahresfest der »Universitas« auf der »Sommerlust«, das mich ohnedies von der Arbeit losgespannt hätte. Wie wär's, Berndt, wenn Sie sich entschlössen, mein Gast zu sein? Sie kennen ja die Gesellschaft, und was den Ort betrifft, so weiß ich, daß Sie ihn besonders in Affection genommen haben. War's nicht auch dort, vor zwei Jahren, wo wir uns zuerst ein wenig näher gekommen sind?

Das Gesicht des Anderen hatte sich plötzlich verfinstert und den Ausdruck eines drolligen Entsetzens angenommen. Er zuckte mit den buschigen Augenbrauen, wobei der Hut sich so weit zurückschob, daß die schöne, starkgewölbte Stirn frei wurde.

Bei allen Göttern, rief er, was muthen Sie mir zu? Einen so schönen Tag in so guter Gesellschaft zuzubringen, die nur darum die gute heißt, weil – nun Sie kennen den boshaften Vers, und wenn irgend wo, so paßt er auf Ihre »Universitas«. Nichts für ungut, lieber Professor, aber ich begreife nicht, wie Sie Gefallen daran finden können, eine solche zünftige Festivität mitzumachen. Ich will mich lieber in den Dunst und Lärm einer Bauernhochzeit hineinsetzen, als in ein Festessen dieser höchst gebildeten Leuchten der Wissenschaft, wo Jeder von seinem Nachbarn durch einen mannshohen Zaun getrennt ist, oder wie in einem Zellengefängniß sich höchstens durch ein dumpfes Klopfen an der Wand verständigen kann. Oder sagen Sie selbst: wenn Sie heute neben unserm großen Chemiker oder unserm Geologen oder Orientalisten zu sitzen kommen, sind Ihnen diese Ihre verehrten Collegen nicht so fremd und unverständlich, als wäre die »Universitas« der Thurm von Babel, an welchem Sie alle mitbauten? Welche Ideen, Interessen, Bildungsprobleme haben Sie mit diesen großen Specialisten gemein? Die schönen Künste? Ein schöner Name, der in unserm kleinen kunstlosen Forschernest so ohne Anschauung nachgestammelt wird, wie in einem Blinden-Institut von Tag und Nacht die Rede ist. Die schöne Literatur? Wie dürfte sich ein Gelehrter herablassen, von ihr Notiz zu nehmen, ehe sie der Gegenstand der historischen Betrachtung geworden ist! Ein Theater haben wir nicht, Menschheitsfragen stören unsere Cirkel nicht, das Leben unserer Mitmenschen mag für die Weiber ein Plauderstoff sein – bleiben also nur die Zunft-Interessen, von der Berufung eines neuen Ordinarius bis zur Anstellung eines neuen Pedells hinab, und – die Politik, über die natürlich Jeder das letzte Wort zu sagen weiß, so rasch er sonst mit dem Vorwurf des Dilettantismus bei der Hand ist. Und wenn der Champagner dann erst das Blut im Kreise treibt, wenn die alten Herren sich den Bücherstaub aus den Augen reiben und aus der Philisterhaut fahren Himmel, was für armselige Hanswürste kriechen dann aus der ehrwürdigen Vermummung! Ich wiederhole es: ein Haufen betrunkener Bauern ist mir lieber, als diese hochverdienten Priester der sogenannten Wissenschaft, wenn sie von ihren Dreifüßen heruntersteigen und zwischen der zweiten und dritten Flasche feierlich erklären, daß nichts Menschliches ihnen fremd sei.

Sie sind heute gut aufgelegt, sagte Chlodwig lachend. Aber selbst wenn Sie in Ihrer Timon-Laune unsere Zustände richtig geschildert hätten, was ich durchaus nicht zugebe, – wissen Sie ein besseres Mittel, die trennenden Zäune einzureißen und sich aus dem Zellengefängniß zu befreien, als daß man von Zeit zu Zeit sich gesellig zusammenthut und sich daran erinnert, daß das stockende Blut in unsern Adern doch der besondere Saft ist, der alle Söhne der alma mater zu Brüdern macht?

Wenn es nur mit dem guten Willen gethan wäre! rief der Andere und drückte eifrig den Hut, den er zu verlieren Gefahr lief, mit einem heftigen Ruck in die Stirn. Es giebt aber leider so ungleiche Brüder, daß sie sich weniger verstehen, als Wildfremde. Und eine solche Geselligkeit soll dem Uebel abhelfen? Von der die Weiber ausgeschlossen sind, die einzig und allein in glücklicheren Zeiten die Blüte dessen entwickelt haben, was den Namen Bildung verdient? Aber der Deutsche wird bis ans Ende der Dinge keine Geselligkeit im schönsten Sinne kennen, weil sein Allerheiligstes, wo ihm das Herz aufgeht, doch ewig die Kneipe bleibt, und seine Verehrung der Frauen eine fable convenue ist, die seit Tacitus gläubig nachgebetet und von lyrischen Dichtern in schöne Verse gebracht wird.

Sein Gesicht hatte sich geröthet, er hustete und wandte sich, als ob er sich schämte, zu offenherzig gewesen zu sein, nach der anderen Seite. Lieber Freund, versetzte Chlodwig nach einer kleinen stummen Pause, Sie sagen da so viel Wahres, daß es um die Uebertreibungen schade ist, mit denen Sie es ungenießbar machen. Was mich aber vor Allem wundert: wie kommen Sie, ein erklärter Weiberfeind, dazu, plötzlich alles gesellschaftliche Unheil von der falschen Stellung der Frauen herzuleiten?

Ein Weiberfeind? rief der Andere und blieb stehen. Wenn ich es wäre, käme ich bei allen gescheidten Menschen wahrscheinlich in den Verdacht, die Rolle des Fuchses zu spielen, der behauptet, daß Trauben ein ungesundes Essen seien. Glauben Sie mir, werthester Freund, ich halte die Weiber trotz alledem für die bessere und schönere Hälfte der Menschheit, und wenn ich den unsrigen ohne zu große Selbstüberwindung aus dem Wege gehe, ist es nur, weil sie nicht das sind, was sie sein könnten, wenn wir, die Männer, uns anders gegen sie betrügen. Ich bin nicht umsonst so viel herumgefahren unter anderen socialen Himmelsstrichen, wo man noch des naiven Glaubens lebt, am Weibe sei das vor Allem reizend, was das Geschlecht von unserem unterscheidet, nicht der Geist, sondern die Natur. Und nun sehen Sie doch unsere Professorenfrauen, Honoratiorinnen, gebildete Töchter gebildeter Eltern an, bei denen das, was trotz aller Bildungsexercitien an Natur etwa noch geblieben ist, nicht zur Entfaltung kommen kann, weil sie ihre lieblichen freien Künste in der Schnürbrust der Sitte nicht nach Herzenslust üben und an uns auslassen dürfen, wie das in allen südlichen Ländern so herrlich betrieben wird! Aber wohin gerathen wir da! Sie haben noch einen weiten Weg, und Seine Magnificenz wartet gewiß nicht mit der Suppe auf Sie. Gott befohlen!

Er schüttelte Chlodwig mit einem treuherzigen Auflachen die Hand und wollte um die nächste Ecke biegen. Sagen Sie mir nur noch, warum Sie solche Eile haben, daß Sie nicht wenigstens noch eine Strecke weit mit mir schlendern können! rief Chlodwig ihm nach.

Berndt blieb stehn. Auch ich heilige meinen Feiertag, sagte er verlegen lächelnd. Wenn Sie es nicht weitersagen wollen: in der Woche bin ich so überhäuft, daß ich eine Menge guter Leute abweisen muß, besonders solche, die mir mit Bagatellsachen den Kopf warm machen. Die such' ich dann am Sonntag auf und gebe ihnen guten Rath, ohne daß mein Concipient die Besuche ins Schuldbuch notirt. Da ich wenig Glauben habe, muß ich darauf sehen, mich vielleicht mit ein bischen guten Werken in den Himmel hineinzuschwindeln, und gehe lieber in der Vorstadt meiner Armenpraxis nach, als daß ich mir auf der »Sommerlust« an zweifelhaften Toasten und noch zweifelhafterem Schaumwein einen schweren Kopf hole. Grüßen Sie die »Universitas«,« die ihren Namen wie lucus a non lucendo führt, da Jeder sich sorgfältig hütet, sich mit dem Universum zu befassen, und halten Sie mich trotz meiner bösen Zunge nach wie vor für eine gute Haut. Auf Wiedersehen!

Chlodwig sah ihm einen Augenblick nach, ehe er seinen Weg mit nachdenklichen Schritten fortsetzte. Sein Ziel war ihm plötzlich verleidet; er wäre am liebsten umgekehrt und hätte den schönen Tag ohne geräuschvolle Gesellschaft genossen. Doch auch nach Hause zog es ihn nicht. Frau Gina hatte es ihm nicht verhehlt, daß sie ihn heute nicht vermissen würde. So ging er dennoch vorwärts, oder vielmehr, er ließ sich gehen, da seine Füße ihn trugen, wie ein wackeres Pferd, dem der Reiter den Zügel über den Hals gehängt hat.

Als er erst die letzten Häuser hinter sich gelassen und durch die offenen Straßen, wo die Gemüsehändler ihre Gärten hatten, an den Fluß hinauskam, verflog in dem lauen Morgenlüftchen, das seine Stirn umspielte, die zweifelnde Stimmung, die das Gespräch mit dem grillenhaften Freunde in ihm zurückgelassen hatte. Neben dem Flusse lief die breite, sonnige Fahrstraße hin, die zu dieser Sommerszeit nicht einladend war. Aber ein Fußweg unter Weiden- und Erlenbüschen stieg tiefer ans Wasser hinab und folgte all seinen Windungen, und hier zu wandern, ehe noch die Sonne über die niederen Laubwipfel hereinbrach, war von jeher seine liebste Erholung gewesen. Der langsam fließende Strom, auf dem nur selten ein flacher Kahn vorüberglitt, begleitete mit gedämpfter Musik jede Melodie, die in ihm erklang. Hier hatte er allerlei Herzensnöthe beschwichtigt, wissenschaftliche Probleme ins Reine gebracht, in Zeiten dumpfer Ermattung frische Gedanken gefaßt.

An einer Stelle, wo das Ufer eine kleine Bucht bildete, blieb er stehen, bückte sich und schöpfte mit der Hand ein wenig Wasser, mit dem er seine erhitzte Stirn kühlte. Es war so einsam hier, kein Laut drang wie an Werktagen von der Landstraße herüber, nur die letzten Kirchenglocken summten durch die reine Luft, und zu seinen Füßen rauschte und rieselte die helle Flut, in der sich eine zahllose Brut winziger Fischchen durcheinander tummelte. Wenn Gina hier wäre, sagte er ganz laut zu sich selbst, sie machte ein Gedicht, oder auch zwei. Damit war er wieder bei den Gedanken, die ihn seit der seltsamen Standrede seines Freundes nicht verlassen hatten.

Nein, sagte er, indem er sich von der traulichen Stelle losriß und seinen Weg fortsetzte, er mag Recht haben, so viel er will, aber was folgt daraus? Man muß die Menschen nehmen, wie sie sind, und aus Jedem das Beste zu machen suchen. Und er hat nicht einmal Recht. Was unseren Sitten an Anmuth fehlt, ersetzen wir durch tiefere Eigenschaften, nach denen man bei seinen leichtlebigen Südländern vergebens suchen würde. Ein wenig Philisterthum ist die trockene Rinde, die das Mark gesund erhält. Und was die Frauen betrifft –

Er stockte in seinem Selbstgespräch. Seine Augen folgten einer Seejungfer, die mit schillernden Flügeln vor ihm her schwirrte, jetzt im dichten Weidenlaube verschwand, dann plötzlich wie ein sausendes Lichtfünkchen wieder an ihm vorbeischoß.

Er wußte nicht, wie es kam, aber er sah plötzlich das dämmergrüne Zimmer vor sich, an welchem die schlanke Musengestalt lautlos am Schreibtisch saß und in das weißseidene Buch ihre geheimen wohllautenden Gedanken niederlegte. Und die bösen Reden des leidenschaftlichen Advocaten fielen ihm Wort für Wort wieder aufs Herz. Daß Berndt gegen Frau Gina eine schlechtverhehlte Abneigung hatte, war ihm nicht entgangen. Ein boshaftes Epigramm gegen sie, das man dem Advocaten zuschrieb, hatte dieser freilich entrüstet abgeleugnet, und seit der Zeit, wo er sich mit ihrem Gatten befreundet hatte, war sein Betragen gegen sie, wenn er ihr zufällig begegnete, so höflich und verbindlich, als es der Freund nur wünschen konnte. Doch hatte er sich weder mit Güte noch mit Gewalt in ihr Haus locken lassen und nannte ihren Namen nie, der doch sonst in der kleinen Universitätsstadt von Alt und Jung so häufig und stets mit großer Verehrung ausgesprochen wurde.

Denn sie galt mit Recht für die interessanteste Frau, die jeder Mitbürger zuerst erwähnte, wenn Fremden gegenüber auf die geselligen Kreise der Stadt die Rede kam. Schon Jahre lang genoß sie diesen Ruf, und da sie sich desselben nie überhob und mit großem Takt eine immer gleiche Milde des Wesens verband, die Niemand ihre Ueberlegenheit fühlen ließ, hatten selbst ihre Rivalinnen unter den Professorenfrauen sich endlich darein ergeben, ihr den Vorrang einzuräumen und sie nur in aller Stille zu beneiden. Auch sei es kein Wunder, erklärten die von ihr Ueberglänzten, daß sie eine so ausgezeichnete Bildung erlangt habe, da sie nach dem frühen Tode ihrer schönen Mutter ausschließlich von ihrem Vater erzogen worden sei, der seinen Ehrgeiz darein gesetzt habe, aus dem einzigen Kinde etwas zu machen, was die Erinnerung an die berühmten Frauen der Renaissance, eine Vittoria Colonna und Andere, leibhaft wiedererwecken sollte. Der alte Herr war nicht nur einer der gelehrtesten Pandektisten seiner Zeit, sondern ein tiefer Kenner des Alterthums, dazu reich genug, um seinen Kunstsinn durch Reisen und Sammeln schöner Werke zu bilden. An alledem hatte die Tochter schon in ihren Backfischjahren Theil genommen, ja sogar im Griechischen es so weit gebracht, daß sie den Aeschylus zuerst im Urtext kennen lernte. Als sie dann heranwuchs und ihr schönes Gesicht immer klassischere Züge gewann, wurde sie, was Niemand wundern konnte, von der gesammten Studentenschaft als ein Wunder der Schöpfung betrachtet und so eifrig angebetet, wie ein junges Götterbild in einem alten Heidentempel, das die Augen der Jugend bethört, eben weil es Keinem Erhörung seiner Gebete zuwinkt. In der That schien ihr Herz völlig unanfechtbar, und während der zwanzig Semester, die sie mit den feurigsten jungen Schwärmern als unbestrittene Ballkönigin durchgetanzt hatte, konnte nicht Einer sich rühmen, einen wärmeren Händedruck von ihr empfangen zu haben, als selbst einer Vestalin beim Wirbel eines Straußischen Walzers zu verzeihen gewesen wäre.

Daß sie Verse machte, verhehlte sie auf dreistes Befragen nicht. Doch kam nichts davon zum Vorschein, selbst nicht im vertrautesten Kreise ihrer Mädchenfreundschaften, wo sie nicht minder begeisterte Verehrung fand, als unter den studirenden Jünglingen. Nur wenn es eine öffentliche Gelegenheit zu verherrlichen galt, den Einzug der siegreichen Truppen, ein Concert oder Theater zu einem wohlthätigen Zweck, hatte sie sich zuweilen erbitten lassen, mit einem Prolog oder kleinen Festspiel aus ihrer spröden Verschlossenheit herauszutreten, und diese Dichtungen, obwohl sie über das Maß der landläufigen Nothpoesie nicht weit hinausragten, hatten doch dazu beigetragen, ihren Ruf zu erhöhen. Denn sie bewegten sich meist in jenem edlen antiken Faltenwurf, der schwer erkennen läßt, ob er einen stolzen oder dürftigen Gliederbau umhüllt. Sie selbst schien auf diese Gelegenheitsdichtungen nicht den geringsten Werth zu legen. Wenn man etwas Eigenes aus seinem innersten Gemüth heraus zu sagen habe, erklärte sie, solle man in sein Kämmerlein gehn und die Thür hinter sich zuschließen. Dabei überflog ihr zartes Musenantlitz eine so liebliche Röthe, daß Jeder es als das höchste Glück betrachtet hätte, in diesem Kämmerlein zwischen ihr und ihrem Genius einmal den Dritten im Bunde spielen zu dürfen.

In dieser Weise waren dem gefeierten Fräulein, bei dem ein junger Erbprinz, ein Schüler ihres Vaters, Gevatter gestanden und ihr den Namen Georgina beigelegt hatte, die Mädchenjahre so herrlich vergangen, daß sie auf ihr junges Leben wie auf eine unabsehliche via triumphalis zurückblicken konnte. Unter den Kränzen, mit denen dieselbe reichlich behangen war, fehlte es auch nicht an etlichen Körben, die vorwitzigen Bewerbern zu Theil geworden waren. Diese aber datirten aus ihrer noch grünen Zeit, ehe sie als das »bedeutende Mädchen«, der »Stern« der Stadt, das Palladium der Universität von Allen anerkannt war. Als dieses einmal feststand, war es zwar für jeden neuen Ankömmling, bemoos'tes Haupt oder Fuchs, ordentlichen Professor oder Privatdocenten, förmlich eine Art Pflicht, sich an den tiefsinnigen Augen der schlanken Musengestalt ein wenig zu verbrennen. Im Ernst aber nach ihr die Hand auszustrecken, wäre Jedem, nachdem er das erste Fieber überstanden, so aberwitzig vorgekommen, als wenn er einen Stern hätte vom Firmament herunterholen und in seine Studirlampe stecken wollen. Höchstens einem der Prinzen und Fürstensöhne, die an dieser Universität ihren nothdürftigen juristischen und volkswirthschaftlichen Schliff erhielten, wäre es nicht als Anmaßung ausgelegt worden, wenn er die Augen zu dem Wunderbilde erhoben und die Professorstochter, an der rechten oder linken Hand, die Stufen seines Thrönchens hinaufgeführt hätte. Diese Herrlein aber waren fast immer zu jung oder ihre Hofmeister zu diplomatisch geschult, um es zu solch einem Aeußersten kommen zu lassen.

Eine nach der Andern also verheiratheten sich ihre Jugendfreundinnen, Einer nach der Anderen widmete sie ein sinniges Brautgeschenk mit ein paar weihevollen sapphischen Strophen begleitet, und sie selbst schritt immer noch an der Seite ihres alternden Vaters dahin, den die Jahre gebeugt hatten und der, da sein Augenlicht zu schwinden begann, mit der Selbstsucht sehr alter Leute Nichts weniger gewünscht hätte, als den Stab und die Stütze seiner Antigone an einen Jüngern zu verlieren. Die erste Blüte ihrer Gestalt war schon in leisem Welken, ihr schlankes Gesicht bekam eine fast durchsichtige Blässe, ihre Augen sahen zuweilen wie suchend mit müder Ungeduld umher, und da sie ihr dreißigstes Jahr antrat, erklärte sie mit lächelnder Entschiedenheit, keine großen Feste mehr besuchen und nicht die bescheidenste Française mehr tanzen zu wollen, da ein altes Mädchen, wie sie, Besseres zu thun habe, als dem jungen Nachwuchs den Platz zu stehlen.

Da geschah es bei dem letzten festlichen Anlaß, dem sie sich nicht entziehen konnte, dem fünfzigjährigen Doctorjubiläum ihres eigenen Vaters, daß ihr der junge Historiker, Professor Chlodwig, vorgestellt wurde, der eben erst einem Ruf an diese Universität gefolgt war und bei seinem Antrittsbesuch sie nicht zu Hause getroffen hatte. In dem herrlichen Festkleide, das sie trug – und eines ihrer Talente war, sich aufs Edelste und doch Zierlichste zu kleiden – einen Kranz von weißem Flieder im Haar, eine einfache goldene Kette um den weißen Hals geschlungen, das Gesicht von der Rührung des feierlichen Tages sanft geröthet, erschien dem jungen Manne das schöne Mädchen wie ein Wesen aus einer höheren Welt. Und als sie vollends vor die lauschende Versammlung hintrat und die Verse an ihren alten Vater sprach, in denen Alles zu Worte kam, was sie überhaupt an tieferer und wärmerer Empfindung besaß, war es kein Wunder, daß die bis dahin völlig unberührte Seele des Gastes wie aus einem Zauberschlaf erwachte und sich rettungslos der Erscheinung, die sie geweckt, zu Füßen warf.

Die Erschütterung war so stark, daß sie selbst an diesem ersten Abend sich nicht unter gesellschaftliche Formen bändigen ließ. Auch war der junge Professor, der bisher nur die Leidenschaft für seinen Beruf gekannt hatte, ein solcher Neuling im Verkehr mit Frauen und von so unschuldiger Offenherzigkeit, daß es keine Stunde dauerte, bis er der Herrlichen seine Huldigung dargebracht hatte, in Ausdrücken, die weit über die Grenzen gewöhnlicher Galanterie hinausgingen.

Sie hörte ihn zuerst mit jener hoheitsvollen Bescheidenheit an, mit der sie gewohnt war ihre Verehrer zugleich zu entzücken und zu entmuthigen. Als er sich aber durchaus nicht irre machen ließ und sie sich den naiven Schwärmer ein wenig näher betrachtete, gestand sie sich ein, daß er ungewöhnlich liebenswürdig sei und ein besseres Schicksal verdiente, als mit den anderen gezähmten jungen Anbetern vor ihren Siegeswagen gespannt zu werden. Auch beschlich sie die Ahnung, wenn sie die verhängnißvolle Schwelle der Dreißig überschritten, möchte so bald nicht wieder einer kommen, dem es so treuherziger Ernst damit sei, ihr sein ganzes Herz zu Füßen zu legen. Sie hatte es so manchmal erlebt, daß ein stürmischer Bewunderer schon nach kurzer Zeit vergeblicher Liebesmühe sich einer jüngeren Schönheit zugewendet hatte, die sie für ein herzlich unbedeutendes Gänschen erklärte, und ein glücklicher Ehemann geworden war. Also entschloß sie sich noch an demselben Festabend, den neuen Freund, der in jedem Betracht, durch Stellung, Vermögen und persönliche Vorzüge eine gute Partie war, für immer an sich zu fesseln, bat ihn nur des Anstands halber um eine Woche Bedenkzeit und gestand am anderen Morgen erröthend ihrem Vater, sie habe die oft bezweifelte Wahrheit von der Unwiderstehlichkeit der ersten Liebe an sich erfahren und sich mit dem jungen Professor Chlodwig so gut wie verlobt.

In der nun folgenden Brautzeit suchte sie diese jugendliche Hingerissenheit, die sie sich schuld geben mußte, durch eine gewisse huldvolle Verschämtheit und vestalische Zurückhaltung wieder gut zu machen, ohne den sehr verliebten Mann dadurch abzukühlen. Er wußte, wie unnahbar sie sich bisher gehalten hatte, und da ihm Jedermann dazu Glück wünschte, dies unschätzbare Mädchen so leichten Kaufs gewonnen zu haben, schien es ihm ganz in der Ordnung, daß sie sich ein wenig kostbar machte. Sie aber, wenn ihre Freundinnen ihn rühmten, pflegte, als scheue sie sich, ihr innerstes Gefühl zu zeigen, in das Lob nicht anders einzustimmen, als indem sie sagte, er sei gewiß ein trefflicher Mensch und verdiene so überglücklich zu sein, wie er es ihr alle Tage betheure.

*

Dann hatten sie nach kurzem Brautstand Hochzeit gehalten, zu welcher das ganze Städtchen in und um die Kirche zusammengeströmt war, und nach einer Hochzeitsreise, die der Vorlesungen wegen nur kurz sein konnte, in dem alten Hause, das ihrem Vater gehörte, den zweiten Stock bezogen, wo nun die junge Frau einen musterhaften Haushalt begann. Denn ihre geistigen Gaben und Bedürfnisse hatten sie nie abgehalten, auch jene niederen Tugenden zu üben, auf die man sonst die deutsche Frau zu beschränken liebt. Dabei fand sie immer noch Zeit, sich dem Papa zu widmen, auf Spaziergängen seine Antigone zu sein und in der Ordnung seiner persönlichen Geschäfte ihm an die Hand zu gehen. Ihren jungen Mann behandelte sie in Gesellschaft mit der rücksichtsvollsten Zartheit und Unterordnung, und da sie auch unter vier Augen all seinen Wünschen und Gewohnheiten nachgab, hätte er ein Ungeheuer von Undank sein müssen, wenn er sich nicht für einen Auserwählten des Glücks gehalten hätte.

Auch hielt er sich eine gute Weile in der That dafür. Ja selbst, daß sie ihn dann und wann mit weiser Sanftmuth in seiner übersprudelnden Art zu mäßigen und seinen Humor durch kühle Feierlichkeit zu zügeln suchte, war ihm nicht anstößig. Seine Mutter hatte es ihm oft gesagt, daß er mit seinen kindischen Anwandlungen die Philister um sich her befremde und vor seiner eigenen Harmlosigkeit auf der Hut sein müsse. So war er seiner Frau dankbar, daß sie sich zuweilen fast mütterlich ihm gegenüber geberdete, und da er eine reine und groß zugeschnittene Natur war, fiel es ihm nicht ein, da, wo er sich liebevoll hingab, ängstlich nachzurechnen, ob er ebensoviel zurückerhielt, als er gab. Er fand es ganz in der Ordnung, daß sie noch immer die Miene einer Fürstin beibehielt, die einen ihrer treuergebenen Höflinge sich an die linke Hand hatte antrauen lassen. War sie doch in der That ein Wesen so einzig in seiner Art, daß sie sich bewußt sein durfte, mit ihrer Person einen unbezahlbaren Schatz verschenkt zu haben.

Die erste Trübung kam über seinen heiteren Himmel, als ihr Vater starb und die Tochter monatelang sich einer so leidenschaftlichen Trauer ergab, daß der junge Gatte sich sagen mußte, mit all seiner Liebe sei er nicht im Stande, ihr den Verlust auch nur zum kleinsten Theile zu vergüten. Sie besuchte täglich zu einer bestimmten Stunde den Friedhof, wo sie lange verweilte, besorgte die häuslichen Pflichten mit der Miene einer Schlafwandlerin und blieb die halben Nächte in ihrem Zimmer eingeschlossen, mit dem Ordnen der väterlichen Papiere beschäftigt, nicht selten auch ihre Trauer in Versen ausströmend, die sie sorgfältig vor jedem Auge verbarg. Chlodwig hatte sich endlich kummervoll darein ergeben, in seiner Ehe halb und halb ein Junggesellenleben zu führen. Daß er an einer großen Arbeit Trost fand, machte die Sache nicht besser. Denn von nun erkannte er, daß diese Frau, die er vergöttert hatte, zu seinem irdischen Glück doch nicht so unentbehrlich sei, wie er selbst geglaubt. Und als nach einem vollen Jahre Alles wieder in das alte Geleise zurücklenkte, war die erste freudige Stimmung des Besitzes in ihm erloschen und die Gewohnheit, ohne große Ansprüche neben ihr hinzuleben, schon so fest eingewurzelt, wie es – nach allgemeinem Dafürhalten – in den meisten glücklichen Ehen der Fall zu sein pflegt.

Dies wäre dennoch anders geworden, wenn ihnen Kinder beschert worden wären. Sie hatten sich hierüber einmal ausgesprochen, Frau Gina selbst hatte den Punkt berührt mit der verständigen Klarheit, die man ihr nachrühmte. Ob er etwas vermisse, da sie kinderlos seien? hatte sie ihn gefragt. Und er hatte ehrlich erwidert: er würde es als ein unsägliches Glück betrachten, wenn ein paar junge Augen in ihr Leben hineinleuchteten. Sie aber: sie könne sich nicht vorstellen, daß zwei Menschen durch ein drittes Wesen, das sich zwischen sie dränge, inniger verbunden werden könnten. Eine kinderlose Ehe sei ein ewiger Brautstand. – Mag sein! hatte er entgegnet. Aber die rechte Ehe soll eben mehr sein als eine Wartezeit: eine Zeit der Erfüllung. Uebrigens, fügte er in seiner ritterlichen Güte und Schonung hinzu, ohne deine Frage hätte ich wirklich nicht darüber nachgedacht.

Nun dachte er freilich an manchem Tage darüber nach.

Gleichsam um sie und sich zu entschädigen, indem er sein Herz wenigstens ihren Geisteskindern zuwendete, drang er eines Abends in sie, ihn endlich in ihre dichterischen Heimlichkeiten einen Blick thun zu lassen.

Er wußte, daß sie von seinem künstlerischen Urtheil eine hohe Meinung hatte, und es wäre ihm eine Freude gewesen, sie recht von Herzen loben zu können, zumal jene nach antikem Muster geformten Gelegenheitsgedichte ihm wie allen Anderen als etwas Ungewöhnliches eingeleuchtet hatten. Sie lehnte es aber mit großer Entschiedenheit ab. In diesen Sachen ist ein Theil meiner Seele entschleiert, sagte sie. Du kennst meinen Grundsatz, daß die Scham in der Ehe nicht ihre Herrschaft verlieren dürfe. – Und du bist bei den Griechen in die Schule gegangen? schwebte ihm auf der Zunge. Doch erwiderte er nur: Ich kann nicht glauben, daß du dich irgend zu schämen hättest, dein innerstes Leben vor deinem Manne zu enthüllen. Ich wenigstens – wie wenig kümmere ich mich darum, mir vor deinen Augen auch einmal eine Blöße zu geben! – Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte, hatte sie mit gedankenvollem Lächeln citirt – und damit das Gespräch fallen lassen.

Aber nicht lange darauf war durch die Stadtpost ein Packet an den Professor gelangt, das ein handschriftliches Heft mit Gedichten enthielt und einen Brief derselben steilen, offenbar verstellten Hand, in welchem um ein Urtheil über die Verse gebeten wurde. Die Verfasserin – denn sie verleugnete ihr Geschlecht nicht – werde die Antwort unter einer angegebenen Chiffre von der Post abholen.

Chlodwig hatte das Heft rasch durchflogen und dann zu seiner Frau gebracht. Sieh nur, Gina, was mir da beschert worden ist. Ich werde, obwohl ich mir selbst keiner belletristischen Sünde bewußt bin, zum Gewissensrath lyrischer Backfische erkoren. Aber die unverdiente Ehre macht mich nicht eben stolz. Ich weiß, daß dieser Brief eigentlich an deine Adresse gerichtet ist, daß irgend eine junge Schwester in Apoll nur nicht gewagt hat, sich sogleich an die höchste Instanz zu wenden, und mich zu ihrem Fürsprecher hat werben wollen. Du wirst ja selbst sehen und vielleicht sofort erkennen, welche zarte Hand sich die Mühe gegeben hat, sich hinter diese steifen Schriftzüge zu verstecken.

Gina saß vor ihrem Schreibtisch, in ein Haushaltungsbuch vertieft. Hast du die Sachen angesehen? fragte sie scheinbar gleichgültig.

Nur überflogen, Liebste. Du weißt, ich bin mit den Finessen der heutigen Meistersingerei nicht sehr vertraut, und als ein literarischer Naturbursche, der ich Zeitlebens bleiben werde, dringen nur die echten Naturlaute durch die Haut, die mir meine Welthistorie angegerbt hat. Du wirst das besser beurtheilen können.

Also – von dem, was du Naturlaute nennst, hast du in diesen Blättern keinen Hauch gespürt?

Ehrlich gestanden, nein. Es sind Meditationen im Lamartine'schen Stil, bei dem ich immer an das »tönende Erz« und die »klingende Schelle« denken muß. Aber ich will mich gerne deinem Spruch unterwerfen und einen so artigen Brief schreiben, als du mir nur immer dictiren magst.

Sie war sehr bleich geworden, als sie das Heft aus seiner Hand nahm, hatte aber keine Silbe erwidert.

Als er sie am anderen Tage fragte, ob sie gelesen habe und wie ihr die Sachen schienen, erwiderte sie sehr ruhig: er habe vollkommen Recht mit seinem Urtheil. Doch habe sie aus gewissen Zeichen die Absenderin errathen und werde ihr das Heft auf eine schonende Weise wieder zukommen lassen. Das sei ihm auch das Liebste, hatte er lachend darauf erwidert, denn er fürchte nichts mehr, als den Zorn der beleidigten Musen, und das Schrecklichste der Schrecken sei das Weib in seinem Wahn, von allen Künsten die freieste und seltenste sich mit Fleiß und gutem Willen aneignen zu können, wie irgend eine andere zierliche Handarbeit.

Der Unselige! Wenn er weniger arglos in dem Gesicht der Frau hätte lesen können, die ihm mit marmornen Zügen gegenübersaß! In jener Stunde wurde auch in ihrem Innern eine Stelle versteint, die keine Liebe und Treue zu schmelzen vermochte.

*

Nicht daß sie in ihrem Betragen gegen ihn sich im Geringsten änderte. Sie kam ihm ohne Launen und kleinliche Verstimmungen, mit immer gleicher edler Freundlichkeit entgegen. Aber eine gewisse erhabene Melancholie verschleierte ihr Wesen, die so gut dazu zu passen schien, daß sie Fremderen nur als ein Schmuck an dieser adligen Gestalt auffiel. Im Stillen hatte sie dennoch selbst darunter zu leiden. Sie sagte sich, daß sie von dem Manne, den sie vor allen Sterblichen glücklich zu machen beschlossen hatte, nicht nach ihrem vollen Werth erkannt würde. Keinen Augenblick war sie an sich selbst irre geworden, ja es war ein schmeichelndes Weh, daß sie sich nicht hinlänglich gewürdigt fühlte. Sie tröstete sich damit, daß bevorzugte Geschöpfe ihrer Art dazu verurtheilt seien, einsam durchs Leben zu gehen, auch in der gewähltesten Gesellschaft allein zu bleiben. Und da sie nicht böse war und keinen ungerechten Groll in sich nähren konnte, beschloß sie, das Schicksal genialer Naturen klaglos auf sich zu nehmen und, was sie entbehren mußte, keinen Unschuldigen entgelten zu lassen.

In dieser Stimmung hatte sie eine Reihe von Jahren neben ihrem Manne hingelebt, und nie war ihr der Gedanke gekommen, daß auch ihm etwas fehlen möchte. Der Altersunterschied von zwei Jahren, die sie vor ihm voraus hatte, machte ihr keine böse Stunde. Ihr Spiegel sagte ihr, daß sie es noch immer mit viel Jüngeren und auf den ersten Blick Bestechenderen aufnehmen könne, und zu oft hatte sie gehört, daß eine Schönheit, wie die ihre, eine ewige Jugend habe. Auch gab er ihr trotz seines lebhaften Temperaments nie den geringsten Anlaß zur Eifersucht, da er allen Frauen mit gleicher heiterer Courtoisie begegnete und sie selbst, wie sie es nur wünschen konnte, immer von Neuem mit herzlicher Vertraulichkeit zu umwerben schien. Sie ahnte nicht, daß er in seinem Innersten den Schmerz einer bitteren Enttäuschung mannhaft durchgekämpft hatte und viel zu hochherzig war, um von ihr zu fordern, was die Natur ihr versagt hatte. Wenn es ihm einmal wieder schärfer als sonst zum Bewußtsein kam, daß Alles, was in seinem Blut nach Leben und Liebe schmachtete, in der kühlen Luft seines Hauses verkümmerte, flüchtete er sich mit einem stillen Seufzer in seine Arbeit und hätte das Geheimniß seines Ungenügens strenger als eine Schuld auch vor dem Auge seines vertrautesten Freundes gehütet, wenn er einen solchen besessen hätte.

Der Einzige aber, mit dem er von Jünglingsjahren an Alles getheilt, war kurz vor seiner Bekanntschaft mit Gina gestorben. Seitdem hatte er keinen Ersatz gefunden, obwohl seine Natur so anziehend war, daß ihm selbst die Verschlossensten gern ihr Vertrauen schenkten. Jener seltsame Menschenverächter, dem er heute früh begegnet war, erwies ihm die Ehre, dann und wann, wenn er ihn auf der Straße traf, den Arm in den seinen zu legen und seiner schwarzen Laune gegen ihn Luft zu machen. Sie wußten Beide von einander, daß sie sich auf einer einsamen Insel aufs Innigste verbrüdert haben würden. In der Gesellschaft, die sie umgab, gingen sie getrennte Wege und begnügten sich mit einem gelegentlichen Händedruck.

Jedesmal aber, wenn Chlodwig eine der Thersites-Reden des Advocaten mit angehört hatte, blieb ihm ein melancholisches Nachgefühl zurück, und alles Falsche, Lastende und Hoffnungslose seiner Lage kam ihm mit neuer Gewalt zum Bewußtsein. So geschah es auch an diesem heiteren, festlichen Sommertage. Jedes Wort, das Berndt gegen die Freuden ihrer kleinen Welt gesagt, saß ihm wie ein Stachel in der Seele. Gleichsam als könnte er seinen Gedanken entlaufen, stürmte er die schattigen Uferwege dahin, bis ihm der Schweiß vor die Stirn trat. Die Sonne war höher gestiegen und brach durch die Lücken des Gebüsches herein. Eine seltsame Mattigkeit überfiel ihn auf einmal; er überlegte, ob es nicht gerathener sei, von der heutigen Festtafel fern zu bleiben, zu der er doch keine Feiertagslaune mitbringe. Wenn dein eigenes Haus ihn gelockt hätte, wäre er auch ohne Zweifel auf halbem Wege umgekehrt. Doch war er nicht sicher, daß ihn ein freudiges Gesicht daheim begrüßen würde, geschweige zwei zärtlich-offene Arme. So ging er willenlos weiter, bis er das Dach der »Sommerlust« zwischen den Wipfeln herüberschauen sah, nur noch eine Viertelstunde von ihm entfernt.

Da sah er nach der Uhr und erkannte, daß er viel zu früh kommen würde. Eine Bank stand unten dicht am Flusse, wo ein beliebter Angelplatz war. Zu der stieg er hinab und ließ sich erschöpft auf dem schattigen Ruhesitz nieder. Ein kleines Buch, das er halb in Gedanken zu sich gesteckt hatte, zog er hervor, öffnete es und versuchte zu lesen. Aber nur die Augen hafteten auf den schwarzen Buchstaben; sein Geist blieb abwesend. Da legte er es neben sich auf die Bank, schloß die Augen und überließ sich seinen Träumen.

*

Das schrille Signal einer Dampfpfeife weckte ihn. Er fuhr in die Höhe und sah gegenüber am anderen Ufer den Bahnzug vorüberbrausen, der die Gäste des heutigen Festes aus der Stadt brachte. Dem kleinen Dorf drüben zwischen den Feldern und Wiesen wäre die Ehre eines Bahnhöfchens schwerlich zu Theil geworden ohne die Nachbarschaft des beliebten sommerlichen Vergnügungsortes, zu welchem eine Brücke hinüberführte. Chlodwig hörte vom Dorfkirchthurm die Uhr gerade Eins schlagen, als der Zug hielt. So lange also hatte er geschlafen.

Er sah nun einen Schwarm von Männern aussteigen und dann den Weg nach dem Flusse und über die Brücke antreten. Die Entfernung war zu groß, um die Einzelnen zu erkennen. Doch unwillkürlich kam ihm der Gedanke, daß im Grunde kein Einziger darunter war, um den es ihm besonders zu thun gewesen wäre. Das Gefühl, daß er mitten in einer Welt, die ihm nie gehässig gewesen, dennoch keine Seele wußte, an die er sich mit grenzenloser Hingebung hätte anschließen können, bedrückte ihn mit peinlicher Schwere. Erst als die Letzten der Ankömmlinge über die Brücke hinüber und seinem Blick entschwunden waren, machte er eine gewaltsame Anstrengung, aufzustehen und auf seinem Ufer nun gleichfalls dem Ziele zuzuwandern.

Die »Sommerlust« war ein ehemaliges fürstliches Lust- und Jagdschlößchen, dicht an einem weit ausgedehnten Waldrevier gelegen, das sich über die sanften Hügel hinaufzog und in der guten alten Zeit einen ganz ansehnlichen Wildstand beherbergt hatte. Nach dem Aussterben des Geschlechts, dem es gehört, war das schmucke einstöckige Haus, in einem heiteren Rococostil erbaut, durch viele Hände gegangen und hatte von seinem alten Glanz beträchtlich eingebüßt. Bis vor einigen Jahrzehnten ein unternehmender Gastwirth es an sich gebracht und mit Hülfe des Tünchers und Tapezierers wieder in Stand gesetzt hatte, so daß seine geräumigen und doch traulichen Säle und Zimmer mancherlei geselligen Zwecken dienen konnten. Zunächst hatten sich studentische Genossenschaften hier herausgefunden, Hochzeiten und Tanzgesellschaften waren gefolgt, und endlich hatte der vornehmste Club der Stadt, die »Universitas«, dem schöngelegenen Hause die Ehre angethan, seine sommerlichen Zusammenkünfte in seinen Mauern abzuhalten. Nach dem Tode des Wirths hatte die Wittwe mit ihren beiden Töchtern und einem heranwachsenden Sohne hier fortgewirthschaftet, und da sie den Ruf einer vortrefflichen Kochkunst und großer Zuvorkommenheit gegen ihre Gäste genoß, war die »Sommerlust« immer in gleichem Flor geblieben, ja sie hatte sogar im Winter mancherlei Zuspruch, indem sie zum Ziel für Schlittenfahrten und hin und wieder zum Lokal für Maskenscherze ganz besonders geeignet schien.

Chlodwig, der Winters und Sommers weite Spaziergänge liebte, wurde von der Familie draußen fast wie ein Hausfreund behandelt. Er hatte manche stille Abendstunde mit der wackern Frau verplaudert, die ihn in all ihre Sorgen einweihte. Ihre Töchter waren brav aber nicht hübsch, der Sohn ein stattlicher Junge, dem aber die Enge des väterlichen Geschäfts nicht zusagte. Wie sie die drei Kinder gut versorgen sollte, ohne ihr eigenes Habe und Gut zu zersplittern und die Mittel zur Führung ihrer Wirthschaft zu verlieren, war ihr ein steter Kummergedanke. Doch zeigte sie ihren Gästen immer ein heiteres Gesicht und kam auch heut, als Chlodwig endlich in den Hausflur eintrat, einen Augenblick aus der Küche gelaufen, um ihm die Hand zu schütteln.

Sie kommen spät, Herr Professor, rief sie ihm entgegen. Die Herren sind schon beim Fisch. Aber Sie sollen doch nicht um die Suppe kommen.

Ich bin kein Suppenschwab, Frau Luise, erwiderte er lächelnd. Und daß ich noch satt bei Ihnen werde, ist meine geringste Sorge. Wie geht es den Kindern?

Die Aelteste kam eben mit einem Brett voll Teller die breite Stiege herab und nickte ihm freundlich zu, während die Jüngere die Mutter in der Küche zurückrief. Er begrüßte die Mädchen flüchtig und stieg, ohne sich zu beeilen, die steinernen Stufen hinan, das eiserne Geländer betrachtend, das mit seinem künstlich geschmiedeten Ranken- und Stabwerk an die fürstlichen Zeiten des Hauses erinnerte. Als er in den Saal eintrat, scholl ihm ein vielstimmiger Zuruf entgegen.

Die hufeisenförmige Tafel war dicht besetzt, man schalt auf seine Verspätung, Einer oder der Andere wendete sich um, ihm im Vorübergehen die Hand zu reichen, er sah umher, wo er noch einen leeren Platz fände, und entdeckte den einzigen unbesetzten Stuhl an dem einen Ende des Tisches zwischen zwei wohlbekannten Gestalten, deren Nachbarschaft ihm aber nicht sonderlich erwünscht sein konnte.

Zwar der hagere Mann zur Linken, der unverwandt auf seinen Teller starrte und kaum an dem, was ihn umgab, Antheil zu nehmen schien, drohte ihm nicht sonderlich zur Last zu fallen. Es war der Professor der Mathematik und Astronomie, ein tiefgelehrter Sechziger von kindlicher Gutherzigkeit und Schlichtheit, durch seine Schweigsamkeit und Zerstreutheit berühmt. Zur Rechten aber sah er das gerade Widerspiel dieser wunderlichen Figur, einen großen, starkgliedrigen Mann in den Fünfzigen, der die Serviette über die weiße Weste gebreitet hatte und während des eifrigsten Schmausens keinen Augenblick das Gespräch ruhen ließ, das er, nach dem Gelächter der Nächstsitzenden zu schließen, mit drolligen Einfällen und anzüglichen Geschichtchen zu würzen wußte.

Es war der Anatom der Hochschule, wegen seiner wissenschaftlichen Genialität und seines schrankenlosen Cynismus gleich sehr geachtet wie gemieden. Er hatte aber Chlodwig kaum erblickt, als er ihn beim Arm ergriff, sich seiner zu bemächtigen.

Ich habe Ihnen diesen Stuhl aufgehoben, mein verehrter junger Freund, sagte er, weil ich die Verpflichtung fühle, die einzige Lücke in ihrer Bildung durch freundschaftliche Unterweisung auszufüllen. Ich weiß, daß Sie trotz der vortrefflichen Küche Ihrer liebenswürdigen Hausfrau noch nicht essen gelernt haben. Nun bin ich heute für unser Menu verantwortlich, da ich es mit der Wirthin selbst in einer langen wissenschaftlichen Conferenz festgestellt habe. Ich hoffe, daß Sie in diesem Praktikum einigen Fleiß zeigen und nach meiner Methode rasche Fortschritte machen werden. Kommen Sie! Der Herr College drüben rückt noch ein wenig. Freie Ellenbogen sind die Vorbedingung ersprießlicher culinarischer Studien.

Sie werden an Ihrem Schüler wenig Ehre und Freude erleben, sagte Chlodwig. Mein Arzt hat mir eine besondere Diät vorgeschrieben; ich bin mehr der Gesellschaft als des Essens wegen gekommen.

Er nahm mit einem stillen Seufzer den freigelassenen Platz ein und verwünschte seine Verspätung. Doch ging es glimpflicher ab, als er fürchten mußte. Sein Nachbar wurde bald von dem anderen Nebenmann in ein fachwissenschaftliches Gespräch verwickelt, das ihn völlig in Beschlag nahm, und da der Astronom beharrlich schwieg, hatte Chlodwig alle Freiheit, die lange Tafel hinauf und hinab seine Gedanken wandern zu lassen. Er mußte sich gestehen, daß die Caricatur, die der satirische Freund von dieser Gesellschaft entworfen hatte, auf den ersten Blick eine bedenkliche Aehnlichkeit habe. Nur auf wenigen dieser scharf ausgearbeiteten Stirnen glänzte ein Strahl höheren Lichtes, einer freien, umfassenden humanen Geistesbildung, geschweige ein Schimmer jener Anmuth, wie ihn eine künstlerische Erziehung und vertraulicher Umgang mit den Genien der Schönheit zu verleihen pflegt. Und doch war Etwas in all diesen Charakterköpfen, das den Spötter beschämte. Sie trugen fast alle den Stempel strenger Pflichttreue und aufopfernder Lebensmühe im Dienst der Wahrheit, und Chlodwig wußte zu gut, daß der stolze Bau der Wissenschaft ohne die redliche Arbeit der Tagelöhner zerfallen würde, um nicht auch vor den schlichten Werkmeistern, die nur in einem kleinen Bezirk das Ihrige thun, einen aufrichtigen Respect zu fühlen.

Dazu lag heute auf allen Gesichtern das Behagen des Feiertags, und wenn sie wirklich, wie Berndt gehöhnt hatte, durch geistige Zäune von einander geschieden waren, fühlten sie sich doch durch ein gemeinsames menschliches Band vereinigt, wie etwa Offiziere verschiedener Waffengattungen an einem Nationalfest sich kameradschaftlich die Hände reichen.

Nur freilich, seine eigene Einsamkeit wurde durch solche Betrachtungen nicht aufgehoben. Bei dem großen Geräusch so vieler Tischgespräche kam er mit den entfernter Sitzenden, von denen einige ihm lieb und anregend waren, nur durch hingeworfene Worte in Verkehr. Er verzichtete endlich auch darauf, und begnügte sich damit, durch die drei alterthümlichen, mit Stuck eingerahmten Fenster des Saals in die sonnigen Wipfel des ehemaligen Parks zu schauen, den Töchtern des Hauses, welche die Bedienung besorgten, ein freundliches Wort zu sagen, wenn sie ihm eine Schüssel reichten, und als die Toaste begannen, pflichtschuldigst in die Hochrufe einzustimmen und mit seinen Nachbarn anzustoßen.

So hatte er es etwa eine Stunde getrieben und fing an zu überlegen, ob er nicht besser thäte, sich von dieser unerquicklichen Festlichkeit unter irgend einem Vorwande wegzustehlen, als seine Augen auf einmal von einer Gestalt gefesselt wurden, die hinter der einen Wirthstochter erschien, um ihr beim Herumtragen mehrerer Schüsseln behülflich zu sein.

Ein blondes Gesicht, nicht mehr in der allerersten Jugend, doch noch von blühender Farbe und lieblich unbefangenem Ausdruck. Das reiche Haar war schlicht gescheitelt und der schwere Flechtenknoten im Nacken durch eine silberne Nadel von eigenthümlicher Form zusammengehalten. Sie hatte eine besondere Art, ernsthaft unter den leicht zusammengezogenen Brauen vor sich hin zu blicken, als verrichte sie nur mechanisch ihren Dienst, während sie an ganz Anderes dächte. Wenn sie dann angeredet wurde, schlug sie die dunkelgrauen Augen wie mit einer treuherzigen Verwunderung auf und lächelte ein wenig, wobei die weißen Zähne in ihrem kräftig geschwellten Munde fest aufeinander blieben. An anderem Orte, unter vielen schönen Gesichtern, wäre das ihre schwerlich aufgefallen. Hier aber erschien sie wie aus einer fremden Welt hereingeschneit, und wie sie in ihrem einfachen Sommerkleide, die weiße Schürze hoch über der kräftigen Brust aufgesteckt, um die lange Tafel schritt, folgten ihr nicht nur die Blicke der jüngeren Gäste, sondern auch die beschneiten Häupter der Herren Rectoren und Decane wandten sich nach ihr um und nickten ihr einen beifälligen Gruß zu.

Chlodwig hatte, seitdem diese Gestalt vor ihm aufgetaucht war, wie durch einen Zauber gebannt, kein Auge von ihr verwandt, da hörte er, wie sein Nachbar zur Rechten zu ihm sagte: Sie scheinen mehr dazu aufgelegt, mit den Augen zu schweigen, als mit der Zunge, Herr College. Und freilich kann ich Ihren Geschmack nicht schelten. Das hübsche Kind würde selbst einem blasirten Gourmet als ein boccone da principe erscheinen, wenn sie überhaupt einen Preis hätte. Ich habe mich, da sie mir unten begegnete, bei unserer Frau Wirthin nach ihr erkundigt. Es ist eine Nichte von ihr, eine Rheinländerin, die seit Jahr und Tag hierher gezogen ist und sich mit ihrer Geschicklichkeit im Nähen und Kleidermachen ernährt. Heute hat sie es der Tante nicht abschlagen können, bei der Bedienung mitzuhelfen. Sehen Sie nur, wie das Mädel gewachsen ist. Man sieht nur das feste Hälschen und die runden Handgelenke, das genügt aber für einen an organische Entwicklung gewöhnten Blick, um sich das ganze Figürchen zu construiren. Ich kann Sie versichern, dies unscheinbare Näthermädchen dürfte sich dreist neben gewisse berühmte marmorne Göttinnen stellen. Und zwar bin ich überzeugt, daß sie nicht einmal so ganz unerfahren in der Wissenschaft des Eros ist und das strenge Lärvchen, das sie zur Schau trägt, gelegentlich schon abgeworfen hat. Aber ein gewöhnliches Geschöpf ist sie keinenfalls, und abgesehen von Frau Georgina thäten Sie gut, ihr nicht zu tief in die Augen zu sehen.

Er lachte faunisch in sich hinein, daß die Zipfel seines weißen Halstuches zitterten, hob sein Glas und nickte der jungen Person zu, die gerade ihm gegenüber ihren Dienst versah. Sie bemerkte es wohl, that aber so gleichmüthig fremd, als könne es ihr unmöglich gelten. Als sie dann auf ihrem Rundgang auch hinter ihm Halt machte, wandte er ihr sein vom Wein geröthetes breites Gesicht zu und sagte, indem er den linken Arm um ihre Hüfte zu legen versuchte:

Warum immer so ernsthaft, mein schönes Kind? Trinken Sie einmal aus diesem Glase mit mir auf Ihre Gesundheit und auf Alles, was Sie lieben.

Sie trat sofort mit einer nachdrücklichen Geberde, doch ohne überflüssiges Aufsehen zu machen, zurück, so daß er den Arm sinken ließ.

Verzeihen Sie, sagte sie mit gelassenem Ernst, ich bin nicht Ihr schönes Kind und pflege nicht aus fremden Gläsern zu trinken.

Damit ging sie an ihm vorbei und trat zu Chlodwig, in dessen Augen ein Blitz des Unwillens aufgeleuchtet hatte, als er seinen Nachbarn ihre schlanke Gestalt umfassen sah. Der aber war in der Weinlaune nicht so leicht einzuschüchtern. Gehen Sie nur, Fräulein Traub, rief er ihr nach. Ich kann es Ihnen nicht verdenken, daß Sie an einem bemoos'ten Haupt wie unsereins keinen Geschmack finden, obwohl wir nicht die Schlimmsten sind. Wenn ich Ihnen aber rathen soll, so nehmen Sie sich vor den bescheidenen Heuchlern in Acht, wie mein werther College neben mir, an dem Sie eine große Eroberung gemacht haben. Die Füchse im Schafspelz der sittlichen Entrüstung sind weit ärger, als ein ehrlicher alter Wolf, dem die Zähne auszufallen anfangen.

Wieder lachte er überlaut und ließ den Pfropfen einer zweiten Champagnerflasche knallen.

Nehmen Sie es nicht zu Herzen, Fräulein, flüsterte Chlodwig dem erröthenden Mädchen zu. Der Wein spricht aus dem Herrn, und er meint es nicht so arg. Er hat mir kurz vorher Ihr Lob gesungen.

Ich wünsche von ihm weder beleidigt noch gelobt zu werden, erwiderte sie kurz, und ihre Augen sahen finster vor sich hin. Doch dank' ich Ihnen, daß Sie es der Mühe werth halten, ihn bei mir zu entschuldigen.

Sie ging weiter, und Chlodwig blieb in einer wunderlichen Aufregung zurück. Mitten durch den Lärm der Tafelrunde konnte er den Klang ihrer Stimme nicht aus dem Ohr verlieren. Als sie dann mit der geleerten Schüssel den Saal verlassen hatte, schien ihm auf einmal der edle Wein, den er mäßig, aber nicht ohne Verständniß genossen hatte, seine Blume verloren zu haben.

*

Hätten Sie gedacht, daß in dieser zarten Hülle eine so rauhe Tugend wohnen könne? wandte sich der Nachbar wieder zu ihm. Und eine Rheinländerin obenein, die doch im Rufe stehen, zu leben und leben zu lassen! So viel indessen habe ich herausgebracht, daß meine Diagnose richtig war. Dieses schlanke Gewächs ist durch kein Schnürleib verkrüppelt.

Chlodwig stand auf; er wolle ein paar jüngere Collegen begrüßen, die ihn schon längst zu sich gewinkt hätten. Es fiel auch nicht auf, daß er zu seinem Platz nicht zurückkehrte, da die Tischordnung sich schon aufzulösen begann. Man ging und stand in voller Freizügigkeit, die gefüllten Gläser in der Hand, durch den Saal, dessen Fenster geöffnet waren, um die Champagner-Temperatur der Gäste zu kühlen. Einige beharrliche Redner stiegen auf die Stühle, um sich noch Gehör zu verschaffen, was nur beliebten Humoristen gelang. Hier und da konnte man ein paar ernsthafte Köpfe sehen, die trotz der Feststimmung sich zusammengesteckt hatten, um irgend einen eifrigen wissenschaftlichen Streit zu Ende zu führen. Andere, denen die Augen von jugendlicher Begeisterung leuchteten, smollirten und träumten sich in ihre Burschenzeit zurück, während der würdige Rector, ein gefeierter Theologe, seinen einsam gewordenen Platz mitten an der Tafel behauptete und in seiner milden Ruhe und Heiterkeit eine erfreuliche Figur machte.

Dies Alles aber war für unseren historischen Freund kein sonderlich wichtiges Schauspiel. Er hatte sich in einen stillen Winkel zurückgezogen, nahe bei der Thür. Hier saß er wie ein Wächter, der nur darauf wartete, daß eine einzige Gestalt wieder einträte und die Runde machte. Als das Mädchen nun wirklich kam und mit ihrer gleichmüthigen Miene umherschauend ihn dort erblickte, grüßte sie ihn mit einem kaum merklichen Neigen ihrer Augen, ging aber ohne Aufenthalt an ihm vorbei, um die Fruchtschale und eine Platte mit Süßigkeiten herumzutragen, von denen die Wenigsten Notiz nahmen, da man bereits angefangen hatte zu rauchen.

Zuletzt kam sie zu dem stillen Thürhüter. Sie blieb vor ihm stehen, lächelte ihn freundlich an, sagte aber kein Wort. Er betrachtete sie ein Weilchen, aber mit einem verlorenen Blick, als ob er an etwas Anderes dächte. Nehmen Sie doch, sagte sie endlich, doch ohne Ungeduld, und sah auf die Fruchtschale herab, daß ihre langen, glänzenden Wimpern ihre Augen fast zudeckten. Was rathen Sie mir daß ich nehmen soll? fragte er, indem er die Früchte aufmerksam betrachtete. – Ich kenne Ihren Geschmack nicht, sagte sie immer mit ihrem Lächeln. – Und wenn ich mich nach Ihnen richten wollte? – Dann müssen Sie diese Aprikosen versuchen. Mir geht kein Obst darüber, aber sie sind selten so schön und saftig hier, wie in meiner Heimath. – Wo liegt die? fragte er. – Eine Stunde von Oberwesel; es ist ein Dorf, das nicht einmal auf den Landkarten steht, aber wer es gesehen hat, vergißt es nie. – Und leben dort noch die Ihrigen? – Mein Vater, der Landarzt war, ist längst gestorben, meine Mutter erst vorm Jahr, da hat mich die Tante haben wollen; sie ist eine gute Frau, aber ich kann mich in einem Wirthshaus nicht wohl fühlen. Sie begreifen –

Sie stockte, und eine flüchtige Röthe stieg ihr in die Wangen. Gewiß, Traud, versetzte er nachdenklich, ich finde auch, daß Sie nicht hierher gehören. Aber ich halte Sie auf. Bitte, wählen Sie mir eine Frucht.

Sie nahm die schönste Aprikose, die ein wenig geborsten war und den hellen Saft hervorquellen ließ, und hielt sie ihm freundlich hin. Er nickte zum Dank, und sie wandte sich alsbald wieder von ihm ab, da ihre Cousine sie zu sich rief. Er aber, während seine Augen ihren raschen und doch ruhigen Bewegungen nachgingen, fing an, die süße Frucht zu essen, die ihm das Köstlichste schien, was er lange über die Lippen gebracht. Dann trocknete er den Kern sorgfältig ab, wickelte ihn in ein Blatt seines Taschenbuches und steckte ihn zu sich.

Einige seiner Collegen suchten ihn auf und knüpften ein munteres Gespräch mit ihm an. Er gab nur einsilbige und zerstreute Antworten, obwohl der Magnet, der seine Gedanken nach sich zog, jetzt aus dem Saale verschwunden war. Endlich, da man seine seltsame Stimmung bemerkte und ihn über die Ursache befragte, schützte er Kopfweh vor, das sich in der freien Luft bessern werde, nahm seinen Hut und schlich sich zur Thür hinaus.

*

Im kühlen Treppenhause stand er einen Augenblick still und horchte in den summenden Lärm zurück, der drinnen im Saal fortdauerte. Es ward ihm plötzlich unsäglich wohl, wie Jemand, der einer Lebensgefahr entronnen ist. Er ließ die Augen an Decke und Wänden herumschweifen und hatte seine Freude an den leichtgeschwungenen Stuckornamenten, die auf eine Zeit deuteten, in der es hier üppiger und zierlicher zugegangen war. Der Abend dämmerte schon herein, doch war bei dem röthlichen Schimmer, der durch die schmalen, rundbogigen Fenster und die ovalen »Ochsenaugen« über denselben in den Hausflur drang, noch jeder Zierath deutlich zu erkennen. Dann stieg er langsam die Stufen hinab.

Wo die Treppe eine Wendung machte, sah er die Traud mit raschen Schritten ihm entgegenkommen und blieb stehen, sie zu erwarten. Sie trug in jeder Hand eine große zinnerne Kanne, aus deren Mundstück ein Rauchwölkchen hervorquoll. Den Kopf hatte sie gesenkt, so daß sie ihn erst bemerkte, als sie ihm dicht gegenüber war.

Sie blieb mit einem verwunderten Aufblicken stehen.

Wollen Sie schon fort? Es ist noch so früh. Der Zug geht erst in einer Stunde.

Ich will zu Fuß nach Hause, erwiderte er. Auch hat mir das Fest lange genug gedauert.

Sie betrachtete ihn ein paar Augenblicke stillschweigend. Ein stiller Ausdruck von Wohlgefallen verbreitete sich über ihre Züge, während sie sich die seinigen genau einzuprägen schien: die hohe, faltenlose Stirn unter dem schlichten braunen Haar, die leuchtenden dunklen Augen, den treuherzig lächelnden Mund, der von einem weichen röthlichen Bart umschattet war.

Ich begreife, sagte sie nachdenklich, daß es Ihnen dort oben nicht gefallen mochte. Sie passen auch gar nicht zu den Anderen.

Warum nicht, Traud? Glauben Sie nicht, daß ich auch so ein Professor bin? Auch so ein Bücherwurm?

Ich weiß nicht. Aber Sie haben mich gedauert unter all den alten Herren.

Es sind auch noch Jüngere dabei, als ich. Haben Ihnen die lustigen Herren Privatdocenten am anderen Ende des Tisches nicht ein bischen den Hof gemacht, wozu ich viel zu alt und ernsthaft bin?

Ich meine nicht die Jahre. Aber wenn Sie auch viel älter wären, Sie sind –

Sie stockte, und es überflog sie wieder eine leichte Röthe. Ich muß hinauf, sagte sie. Die Herren warten auf den Kaffee.

Und wenn ich mir nun kein Gewissen daraus machte, sie noch länger warten zu lassen, um noch eine Weile mit Fräulein Traud zu plaudern? Würden Sie darüber böse werden?

Sie sah ihm mit einem seltsam feierlichen Blick in die Augen. Ich glaube nicht, sagte sie leise, daß Sie irgend etwas thun könnten, worüber ich böse würde.

Wirklich, Traud? Soll ich Sie auf die Probe stellen? Wenn ich nun hier einen Schlagbaum errichtete und Sie nicht eher vorbeiließe, als bis Sie mir den Zoll bezahlt hätten? Sehen Sie wohl, nun wird Ihnen die Sache doch bedenklich

Er war schon im Begriff, bei Seite zu treten und sie zu beruhigen, daß er es nicht so ernstlich gemeint habe. Da hörte er sie sagen:

Der Zoll würde wohl nicht zu theuer sein, und Ihnen würde ich ihn nicht verweigern.

Das Blut schoß ihm zum Herzen, als er die freundlichen Worte hörte und das anmuthige Gesicht sich so nahe gegenüber sah. Traud, flüsterte er, Sie sind eine liebe Person. Sie haben mir das Herz erquickt.

Damit neigte er sich zu ihr hinab und küßte herzlich die rothen Lippen, die halbgeöffnet geduldig stillhielten. Dann schritt sie an ihm vorbei. Auf der Höhe der Treppe wandte sie sich noch einmal um und nickte ihm heiter zu. Im nächsten Moment war sie in der Thür des Saales verschwunden.

*

Er stand wie im Traum, die Augen fest auf die Stelle geheftet, wo sie ihm zuletzt sichtbar gewesen war. Ein warmer Strom von Leben und Glück rieselte ihm durch alle Adern. Er lächelte vor sich hin, nahm den Hut ab und las die Stäubchen von dem weichen Filz, die ihm auf der Wanderung darangeflogen, so ernsthaft, als wäre dies ein sehr wichtiges Werk. Hier auf ihre Rückkehr zu warten, fiel ihm nicht ein. Er fühlte dunkel, daß dies liebliche Begegnen seinen besten Zauber verlieren würde, wenn es noch irgend ein Nachspiel hätte; doch konnte er sich nicht so rasch entschließen, den Ort zu verlassen, wo ihm so wohl geworden war.

Endlich hörte er droben die Thür aufreißen und einen schweren Schritt über die Schwelle poltern. Da floh er, wie wenn er einen Raub begangen hätte und die strafende Gerechtigkeit ihm auf den Fersen wäre. Auch an der Küche unten stürmte er vorbei, den Gruß, den die Wirthin ihm zurief, nur mit einem hastigen: Guten Abend! erwidernd. Erst als er den Fußpfad am Flusse wieder erreicht hatte, mäßigte er seinen Schritt und wandelte nun desto langsamer in der weichen Abendkühle bis zu der Bank, auf der er am Vormittag die heißen Stunden verschlafen hatte.

Er setzte sich wieder an dieselbe Stelle, aber es ließ ihn nicht lange ruhen. Eine übermüthige Munterkeit, wie wenn ihm plötzlich seine Jugend zurückgeschenkt wäre, trieb ihn auf und beflügelte seinen Fuß. Immer sah er das stille, reizende Gesicht vor sich, wie es erwartungsvoll ihm entgegenblickte, und fühlte den erwidernden Druck des weichen Mundes, dessen Zähnchen fest geschlossen blieben. Er hatte wenig Erinnerungen an ähnliche Liebesbezeigungen aus seinen Jünglingsjahren, da seine reine Natur immer Scheu trug, sich hinzugeben, wo das Herz nicht ausdrücklich mit im Spiele war, und wenn dies einmal geschah, hatte er vor dem Gegenstande seiner Neigung stets eine zu große Ehrfurcht empfunden, um ihn mit bloßem Tändeln oder flüchtigem Sinnenspiel zu entweihen. Eine so beglückende, im Fluge erhaschte Gunst des Augenblicks, wie heute, war ihm nie zu Theil geworden. Nur ein einziges Bild aus früher Knabenzeit tauchte plötzlich vor ihm auf. Seine erste schüchterne Huldigung, da er ein dreizehnjähriger Schüler war, hatte der Tochter seines Gymnasialdirectors gegolten, die in ihrem siebzehnten Jahre durch ein jähes Leiden hingerafft wurde. Die Familien waren befreundet, die jungen Kinder sahen sich ungezwungen bei mancherlei Anlässen. Doch wagte der Knabe nie, sein Gefühl, das ihn ganz beherrschte, auch nur durch Zeichen blicken zu lassen, – wie er wenigstens meinte. Das kluge, frühgereifte Mädchen hatte ihn längst durchschaut. Als es nun schon hoffnungslos um sie stand und er einmal wieder in dumpfem Jammer um die Geliebte sich nach ihrem Befinden bei der Mutter erkundigte, hatte sie ihn in ihr Zimmer gerufen, wo sie wie ein blasses Heiligenbild in dem schmalen Bettchen lag, und da er, die Thränen nicht zurückhaltend, neben ihr niederfiel, ihn mit den Armen sanft emporgezogen und seinen Kopf an den ihren gedrückt, sanfte, beschwichtigende Worte flüsternd, die er nicht verstand. Darauf hatte sie gesagt: Küsse mich – und bleib mir gut! Und er hatte sie unter Schmerz und Wonne heftig geküßt und war dann wie ein Verbrecher hinausgelaufen, um sie nur erst wiederzusehen, als sie mit dem grünen Kranz auf der wachsbleichen Stirn wie ein verklärter Friedensengel im Sarge lag.

Er verwunderte sich im Stillen, daß diese Scene ihm gerade jetzt mit erschreckender Gegenwart vor die Seele trat. Und da er kein Knabe mehr war, sondern gewohnt, über die Regungen seines Gemüthes sich Rechenschaft zu geben, fand er bald heraus, daß auch das heutige zärtliche Begegnen, so süß es gewesen, ein erstes und letztes gewesen sein müsse, einen Willkommen und Abschied zugleich bedeutet habe. Und er war nicht einmal betrübt darüber, daß es nichts Anderes sein könne. Es entlastete sein Gewissen von dem heimlichen Vorwurf, daß er doch wohl, als ein getreuer Ehemann, der er war, nicht recht gethan habe, sich der Bezauberung durch dies fremde Geschöpf so wehrlos zu überlassen. Die klare Erkenntniß, es werde nie wieder geschehen, beruhigte ihn völlig, und mit der sophistischen Schlauheit, die uns schwachen Menschen eigen ist, absolvirte er sich selbst von der Sünde, um desto unbekümmerter das wonnige Nachgefühl dieser Stunde in sich fortglimmen zu lassen.

*

Als er sein Haus wieder erreichte, fiel es ihm dennoch aufs Herz, daß er heute nicht, wie er sonst gethan, einen ausführlichen Festbericht seiner Frau abstatten könne, da er das Wichtigste verschweigen müsse. Es fuhr ihm durch den Sinn, ob er nicht auch das ganz harmlos erwähnen sollte. Im Grunde war es doch kein todeswürdiges Vergehen und mit der Festlaune zu entschuldigen. Er wollte es darauf ankommen lassen, in welcher Stimmung er sie träfe. Als er aber in ihr Zimmer trat, verflog sofort die offenherzige Regung, und er gelobte sich, das kleine Geheimniß unverbrüchlich bei anderen verschwiegenen Erinnerungen zu bewahren.

Frau Gina saß im Kreise ihrer vertrauten Freundinnen, die ihr einen feierlichen Cultus widmeten und von den Fernerstehenden darum beneidet wurden, daß sie ein Mal in der Woche zu einem Leseabend sich mit ihr zusammenfinden durften. Drei oder vier dieser auserwählten Frauen waren ihre Altersgenossinnen, mit Collegen ihres Mannes verheirathet, einige Andere, Jüngere, an höhere Beamte vermählt, hatten sich erst später dieser Auszeichnung würdig gemacht durch das besondere Interesse, das sie an dem Thun und Treiben der ungewöhnlichen Frau gezeigt hatten. Doch ging esan diesen Abenden durchaus nicht so pedantisch zu, wie böse Spötter, ohne eigene Kenntniß der Wahrheit, sie verschrieen hatten. Es wurde nicht beständig gelesen – niemals eigene Poesieen der Mitglieder – sondern ungezwungen geplaudert, nur daß der vornehme Sinn der Hausfrau allen persönlichen Klatsch ein für alle Mal fern hielt. Hatte sich irgend ein merkwürdiger sittlicher Fall in den näheren Kreisen ereignet, so wurde er stets nur im höchsten Sinne durchgesprochen, um allgemeinere Betrachtungen daran zu knüpfen. Um acht Uhr ging man auseinander, und jede Theilnehmerin trug eine Erhebung und Belebung ihres ganzen Inneren mit fort, für die sie der Stifterin aufrichtig dankbar blieb.

Als Chlodwig aber heute in den geweihten Raum eintrat, da er nur auf diesem Wege sein eigenes Zimmer erreichen konnte, fiel ihm, trotz seiner Befangenheit, eine gewisse Verstimmung auf, die gegen die Gewohnheit den einträchtigen Kreis gelockert zu haben schien. Gina's Wangen waren geröthet, die junge Frau, die neben ihr saß, hielt die Augen auf ihre Handarbeit geheftet, gleich einem gescholtenen Kinde, auch die anderen Gesichter wandten sich nicht mit freier Heiterkeit, wie sonst, zu dem Eintretenden um, der als ein seltener Hospitant hier sehr wohl gelitten war.

Gut, daß Sie kommen, Professor! sagte endlich die Munterste unter den Damen, eine ziemlich beleibte Frau Justizräthin, die auf dem Sopha saß und allein von Allen keine Arbeit mitzunehmen pflegte. Sie treffen uns in einem hitzigen Disput, oder vielmehr nach einem solchen, der nur zu einem täuschenden Waffenstillstand gediehen ist. Da wäre es nun schön, wenn Sie den Schiedsrichter machten – natürlich, wenn Ihre liebe Frau, gleich uns Anderen, sich Ihrem Spruche unterwerfen möchte.

Ich kann keinem Menschen das Recht einräumen, eine Ueberzeugung. die in mit fest steht, durch einen Machtspruch umzustoßen, versetzte Gina bestimmt, doch ohne Gereiztheit. Doch zweifle ich nicht, daß Chlodwig meine Meinung bestätigen wird, und jedenfalls freut es mich, daß ich ihn endlich wiedersehe, nachdem er mir einen ganzen Tag untreu gewesen ist.

Sie reichte ihm die Hand, ohne aufzustehen und ihn lebhafter zu begrüßen. Er erröthete unwillkürlich über ihr ganz argloses Wort.

Ich fühle mich sehr geehrt, sagte er lächelnd, durch das Vertrauen, das die Damen in meine richterlichen Fähigkeiten setzen. So weit aber geht meine Inspiration nicht, daß ich ohne Einblick in die Acten das Wahre vom Falschen zu scheiden vermöchte.

Sie sollen sogleich erfahren, worüber wir uns gezankt haben – wenn ein so roher Ausdruck auf unsere tiefsinnige Debatte paßt, sagte die heitere Justizräthin. Zunächst aber betrachten Sie das Bild, das über dem Sopha hängt, – nein, ganz im Ernst. Sie haben es freilich oft genug angesehen, aber vielleicht nie mit dem vollen Gefühl der Verantwortlichkeit, seine wahre Bedeutung zu enträthseln. Und eben die ist der Gegenstand unseres Streites gewesen. Wenn Sie es sich mit ganz frischem Blick werden klar gemacht haben, dann haben Sie die Güte uns zu sagen, was es vorstellt, und was wir unter der mystischen Bezeichnung Amor sacro ed amor profano oder »Himmlische und irdische Liebe« zu verstehen haben.

*

Das Bild über dem Sopha war eine leidliche Copie jenes wundervollen Tizianischen Gemäldes aus dem Palazzo Borghese in Rom in halber Größe des Originals, welche Gina's Vater bei einem jungen Maler, den er unterstützte, bestellt hatte. Es bildete das Hauptstück des kleinen Museums der Tochter und war auch Chlodwig's Liebling. Doch seltsamer Weise hatten die Beiden, die es so oft betrachteten, sich niemals ausführlicher über den Sinn des schönen Märchens ausgesprochen. Jetzt eben, im Schein der Hängelampe, der durch einen röthlichen Schleier gedämpft war, brannten die tiefen, reinen Farben des Bildes fast wie eine Juwelenmosaik, und wiederum schienen die Gestalten, wenn man sie lange betrachtete, Miene zu machen, als ob sie sich bewegen und in ihrem schön geschnitzten Rahmen herumwandeln wollten.

Ich bin Schuld an dem ganzen Streit, sagte die junge Frau, die neben Gina saß, kleinlaut, da Chlodwig noch immer schwieg. Ich las heute im »Cicerone«, daß die alte Benennung falsch sei, daß Tizian nichts Anderes gemeint habe, als Liebe und Sprödigkeit. Frau Gina aber –

Sie dürfen den Schiedsrichter nicht beeinflussen, unterbrach sie die Justizräthin. Er kennt und verehrt den Cicerone ohne Zweifel so gut, wie Sie, aber er pflegt nicht auf die Worte irgend eines Meisters zu schwören. Nun, lieber Professor? Spannen Sie uns nicht auf die Folter.

Ich wüßte auch nicht, warum, erwiderte Chlodwig lächelnd. Was ich in den acht Jahren, seit ich dies Bild täglich gesehen, ihm nicht abgewonnen, würde ich jetzt schwerlich in stundenlanger Forschung ergrübeln. Ich begreife nur nicht, wie überhaupt gestritten werden kann. Nie ist eine Symbolik deutlicher gewesen, als hier, wenn man sich in die Gesinnung der Zeit, wo das Bild entstand, zurückdenkt. Die einzige Liebe, die des Namens würdig ist, giebt Alles hin, was sie hat, ganz ohne falsche Scham und ängstliche Zurückhaltung. Sie hat sich im vollen keuschen Glanz ihrer schleierlosen Schönheit mitten am herrlichsten Frühlingstage dort auf den Rand des alten Sarkophages gesetzt, in welchem ein Bad bereitet ist. Auch den rothen Mantel, der ihr an der Schulter hängt, ist sie bereit fallen zu lassen, und hält ein Gefäß mit irgend einer kostbaren Salbe in der Hand, im Begriff, es über ihren Nacken zu ergießen. Aber sie zaudert noch, weil sie Mitleiden fühlt mit ihrer Schwester, die sich in vollem Putz, sorgfältig eingeschnürt, ja sogar bis in die Fingerspitzen mit Handschuhen verhüllt, am anderen Ende des Beckens niedergelassen hat und mit strenger Mißbilligung den Blick von ihr wegwendet, so lustig der kleine Amor zwischen ihnen mit den Händchen im Wasser plätschert. Komm, Schwester! scheint sie zu sagen. Thu es mir nach: Was kümmert dich die Welt mit ihren engen Begriffen von Zucht und Sitte? Nur wer sie verachtet, kann das Himmelreich der wahren heiligen Liebe schauen. All dein Putz und ehrbarer Anstand ist nur eine enge, harte Schale, in welcher der göttliche Kern ersticken muß. Wirf ihn von dir und kühle die himmlische Sehnsucht in dieser Flut, die dir allen irdischen Staub abspült. Ich hab' es bereits gethan. Sieh, wie schön ich dadurch geworden bin, wie meine jungen Glieder schimmern, wie mein Auge lacht und meine Haare mir einen goldnen Schleier um den Nacken breiten. So gefall' ich allen edlen und unschuldigen Seelen, du aber nur den Profanen, den Philistern, den Alltagsmenschen. Und so weiter, cum gratia in infinitum! – –

Es war eine lautlose Stille, als er zu sprechen aufhörte. Die junge Frau sah mit einem dankbaren Blick zu ihm auf, die Justizräthin nickte ihm in schalkhafter Genugthuung zu, die anderen Frauen sahen verlegen vor sich nieder oder zu Gina hinüber, deren Gesicht sich mehr und mehr geröthet hatte. Jetzt erst wandte sich Chlodwig zu ihr und stutzte über den streng abweisenden Ausdruck ihrer Augen. Es scheint, sagte er, du bist anderer Meinung, Gina?

Gewiß, erwiderte sie ernst. Ich trage eine andere Vorstellung von dem, was heilig ist, in mir. Was die Profanen verlockt, ist der Trug der Erscheinung, der leere Sinnenreiz, die gemeine Weltlust, wie sie in jenem schönen Weibe sich allen Blicken preisgiebt. Eine Seele von rechtem Adel verbirgt ihre Schätze vor dem Blick der Menge, und wenn der Sinnenzauber sie verführen will, kehrt sie sich ab und bleibt den Idealen treu, die sie in ihrer verhüllten Brust trägt. Zu jener Zeit, wo das Bild entstand, ging freilich ein Hauch von Zügellosigkeit durch die Welt und riß allen Geheimnissen des Lebens den Schleier ab. Daneben aber gab es erlesene Geister genug, die sich von dieser bacchantischen Gesellschaft lossagten und in stille Betrachtung der Heiligen flüchteten. Man braucht nur die Gesichter der beiden Frauen zu vergleichen, den trauernden Ernst in der verhüllten, die gedankenlose Sinnlichkeit in der unbekleideten – aber wozu reden wir noch weiter davon? Ich sagt' es schon, hier kommen die letzten Ueberzeugungen ins Spiel, an denen sich Niemand, der sein eigenes Leben lebt, selbst durch die stärksten Zeugnisse Andersgesinnter rütteln läßt.

Sie nahm das Buch, das vor ihr lag, vom Tische – die Justizräthin bemerkte, daß ihre schlanke weiße Hand leise zitterte – und sagte, indem sie sich zu lächeln zwang: Ich schlage vor, daß wir zu unserm Philoktet zurückkehren. Wir sind beim zweiten Chorliede stehen geblieben.

So will ich, da ich hier doch zu der profanen Menge gerechnet werde, mich beurlauben, sagte Chlodwig lächelnd und verneigte sich gegen die Damen, die ihn sichtbar ungern entließen. Der Streit war noch nicht ausgefochten, fühlten sie alle; aber gegen den Machtspruch der Hausfrau, die ihn niederschlug, wagte Keine sich aufzulehnen.

Chlodwig aber ging in sein Zimmer und schloß hinter sich auch die Doppelthür, die ihn dagegen schützte, daß ein Besuch bei Gina ihn in der Arbeit störte. Er war indessen heut nicht fähig, sich in irgend eine ernste Beschäftigung zu vertiefen. Als er seine Kleidung wechselte, fühlte er den Aprikosenkern in der Tasche, nahm ihn heraus und betrachtete ihn eine Weile, wie wenn etwas Besonderes daran wäre.

Dann trat er ans Fenster, vor dem ein Rosenstock blühte, grub mit dem Finger sorgfältig ein Loch in die feuchte Erde und pflanzte den Kern hinein. Hierauf öffnete er das Fenster und lehnte sich hinaus. So hatte er am Morgen gestanden. Was war mit ihm vorgegangen, daß es ihm schien, als läge eine unabsehliche Zeit zwischen jener Stunde und dieser?

Das Gespräch über das Bild klang in ihm nach. Er kannte seine Frau zu gut, um nicht zu wissen, daß sie sich große Mühe hatte geben müssen, um das Gefühl der Kränkung zu verbergen; mehr freilich, weil er ihre Autorität angefochten hatte, als weil es sie schmerzte, so ganz anders zu empfinden, als ihr eigener Mann. So war er endlich froh, als die Damen sich entfernten und er wieder zu ihr gehen durfte, ihre gespannte Stimmung zu lösen und aufzuheitern. Er fand sie noch auf demselben Fleck, das Buch im Schooß vor sich hinsinnend, und die stille Schwermuth, die auf ihrem schönen Gesichte lag, rührte ihn, so daß er den Rest des Abends Alles aufbot, sie sich geneigt zu machen. Mit keinem Wort kamen sie auf jenen Streit zurück, noch ließ sie es ihn empfinden, daß sie ihm etwas zu vergeben habe. Doch sagten sie sich endlich mit einem ruhigen Händedruck gute Nacht. Den Kuß, den sie ihm versprochen hatte, wenn er wiederkäme und »sehr liebenswürdig« wäre, schien er denn doch verscherzt zu haben, und er seinerseits, da seine Lippen sich einer Untreue bewußt waren, hatte nicht das Herz darum zu bitten.

*

Am andern Morgen aber als er erwachte, fühlte er eine Unlust und Ermattung an Leib und Seele, daß er sich nur mühsam aufraffen konnte, an sein Tagewerk zu gehen. Er scherzte gegen seine Frau darüber: der Rausch, den er nicht mit heimgebracht, gehe ihm nach. Als er in sein Zimmer trat und den Rosenstock am Fenster erblickte, stand plötzlich die Gestalt des Mädchens vor ihm und öffnete den Mund, wie zu einem leisen Gruß, den er nicht verstand. Es war plötzlich Alles wieder in ihm lebendig, ihr Blick, ihre Stimme, der Hauch ihrer Nähe. Gewaltsam drängte er das liebliche Gespenst zurück und ging an seine Arbeit.

Auch gelang es ihm schon an diesem Tage, seinen verlorenen Gleichmuth wieder zu gewinnen, und die gehäufte Arbeit, die in dieser Woche durch Correcturen einer längeren Abhandlung ihm ins Haus kam, half sehr willkommen mit, ihn, wie er dachte, von der gefährlichen Erinnerung zu befreien. Am Sonntag aber war auf Einen Schlag Alles wieder wie in der ersten Stunde.

Gina hatte die Woche hindurch sich ziemlich ernst und einsilbig verhalten und auf einen gezwungenen Scherz ihres Mannes, sie sollten doch einen Vorhang über das Bild machen lassen, das sie beständig an ihren Streit mahne, nur erwidert: was man verhülle, schaffe man damit nicht aus der Welt. Seine redlichsten Bemühungen, sie wieder traulich zu stimmen, glitten an ihrer sanften Unnahbarkeit ab. Zuletzt ergab er sich seufzend darein, daß sie ihn nicht so sehr zu ihrem Glücke bedürfe, wie er all sein Leben gern mit ihr getheilt hätte, und nahm Abschied, um den freien Nachmittag auf einem einsamen Gange seinen Gedanken nachzuhängen.

Aber ohne daß er sich einer deutlichen Absicht bewußt gewesen, fand er sich, nachdem er ein paar Straßen durchschritten hatte, in der Vorstadt, aus der es nach dem Flusse und zur »Sommerlust« hinausging. Warum sollte er auch diesen Weg nicht so gut wie jeden anderen einschlagen? Es war kein so heller Himmel über ihm, wie vor acht Tagen; er konnte rüstig ausschreiten, ohne von der Hitze zu leiden, und die Bank, die er endlich erreichte, lud ihn heute nicht zum Ruhen ein. Auch hatte er sich bemüht, unterwegs an sehr ernsthafte und gelehrte Dinge zu denken, und jeden Bekannten, der ihm begegnete, mit großer Höflichkeit begrüßt, als ob es ihm eine besondere Freude machte. Wie er aber das alte Lustschlößchen auf dem freien Plan vorm Walde herüberwinken sah, mußte er plötzlich vor heftigem Herzklopfen still stehen, und auf seine Stirn traten große Tropfen.

Er näherte sich langsam dem Hause, trat aber nicht hinein, sondern wählte seinen Sitz an einem der Gartentische, die zwischen den alten Taxushecken und Syringenbüschen angebracht waren. Wohl sah er die Wirthstöchter hin und her gehen, um die spärlichen Gäste zu bedienen, rief aber keine heran und saß und wartete, obwohl ihm die Zunge von der Wanderung brannte. Endlich sah er seine alte Freundin, die Wirthin selbst, die Umschau zu halten zwischen den stillen Plätzchen herumwandelte. Als sie ihn erblickte, kam sie freundlich auf ihn zu, schalt, daß er noch nicht bedient worden sei, und brachte ihm dann selbst eine kleine Flasche seines Lieblingsweines, der in dieser Gegend wuchs. Nachdem sie ihm das erste Glas eingeschenkt hatte, setzte sie sich auf die Bank ihm gegenüber und fing an, von Allerlei zu reden, was ihr auf dem Herzen lag.

Ihre jüngere Tochter wolle heirathen, und sie könne gegen den Bewerber nichts einwenden. Da aber auch ihr Sohn sich nicht länger im Hause halten lasse und sie mit der älteren Tochter allein die große Wirthschaft nicht zu führen vermöge, werde sie auf fremde Hülfe angewiesen sein, was immer seinen Nachtheil habe.

Und Ihre Nichte, die Traud? fragte Chlodwig, während er langsam aus seinem Glase trank.

Ja, wenn sie Die bei sich haben könnte! Ein so braves Mädchen, geschickt zu Allem, treu wie Gold, und halte was auf sich. Aber sie sei durch die besten Worte und den reichlichsten Lohn nicht zu bewegen, ihr Stübchen in der Stadt und das unsichere Leben von ihrer Hände Arbeit aufzugeben. Ein seltenes, aber sonderbares Ding, Herr Professor, und hat seinen eigenen Kopf auf einem steifen Nacken, das Traudchen! 's ist ihr nicht drum zu thun, wie sonst ganz jungen Menschen, lieber auf eigene Faust sich miserabel zu befinden, als unter irgend einer Zucht sich's wohl sein zu lassen. So grün ist sie ja nicht mehr, schon achtundzwanzig, und wenn sie klug ist, ist sie's durch Schaden geworden, denn sie hat schon was erlebt. Aber da hilft kein Zureden, Schelten so wenig wie Schmeicheln. Werden Sie glauben, daß sie die besten Heirathen hätte machen können und immer nur den Kopf dazu geschüttelt hat? Da ist der junge Schreinermeister, dem das Haus gehört, wo sie wohnt, ein Wittwer, aber ohne Kinder. Der nähme sie lieber heute als morgen. Aber sie sieht ihn gar nicht an, obwohl er ein geschickter Mensch ist und auf dem besten Wege, reich zu werden. Und so mit Anderen. Es ist ein Kreuz mit den Mädeln! Das Essen, was die Eine stehen läßt, könnte zehn Andere satt machen, denen aber fehlt der Löffel. Sie entschuldigen mich, Herr Professor. Ich muß in die Küche.

Als er sich wieder allein fand, überließ er sich dem Unmuth über die Enttäuschung, daß er das Mädchen heute nicht sehen sollte. Dann sagte er sich wieder, es sei wohl besser so. Wohin sollte es führen, wenn er sie wiedersah und jener unvergeßliche Eindruck sich verstärkte? Es war ihm nun fast lieb, daß die Frau gegangen war, ehe sie noch mehr von dem »sonderbaren« Mädchen erzählt, am Ende gar das Haus, wo sie wohnte, beschrieben hätte, so deutlich, daß er es hätte finden können. Hastig trank er seinen Wein aus, legte das Geld auf den Tisch und trat den Heimweg an.

*

Es war schon Abend geworden, als er die Stadt erreichte, jenes sommerliche Halbdunkel, in welchem die Luft beständig wie von fernem Wetterleuchten erzittert und die Sterne nur schwach durch den silbernen Duft des Himmels sichtbar werden. Der einsame Spaziergänger hatte den Weg in der Gedankenlosigkeit zurückgelegt, die er fast als eine Wohlthat empfand und sorgfältig unterhielt. Er war entschlossen, mit der heutigen vereitelten Hoffnung solle es nun ein für allemal ein Ende haben. Das Unrecht, das er seiner Frau damit angethan, habe sich nun genug gestraft. Morgen wollte er an eine neue Arbeit gehen, die er eigentlich für die Ferien aufgespart hatte. Er versuchte Anfangs, an dies Werk zu denken, aber hinter seiner Stirn wollte kein fruchtbarer Gedanke keimen. So schlug er sich auch das aus dem Sinn und beschleunigte seinen Schritt, um nur vor Allem wieder nach Hause zu kommen.

Da, als er die ersten Gassen der Vorstadt erreicht hatte, wo eine dürftige Arbeiterbevölkerung wohnte, sah er plötzlich eine Gestalt sich entgegenkommen, bei deren Anblick ihm das Herz heftig zu schlagen anfing. Er blieb stehen, und einen Augenblick hörte er eine Stimme in seinem Innern, die ihm zurief, umzukehren und dem gefährlichen Spiel zu entfliehen. Doch bemerkte er sofort, daß auch er schon gesehen worden war, und halb aus Scham, halb weil sein Herz ihn trieb, ging er der Daherkommenden entgegen.

Wie kommen Sie in diese Gegend, Traud? fragte er, als sie vor ihm stehen blieb und ihn mit einem freundlichen Neigen des Kopfes begrüßte. Ich war draußen in der »Sommerlust«. Hätt' ich das vermuthet, so hätt' ich mir von Ihrer Tante einen Gruß an Sie auftragen lassen.

O, sagte sie unbefangen, Sie sind es? Ich bin ein wenig kurzsichtig, doch glaubte ich Sie am Gang zu erkennen. Daß Sie mich hier treffen, ist kein Wunder, ich wohne in dieser Straße.

Sie haben sich Ihren Sonntag zu Nutze gemacht, fuhr er fort. Es ist jetzt so hübsch in der milden Abendluft. Aber gehen Sie so allein? Oder haben Sie eine Freundin begleitet?

Ich habe keine, erwiderte sie, und mir ist Sonn- und Werkeltag gleich. Ich komme eben erst aus einem Hause, wo ich den ganzen Tag gearbeitet habe, da es Eile hatte. Ein Brautkleid hat noch fertig werden sollen. Nun aber hab' ich Feierabend und bin sehr vergnügt, denn man hat mich gut bezahlt. Da hab' ich Kuchen gekauft für mein kleines Helenchen.

Sie zeigte ihm mit leuchtenden Augen ein kleines Päckchen, das sie im Arme trug.

Ihr Helenchen? versetzte er betroffen. Ich wußte nicht –

Sie lachte. Es ist das Kind der guten Frau, bei der ich wohne, aber es hängt an mir fast mehr als an der Mutter, und ist ein goldiger kleiner Schatz. Im vorigen Winter, da es auf den Tod krank war, hab' ich es Tag und Nacht gepflegt, denn die eigene Mutter konnte es nicht, weil sie selbst ihr Brod damit verdient, Kranke zu warten, und fast jede Nacht wachen muß, und wenn sie dann heimkommt, fallen ihr die Augen zu. Die Großmutter aber ist zu gebrechlich und fast taub – wer sollte sich da des lieben Würmchens annehmen, als ich? Und der Doktor sagte auch: wenn ich nicht gewesen wäre, hätte er sie nicht durchgebracht.

Wie alt ist das Kind? fragte er, um irgend etwas zu sagen, obwohl es ihn nicht im Mindesten interessirte.

Er hing nur wieder an ihren Augen und gab sich dem Reiz ihrer Stimme hin.

Vier Jahre, aber so klug, wie ein sechsjähriges, und so gut – ich wüßte nicht, wie ich's überstanden hätte, wenn es mir gestorben wäre. Haben Sie Kinder gern?

Sehr, und sie wissen es auch gleich und erwiedern es.

Wenn es Ihnen Freude machte, sagte sie nach einem kurzen Besinnen, ich möchte Ihnen das Lenchen wohl zeigen. Es wird schon im Nachtröckchen sein, sonst holte ich es herunter. Aber vielleicht bemühen Sie sich in die Wohnung hinauf. Es ist gleich dort das dritte Haus, und die dunkle Treppe wird Sie nicht abschrecken. Der Hausherr leidet es nicht, daß Licht gebrannt wird, wegen des vielen Holzes in der Werkstatt. Und wozu auch? Wir drei Frauenzimmer sind keine vornehmen Miether, und er selbst, der im ersten Stock wohnt, kommt fast immer illuminirt nach Haus und tappt sich mit Gottes Hülfe in sein Zimmer hinauf.

Sie ging ihm mit einem stillen Lächeln voran, ohne seine Antwort abzuwarten, und führte ihn in ein ansehnliches, aber schmuckloses Haus, dessen Erdgeschoß von dem Magazin und den Arbeitsräumen eingenommen war. In der Beletage, sagte sie, als sie die erste Treppe erstiegen hatten, wohnt jetzt der Meister allein mit einer alten Person, die ihm das Hauswesen führt, seit die Meisterin gestorben ist. Das obere Stockwerk stand leer. Die wenigsten Leute mögen in einem Schreinerhause wohnen, des Lärmens wegen. Da hat der Wirth ein paar Hinterzimmer uns eingeräumt, er dachte wohl, es würde sich etwas anspinnen zwischen mir und ihm, ich habe ihm aber jede Hoffnung benommen, und dennoch läßt er uns wohnen. Denn man hört ja nicht auf die Vernunft, wenn man sich einmal Etwas in den Kopf gesetzt hat. Steigen Sie nur vorsichtig mir nach, es ist stichdunkel, aber nun sind wir auch oben.

Sie öffnete rasch eine Thür, die sich im dunkelsten Winkel des Treppenflurs befand, und ein schwacher Lichtschimmer drang ihnen entgegen. Sogleich hörte er ein helles Kinderstimmchen »Tante Traud!« rufen und sah ein kleines blondhaariges Geschöpf in einem langen Schlafkittelchen, das lebhaft der Eintretenden entgegensprang und ihr die Aermchen um den Hals schlang. Im Hintergrunde saß eine zusammengeschrumpfte kleine Alte in einem hohen Lehnstuhl vor einem Spinnrad und blickte aus müden Augen verwundert auf.

Hier ist ein guter Herr, der das Lenchen sehen will, Großmutter! sagte die Traud. Er hat die Kinder so gern. Ich hab' ihm von unserem Goldkind erzählt. Ist es auch brav gewesen?

Die Alte nickte theilnahmlos mit dem grauen Kopf und sah dann wieder auf ihren Faden.

Dann soll es auch was Guts bekommen, eh' es ins Bettchen geht, sagte das Mädchen, band rasch ihr Hütchen ab und setzte sich, ohne auf den Gast weiter zu achten, auf den Stuhl am Tische, auf welchem eine armselige Lampe brannte und ein Bilderbuch lag. Die Kleine war ihr sofort behende auf den Schooß gesprungen und ließ sich die süßen Bissen wie ein junger Vogel, den die Mutter füttert, in das rothe Schnäbelchen stecken. Dabei plauderte Traud beständig mit ihr, nur zuweilen warf sie einen Blick auf Chlodwig, wie wenn sie sagen wollte: Ist es nicht ein herziges Ding?

Aber man darf es ihm nicht merken lassen, weil es sonst eitel wird. –

Und nun ist's genug, Schätzchen, sagte sie endlich, und das Andere heben wir für die Mama und Großmama auf. Das Lenchen aber sagt gute Nacht – erst der Großmama – und jetzt auch dem guten Herrn eine Patschhand. Wenn Sie sehen wollen, wie brav unser Kind zu Bett geht – es schläft drinnen bei der alten Frau, aber die Thür in meine Kammer bleibt auf, und wenn es nur ein wenig hustet oder in einem bösen Traume weint, bin ich gleich bei ihm.

Sie zündete ein Licht an und trug es vorsichtig mit der linken Hand in das Nebenzimmer, während sich das Kind auf ihrem rechten Arm dicht an sie schmiegte, sichtbar verschüchtert durch den fremden Mann, der so stumm, wenn auch mit freundlichem Gesicht, sie begleitete. Zwei Betten standen dort an der gelbgetünchten Wand, über denen ein paar alte Lithographien in verblichenen Goldrahmen hingen; das Kinderbett zwischen den großen war mit weißen Linnen überzogen, während die anderen Betten sich mit sauberem gewürfeltem Baumwollenzeug begnügen mußten.

Chlodwig sah mit inniger Rührung, wie sie die Kleine niederlegte, dann neben ihr auf die blanke Diele hinkniete und die gefalteten Händchen des Kindes in die ihren nehmend, ihr einen bekannten Gebetvers vorsagte. Darauf beugte sie sich über das kleine schlaftrunkene Gesicht und küßte es auf beide Augen. In alle dem war sie so völlig unbefangen, als ob kein Zeuge ihres Thuns zugegen wäre.

Eine kurze Weile hielt sie ihr Gesicht an das Kissen der Kleinen geschmiegt, dann erhob sie sich behutsam und winkte Chlodwig mit den Augen. Sie schläft schon, flüsterte sie. Nun will ich das Licht hinaustragen. Sehen Sie, dort ist mein Reich – und sie deutete auf die offen stehende Thür der Nebenkammer. So machen wir eine Familie aus.

Ist es nicht erlaubt, auch in Ihre Wohnung einen Blick zu thun? fragte er leise.

Warum nicht? Aber es ist nichts Besonderes da zu sehen. Auch dient es mir ja nur zum Schlafen. Doch wenn Sie eintreten wollen –

Sie ging mit dem Licht voran, und er folgte ihr in eine noch engere Kammer, die Nichts an Möbeln enthielt, als ein blühweißes Bett, einen alten Nähtisch am Fenster, einen großen alten Schrank und auf einer Kommode ein Bücherschränkchen mit Glasscheiben verwahrt. Auf dem Fensterbrett stand ein grünglasirter Topf, aus welchem an einem Holzgitter Epheuranken sich verzweigten. Doch war es heimlich hier, durch das offene Fenster floß die Nachtluft herein, ein graues Kätzchen lag schlafend auf dem braunen Lederpolster eines Armstuhls, der vor den Nähtisch gerückt war, ein paar Holzstühle standen an dem winzigen Oefchen. Nicht jedes Mädchen hält so rein! sagte Chlodwig halblaut vor sich hin und trat an das Bücherschränkchen, in welchem außer einigen zerlesenen Bänden allerlei kleiner Erinnerungskram, eine alte Tasse, ein Trinkglas, ein eingetrocknetes Schreibzeug sorgfältig aufgereiht standen.

Da sehen Sie die ganze Herrlichkeit, sagte die Traud. Sie werden lachen, was ich für Schätze gesammelt habe. Und doch sind sie mir viel werth. Das sind alles Andenken an meinen lieben Vater, wie auch der braune Stuhl. In dem ruhte er seine armen Glieder aus, wenn er von seinen Doctorgängen todmüde nach Hause kam. An Büchern hatte er freilich weit mehr, denn die waren sein einziger Luxus, über den die Mutter beständig eiferte, wenn die Rechnung vom Buchhändler kam. Sie hatte überhaupt viel an dem Vater zu schelten, denn er that immer über seine Kräfte, wenn auch nur in dem Einen Punkt zu seinem eignen Vergnügen. Aber er konnte keine Menschenseele leiden sehen, ohne beizuspringen, mit Rath und That, und bezahlte die Arzeneien oft aus seinem eigenen Beutel und Wein und kräftige Speisen obendrein. Ein Arzt, sagte er oft, sollte statt des Herzens einen Stein, oder Fortunats Säckel in der Tasche haben. Und so konnten wir freilich auf keinen grünen Zweig kommen, und Nichts hinterließ er, als die paar armen Sächlein, und das immergrüne Andenken dort im Topf. Das ist von seinem Grabe genommen, und ich pflege es, daß es nie verdorren kann. – Sie lächeln über meine Bücher, fuhr sie fort. (Er hatte eines aus dem Schrank genommen und gesehen, daß es ein alter Kalender war.) Die anderen sind uns alle verkauft worden, da wir nach des Vaters Tode in Schulden geriethen. Nur die Kalender wollte Niemand haben. Da hab' ich sie mir ausgebeten und lese noch immer zuweilen darin. Es sind ganz schöne Geschichten, nur komm' ich selten dazu, weil ich immer was zu schaffen habe.

Er trat vor das Bett und betrachtete zwei Photographieen, die in sauberen Goldrähmchen an der Wand hingen. Eine stellte einen jungen Menschen vor in Uniform, die andere ein junges Mädchen, das ein ganz junges Kind auf dem Schooße hielt. Da sie das Gesicht zu ihm hinabbeugte, sah man die Züge nicht.

Doch an der Form des Kopfes und der ganzen Geberde der Gestalt erkannte er sofort, daß es die Traud selber war.

Wen stellen die Bilder vor? fragte er.

Sie antwortete nicht sogleich und machte sich, ihm abgewandt, an dem Nähtisch zu schaffen. Rathen Sie einmal! sagte sie nach einer Weile.

Der junge Soldat scheint Ihr Bruder zu sein, obwohl er Ihnen nicht gleicht. Das Mädchen aber sind Sie selbst und halten das Lenchen auf dem Schooß.

Fehlgerathen!erwiderte sie ruhig und kehrte ihm jetzt das Gesicht zu, das ein wenig geröthet war. Sie blickte ihm fest in die Augen und schien sich zu bedenken, ob sie ihm ihr ganzes Vertrauen schenken dürfe. Dann lächelte sie ihn treuherzig an. Ich weiß nicht, warum, aber Ihnen könnte ich nichts Unwahres sagen. Auch ist mir, als würden Sie Alles richtig verstehen. Sehen Sie, der junge Soldat da war mein Bräutigam, und das Kind, das ist nicht das Lenchen, sondern ein Bub' und mein Kind, unser Kind. Nun wissen Sie's.

Er hörte, wie sie tief aufathmete, als fühle sie sich erleichtert nach diesem Bekenntniß. Sie war ihm, nie so liebenswerth erschienen.

Arme Traud, sagte er und hielt ihr die Hand hin, Sie sind betrogen worden?

Ja, erwiderte sie, ohne die Hand zu fassen, doch nicht von ihm, sondern von unserm Schicksal. Er war der Sohn eines reichen Weingutsbesitzers in Oberwesel und hatte seine Schulen durchgemacht und sollte einmal das Gut übernehmen. Jede reiche Partie stand ihm offen, aber er wählte mich armes Mädchen und setzte es endlich durch bei seinen Eltern, weil sie sahen, er ließ doch nicht von mir. Und ich war ein unbescholtenes, gutes Kind, und hübsch und lustig war ich auch und klug genug, seinen Papa für mich zu gewinnen. Da kam der französische Krieg, den er mitmachen mußte als einjährig Freiwilliger. Und wie er den letzten Abend mich besuchte, um Abschied zu nehmen – Traudchen, sagte er, mir ist zu Muth, als käm' ich dir nicht zurück. O und all das Glück, das wir geträumt haben – ich werd es nie erleben! – Ich brauch' Ihnen nichts weiter zu sagen. Er war so traurig, ich hätte mein Leben hingegeben, um ihn zu trösten, nur daß er doch, wenn er im kalten Felde lag, oder gar verwundet den Tod heranschleichen sah, an Eine glückliche Stunde zurückdenken könnte. Und auch hernach fühlt' ich keine Reue. Wenn er wiederkommt, dacht' ich, werd' ich seine Frau, und wenn Gott es nicht zuläßt, so sterb' ich ihm nach.

Er hat es nicht zugelassen, daß wir zusammen unserer jungen Liebe froh werden sollten, aber ich bin ihm nicht nachgestorben, denn ich hatte für ein anderes Leben zu sorgen. Und glauben Sie mir, was auch die Mutter schelten und böse, kalte Menschen zischeln und zetern mochten: es hätte mich nicht gerührt, wenn ich das Kind nur hätte behalten dürfen. Es sah ihm so gleich, es wäre gewiß ein so braver, herziger Mensch geworden, wie sein Vater war. Nun, wir können es uns nicht aussuchen, wir müssen hinnehmen, was kommt.

Sie wandte sich wieder ab; er sah, daß ein leichtes Zittern über ihre Gestalt ging.

Traud, sagte er, Sie sind noch so jung, Sie werden gewiß noch ein anderes Glück finden.

O nein! versetzte sie und schüttelte langsam den Kopf. Es war zu schön, was ich gehofft hatte; mit etwas Geringerem nehm' ich nicht vorlieb. Ich bin nur eine arme Nätherin und habe keine Bildung, außer was ich bei meinem lieben Vater gelernt habe. Aber ich halte mich doch zu gut für einen rohen Menschen, und ein feiner, wie ich ihn lieb haben könnte – wo findet sich der? Und wenn sich wirklich Einer in mich verliebte, käm' es noch darauf an, ob er mir gefiele. Sie werden mich sehr eitel und anspruchsvoll finden, aber ich kann nicht anders. Wem ich treu bleiben soll mein Leben lang, der muß mein ganzes Herz haben.

Darauf entstand eine Pause, in der sie das Schnurren des Spinnrades aus dem dritten Zimmer hörten und das ruhige Athmen des Kindes. Er hatte so viel auf dem Herzen, fast wie ein Bruder fühlte er sich zu dem lieben Geschöpf hingezogen, dem er gern den harten einsamen Weg erleichtert hätte. Doch fand er nicht ein einziges Wort und starrte immer nur auf das Bild des jungen Soldaten, während ein heimlicher Neid sich in ihm zu regen begann.

So! und nun genug geschwätzt! sagte sie endlich wieder in ihrem hellen, gleichmüthigen Ton. Nun müssen Sie gehen, und ich danke Ihnen, daß Sie so geduldig angehört haben, was ein einfältiges armes Mädchen Ihnen vorgeplaudert hat, obwohl Sie ein so gelehrter Herr sind, wie die Tante sagt. Sie brauchen nicht wieder durch das Zimmer der Großmutter zu gehen. Meine Thür hier führt auf die Treppe.

Was wird die Großmutter davon denken, Traud, daß Sie hier einen fremden Besuch empfangen haben? fragte er.

Und sie darauf: Die alte Frau kennt mich. Sie weiß, daß ich nichts Unrechtes thue. Und dies war ja auch das erste und letzte Mal. Nun leben Sie wohl. Und wenn Sie mir auf der Straße begegnen, in Gesellschaft, brauchen Sie mich nicht zu grüßen, daß die Leute sich wundern. Ich weiß doch, daß Sie mich nicht verachten. Nicht wahr?

Damit reichte sie ihm die Hand, und in der Verwirrung, in der er sich befand, zog er sie an seine Lippen.

Was thun Sie? rief sie über und über erglühend und trat einen Schritt zurück. Wollen Sie Ihren Spott mit mir treiben?

Bei Gott, ich hab' es ganz im Ernst gemeint, stammelte er. Ich könnte Sie nicht höher verehren, wenn Sie ein vornehmes Fräulein wären. Gute Nacht, Traud!

Damit ging er hinaus, und sie folgte ihm mit dem Licht, das sie hoch in der Hand hielt, ihm die steile dunkle Treppe hinabzuleuchten. Er sah sich noch einmal um und weidete sich an dem Schimmer des lieben Gesichts, das ihm freundlich nachgrüßte. Gute Nacht! rief er leise zurück.

Sie nickte nur und verschwand wieder im Dunkeln.

*

Es war inzwischen völlig Nacht geworden. Auf der Gasse gaben nur ein paar Laternen einen trüben Schein, da der Himmel sich mit Dunstwolken überzogen hatte. Doch als Chlodwig die Thür des Hauses behutsam hinter sich zuzog, sah er zu seinem Schrecken dicht vor sich ein bekanntes Gesicht.

Der kleine Advocat lehnte an einem Laternenpfahl unweit von ihm und schien auf irgend Jemand zu warten.

Sie hier, Berndt? rief der Ueberraschte ihn an. Was suchen Sie hier draußen, zu dieser Stunde?

Das frag' ich Sie! knurrte der Andere, der plötzlich sich aufgerichtet hatte und in sichtbarer Erregung auf Chlodwig zu trat. Wie kommen Sie in dieses Haus? Wen kennen Sie in diesem Hause?

Chlodwig sah ihn befremdet an. Der leidenschaftliche Ton, mit welchem die Worte hervorgestoßen wurden, klang fast beleidigend. Lieber Freund, sagte er, sich zusammennehmend, Sie scheinen nicht nur als Armenadvocat, sondern auch als ein Volontär der Geheimpolizei Ihre Sonntagabende zu verbringen. Wenn ich Ihnen nun die Antwort verweigerte? Oder Ihnen erzählte, daß ich bei dem Tischlermeister eine Bestellung gemacht hätte? Aber ich will Ihnen ganz reinen Wein einschenken. In diesem Hause wohnt ein Mädchen, dessen Bekanntschaft Sie ebenfalls gemacht haben würden, wenn Sie vor acht Tagen auf der »Sommerlust« mein Gast gewesen wären. Dies gute Wesen hat mich in das Haus geladen, um ein Kind zu bewundern, das sie abgöttisch liebt. Und da auch ich ein Kindernarr bin, hab' ich mich nicht lange bitten lassen. Nun wissen Sie Alles, und wenn Sie mir nicht glauben, klettern Sie selbst die steile Hühnerstiege hinauf und fragen droben nach Fräulein Traud, die Ihnen Alles bestätigen wird.

Es kam lange keine Antwort von den Lippen des Advocaten. Nur seine Augen fühlte Chlodwig mit durchbohrender Schärfe auf sich gerichtet. Ein Argwohn stieg in ihm auf.

Kennen Sie am Ende das Mädchen selbst? sagte er. Und haben mich im Verdacht, daß ich auf unrechten Wegen ihr nachgegangen sei? Warum starren Sie mich so aufgeregt an? Sie wissen doch, daß ich über Jugendstreiche hinaus bin und als ein alter Ehephilister einem Junggesellen nicht ins Gehege kommen werde.

Sie wären der erste nicht! knirschte der Andere zwischen den Zähnen. Dieses Mädchen – noch ganz Andere, als solch einen tugendhaften Staatsbürger, wie Sie sind, hat sie am Narrenseil geführt. Werden Sie's glauben – aber schon gut! Ich sehe, wie Alles kommen wird! Nur das Eine will ich Ihnen mit auf den Weg geben: wenn Sie mit Ihrem sanften Rothbartslächeln und den treuherzigen Augen zum Schurken an ihr werden, so haben Sie's mit mir zu thun. Gute Nacht, Herr Professor!

Er wandte sich ab und eilte mit starken Schritten die Straße hinab.

Im Nu hatte Chlodwig ihn eingeholt. Sind Sie von Sinnen? rief er, ernstlich aufgebracht. Was führen Sie für schnöde Reden, die mich und das brave Mädchen beleidigen? Ich verlange, daß Sie mir erklären, was Sie von ihr wissen und warum Sie meinen Worten keinen Glauben schenken.

Der Andere blieb wieder stehen. Was ich von ihr weiß? Leider nichts Böses. Das aber sind die Schlimmsten, die Gefährlichsten. Da ich mich doch einmal so weit bloßgestellt habe: nun ja, sie hat mir auch den Kopf verdreht. Ich ging vor Monaten zu der Frau, bei der sie wohnt. Die hatte eine Forderung einzuklagen, und ich wollte ihr die Schrift aufsetzen. Dabei lernte ich die Traud kennen. Ich bin nicht sentimental und halte die Tugend trotz unserm großen Schiller dennoch für einen leeren Wahn, wenn sie mit der Armuth in demselben Bette schlafen soll. Hier aber scheiterte mein bischen Witz. Das Mädel ist sein Gewicht in gutem Golde werth, und so – da man sich selbst in ihrer Gegenwart vergißt und sich am Ende ganz charmant vorkommt, so lange sie einem zulächelt – nun, ich werd' es mein Lebtag nicht vergessen, wie allerliebst sie mir den Korb verblümte, den ich endlich davontrug. Mir war ganz recht geschehen. Meine Paviansarme um solch einen Leib zu schlingen, meine Waldteufel-Physiognomie an ihr Mondgesicht zu drücken – ist's nicht, um das Hohngelächter der Hölle herauszufordern? Und daß sie keinen Ehrgeiz hatte, Frau Doctorin zu werden und seidne Kleider zu tragen, kann ich ihr nicht einmal hoch anrechnen. So wie sie geht und steht, ist sie zehnmal vornehmer, als alle die hochweisen Räthinnen, Superintendentinnen und Professorenweiber unserer edlen Stadt, und ich brauche mich gar nicht zu schämen, daß ich, wenn ich nichts Besseres zu thun habe, den Ritter Toggenburg spiele und mir das hoffnungslose Vergnügen gestatte, vor ihrem Hause Schildwach zu stehen, ob sie nicht auf den menschenfreundlichen Gedanken käme, noch ein wenig Luft zu schöpfen. Sie aber, Sie kluger fischblütiger, hochgelehrter Herr und Freund, Leuchte der Wissenschaft und Vorbild der strebsamen Jugend, wenn Sie sich einfallen ließen –

Die Stimme versagte ihm, so gewaltsam hatte er die Worte herausgestoßen. Chlodwig wollte eben etwas erwidern, da hörte er nur noch ein dumpfes: Basta! Sie wissen, was ich sagen will – und nun behüt' Sie Gott – oder gehen Sie zum Teufel!

Damit riß er sich ungeberdig von ihm los und rannte in die nächste Querstraße, wohin Chlodwig ihm nicht folgen mochte.

*

Doch hatte das wunderliche Begegnen mit dem Freunde, der ihm so plötzlich sein leidenschaftliches Geheimniß enthüllte, das Nachgefühl der Scene droben bei der Traud nicht getrübt. Vielmehr erschien sie ihm jetzt nur noch reizender, seit er wußte, daß sie auch diesen Menschenverächter bezwungen hatte, und da er in diesem Augenblick seine brüderliche Empfindung für sie ganz lauter in sich verspürte, durchströmte ihn beim Denken an sie ein Wohlgefühl, wie er sonst nur erlebt hatte, wenn er eine schöne Dichtung gelesen, oder im Theater irgend welche vom Genius verklärte Gestalten hatte vorbeiwandeln sehen. Der heimliche Stachel, daß er durch die Neigung zu ihr sich gegen sein Weib verschulde, brannte nicht mehr in seinem Gemüth. Er bestärkte sich freilich in dem Vorsatz, ihr von nun an auszuweichen, doch nur um das Bewußtsein, ein so liebenswürdiges Wesen sei auf der Welt, ganz ungestört durch äußere Zufälle in sich zu bewahren. Am liebsten hätte er Gina von ihr erzählt. Aber wie er sie kannte – wie konnte er hoffen, daß sie verstehen würde, was er an diesem Mädchen fand?

Immer sah er sie mit der Kleinen auf dem Schooß, oder neben ihrem Bettchen knieend, den Kopf auf das kleine Kissen gedrückt, die zarte Muschel ihres Ohrs von der Kerzenflamme roth durchleuchtet, und dann ihr leises Aufstehen, ihr bescheidenes Lächeln, als sie ihn in die ärmliche Kammer führte, der Ton ihrer Stimme, mit der sie vom Vater sprach – solch eine Schwester hätte er sich gewünscht; die hätte für all das Sinn und Antheil gehabt, was jetzt in seiner vielbeneideten Ehe verschlossen in seinem Innern bleiben mußte.

Er fühlte das wieder schneidend, als er nach Hause kam und Gina ihn mit ihrer sanften Ueberlegenheit empfing, fast wie einen jugendlichen Thoren, dem man es nachsehn müsse, wenn er sich in eine würdige Lebensführung noch nicht zu finden wisse. Doch war er fest entschlossen, sich nicht verstimmen zu lassen, und betrug sich gegen sie mit so gleichmüthiger Heiterkeit, so herzlich und offen, daß er sie beinah aus der Fassung gebracht hätte. Das eben verletzte sie aufs Neue. Er sollte es empfinden, daß nicht Alles zwischen ihnen war, wie sie es wünschte. Erst wenn er zu ihr wieder wie zu einem höheren Wesen aufblickte, wollte sie in ihrer überschwänglichen Güte und Milde sich wieder zu ihm neigen und ihm alles Glück gewähren, das ihm sein guter Stern gegönnt hatte, als er ihn zu ihr führte. Denn im Grunde des Herzens hatte sie ihn sehr lieb. Aber Geben war ihr immer beseligender gewesen, als Empfangen, da doch in der echten Liebe überall kein Unterscheiden und Abwägen gegen einander Statt finden soll, sondern das Bewußtsein einer unauflöslichen Vereinigung, wo Jeder seinen ganzen Besitz in Einen großen Schatz zusammenschüttet, um unbedenklich sein Glück daraus zu schöpfen.

Da er nun ihre Zurückhaltung empfand, fing er an, von unpersönlichen Dingen zu reden, zuletzt von seinem neuen Werk, über das sie allerlei kluge Gedanken äußerte. Er holte einen kurzen Entwurf des Plans, den er neulich aufgeschrieben, und las ihn ihr vor und freute sich, wie leicht sie sich in die Grundgedanken hineinfand. Einer seiner Zuhörer, ein gescheidter und anmuthiger junger Mensch, der immer willkommen war, fand sich dazu, und so verging der Abend in musterhafter Eintracht und mancherlei geistiger Anregung. Der andere Morgen fand Chlodwig dann schon früh am Schreibtisch, wo er nun eine Woche lang alle freien Stunden zwischen seinen Collegien zubrachte. Ihm war lange nicht so wohl gewesen. Wenn er unter der Arbeit einmal aufblickte und den Rosenstock betrachtete, in dessen Erde er den Fruchtkern vergraben hatte, schweiften seine Gedanken wohl einen Augenblick in die dürftige Kammer hinüber, und es wandelte ihn ein flüchtiger Wunsch an, ihre Bewohnerin wiederzusehen. Doch war er ganz zufrieden, daß es nicht sein konnte und sollte. So wenig wie der Aprikosenkern in dem engen Topf keimen und Wurzel schlagen konnte, so wenig konnte und durfte das flüchtige Erlebniß eine Zukunft haben.

*

So waren ihm vierzehn arbeitsame Tage vergangen. Da kam er eines Mittags aus der Vorlesung, mit der er das Sommersemester beschlossen hatte, nach Hause, und als er seine Frau in ihrem Zimmer nicht fand, ging er ihr durch die anderen Gemächer nach, da er sie mit einer häuslichen Arbeit beschäftigt vermuthete.

Wie er aber die Thür des Eßzimmers öffnete, blieb er von einem heftigen Schrecken überfallen, an der Schwelle stehen und schloß dann die Thür leise wieder, ohne einzutreten.

Das Eßzimmer war das geräumigste des ganzen alten Hauses, durch einen tiefen Erker erweitert, der durch ein einziges breites Fenster sein Licht empfing.

In diesem Ausbau stand, wenn sie Gäste hatten, ein großer Credenztisch mit allerlei Tafelgeräth, Weinflaschen und Gläsern, und an anderen Tagen diente er zu wirthschaftlichen Geschäften, an denen die Hausfrau Theil nahm. Heut aber, da es sich um die Anfertigung eines Kleides handelte, saß Gina hier mit der Näherin, die sie ins Haus hatte kommen lassen, und diese ihre Gehülfin war keine Andere als – die Traud.

Das Mädchen hatte, als die Thür ging, von ihrer Arbeit aufgeblickt, doch, ohne irgend eine Verwirrung zu verrathen, sogleich weitergearbeitet. Frau Gina, die mit dem Rücken nach der Thür gesessen, stand auf; sie hatte den Schritt ihres Mannes erkannt und ging ihn aufzusuchen, da er nicht eingetreten war. Sie fand ihn in seinem Zimmer, vor einem Bücherbord stehend, in welchem er eifrig etwas zu suchen schien. Schon zurück? fragte sie. Warum bist du nicht hereingekommen?

Du warst so in deine Arbeit vertieft – ich wollte dich nicht stören, erwiderte er mit mühsamer Stimme und wandte sich zögernd nach ihr um. Da sah sie, daß er blaß war und die Augen ihm seltsam flackerten.

Dir ist nicht wohl, Chlodwig, sagte sie. Was hast du? Soll ich dir Wein bringen?

Laß, versetzte er, es ist Nichts. Ich habe, wie du weißt, heut geschlossen, die letzte Vorlesung greift mich immer an. Bis wir zu Tische gehen, werd' ich ein wenig ruhen. Gewiß, mir ist schon besser.

Sie verließ ihn wieder, und er hatte Mühe, sich in der Einsamkeit zu fassen. Doch als er eine Stunde später in das Eßzimmer trat, war er völlig Herr seiner selbst geworden. Das Mädchen saß noch auf ihrem Platz; man hatte ihr ein besonderes Tischchen gedeckt und in den Erker gestellt, wie es die Haussitte war, wenn eine Näherin mitaß, die nicht bei den Herrschaften sitzen sollte und doch auch nicht zu den Dienstboten verwiesen werden durfte. Chlodwig, nach seiner freundlichen Gewohnheit, begrüßte einen solchen Gast mit einem leichten Kopfnicken. Heute trat er hastig ein, einen »Guten Tag!« hinwerfend, den die Traud damit erwiderte, daß sie sich erhob und eine kleine Verbeugung machte. Dann setzte sich der Hausherr an seinen gewöhnlichen Platz, das Profil dem Erker zugewendet, Gina gegenüber. Er war ungewöhnlich gesprächig, erzählte Stadt- und Universitätsgeschichten, aß aber nicht viel und blickte beständig auf die Schale mitten auf dem Tisch, die mit Früchten gefüllt war. Je lebhafter und munterer er sich aber betrug, desto einsilbiger verhielt sich seine Frau. Sie schien irgend einem verschlossenen Gedanken nachzuhängen, und als das Mahl vorüber war, stand sie eiliger als sonst von Tische auf, so daß er scherzend die Frage wagte, ob es mit dem schönen neuen Gewand so besondere Eile habe. Ihm selbst war in diesem stillen Beisammensein mit dem lieben Mädchen nach und nach alle Befangenheit geschwunden.

Sie habe der Superintendentin für heute Nachmittag einen Besuch versprochen, erwiderte Gina trocken. Es handle sich um eine Wohlthätigkeitssache. Das Kleid könne überhaupt erst morgen fertig werden.

Damit begab sie sich in den Erker zurück, wo das Mädchen, das noch hurtiger gegessen hatte, schon wieder bei der Arbeit war.

Chlodwig entfernte sich in peinlichem Zweifel, ob die unholde Stimmung seines Weibes irgend einer verhängnißvollen Ahnung entspringen mochte. Wie aber sollte das möglich sein? Er mußte sich das Zeugniß geben, daß er sich musterhaft betragen hatte. Und wie hätte die bescheidene Haltung der Traud irgend einen eifersüchtigen Argwohn in Gina erwecken können?

Er hörte sie endlich aus dem Hause gehen und empfand es nun als eine Pein, daß er unter Einem Dache mit seiner heimlichen Freundin war und sich ihr doch nicht nähern durfte. Um seine gewohnte Siesta war es geschehen. So nahm er endlich seinen Hut und ging ins Freie.

Doch that ihm die schwüle Luft nicht wohl. Er flüchtete in ein Kaffeehaus, das er sonst nie besuchte, und vergrub sich eine Stunde lang hinter Zeitungen.

Zuletzt begann er sich zu schämen, daß er sich von dem unschuldigsten Anlaß so ganz aus seinem Geleise bringen ließe, und nachdem er noch ein paar Straßen abgelaufen hatte, kehrte er nach Hause zurück.

Nun hatte er sich einen Muth gefaßt, unbefangen die Dinge zu nehmen, wie sie lagen. Ohne erst in sein Zimmer zu gehen, trat er sogleich in das Eßzimmer.

Gina war noch nicht zurück. Die Traud saß allein im Erker und sah kaum auf, als er sie begrüßte.

Er schwieg dann wieder, ging zu einem Eckschränkchen und nahm eine Flasche Wein heraus und ein Glas, das er langsam vollschenkte. Dabei glitt sein Blick zu Traud hinüber, deren verlorenes Profil er sehen konnte, die schwere Haarflechte mit dem silbernen Pfeil, die krausen Löckchen über dem weißen Hals. Sein Herz fing doch an zu klopfen, als er sie so nahe wieder vor sich sah, so viel reizender, als sie ihm in der Erinnerung erschienen.

Wie geht es Ihnen, Traud? fragte er plötzlich, indem er das Glas seinem Munde näherte.

Ich danke, gut, erwiderte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.

Es ist lange her, daß ich Ihnen zuletzt begegnet bin. Was macht das Lenchen?

Es ist brav und vergnügt.

Und die Großmutter?

Sie spinnt ihre Tage so ab.

Sind Sie sehr fleißig gewesen all die Zeit her?

Einen Tag wie den andern.

Dann vergingen fünf Minuten, ehe er wieder ein Wort an sie richtete.

Sie kennen den Doctor Berndt?

Sie sah plötzlich auf und wandte die Augen zu ihm hin.

Woher wissen Sie das?

Von wem anders sollt' ich es wissen, als von ihm selbst?

Und was hat er Ihnen von mir gesagt?

O nur das Beste und Schönste. Er ist ein sehr kluger Mann, und ich glaube auch, er ist von Herzen gut. Haben Sie ihn nicht ein wenig lieb haben können?

Nein. Oder doch, ein wenig, nur nicht so viel, wie er verlangte.

Und wenn Sie seine Frau geworden wären und hätten ihn immer besser kennen und schätzen lernen und Sie wären jetzt ganz sorgenfrei und Ihre eigene Herrin –

Wenn ich ihn nicht lieber hätte, als mein Leben, wär' ich dann nicht immer wie im Gefängniß? Aber es war auch wohl nicht sein Ernst. Wir sind uns doch zu ungleich, und gerade, weil er so gescheidt ist, wäre er bald dahintergekommen.

Er hatte sich ein zweites Glas eingeschenkt. Wußten Sie, als Sie hierherkamen, wen Sie hier finden würden? fragte er, indem er ein paar Schritte näher trat.

Gewiß, erwiderte sie. Daß Sie verheirathet sind, hatte mir schon meine Tante gesagt, auch daß Sie eine so schöne und gefeierte Frau hätten. Wenn ich nicht neugierig gewesen wäre, sie auch kennen zu lernen, wäre ich lieber nicht gekommen. Es war mir erst so wunderlich, ich mag kein Heimlichthun, ich thue Nichts, was das Licht scheut, und habe mich hier doch fremd stellen müssen. – Sie lachte ein wenig. – Nun es war keine Sünde dabei, und in Zukunft –

Die Thür ging plötzlich auf, und ehe Chlodwig sich abwenden konnte, stand Gina mitten im Zimmer.

Die Traud hatte, während sie sprach, ruhig fortgearbeitet und sah unverlegen auf, als die Frau jetzt gerade auf sie zu trat und mit tonloser Stimme, in welcher eine heimliche Erregung bebte, zu ihr sagte:

Sie können nun aufhören meine Liebe. Was noch fehlt, werde ich selbst thun.

Aufhören? wiederholte das Mädchen betroffen Es ist ja noch lange nicht Feierabend.

Das ist gleichgültig. Ich bezahle Sie natürlich für den vollen Tag. Morgen aber brauchen Sie nicht wiederzukommen.

Traud hatte sich ruhig erhoben. Ihr Gesicht war sehr bleich, ihre Augen sahen fest und stolz geradeaus in das Gesicht der Frau, die noch in Hut und Shawl ihr gegenüber stand, als ob sie es nicht erwarten könne, bis das Mädchen gegangen sei.

Darf ich fragen, Frau Professorin, warum Sie das thun? Warum ich so plötzlich die Arbeit liegen lassen und Ihr Haus verlassen soll, als wenn ich eines Verbrechens überwiesen wäre?

Ich bin Ihnen keine Aufklärung schuldig, versetzte Gina, indem sie sich mit steinerner Miene zu Chlodwig wandte. Du hast dir selbst deinen Wein geholt? sagte sie scharf. Das hätte doch auch das Mädchen thun können, wenn du ihm geklingelt hättest. – Dann wieder zu Traud gewandt: Wenn Sie durchaus wissen wollen, warum ich es nicht wünsche, daß Sie ferner bei mir arbeiten –: die Frau Superintendentin hat mir mitgetheilt, was in ihrem Hause vorgefallen. Sie werden begreifen, daß Sie sich dadurch in allen Häusern, die auf gute Sitte halten, unmöglich gemacht haben.

Eine tiefe Glut stieg in das ernste Gesicht des Mädchens, aber ihre flammenden Augen bezeugten, daß es die Röthe des Zorns, nicht der Scham sei. Sie kämpfte offenbar einen harten Kampf, ob sie die bösen Worte mit heftiger Vertheidigung erwidern solle. Dann sagte sie, indem sie sich unwillkürlich auf den Zehen hob: Ich hätte nicht geglaubt, daß eine so hochgebildete Dame, wie die gnädige Frau, auf eine elende Verläumdung hören würde. Da es geschehen ist und ich nun doch einmal beleidigt bin, liegt mir auch Nichts an einer Zurücknahme der schändlichen Beschuldigung, deren Ursache ich sehr wohl kenne. Arbeit werde ich genug finden, wenn auch nicht in so vornehmen Häusern. Und nun leben Sie wohl, und meinen heutigen Tagelohn bitt' ich einem Armen zu geben.

Sie hatte, noch im eifrigen Reden, ihr Strohhütchen ergriffen und ihr Tuch umgeschlungen. Dann schob sie das Geld zurück, das Gina vor sie hingelegt hatte, band die Schleifen ihres Hutes fest, verneigte sich, ohne Gina noch eines Blickes zu würdigen, mit gemessenem Anstand gegen Chlodwig und verließ rasch das Zimmer.

*

Es war todtenstill zwischen den beiden Zurückgebliebenen, deren Blicke einander vermieden. Die Frau stand neben dem Erker und zog langsam die Handschuhe aus. Chlodwig lehnte am Eßtisch, er hielt das halbgeleerte Glas in der Hand, die stark zitterte, und starrte in den rothen Wein. Erst als die Schritte draußen auf der Treppe verhallt waren, sagte er mit mühsamer Stimme, wie Jemand, der eine Lähmung abschüttelt:

Du bist doch wohl zu rasch gewesen gegen das Mädchen. Hast du ihren Blick gesehen und auf den Ton ihrer Worte gemerkt? So blickt und spricht Niemand, der sich schuldig fühlt.

Sie wandte sich heftig nach ihm um und sah ihm scharf ins Gesicht. Auch er schlug die Augen zu ihr auf. Ihre Blicke begegneten sich in fast feindseliger Erregung.

Es steht dir wohl an, sie noch in Schutz zu nehmen, sprach sie mit erzwungener Gleichgültigkeit. Was ich gethan habe, bin ich der Ehre und Würde dieses Hauses schuldig gewesen. Sie wurde mir empfohlen als eine geschickte Arbeiterin, was sie auch ist, und über die Sittlichkeit solcher Geschöpfe polizeiliche Nachforschungen anzustellen, ist nicht meine Art. Sie mögen ihr Wesen treiben, wie sie wollen, draußen, für sich. Nur daß sie es in die ehrbaren Familien mitbringen, in denen sie ihr Brod suchen, das zu dulden ist auch die toleranteste Hausfrau nicht verpflichtet.

Sie legte den Hut ab und schien das Zimmer verlassen zu wollen. Er stand noch immer unbeweglich.

Und was hat sie in diesen ehrbaren Familien angestiftet, daß man sie jetzt mit Schimpf und Schande fortjagen darf? fragte er, sich gewaltsam bezwingend.

Gina blieb au der Schwelle stehen. Wenn es dich wirklich interessirt, sagte sie, obwohl du sonst von so alltäglichen Geschichten nichts hören magst: sie hat die beiden Söhne der Superintendentin an sich gelockt, um ein kokettes Spiel mit den unreifen jungen Menschen zu treiben. Es war ihr vielleicht nicht Ernst damit, eine wirkliche Liebschaft anzuspinnen, aber es schmeichelte ihr, daß ein Student und ein Primaner, die sich sonst brüderlich vertrugen, in heftige Eifersucht ihretwegen geriethen. Ich finde das empörender, als wenn ein solches Mädchen einen Geliebten hat, an dem sie wirklich hängt, wenn auch keine Aussicht ist, daß er sie zu seiner Frau macht.

Wirklich? versetzte er mit bitterer Ironie. Du bist sehr gütig und duldsam. Aber die Beweise, daß diese merkwürdige Geschichte sich wirklich so zugetragen? Als Historiker bin ich gewohnt, nach gültigen Zeugnissen zu fragen.

Die Beweise? Vielleicht genügt es dir nicht, daß die Mutter den jüngeren Sohn dabei ertappte, wie er der Nätherin auf der Treppe aufpaßte und ihr eine begeisterte Liebeserklärung machte. Dann geh hin und – bitte dir den Brief des älteren Sohnes aus, den die entrüstete Mutter, nachdem sie der Person das Haus verboten, auf dem Nähtische fand, wo sie ihn in der Verwirrung vergessen hatte. Wir beschränkten Frauen pflegen uns mit solchen Zeugnissen zu begnügen, wenn sie auch vielleicht keine wissenschaftliche Beweiskraft haben.

Die haben sie allerdings nicht, sagte er kalt. Denn ich vermisse jeden Anhalt dafür, daß sie diese Kindereien erwidert oder auch nur gern gesehen habe. Sie scheint kein gewöhnliches Mädchen zu sein. Was kann sie dafür, wenn zwei unreife junge Bursche sich in sie vergaffen?

Die Frau sah ihn schweigend an. Diesmal schlug er unwillkürlich die Augen nieder. Er erhob sich vom Tische und trug das Glas nach dem Eckschränkchen.

Wir wollen dieses Gespräch endigen, sagte Gina endlich, du machst so warm ihren Anwalt, daß ich nicht hoffen kann, dich zu überzeugen, obwohl grade diese ungewöhnliche Wärme mich in meiner Meinung bestärkt. Sie scheint eine von Denen zu sein, die auf euch Männer stets Eindruck machen. Ich sah schon heute Mittag, daß ihre Nähe dir nicht gleichgültig war. Du machtest einen besonderen Aufwand von Liebenswürdigkeit, und eben jetzt hattest du es nicht unter deiner Würde gehalten, während ich fort war, in dies Zimmer zu kommen und mit dem artigen Fräulein eine Unterhaltung anzuknüpfen. Ich beneide dich nicht um deinen Geschmack. Ich weiß, daß ihr im Weibe vor Allem das Geschlecht seht und über die Unterschiede des Charakters und der Bildung anders denkt als wir. Bisher hatte ich dich immer von der großen Menge ausgenommen. Seit ich dein Glaubensbekenntniß über die heilige und profane Liebe gehört habe, muß ich freilich auf Alles gefaßt sein.

Sie ging aus dem Zimmer und ließ ihn in einem unbeschreiblichen Aufruhr aller Gefühle zurück. Er sah mit Schrecken, daß sich zwischen ihm und dieser Frau, die er sein genannt, ein tiefe Kluft geöffnet hatte. In diesem Augenblick stieg etwas wie ein tödtlicher Haß in ihm auf, mit allen Kräften seiner Seele suchte er ihn niederzukämpfen. Als er fühlte, daß es ihm nicht gelang, schlich er wie ein Verbrecher in sein Zimmer und blieb stundenlang, vor dem Arbeitstische sitzend, mit seinen wühlenden Gedanken allein.

Als die Magd mit der Lampe kam, raffte er sich auf und trat in das Nebenzimmer, wo er Gina bei einem Buche fand. Sie war sehr bleich und hatte geröthete Augen. Doch wollte kein Mitleid mit dem, was auch sie gelitten haben mochte, sich in ihm regen.

Er sagte ihr, daß er den Abend in der »Universitas« zubringen wolle. Es sei die letzte Zusammenkunft am Schluß des Semesters, in dem Gasthof der Stadt, wo sie ihren geschlossenen Saal hatte. Sie möge ja nicht aufbleiben, ihn zu erwarten.

Sie nickte nur stumm, und als er ihr zum Abschied die Hand reichte, legte sie ihre schlanken, kalten Finger hinein und sah dann wieder in ihr Buch. So trennten sie sich.

Er ging wirklich nach dem Gesellschaftslocal, so ungesellig ihm zu Muthe war. Er hoffte, unter dem Gespräch mit seinen Collegen die Angst und Unseligkeit loszuwerden, die ihn während seines einsamen Brütens gemartert hatten. Doch hielt er es nicht länger als eine Stunde aus. Dann schlich er sich still aus dem Saale fort und trat in die Nacht hinaus, rathlos, wohin er seine Schritte lenken sollte, da ihm die gewohnte Zuflucht zu seinem eigenen Hause wie eine Hölle erschien.

Und ehe er wußte, wie es geschah, fand er sich auf dem Wege nach der Vorstadt, in der die Traud wohnte. Als er es inne wurde, beschleunigte er seinen Schritt. Ihm war, als wäre er hier auf dem rechten Pfade, der ihn zu seinem Trost und Heil führen sollte, als hätte er nur darum keine Ruhe finden können, weil er eine Schuld noch zu sühnen habe. In qualvoller Scham sah er sich wieder, wie er der häßlichen Scene als ein sprach- und thatloser Zeuge beigewohnt hatte. Was mußte sie von ihm denken, daß er nach Allem, was sich zwischen ihnen zugetragen, sie vor seinen Augen in seinem eigenen Hause so übel behandeln ließ und kein Wort der Abwehr über die Lippen brachte? All das, was er nachher zu ihren Gunsten gesagt, – konnte er es nicht auf der Stelle vorbringen, da sie selbst in ihrem gekränkten Stolz jede Rechtfertigung verschmähte? Wie konnte er hoffen, in dieser Nacht Ruhe zu finden, ehe er sich von diesem Makel gereinigt hatte?

Er hatte bald das Haus des Tischlermeisters erreicht, und ein Stein fiel ihm von der Brust, als er die Thür aufklinkte und sie noch unverschlossen fand. So dunkel es drinnen war, stieg er doch mit raschen, sicheren Schritten hinauf und tastete sich zu der Kammerthür des Mädchens. Er hatte noch nicht angeklopft, da hörte er drinnen ihren leisen Ruf: Wer ist draußen?

Gleich darauf öffnete sie selbst die Thür und hielt ihm das Licht entgegen.

Sie sind es?

Ich bin es, Traud. Ich habe mit Ihnen zu sprechen.

Er ging rasch an ihr vorbei in die Kammer und warf sich, in zitternder Erschöpfung, in den braunen Lederstuhl am Fenster. Die Thür zum Nebenzimmer stand auf, auch das Fenster war halb geöffnet, und man hörte von draußen den Ton einer Geige aus einem Mansardenstübchen des Hintergebäudes.

Das Mädchen war ihm gefolgt und hatte das Licht auf die Kommode gestellt. Ihr Gesicht war etwas blasser als sonst, aber ohne jede Spur von Aufregung.

Sie schloß leise die Thür zu der Schlafstube der beiden Mütter und trat dann in die andere Ecke der Kammer, neben den kleinen Ofen. Auf diesen stützte sie sich leicht und sah vor sich hin.

Ich habe Sie erwartet, sagte sie nach einer Weile, da er nicht zu reden anfing. Ich weiß nicht recht, warum, aber ich traute Ihnen zu, daß Sie mich heute noch aufsuchen würden. Obwohl es ja eigentlich überflüssig ist. Denn Sie haben mir nichts zu sagen, was ich nicht schon wüßte.

Doch, Traud, erwiderte er lebhaft. Es hätte mich nicht schlafen lassen, wenn ich Ihnen nicht heute noch gesagt hätte, wie schmerzlich mir das Alles war, und wie ich mich schäme, daß ich Sie nicht in Schutz genommen, obwohl ich kein Wort von jener Beschuldigung geglaubt habe.

Sie rümpfte stolz die Lippe.

Sehen Sie wohl, sagte sie, es ist, wie ich dachte. Sie können mir nichts Neues sagen. So wenig Sie mich kennen, das konnten Sie nicht von mir denken, daß ich etwas gethan haben könnte, weßhalb ich verdiente, wie eine arme Sünderin aus dem Hause gewiesen zu werden. Und daß Sie es geschehen lassen mußten, das mußte Ihnen weher thun als mir. Uebrigens –

Nein, unterbrach er sie, ich mußte es nicht, auch hätte ich es wahrlich nicht gethan; einer ganz Fremden hätt' ich mich angenommen, geschweige einer guten Freundin, wie Sie. Aber es kam so plötzlich, ich wartete noch, daß Sie selbst etwas sagen würden, die Anklage zu entkräften, da hatte Ihr Stolz Sie schon fortgerissen, und Sie waren meiner Vertheidigung entrückt, die ich nur noch hinter Ihrem Rücken führen konnte. Warum haben Sie geschwiegen, Traud?

Wollen Sie es genau wissen? sagte sie und sah zu Boden. Weil Sie dabei waren, weil ich mich für Sie schämte, daß Ihre eigene Frau so hart und ungerecht ein armes Ding, wie mich, mit Vorwürfen überhäufen konnte. Wenn ich nun auch gesagt hätte, wie Alles war, daß die jungen Herren, die jeden Mittag das Tischgebet bei ihren frommen Eltern mitbeten, ein paar recht nichtsnutzige Kameraden sind, die ich mir mit der strengsten Miene nicht immer vom Halse halten konnte, daß ich den Brief, den mir der Aelteste schrieb, recht absichtlich unerbrochen im Nähkorbe liegen ließ, um der kurzsichtigen Mutter die Augen zu öffnen – glauben Sie, daß die Frau Professorin dies für reine Wahrheit gehalten hätte? Es hätte einen bösen Zank gegeben, und Sie – was hätten Sie dazu für ein Gesicht machen sollen? Sie waren mir immer so freundlich – ich dachte: du kannst es ihm nicht besser vergelten, als indem du ihm einen solchen Auftritt ersparst, in welchem seine eigene Frau sich beschämt fühlen muß. Wie sie von mir denkt, was kümmert es mich? Ich werde ihr wohl nie mehr begegnen. Denn gleich beim ersten Sehen fühlte ich: ich bin ihr widerwärtig, und sie – nun, sie ist eine schöne und gelehrte Frau; ihr kann es gleich sein, ob ein Näthermädchen sie leiden mag oder nicht.

Nein, sagte er und stand auf, indem er sich über die Stirne fuhr, Sie denken zu großherzig, Traud. Sie dürfen das nicht auf sich kommen lassen, daß diese Verläumdung Ihnen die besten Häuser verschließt. Wenn Sie wollen, wende ich mich selbst an den Vater der beiden Schlingel und sorge dafür, daß Ihnen Genugthuung wird. Und wenn Sie die Sache ruhig überlegen, wird Ihnen das, was Sie in meinem Hause erlebt haben, auch in etwas milderem Licht erscheinen, und Sie werden, wenn man sich gegen Sie entschuldigt, nicht ewig sich gekränkt fühlen.

O gewiß! versetzte sie, ich bin an so Vieles schon gewöhnt, auch das werde ich verschmerzen. Wen ich nicht lieb habe, der kann mich nicht lange kränken. Wenn ich zurückdenke an den heutigen Tag, wird er mich immer schmerzen, aber nicht für mich.

Nicht für Sie? Sind Sie nicht allein beleidigt worden?

Sie schwieg ein Weilchen. Dann brach es ihr fast wider ihren Willen von den Lippen: Für Sie schmerzt es mich! Und gleich darauf: Aber reden wir nicht davon. Was kann es helfen? Gehn Sie nun nach Hause – ich danke Ihnen, daß Sie mich einer Entschuldigung werth gehalten haben – und nun ist es besser, wir sehen uns nicht wieder.

Er war dicht vor sie hingetreten. Traud, sagte er kaum hörbar, warum hat es Sie für mich geschmerzt?

Sie sah ihm voll ins Gesicht, ihre Wangen hatten sich leicht geröthet.

Was fragen Sie mich? Wissen Sie es nicht selbst? Wissen Sie nicht, daß ich – daß ich Sie lieb habe, so wunderlich und rasch das gekommen ist – ich meine, daß ich Sie sehr schätze und verehre. weil Sie gut sind und ein feines Gemüth haben? Und es ist ja auch nichts Unrechtes dabei, ich wäre sehr undankbar, wenn ich es einem Menschen, der gütig zu mir ist, nicht erwiederte. Und so hab' ich mich zu Ihnen gefühlt und mir gedacht, wenn Eine so glücklich wäre, einen so lieben und edlen Mann zu haben, auf den Knieen müßte sie ihm dafür danken, ihm Alles an den Augen absehen, kein Glück auf der Welt kennen, als ihn glücklich zu machen. Und nun hab' ich gesehen, wie Sie zu Hause leben, und – aber ich bitte, verzeihen Sie mir meine einfältige, kecke Rede. Ich habe schon zu Viel gesagt, und nun müssen Sie fort.

Sie glitt an ihm vorbei, ergriff den Leuchter und sagte: Das Haus ist schon verschlossen, ich muß Ihnen hinunterleuchten und aufmachen. Kommen Sie, das Kind schläft heute unruhig, es hört uns reden. Es ist unrecht von mir.

Sie trat ihm voran in den Flur hinaus – er folgte in sprachloser Bewegung. Auf der Mitte der Treppe blieb sie stehen und horchte hinab. Mein Gott! flüsterte sie, wir müssen zurück. Der Hausherr – er schließt die Hausthür auf – er kommt herauf – wenn er Licht auf der Treppe sieht – er ist so jähzornig!

Sie huschte an ihm vorbei und winkte ihm mit ängstlicher Hast, ihr nachzueilen. Leise! Leise! rannte sie ihm zu. Aber sie hatten das erste Stockwerk noch nicht erreicht, als sie schon eine rauhe Stimme von unten her fluchen und drohen hörten: Wer ist da auf der Treppe? Sind Sie es, Traud? Kennen Sie nicht die Hausordnung? Leuchten Sie Ihrem Schatz zum Haus hinaus? Heiliges Donnerwetter, Sie falsche Katz; ich will Ihnen zeigen –

In die Kammer! Rasch, rasch! Er ist betrunken, er kennt sich nicht in seiner Wuth. O mein Gott, was wird er denken! Was wird er thun!

Sie drängte Chlodwig über die Schwelle, schlüpfte dann selbst in die Kammer und schob den Riegel vor. Dann zog sie zum Ueberfluß einen Stuhl vor die Thür und sank darauf nieder, mit dem Rücken sich gegen das Schloß lehnend, die Augen fest zugedrückt, die Arme lagen wie gelähmt im Schooß. Er stand und sah in rathlosem Entsetzen auf ihr entfärbtes Gesicht. Da hörten sie den Wüthenden die letzten Stufen heraufpoltern und jetzt mit beiden Fäusten gegen die Kammerthür hämmern.

Machen Sie auf! lallte eine dumpfe Stimme. Hören Sie mich nicht? wollen Sie mir einreden –haha! – Sie lägen ganz fromm und still in Ihrem Bett – Schlange – Heuchlerin? Machen Sie auf – ich will ihn – den Sie da bei sich haben – ich habe wohl gehört, Sie waren nicht allein auf der Treppe – der verdammte Kerl – erwürgen will ich ihn! und Sie – zum Haus jag' ich Sie hinaus hören Sie? Mord und Pestilenz! Ich breche die Thür ein, ich bin der Hausherr – haha! Ich brauch' es nicht zu leiden, daß so eine scheinheilige Person –

Er rüttelte wie ein Rasender an der Thür, die in allen Fugen trachte. Dann hörten sie plötzlich einen dumpfen Fall. Er mußte das Gleichgewicht verloren haben und vor der Schwelle hingestürzt sein. Es ward ein paar Minuten lang still im Flur. Die Beiden in der Kammer hielten den Athem an.

Dann konnten sie hören, wie ihr Verfolger sich mühsam aufraffte. Schon gut! hörten sie ihn knirschen. 's wär schade um die Thür. Ich will – gute Nacht, schönes Fräulein, Sie Tugendspiegel! Hier oben ist's ungemüthlich – ich wünsche Ihnen eine geruhsame Nacht. Aber Der, der da drinnen ist – wenn er nicht zum Fenster hinausfliegen kann – mir entkommt er nicht – ich werde schon dafür sorgen – den Schädel schlag' ich ihm ein – haha! Er soll das Wiederkommen verschwören, der Schuft – er soll – verdammte Finsterniß! – aber ihn – ihn find' ich schon, haha! Gute Nacht, schöne Unschuld! Gehorsamer Diener!

Die letzten Worte verschlang der Lärm, den die unsicheren Schritte auf den Stufen machten. Er fiel mehr, als er ging, die Treppe hinab – sie hörten, wie er unten an seiner Wohnung lange mit dem Schlüssel hantierte, bis es ihm gelang, die Thür zu öffnen. Dann schlug diese zu, und das Haus war todtenstill.

Chlodwig stand regungslos. Er hatte die Augen während der ganzen Zeit nicht von der Stirn des Mädchens abgewandt, an der die krausen Härchen, die sie umsäumten, leise zitterten. Ihre feinen Brauen hatten sich zusammengezogen, ihre Brust hob sich stürmisch. Auf einmal sah er, wie sie eine Bewegung machte, als ob sie aufstehen wolle, aber kraftlos, von einem heftigen Krampf geschüttelt, sank sie auf einen Stuhl zurück, während ein Strom von unaufhaltsamen Thränen ihr aus den Augen brach.

Traud! rief er zu ihr hinabgebeugt und umfaßte ihre Gestalt, die wie in Todesnöthen zuckte, liebe, einzige Traud, was ist Ihnen? Um Gotteswillen, fassen Sie sich, beruhigen Sie sich, die Gefahr ist ja vorüber! Hören Sie mich nicht? Bin ich nicht bei Ihnen? Was soll Ihnen geschehen, wenn ich Alles auf mich nehme? Traud!

Sie schluchzte fort, vom Fieber einer übermäßigen Erschütterung sinnlos gemacht. Er hatte sich neben ihrem Sessel auf die Kniee geworfen und versuchte in heftiger Angst ihre Hände von den nassen Augen zu lösen. Traud, flüsterte er, ich bin ja hier, ich bleibe ja bei dir, Niemand soll dich anrühren, geliebtes, armes, süßes Mädchen, willst du mir nicht ein Wort, nicht ein Zeichen gönnen, daß du mir vertraust? Weißt du nicht, wie lieb ich dich habe? Komm zu dir, Kind! Sei vernünftig, sei gutes Muths!

Er drückte sie fest an sich; er hatte sein Gesicht an ihre thränenüberströmte Wange gepreßt und gab ihr, wie einem weinenden Kinde, die lieblichsten Namen – auf einmal zuckte sie empor, sich mit voller Kraft von ihm losmachend, während ihre Augen gespannt nach dem Nebenzimmer starrten.

Das Kind! hauchte sie. Es wimmert! Ich muß hinein! Lassen Sie mich!

Sie war aufgesprungen, ehe er sich noch besinnen konnte, und durch die Thüre hinausgeeilt. Langsam erhob er sich und horchte. Er hörte jetzt auch das leise Weinen des Lenchens und gleich darauf, ganz verstohlen, wie aus weiter Ferne, das Schlafliedchen, mit dem sie es wieder einlullte. Kein Hauch der furchtbaren Erschütterung, die eben noch durch all ihre Pulse getobt hatte, klang in ihrer Stimme. Ihn däuchte, er hätte nie einen süßeren Gesang gehört.

Immer leiser tönte die einfache Melodie und schwieg endlich ganz. Noch zehn Minuten etwa blieb es so lautlos im Nebenzimmer, nur dann und wann hüstelte die taube Großmutter, die Alles verschlafen zu haben schien. Dann ging geräuschlos die Thür auf, und das Mädchen trat wieder ein.

Aber ihr Gesicht war völlig verwandelt. Noch glänzten die Wimpern und Wangen feucht, aber die Augen strahlten, und die Lippen waren wieder geröthet und lächelten, wie Chlodwig sie nie gesehen hatte.

Verzeihen Sie, sagte sie, ich mußte Sie allein lassen und nach der Kleinen sehen. Es ist nun Alles vorbei – aber was werden Sie von mir gedacht haben? Ich habe mich so kindisch betragen – o wenn Sie wüßten, wie lange ich mich zusammennahm, wie schwer mir's wurde, Alles zu ertragen, was ich heute erleben mußte – und zuletzt, da brach es aus. Aber Sie – Sie sollen tausend Dank haben, Sie sind so hold zu mir gewesen, so lieb und gut – nie, nie kann ich es vergelten.

Sie hatte mit einer demüthigen Geberde die Arme ausgebreitet und stand lächelnd und glühend still ihm gegenüber. Da trat er auf sie zu und umschlang sie leidenschaftlich. Ihre Lippen suchten und fanden sich. Zuweilen lös'te sich sein Mund einen Augenblick von dem ihren, um ein entzücktes Liebeswort zu stammeln. Dann nahm der Rausch sie wieder hin.

Zuletzt aber fand sie doch die Kraft, ihn sanft von sich wegzudrängen. Genug! hauchte sie. Mir war so wohl, wie im Himmel! Ich danke Ihnen, daß Sie mich lieb haben. Ich – ich habe Ihnen mein Herz geschenkt in der ersten Stunde, wo ich Sie sah. Wissen Sie noch – wie wir uns auf der Treppe dort fanden – wenn ich Sie nicht gleich damals so innig lieb gehabt hätte, nicht um die Welt hätte ich Ihnen den Kuß erlaubt. Aber ich wußte ja, daß Sie der Beste, der Edelste und Holdeste auf der ganzen Erde sind. Und dann, als ich hörte, Sie hätten eine Frau, ich könnte Sie niemals mein nennen – es that mir sehr weh, aber ich sagte mir: lieb haben kannst du ihn ja doch! Das ist keine Sünde, und da du sonst kein Glück erleben sollst, darfst du dies eine – ach, das so wenig ist und doch so viel – dir nicht nehmen lassen. Und ich dachte mir auch: wenn es dir nur auch einmal so gut würde, daß du es ihm sagen könntest und dich recht satt küssen an seinem lieben Munde – aber das wagte ich gar nicht zu hoffen. Auch wußt' ich ja, daß Sie ein braver und treuer Ehemann sind, die Tante hat mir Alles sagen müssen, was sie von Ihnen wußte, und so war ich ganz gefaßt, und nie hätten Sie es von mir erfahren, wenn Sie mir nicht selbst so herzliche Worte gesagt hätten. Ich wußte freilich, daß auch Sie mich gern hatten, das weiß ja ein Mädchen gleich, aber Gott ist mein Zeuge, ich bin Ihnen immer ausgewichen, wenn ich Sie von fern auf der Straße sah, ich wollte mich nicht versündigen an Der, die ein Recht auf Sie hatte. Nur heute, wie ich sah, daß sie es so wenig werth ist –verzeihen Sie, ich rede ihr nichts Uebles nach. Aber sie ist so reich und weiß es nicht zu schätzen. Kann der liebe Gott es mir als Sünde anrechnen, daß ich ein einziges Mal an mein Herz gedrückt habe, was einer Andern gehört, und wofür sie so wenig dankbar ist? Wenn Einer einen großen Weinberg hat bei mir zu Haus und ist kein harter Mann, so drückt er ein Auge zu, wenn er einen Wanderer sieht, der vor Durst verschmachtet und sich eine einzige Traube stiehlt. Ist es nicht so? Und müssen wir uns nun wie große Sünder vorkommen, weil wir uns Einmal gesagt haben, wie es uns ums Herz ist?

Nein, fuhr sie fort, da er von ihren lieblichen Worten wie berauscht sie von Neuem an sich ziehen wollte, nun bitt' ich Sie gar schön, machen Sie es mir nicht schwer, brav zu sein und standhaft zu bleiben. Sie müssen jetzt fort. Der Wütherich da unten ist nicht mehr gefährlich, der weiß weder von uns noch von sich selbst und wird auch wohl morgen früh sich an nichts erinnern. Nun gehen Sie und kommen nicht wieder, und bleiben mir ein wenig gut, und ich werde bis an meinen Tod nicht vergessen, daß solch ein lieber Mensch mich lieb gehabt hat. Nein, es ist mein Ernst. Ich will nichts mehr sagen und hören. Wenn Sie den Ring da nicht am Finger trügen, ich wäre das seligste Weib auf Gottes Erde. Ich will jetzt nicht das unseligste werden!

Sie schob den Riegel zurück und ging voran. Wir müssen uns schon ohne Licht behelfen, und auf alle Fälle treten Sie leise auf. Aber, wie gesagt, es ist keine Gefahr. – Behutsam, so daß keine Stufe krachte, schlichen sie die Treppe hinunter, seine Hand fest in ihrer kleinen weichen, die seinen Druck leise erwiederte. Als sie ihm unten die Hausthür aufgeschlossen hatte, umschlang er sie noch einmal und küßte sie heftig. O Traud, stammelte er, wie glücklich könnten wir sein! – Sie entwand sich ihm entschlossen. Gute Nacht in alle Ewigkeit! sagte sie. Gleich darauf stand er allein in der öden Straße, die brennende Stirn an den steinernen Thürpfosten gedrückt, tausend wogende Gedanken und Wünsche in seinem Herzen niederkämpfend.

*

Als er eine Stunde später nach Hause kam, schlug es Mitternacht von allen Thürmen. Er fand Gina in tiefem Schlaf, oder sie stellte sich doch, als ob sie schliefe. Er hatte sich umsonst davor gefürchtet, ihr heute noch in die Augen sehen zu müssen.

Dann lag er noch lange wach. Der Zauber, den das Mädchen auf ihn ausübte, daß sie ihn immer froh und jugendheiter stimmte, wirkte auch diesmal in ihm nach, und trotz des bitterlichen Scheidens, mit dem auch er es in dieser Stunde ernst nahm, fühlte er einen solchen Ueberschwang von unschuldiger Wonne, daß er lange noch Allem nachsann und jeden Tropfen Glück, den er geschlürft, noch einmal durchkostete.

Am Morgen, als er erwachte, war seine Frau schon lange aufgestanden Dieser erste Ferienmorgen war sonst immer von ihnen wie ein kleines Fest genossen worden. Heute fand er, da er in das Frühstückszimmer trat, Gina am Tische sitzend mit einem Gesicht, das nichts Festliches ankündigte.

Er begrüßte sie so herzlich, als es ihm irgend gelingen wollte, und auch sie ließ von der gestrigen Verstimmung nichts mehr durchblicken. Doch hatte sie die Miene einer schwer Leidenden.

Der Medicinalrath kam gestern Abend, als du schon fort warst, sagte sie. Er hatte mich lange nicht gesehen und wollte sich erkundigen, was wir in den Ferien vorhätten. Als er hörte, wir würden zu Hause bleiben, da du deine Arbeit nicht im Stich lassen könntest, wollte er nichts davon wissen. Er fand mich sehr übel aussehend und drang darauf, daß ich wenigstens sechs Wochen lang ein Stahlbad gebrauchen sollte, er schlug mir das kleine X** vor, das ja so nah zu erreichen ist. Wenn ich dir, wie er wohl begriff, das Opfer nicht zumuthen könne, dort deine schöne Muße fruchtlos hinzubringen, so fehle es nicht an Gesellschaft, sogar hier aus der Stadt aus unserem nächsten Kreise. Und so hab' ich mich denn entschlossen, schon heute abzureisen. Ich kenne deinen Abscheu vor Badeörtern und muthe dir nicht einmal zu, mich hin zu begleiten. Dir wird es inzwischen an Nichts fehlen, unser Hausstand ist ja in guter Ordnung auch ohne mich. Und wenn ich dir mit der Zeit vielleicht ein wenig fehlen sollte, nun, um so besser. Ich kam mir, daß ich es ehrlich sage, in den letzten Wochen ziemlich entbehrlich vor. Es war nicht Alles zwischen uns, wie es sein sollte. Eine Trennung ist zuweilen recht heilsam, daß man wieder von Neuem lernt, was man doch an einander besitzt. Und wenn ich gekräftigt wiederkomme, bin ich vielleicht besser im Stande, dir etwas zu sein, als in der jüngsten Zeit.

Sie schien diese lange Eröffnung sorgfältig überlegt zu haben und nun zu erwarten, daß er sich durch ihren raschen Entschluß bestürzt zeigen und ihn bekämpfen möchte. Statt dessen schwieg er nur eine Weile – er hatte Mühe, es zu verbergen, welche Wohlthat es ihm war, sich in Einsamkeit vergraben zu dürfen, , und sagte dann: Ich finde diesen Plan, wie Alles, was du beschließest, sehr vernünftig und hoffe das Beste davon für deine Gesundheit und deine Stimmung. Aber willst du wirklich heute schon –

Sie sah ihn prüfend an. Wenn er mit einiger Wärme in sie gedrungen hätte, ihre Trennung nicht zu übereilen, hätte sie so gern eingewilligt und noch einige Tage es ihn fühlen lassen, daß sie eigentlich ihn als den Kranken betrachtete, dem eine Entziehungskur heilsam werden sollte. Daß er so gleichmüthig blieb, erbitterte sie. Sie erwiderte, es sei besser nicht länger zu warten, das Wetter sei eben günstig, auch reise heute die Justizräthin, an der sie wenigstens eine Strecke weit Gesellschaft habe. Ihr Koffer sei in einer Stunde gepackt.

Er wurde, da er ihren festen Willen erkannte, in dieser letzten Stunde fast heiter und betrug sich mit seiner alten ritterlichen Zuvorkommenheit gegen sie, was sie immer heftiger empörte. Er ist froh, mich los zu werden! sagte sie sich. Dahin ist es gekommen! Aber er wird schon erkennen, was er jetzt gering schätzt, wenn es ihm wirklich fehlt – An irgend etwas Anderes, das sein Gemüth ihr entfremdet haben könnte, dachte sie nicht von fern.

So vergingen die wenigen Stunden bis zur Abreise in einer traurig gespannten Stimmung, und Beide fühlten sich wie befreit, als die Droschke am Hause hielt, die sie nach dem Bahnhof bringen sollte. Chlodwig hatte es an kleinen Aufmerksamkeiten nicht fehlen lassen, um ihre Reiserüstung zu vervollständigen, auch für allerlei Bücher gesorgt und an dies und das erinnert, was sie ja nicht vergessen dürfe. Du schreibst mir natürlich nicht öfter als zweimal in der Woche, sagte er, da sie schon fortfuhren. Du darfst dich nicht anstrengen. – Natürlich! Wie ihr das unnatürlich klang! Früher war er, bei kürzeren Trennungen, glücklich gewesen, täglich von ihr einen Brief zu haben. Nun wollte sie ihn strafen, indem sie genau nach seinem Wunsche verfuhr.

Der Abschied am Bahnhofe war nicht dazu angethan, das Eis zu schmelzen. Ihre Begleiterin erwartete sie schon, andere Bekannte hatten sich zufällig eingefunden, die Gatten hatten nur eben Zeit zu einem Händedruck; einer Umarmung, die Chlodwig noch im letzten Augenblick versuchte, entzog sich Gina scheinbar aus Achtlosigkeit, dann setzte sich der Zug in Bewegung, und der Zurückbleibende schlug langsam in tiefen Gedanken den Rückweg nach seinem Hause ein.

Ein bitterer Schmerz übermannte ihn, als er in seine öde Wohnung wieder eintrat. Es war ihm zu Muthe wie nach einem Begräbniß, wo Alles, was dem Hingeschiedenen gehört, wie mit einem stillen Vorwurf uns anblickt, daß wir das Herz haben können, weiter zu leben und die traurige Erbschaft anzutreten.

Er ging von Zimmer zu Zimmer, setzte sich endlich in die Fensternische, wo der Arbeitstisch der Traud gestanden, und nahm einen Fingerhut in die Hand, der so eng war, daß er selbst an seinen kleinen Finger nicht passen wollte. Dann fuhr er jählings auf und schlich aus dem Zimmer, als fürchte er, an einem Ort ertappt zu werden, der Alles verriethe, was er vor sich selbst zu verbergen suchte. Unter seinen Büchern fand er ein wenig Ruhe. Er faßte den ernsten Vorsatz, nun Tag für Tag an nichts Anderes zu denken, als an die neue Arbeit. Auch glückte es ihm, ein paar Seiten zu schreiben und so lange in der That keinen anderen Gedanken sich vordrängen zu lassen. Als aber die Dämmerung ihn aufzuhören zwang, ward sein Zustand um so qualvoller. Er warf sich auf sein Ruhebett und vergrub das Gesicht in den Händen.

Das Mädchen, das die Lampe brachte, fragte bescheiden, wann der Herr Professor das Nachtessen wünsche. – Er werde noch einen Gang machen, er wisse nicht, wann er wiederkomme. Die Köchin möge keinenfalls auf ihn warten, da er im Gasthof den Abend zuzubringen vorhabe.

Darauf lag er wieder wohl eine Stunde lang in seine Träume versunken.

Endlich erhob er sich, that ein paar Schritte durch das Zimmer und sah dann in den Spiegel, wobei es ihm seltsam schien, wie jung seine Augen leuchteten, während es ihm doch so tödtlich weh ums Herz war. Er löschte die Lampe und ging, unwillkürlich auf den Zehen schreitend, durch Gina's Gemach. Das Bild über dem Sopha empfing nur ein schwaches Licht von einem Flurlämpchen, das durch die offene Thür hereinschielte. Aber er sah die herrliche Gestalt der schönen himmlischen Liebe kraft seiner Erinnerung in jeder Linie vor sich leuchten und seufzte tief auf.

Draußen ließ er sich in der stillen Nachtkühle treiben, wohin die Flamme in seinem Herzen ihn zog. Es dauerte nicht lange, so fand er sich in der Vorstadt. Er wußte nicht, was er dort suchte. Denn er glaubte fest an ihren Ernst, und daß er ihr Haus verschlossen finden würde. Aber was für ein anderer Ort in dieser Stadt war ihm irgend wichtig? Nur vorbeigehen wollte er an ihrem Hause und dann wieder umkehren.

Einen Augenblick dachte er daran, Berndt zu besuchen. Aber er ließ den Gedanken wieder fallen. Er scheute sich doch ihm zu begegnen, als hätte er einen Raub an ihm begangen.

Immer langsamer ging er, immer trauriger senkte er die Stirn. Da sah er zufällig auf und entdeckte, daß er nur noch wenige Schritte von ihrem Hause entfernt war. Die Laterne drüben flackerte fast erlöschend. Gleichwohl – es war keine Sinnestäuschung – dort in der Hausthür – die Gestalt mit dem hellen Tüchlein überm Gesicht – nein, es war unmöglich! – und doch, wer anders sollte es sein? Wer trug so den Kopf auf den Schultern? Wer hob so den Arm?

Traud! rief er außer sich; sein Herz schlug ihm bis zum Halse hinauf, er schwankte auf die Erscheinung zu, die auf der dämmerigen Schwelle stand.

Jetzt that sie einen kleinen Schritt in das dunkle Haus zurück. im nächsten Moment war er dicht ihr gegenüber. Du bist es! Meine einzig Geliebte – ist es möglich!

Sie nickte ernsthaft mit dem Kopfe. Ich wußte, flüsterte sie, daß du allein bist und traurig an mich denken würdest. Ich wußte auch, daß es dich zu mir ziehen würde. Komm! Ich kann nicht leben ohne dich!

*

Woche um Woche war vergangen, schleichend und im steten Ungenügen für die einsame Frau, die für die geheime Seelenwunde freilich keine Heilung in ihrer selbstgewählten Verbannung fand. Es fehlte ihr auch hier nicht an mancherlei Gutem, was jeder Anderen erquicklich gewesen wäre. Der Ort des kleinen Frauenbades war lieblich gelegen, zwischen sanften Hügeln und schönem Gehölz, und über den ganzen Herbstmonat stand eine wolkenlose Sonne am Himmel. Die Frauen hatten sich wie immer zu ihr hingezogen gefühlt, da sie im Gefühl ihrer Ueberlegenheit allen gütig begegnete und, so wenig ihr darum zu thun sein mochte, auf die großen und kleinen Nöthe, in die sie eingeweiht wurde, mit scheinbarer Sympathie einzugehen pflegte. Die wenigen Männer, die sich hierherverirrt hatten und große Langeweile empfanden, beeiferten sich, der schönen Frau mit den schwermüthigen Augen zu huldigen, und da sie den gewohnten Tribut in freundlicher Zurückhaltung hinnahm, wurden ihr auch die Gattinnen ihrer Verehrer nicht entfremdet. Aber dies Alles, was zu anderen Zeiten ihren Ehrgeiz gestillt hätte, befriedigte sie diesmal nicht. Sie harrte von einem Briefe Chlodwig's zum andern auf den, der ihr endlich wieder sein Herz auf Gnade oder Ungnade zu Füßen legen sollte. So lange waren sie nie getrennt gewesen. Schon eine kürzere Entbehrung hatte er sonst schwer ertragen und, wenn er schrieb, bald wieder den Ton der kurzen Bräutigamszeit angeschlagen, den sie nun schon so lange nicht mehr gehört hatte. Ihre Briefe waren freilich nicht dazu angethan, ein zärtliches Duett hervorzulocken. Sie berichtete zweimal jede Woche über den Fortgang ihres Lebens und ihrer Kur und fragte nicht unherzlich, aber nicht eben dringend und warm, nach seinem Ergehen. Hierauf erwiderte er pünktlich, aber einsilbig, indem er seine Arbeit vorschützte, die all seine Federkraft in Anspruch nehme. Daß Etwas zwischen sie getreten war, das nach und nach von der Sehnsucht, sie wiederzuhaben, verdrängt werde, ließ sich vom schärfsten Auge nicht einmal zwischen den Zeilen erkennen.

Sie legte jeden dieser seltsamen Briefe mit einem Seufzer in ihre Mappe und griff zu dem weißseidenen Buch, dessen Blätter sich in dieser gereizten, vielbedürftigen Stimmung rascher als sonst füllten. Kein Wunder, daß die Stahlquelle nicht die Kraft hatte, ihr heitere Tage und stärkenden Schlaf bei Nacht zu bringen. Der Arzt schüttelte den Kopf. Er erlaubte sich zu bemerken, daß sie vor Allem das allzu regsame Gehirn zur Ruhe zwingen müsse. Auch er hatte von ihren tiefen Studien und ihrer dichterischen Begabung einen überschwänglichen Begriff. Sie lächelte dann trübsinnig und erklärte, sie sei ganz müßig, und ihr Geist befinde sich in einem beständigen Halbdunkel, wobei sich trefflich schlafen lasse. Nur irgend ein anderes Organ störe das Gleichgewicht ihrer Natur. Offen zu gestehen, daß es wohl das Herz sein möchte, hatte sie nicht den Muth.

Als die fünfte Woche verstrichen war, erhielt sie von ihrer würdigen Freundin, der Superintendentin, einen Brief, darin stand:

»Sie fragen mich, liebe Georgine, ob ich Ihren Mann nicht gesehen, und wie er sich wohl befinden möge. Da er, wie Sie wissen, kein Freund von Besuchen ist, hat er sich in unserem stillen Hause natürlich nicht blicken lassen, und bei der Auflösung aller geselligen Kreise während der Ferien konnte ich ihm auch am dritten Orte nicht Ihre Grüße bringen. Gestern aber habe ich ihn auf der Straße getroffen und kann Sie nun vollkommen darüber beruhigen, daß die angestrengte Arbeit und die Trennung von seiner vergötterten Frau ihn etwa zu einem Kopfhänger gemacht hätte. Vielmehr trug er das Haupt so stolz und freudig im Nacken und sah, während er mit jugendlichem Feuer dahinschritt, so siegesfroh über die geringere Menschheit hinweg, daß er auch mich nicht bemerkte, die ich doch dicht an ihm vorbeiging. Ich hörte ihn sogar halblaut vor sich hin singen, ordentlich wie ein Student, und wollte schon auf ihn zu treten und ihn fragen, ob diese übermüthige Ferienlaune davon herrühre, daß er mit seinem neuen Werk so über die Maßen zufrieden sei, oder ob er eben einen Brief erhalten habe, der ihm das baldige Ende seiner Strohwittwerschaft ankündige. Aber eh ich mich besinnen konnte, war er schon vorbeigestürmt, und ich erwarte die Lösung des erfreulichen Räthsels von Ihnen. Kommen Sie theuerste Frau. Mein Haus ist ungewöhnlich still, mein lieber Mann in Geschäften verreis't, meine beiden Söhne, die seit jenem bedauerlichen Vorfall mit der zuchtlosen Person sich trefflich gehalten haben, machen eine kleine Fußreise. Ich sehne mich nach unserm lieben, vertrauten Gespräch, das mir immer, obwohl wir uns leider auf verschiedenen Standpunkten befinden, viel Nahrung für Geist und Herz spendet« u. s. w.

Gina saß wohl eine halbe Stunde, nachdem sie dies gelesen und starrte regungslos auf das Blatt. Dann erhob sie sich und begann, ihre Sachen zusammenzusuchen und sich zum Aufbruch zu rüsten. Sie hatte ihre Rückkehr erst für die nächste Woche beschlossen und ihrem Manne angekündigt. Nun fühlte sie, daß Etwas geschehen sein müsse, was sie nicht länger in seiner ungreifbaren Spukgestalt ertragen könne.

Nur von dem Arzt verabschiedete sich sich und trug ihm ihre Grüße auf an Diejenigen, die ihr hier nähergetreten waren. Sie habe Sorge um die Gesundheit ihres Mannes, der, wenn sie nicht über ihn wache, sich zu überarbeiten pflege. Ihre eigene Erholung und Genesung sei hoffnungslos, wenn sie mit dieser Angst die Kur fortsetze.

Am andern Nachmittag reis'te sie ab, um neun Uhr erreichte sie ihre Vaterstadt. Als sie in der Droschke den kurzen Weg nach ihrem Hause zurücklegte, war in ihrem sonst so klaren und maßvollen Geist ein Tumult, daß sie vor sich selbst erschrak und mit aller Macht ihre Gedanken zu ordnen suchte. Hundert Möglichkeiten hatte sie während der Reise erwogen und wieder verworfen. Nur daß etwas geschehen sei, was ihr Leben bedrohe, stand ihr fest.

Zuletzt war ihr die Vermuthung noch als eine Art Trost erschienen: er habe durch die übermäßige Arbeit seinen Geist in eine krankhafte Ueberspannung gebracht, und auch die Kälte gegen sie sei nur ein Symptom einer psychischen Verstörung. Hätte er bei vollkommener geistiger Gesundheit die Trennung so heiter ertragen können?

Der Wagen hielt vor ihrem Hause, sie sah auf den ersten Blick, daß kein Fenster erleuchtet war. Mit fieberhafter Hast zog sie die Hausglocke und überlegte, wenn sie ihn schlafend fände, so früh es auch noch war, ob sie ihn wecken solle. Die Stimme der alten Person, die schon bei ihrem Vater als Haushälterin und Köchin gedient hatte und ihr ganz ergeben war, ließ sich endlich hinter der geschlossenen Thür vernehmen: wer so spät noch ins Haus wolle? Als sie sich zu erkennen gegeben, wurde mit einem Ausruf des freudigsten Erstaunens geöffnet, und das gute alte Gesicht erschien an der dunklen Schwelle. Sie schon zurück, beste gnädigste Frau Professorin!

Ich bin's, Margret. Ist mein Mann zu Hause?

Ist er schon zu Bett?

Der Herr Professor? Ach du meine Güte! Der Herr geht ja nie vor ein bis zwei Uhr zu Bett. Immer arbeiten, arbeiten auch die Nächte durch. Es kann ihm nicht gut sein auf die Länge. Ein Glück, daß die Frau wieder ins Haus kommt!

So find' ich ihn in seinem Zimmer, sagte Gina, indem sie rasch eintrat und die Treppe zu ersteigen begann. Aber seine Fenster waren ja dunkel.

Freilich! fuhr die Alte fort, indem sie geschäftig sich mit dem kleinen Gepäck belud, zu Hause finden Sie den Herrn ja auch nicht. Immer wenn es dunkel wird und nachdem er kaum ein paar Bissen gegessen hat, geht er fort und kommt nie vor Mitternacht, meist aber viel später nach Hause. Wir dürfen nie aufbleiben, ihn zu erwarten, und dann schläft er bis an den hellen Tag, ist aber sonst sehr aufgeräumt, und wenn ich mir herausnehme, ihm einmal ins Gewissen zu reden, daß er nicht eine so unsinnige Lebensart einreißen lassen soll, die Nacht sei zum Schlafen gemacht und studiren könne er über Tag mehr als genug – Margret, sagt er da, machen Sie sich keine Gedanken darum und verklagen mich ja nicht etwa bei der Frau. Ich habe eine Arbeit vor mit dem Doktor Berndt gemeinschaftlich. Dem lassen über Tag seine Anwaltsgeschäfte keine freie Zeit. Da müssen wir wohl die Nacht zu Hülfe nehmen. – Und dabei sieht er ganz munter aus, der Herr Professor, und war auch immer gesund und guter Laune, sonst hätt' ich der Frau doch am Ende ein Wörtchen davon gesteckt, weil es mich zuerst geängstigt hat und mir unnatürlich vorkam. Aber die Frau weiß gewiß vom Herrn selbst, wie er's jetzt sich eingerichtet hat.

Gina war auf der dunklen Treppe stehen geblieben, sich an das Geländer anklammernd, da ein Schwindel sie umzuwerfen drohte. Eine furchtbare Ahnung, nein, eine tödtliche Gewißheit stand plötzlich vor ihrer Seele, das Einzige, was wunderbarer Weise ihr nie in die Gedanken gekommen war, – wie hätte sie den Mann, den sie ihres Besitzes gewürdigt hatte, mit einem so niedrigen Verdachte beleidigen können! – und doch, jene Nachmittagsstunde, wo sie ihn in vertraulichem Geplauder mit jenem niederen Geschöpf gefunden hatte, – seine deutlich erkennbare Befangenheit – sein Bemühen, die entlarvte Sünderin zu vertheidigen, und oh! hatte er es nicht ohne Scheu bekannt, was ihm der Unterschied zwischen heiliger und profaner Liebe bedeute? Und sein rasches Einwilligen in ihre Abreise – seine kaltsinnigen Briefe – Alles, Alles – – –

Sie hätte aufschreien mögen vor tödtlich verletztem Stolz, als sie mit blitzartigem Hellsehen plötzlich diese lange Kette von Beweisen des schmählichsten Verraths durchlief. Aber da stand die arglose alte Vertraute hinter ihr, die nie, nie erfahren durfte, wie furchtbar an ihrer Frauenehre und -Würde gesündigt worden war. Dies Eine mußte gerettet werden, um jeden Preis.

Allerdings, sagte sie, jedes Wort sich schwer abringend, er hat mir geschrieben, daß er mit Doctor Berndt zu arbeiten hat, daß sie die Nächte zu Hülfe nehmen müssen. Ich konnte Nichts dagegen thun aus der Ferne, du begreifst das, Margret. Aber es darf nicht zu lange dauern, es hat die längste Zeit gewährt, und darum – darum bin ich rascher, als ich vorhatte, zurückgekehrt – und will ein Ende machen!

Den seltsam harten Ton ihrer letzten Worte überhörte die Alte, die in ihrer Verwirrung nicht wußte, was sie zuerst angreifen sollte, um es der Herrin trotz der Ueberraschung zu Hause wieder bequem zu machen. Das zweite Mädchen sei ausgegangen, doch werde es bald wiederkommen Inzwischen, wenn die Frau etwas zu essen wünsche, es sei gleich bereitet, und auch das Bett, das noch nicht überzogen sei – sie wolle gleich den Schlüssel zum Leinenschrank holen –

Laß! erwiderte Gina, indem sie mit übereinandergeschlagenen Armen, Hut und Mantel noch nicht abgelegt, in ihrem Musenzimmerchen über den weichen Teppich schritt. Ich esse heute Nichts mehr. Auch im Schlafzimmer – ich werde diese Nacht wohl hier auf dem Sopha zubringen. Die Kur hat mich sehr angegriffen, und da ich allein schlief, hab' ich mich verwöhnt, so daß der geringste Laut neben mir mich weckt. Der Arzt will, daß ich vor Allem wieder schlafen lernen soll. Zu dem Zweck werden wir morgen eine andere Einrichtung treffen – bis Alles wieder im Geleise ist. Geh, Margret, laß mich allein!

Sie rief die bekümmerte Alte nach einiger Zeit wieder zu sich herein. Es ist oft zwei, drei Uhr geworden, sagte sie, bis der Herr nach Hause kam? – Ja, antwortete die Magd, ich höre ihn jedes Mal, ich habe einen leisen Schlaf. Er geht dann auf den Zehen die Treppe hinauf, um uns nicht zu stören, die Frau weiß ja, wie gut er ist. Aber ich hörte ihn doch, und manchmal sang er so vor sich hin, daß ich noch dachte: so ein gelehrter Herr und gar nicht grämlich und überstudirt!

Es ist gut, versetzte Gina. Du gehst auch heute zu der gewöhnlichen Zeit zu Bett, auch die Lisbeth will ich heute nicht mehr sehen. Ich – ich habe auf der Fahrt ein paar Stunden geschlafen, ich will aufbleiben, bis mein Mann nach Hause kommt.

*

Dann saß sie Stunde um Stunde auf demselben Fleck im Sopha unter dem Bilde und überdachte ihr Schicksal, ohne daß eine Regung der Selbstanklage in ihr aufgedämmert wäre. Sie war sich die unseligste, verkannteste, mißhandeltste Frau, ein Ziel und Opfer des unerhörtesten Undanks. Fast artete das Mitleiden, das sie mit sich selbst fühlte, je länger es währte, je schmeichelnder in eine Art von tragischer Rührung aus, und sie verklärte ihr Bildniß, wie es ihr in der stummen Nacht vor der letzten Entscheidung vorkam, zur Heldin eines erschütternden Trauerspiels, bei dessen Erleben ein künstlerischer Genuß die Schauer von Furcht und Mitleid adelt und beschwichtigt. Daß sie ihn nun so tief unter sich erblickte, der sie nie nach ihrem vollen Werth begriffen, und sich selbst in der ganzen Erhabenheit einer schuldlos Verletzten, war ihr bei allem Bitteren dieser Stunden eine Art Ersatz für das verlorene Glück. Wenn eine weichere Stimme in ihr laut werden wollte, sie an alles Liebenswürdige zu erinnern, was an dem Treulosen ihr vor Zeiten das Herz bewegt hatte, brachte sie diese Mahnung zum Schweigen, als eine Versuchung zu unwürdiger Schwäche. Als die Mitternacht vorüber war und sie noch immer allein, ging ein finsterer Schatten über ihre Stirn. Da griff sie nach einem italienischen Exemplar des Dante, das immer auf ihrem Schreibtische lag, und gewann es über sich, ein paar Gesänge der Hölle zu lesen, die sie fast auswendig wußte. Es schien, als suche sie darin nach einer Buße, die hart genug sei für das, was man ihr angethan.

Ein Uhr – zwei Uhr – da erklang die Hausthür und der Schritt des Heimkehrenden auf der Treppe. Wie er sich näherte, hörte sie deutlich, daß er vor sich hin sang, so leichten, fröhlichen Herzens, wie ein Mensch der von einem Freudenfest kommt. Ihr wich das letzte Blut aus den Wangen, doch hielt sie den Blick fest auf die Zeilen des Buches gespannt und hob ihn auch nicht, als jetzt die Thür sich öffnete und der Schuldbeladene auf der Schwelle erschien.

Gina! Du schon zurück? hörte sie ihn rufen. Da erst hob sie langsam die Augen und ließ sie mit einem Ausdruck eisiger Verachtung auf seinen entsetzten Zügen ruhen.

Er schien sich mit großer Anstrengung zu fassen, aber es gelang ihm, er trat vollends ein und ging auf die steinerne Gestalt mit ausgestreckter Hand und lebhafter Geberde zu. Ist es möglich? rief er. Du bist es wirklich? Aber was hast du? Es ist doch kein Unglück geschehen, daß du vor der bestimmten Zeit –

Du sagst es, erwiderte sie tonlos, ihn starr anblickend. Ein Unglück ist geschehen. Und du weißt auch, welches ich meine. Und der es verschuldet hat, wird die Folgen zu tragen haben.

Die Worte entfielen ihr, wie wenn sie sie einem Einflüsterer nachspräche und selbst keinen Theil daran hätte. Sie hatte sich eine ganz andere richterliche Rede ausgedacht, die war auf einmal aus ihrem Kopf wie weggelöscht.

Gina, rief er, du siehst aus, wie wenn du schwer krank wärest. Aengstige mich nicht mit Räthselworten – was ist geschehen?

Sie schärfte noch ihren durchdringenden Blick.

Heuchle nicht! erwiderte sie dumpf. Ich weiß, woher du kommst, wo du deine Nächte zugebracht hast, seit ich fern war. Mich wirst du nicht betrügen mit dem Märchen, das du der Alten aufgebunden. Oder hättest du zu allem Unerhörten, was du gesündigt hast, die Stirn, es deiner verrathenen Frau ins Gesicht hinein zu leugnen, daß du deiner Pflicht, deiner Ehre und Würde vergessen hast?

Er verstummte, von dieser scharfen Kälte bis ins Mark getroffen. Das Herz wurde ihm eng in der Brust, er ließ sich auf einen Stuhl fallen, der am dunklen Fenster stand, und der Kopf sank ihm auf die Brust.

Nach einer langen Pause erhob er sich und trat an den Tisch. Wenn sie ihn jetzt angeblickt hätte, wäre sie doch vielleicht erschrocken über den tiefen Verfall, der sich plötzlich in seinen immer noch jugendlichen Zügen zeigte.

Gina, sagte er, ich habe mich schwer an dir versündigt. Ich will die Schuld nicht noch steigern, indem ich mich zur Lüge erniedrigte. Du hast das volle Recht, mich anzuklagen, daß ich dich aufs Tiefste gekränkt, die heiligste Pflicht gegen dich verletzt habe. In deiner Hand liegt nun allein unser Schicksal. Ich – in dieser jammervollen Stunde – ich fühle nur Eins: daß du mir nie verzeihen kannst. Du hast zu bestimmen, wie es nun mit uns werden soll.

Und da sie hierauf nicht gleich erwiderte: Ich wage nicht, meine Schuld in deinen Augen verkleinern zu wollen. Du würdest es nicht verstehen, du bist dir nie bewußt gewesen, daß mir etwas fehlen könnte, du gabst mir ja Alles, was du hattest, Gina, und es war viel, so viel, daß jeder Andere sich vielleicht überreich damit gefühlt hätte. Aber das Herz, Gina, ist ein eigensinniges Ding, meines wenigstens. Was du mir nicht geben konntest, gerade danach schmachtete ich Undankbarer, und als es mir geboten wurde, griff ich danach und hielt es fest – und nun verliere ich alles Andere darüber und darf Niemand anklagen als mich selbst.

Das hatte er in einem stillen, tiefschmerzlichen Tone gesagt und stand ihr gegenüber in schlichter, ergebener Haltung, ihren Spruch erwartend. Er ahnte nicht, daß er Nichts hätte sagen können, was sie mehr empört hätte.

Was dir gefehlt hat? brach es aus ihrer aufgeregten Brust hervor. Ich weiß es ganz gut: dir war nicht wohl in den Schranken, die eine edle weibliche Natur dem Manne, dem sie sich für das Leben hingiebt, auferlegt. Das Zuchtlose, Würdelose, das Gemeine, aus dem ihr Alle gemacht seid und das ihr in einer Welt der Sitte nur zum Scheine bändigen lernt – danach schmachtetest du. Und als es dir in diesem leichtfertigen Geschöpf entgegentrat und dich mit dreisten Augen herausforderte, da schien dir das wie die Lockung der berühmten »himmlischen Liebe«, du sahst ein Paradies vor dir offen, wo Schönheit und Laster schleierlos herumwandeln, und da war's um dich geschehen. Ist es nicht so? Kannst du sagen, daß ich dir zu viel thue?

Sie wartete auf seine Antwort. Er hatte es auf den Lippen, ihr zu erwidern, daß sie der Wahrheit ein Zerrbild untergeschoben. Aber er schwieg. Es schien ihm eine Entweihung seiner innigsten Gefühle, ihr zu sagen, wie Alles gekommen, wie seine Sinne erst umstrickt worden waren, nachdem seine Seele schon dem Zauber erlegen war. Und wie konnte er hoffen, von ihr verstanden zu werden? Mußte es ihr nicht als die grausamste aller Beleidigungen erscheinen, wenn er ihr klar zu machen versucht hätte, daß dies Mädchen, das sie so grenzenlos verachtete, an echtem Weibesadel in seinen Augen hoch über ihr stand?

Also sagte er kein Wort und fragte nur nach einer langen Pause: Was hast du nun über uns beschlossen?

Du wirst in Alles willigen?

Wie könnt' ich einen eigenen Willen haben? Alles Recht ist auf deiner Seite, alles Unrecht auf meiner. Daß wir uns trennen müssen, ist nicht abzuwenden. Unter welcher Form bleibt dir allein überlassen.

Sie stand auf. Dies war von Allem, was sie heut gelitten, der schärfste Schlag, daß er von dem Gedanken, sie für immer zu verlieren, nicht tiefer erschüttert war, daß auch jetzt, wo sie ihm wieder gegenüberstand, ihr Besitz ihm so völlig werthlos erschien und er die Nothwendigkeit, sie aufzugeben, ohne jede Berufung an ihre Gnade aussprechen konnte – wie stark mußten die neuen Bande sein, die ihn von ihr gerissen! Sie hatte im Stillen, da sie sein zartempfindendes Gemüth und seine ritterliche Ergebenheit jahrelang erlebt hatte, sich auf eine stürmische Scene gefaßt gemacht, die ihn endlich zu ihren Füßen niedergeworfen und zu einem inbrünstigen Flehen geführt hätte, aus dem königlichen Schatz ihrer Macht und Güte ihm Verzeihung zu gewähren, ihm eine lange Bußzeit aufzuerlegen, nach deren Beendigung Alles vergeben und vergessen und seine andächtige Verehrung nur um so unerschütterlicher begründet sein sollte. Und nun – er wäre im Stande gewesen, wenn sie ihn freigegeben, augenblicks zu der Dirne zurückzukehren, die ihn ihr abtrünnig gemacht.

Nein! sagte sie, nachdem sie das Zimmer mit heftigen Schritten durchmessen hatte, das bin ich nicht schuldig! So arm und elend brauch' ich nicht zu werden, nachdem ich das häusliche Glück und den Glauben an Manneswort und -Tugend eingebüßt, nun auch meine bürgerliche Ehre zu verlieren, in einem widrigen gemeinen Scandal meinen Namen beschimpft zu hören. Und auch dir – obwohl du es nicht um mich verdient hast – auch um deinetwillen darf das nicht geschehen. Ich weiß, in diesem Augenblick, da du noch von den Küssen dieser Buhlerin glühst, erschiene dir es als die günstigste Lösung, dich von mir scheiden und für immer an sie hängen zu dürfen. In deiner Bethörung bedenkst du nicht, daß du damit deine Stellung, deine ganze Zukunft preisgäbest. Aber ich habe dich einst geliebt, und es ist meine Pflicht, für dein Bestes zu sorgen, dich von einem Schritt abzuhalten, der nur zu bald dich in Reue und Verzweiflung stürzen würde. Getrennt werden wir sein, aber die Welt soll es nicht erfahren. Wir werden in diesen Räumen, die einst unser Glück gesehen, neben einander fortleben wie zwei Fremde, schlimmer und trauriger als die Fremdesten, und diese Hölle auf Erden soll deine Buße sein. Ich weiß, daß du, wenn auch der letzte Funken einer wärmeren Empfindung für mich in dir erloschen ist, doch nicht so unedel denken kannst, mich des einzigen noch übrigen Guts zu berauben: meiner Frauenwürde, die unheilbar verletzt wäre, wenn die Welt ahnte, wie man mir zu begegnen gewagt hat. Und so hoff' ich, du ergiebst dich darein, meinen verhaßten Anblick noch ferner zu ertragen, wenn auch nur bei den Mahlzeiten, der Dienstboten wegen, und wenn wir andere Gesellschaft nicht vermeiden können. Nur noch eine Bedingung hab' ich zu stellen.

Nenne sie! erwiderte er dumpf. Du weißt, ich habe kein Recht, dir etwas zu versagen.

Daß du diese Person nie wiedersiehst und auch jeden anderen Verkehr mit ihr abbrichst. Gelobe mir das bei dem Andenken deiner Mutter, oder was du sonst Heiliges aus dem Bankerott aller edlen Grundsätze und Gefühle gerettet hast.

Ich gelobe es, sagte er kaum hörbar. Dann wandte er sich ab und ging nach seinem Zimmer. Auf der Schwelle zauderte er einen Augenblick. Er schien noch etwas sagen oder widerrufen zu wollen. Mit einem traurigen Kopfschütteln preßte er die Lippen zusammen und ließ seine Frau allein.

*

Als er am andern Morgen auf seinem schmalen Ruhebett, auf das er sich angekleidet geworfen, ans einem kurzen Traumschlummer erwachte, hatte er Mühe, an die kalte Wirklichkeit des nächtlichen Erlebnisses zu glauben. Aehnliche Scenen waren ihm oft in bangen Gewissensträumen vorübergegangen. Doch hatte der Reiz des unverhofften späten Liebesfrühlings ihm jede trübsinnige Ahnung bald wieder weggezaubert.

Zuweilen hatte er sich vorzustellen versucht, was daraus werden sollte. In dieser schuldvollen Getheiltheit seines Lebens fortzuwandeln, empfand er als die eigentliche Sünde, als eine äußere und innere Unmöglichkeit. Ein paar Mal hatte er angesetzt, einen Brief an Gina zu schreiben, worin er ihr Alles beichten und seine Freiheit zurückverlangen wollte. Immer noch war es nicht zur Ausführung dieses Entschlusses gekommen; eine Woche lag noch vor ihm, er hoffte auf eine gute Stunde, ja auf irgend einen äußeren Zufall, der Alles noch gelinder lösen möchte. Nun war es so schnell und schwer über ihn hereingebrochen.

Er wehrte sich nicht gegen das Unabänderliche. Als er die Frau wiedergesehen, deren Lebensglück er so besinnungslos zerstört hatte, war Alles wieder in ihm aufgelebt, was er vor Jahren in ihr zu finden geglaubt, die ersten frohen Zeiten des Besitzes, alles Gute und Hohe, was doch auch von ihr ausströmte. Er hatte sich gesagt, daß er es ihr schuldig sei, so viel in seiner Macht stehe, das Vergehen an ihr zu sühnen. Wohl war ihm mitten in seiner furchtbaren Zerstörung der Eishauch, der von ihr ausging, empfindlich gewesen. Nicht mit einer Silbe hatte sie verrathen, daß sie leide, weil er ihr sein Herz entzogen. Er sah nun Alles klar. Wenn sie plötzlich auf einen fernen Welttheil verpflanzt würden, wo Niemand sie und ihr Schicksal bereden könnte, würde ihr der Gedanke einer Scheidung für immer nicht unerträglich sein. Aber was konnte sie dafür, daß kein wärmeres Blut ihr Herz klopfen machte? Er hatte sie genommen, wie sie war, er durfte sie nicht anklagen, daß sie ihn betrogen hätte, wie er sie. So mußte das, was noch von Leben ihnen bevorstand, nach ihrem Zuschnitt weitergeführt werden.

Er warf zwei Zeilen auf ein Blatt: »Ich bin seit gestern Nacht nicht mehr allein. Erwarte mich nicht. Näheres folgt.« – Das Billet trug er selbst fort und übergab es einem Dienstmann zu sicherer Besorgung.

Dann kehrte er ins Haus zurück und suchte Gina auf, die ihn mit einem gemessenen Gruß im Frühstückszimmer empfing.

Sie wechselten, so lange das Mädchen im Zimmer war, gleichgültige Reden mit einander, trennten sich dann bald und fanden sich erst bei Tisch wieder zusammen. Kein Wort erinnerte an das, was sie trennte. Ueber Tag gingen sie in höflicher Einsilbigkeit neben einander hin, zur Schlafenszeit zog sich Chlodwig in das kleine Gemach neben seinem Arbeitszimmer zurück, wo die alte Dienerin ihm ein Bett hatte aufschlagen müssen, und überließ Gina ihr früheres gemeinsames Schlafzimmer.

Doch fand er Nachts nicht viel Schlaf, und seine Tage waren traurig und unfruchtbar. Er hatte während der Wochen seines verstohlenen Glückes das neue Werk mit jugendlichem Feuer begonnen, es war, als ob eine lange verschlossene Quelle in ihm entsiegelt worden wäre und unerschöpflich sich ergösse. Nun war im Frost dieses plötzlichen Verhängnisses Alles wieder erstarrt. Er saß stundenlang vor den aufgeschlagenen Büchern und Heften und stierte wie ein Mensch, der einen Todestrank getrunken und das Ende erwartet, in sinnloser Betäubung vor sich hin.

Der Rest der Herbstferien verging, die Vorlesungen begannen wieder. Aber die zahlreiche Zuhörerschaft, die sonst mit andächtiger Begeisterung an Chlodwig's Lippen gehangen hatte, erkannte ihren Lehrer nicht wieder. Mühsam und eintönig floß die Rede, und zuweilen stockte sie ganz, um dann nach einer peinlichen Anstrengung von Neuem in schwerfälligen Fluß zu kommen. Seine Collegen, die davon hörten und sein verwandeltes Aussehen beachteten, machten ihm Vorwürfe, daß er sich in den Ferien, statt sich zu erfrischen, übermäßig viel zugemuthet habe. Er gab es mit einem müden Lächeln zu. Er hoffe aber, es werde vorübergehen und er wieder Herr seiner Kraft werden.

So hatte er sein Leben qualvoll bis in den November fortgeschleppt, auch seine gewohnten Spaziergänge unterlassen, da er immer fürchtete, einem Gesicht zu begegnen, das seine schwer erkämpfte Fassung zu Schanden mache. Aus der »Universitas« war er weggeblieben; dem Hausarzt antwortete er auf dessen besorgte Frage, er fühle sich körperlich ganz wohl, nur eine geistige Ueberreizung mache ihm zu schaffen. Der wackere Mann drang darauf, daß er sein Colleg abbrechen und im Süden ein paar Monate ausruhen solle. Ihre liebe Frau wird dort dafür sorgen, daß Sie diese Nerven-Erschöpfung unter einer milden Sonne und in schöner Umgebung bald wieder besiegen. – Gina stimmte zu. Wir wollen sehen, versetzte er gleichmüthig. Einstweilen geht es ja auch so, und zu Hause bin ich so unthätig, wie Sie nur wünschen können.

Er hatte Nichts mehr von der Traud gehört, er wußte, daß sie in ihrer selbstlosen Ergebung warten würde, bis er das Schweigen bräche. Aber es marterte ihn der Gedanke, wie lange er selbst dies tödtliche Verstummen, nachdem er Alles mit ihr getheilt, ertragen würde. Zuweilen wälzte er doch den Gedanken hin und her, ob es nicht das Beste wäre, fortzugehen, unter irgend einem Vorwande allein, und draußen in der Fremde den Versuch zu machen, ob er noch zu genesen im Stande sei. Aber es hielt ihn mit unsichtbaren Fäden hier fest, als würde, wenn er ginge, auch über das verlassene Mädchen ein schweres Unglück hereinbrechen.

Da hatte es ihn eines Nachmittags in die Stadt hinausgetrieben, durch deren Gassen ein rauher Wind fegte, der eisige Regenschauer über die schlüpfrigen Steine des Pflasters schüttete. Chlodwig ging ohne Zweck und Ziel, in seinen Mantel gehüllt, den Hut tief in die Stirn gedrückt. Er fühlte eine Anwandlung, als sollte er unaufhaltsam so fortschreiten, zum Thore hinaus und in die weite Welt hinein, als könnte man dem Schicksal entlaufen, das man in der eignen Brust trägt. Die Straßen waren menschenleer, die Dämmerung brach schon herein. Da, wie er einmal gedankenlos aufblickte, sah er drüben auf der anderen Seite eine Gestalt daherkommen, in ein großes, dunkles Tuch gehüllt, das auch den Kopf und das halbe Gesicht verbarg. Aber auf der Stelle wußte er, wer es war, und blieb, wie von einer heißen Hand festgehalten, stehen. Auch das Weib drüben stand plötzlich still. Sie lüftete das Tuch und spähte zu ihm hinüber. Ein paar Minuten lang begegneten sich die traurigen Augen der Beiden, in den ihren lag eine leidenschaftliche Frage, in seinen ein trostloser Gram. Dann machte sie eine Bewegung, als ob sie die Straße kreuzen und zu ihm hinüber wollte. Als sie aber den düstern Ernst sah, mit dem er langsam das Haupt schüttelte, wobei er die Hände wie beschwörend ein wenig erhob, senkte sie demüthig das Kinn auf die Brust, so daß das Tuch ihr wieder über die Stirn fiel, und setzte mit zögernden Schritten ihren Weg fort.

Er stand noch immer und sah ihr nach. Erst als sie ihm aus den Augen war, fuhr er mit der geballten Faust nach seinem Herzen und stöhnte dumpf auf. Es ist unmöglich! murmelte er vor sich hin. Es ist übermenschlich! Ich muß ein Ende machen.

Mit wankenden Knieen betrat er sein Hans und ging in sein Zimmer, das schon ganz dunkel war. Gina begegnete er nicht. Sie war zu dem Leseabend gegangen, der heut bei der Superintendentin abgehalten wurde. Da es bekannt geworden, daß ihr Mann an einem Nervenleiden erkrankt sei, fand man ihre ungewöhnlich gedämpfte Stimmung nicht auffallend. Im Uebrigen hatte sie an ihrer geistigen Klarheit nichts eingebüßt. Sie wartete von Tag zu Tage, daß Chlodwig die Buße unerträglich finden und sich in verzweifelnder Reue ihr zu Füßen stürzen würde. Was sie dann thun würde – sie wußte es noch nicht deutlich voraus. Nur daß es ihre Pflicht wäre, dem Verirrten nicht jede Hoffnung abzuschneiden, sich nicht ewig unversöhnlich zu zeigen, mahnte sie eine innere Stimme und ein Mitleid mit Dem, den sie doch ihrer Liebe gewürdigt hatte. Doch daß es so lange währte, bis er den Schritt that, schärfte wieder ihr richterliches Selbstgefühl.

Es war sechs Uhr Abends. Vor acht pflegte sie nicht nach Hause zu kommen. Chlodwig hatte sich nur so lange in seinem Zimmer aufgehalten, wie nöthig war, um aus dem feuerfesten Schrank, der in seiner Schlafkammer stand, allerlei Papiere herauszunehmen, die er sorgfältig einsiegelte und in seine Tasche steckte. Dann verließ er wieder das Haus.

Er ging mit raschen Schritten nach der Wohnung des kleinen Advocaten, der eben seine Büreaustunden geschlossen hatte und in seinem behaglichen Wohnzimmer saß, bei einer kurzen Pfeife die Zeitung lesend. Die Freunde waren sich monatelang nicht mehr begegnet. Berndt sah verwundert in die Höhe, als Chlodwig eintrat.

Er komme, ihn um einen großen Dienst zu bitten, sagte dieser. Zuvor müsse er ihm das Wort abnehmen, wenn er diesen Dienst verweigere, über das, was er ihm mitzutheilen habe, unverbrüchlich zu schweigen.

Sie wissen, sagte Berndt, daß ich nicht nur von Amtswegen ein Virtuose der Discretion bin, sondern überhaupt Niemand habe, mit dem zu schwatzen mir ein besonderes Vergnügen machte. Also setzen Sie sich und beginnen Sie. Himmel! wie sehen Sie aus? Solche hippokratischen Gesichter seh' ich sonst nur in Gefängnissen, wenn ich von einem Clienten, den ich nicht vom Schaffot habe losplaidiren können, den letzten verlegenen Abschied nehme.

Chlodwig sah trüb zu Boden. Ganz so schlimm steht es nicht, sagte er, wenn auch schlimm genug. Ich will fort von hier, die Luft sagt mir nicht länger zu, auch die Verhältnisse, die Sie ja kennen und die mir je länger je mehr den Athem beklemmen. Ich habe Aussicht, anderswo dies schleichende Leiden loszuwerden, und muß deßhalb heute noch eine Reise antreten, um den Ort meiner künftigen Bestimmung in Augenschein zu nehmen. Vorher aber möchte ich meine hiesigen Schulden abtragen. Und bei der Hauptschuld sollen Sie den Vermittler machen.

Er stockte, ein kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er hatte sich in einen Sessel geworfen, wo ihn der Lampenschein nicht erreichen konnte. Berndt war phlegmatisch auf dem Sopha sitzen geblieben und blies blaue Ringe in die Luft.

Wer ist der Gläubiger? fragte er.

Sie kennen ihn. Es ist die Traud.

Wie von einem Messerstich getroffen, zuckte der kleine Mann zusammen. Doch sagte er kein Wort. Nur seine große Faust schlug dröhnend auf die Platte des Tisches vor ihm.

Hören Sie mich ruhig an mein Freund, fuhr Chlodwig fort. Sie sind der einzige Mensch, der dieses Trauerspiel kennen soll, so ganz wie es sich aus Schuld und Schicksal zusammengewoben hat. Ich weiß, daß Sie mich jetzt hassen müssen; aber Sie sind ein zu weiser und edler Mensch, um, wenn Sie mich zu Ende gehört haben, mich kaltsinnig zu verdammen. Und was mir noch übrig bleibt, um das Aergste abzuwenden, – nur Sie können mir die Hand dazu bieten.

Dann erzählte er ihm Alles. Er schonte sich nicht. Auch in seinem Verhältniß zu Gina nahm er den schwereren Theil der Schuld großmüthig auf sich. Er wußte ja auch, mit welchen Augen der scharfsichtige Scheinverächter diese gefeierte Frau betrachtete. Und wer konnte ihm tiefer nachempfinden, wie groß die Versuchung gewesen war?

Sie kennen dies Mädchen, schloß er seine Beichte. Sie werden begreifen, daß ich die schwerste Sorge habe, sie möchte durch mein Fortgehen für immer zu irgend einem verzweifelten Entschluß getrieben werden. Dies können nur Sie verhüten, indem Sie ihr vorstellen, daß sie nicht nur für sich zu leben habe, sondern auch für ein noch ungeborenes Leben. Und für dieses, da sie für sich selbst nicht das Geringste von mir annehmen würde – habe ich ihr doch nicht einmal ein geringfügiges Geschenk machen dürfen, kein Band, keine Blume – sagen Sie ihr, daß sie es dem Kinde schuldig sei, gegen meine Anordnung sich nicht aufzulehnen. In diesem Umschlage finden Sie die Hälfte meines Vermögens, keinen übermäßigen Reichthum, doch genug, um für die Erziehung des Kindes zu sorgen und die Mutter vor Noth zu schützen. Sie sollen mir versprechen, Berndt, dies Geld in Ihre Verwahrung und Verwaltung zu nehmen und die Zukunft des armen lieben Wesens zu sichern. Ich werde es ihr selbst in einem Briefe mittheilen und sie auf Ihren Beistand anweisen. Ich weiß, daß ich Ihnen damit nichts Leichtes zumuthe, aber ich kenne Sie, Sie werden mir's nicht abschlagen.

Er stand auf, legte das Packet auf den Tisch und harrte in banger Spannung auf die Antwort. Auch Berndt erhob sich endlich.

Diese Ihre freundschaftliche Zumuthung überrascht mich nur zur Hälfte, sagte er mit einem grimmigen Auflachen. Ich bin es gewöhnt, daß das gütige Schicksal mir die Aepfel zuwirft, die meine bevorzugteren Herren Brüder angebissen und zu herb befunden haben. Die muß ich dann, weil ich gute Zähne habe, säuberlich aufspeisen, und sollte ich daran ersticken. Daß Sie es so weit treiben würden mit diesem Engelsgeschöpf, mein edler Freund, hätte ich voraussagen können. Ja, ich wußte es so gut, daß ich mich seit unserm letzten Begegnen gehütet habe, jene Gegend wieder zu betreten. Wenn ich Sie mit einer Siegermiene aus dem Hause hätte herausschleichen sehen – Paviane sind jähzornig und haben lange und dauerhafte Fangorgane. Natürlich muß ein schmucker Taugenichts, wie Ew. Liebden, den Vortritt haben vor Unsereinem, und wenn die Geschichte das naturgemäße Ende mit Schrecken nimmt – der Nemesis die Krallen abzuschneiden, dazu sind wir noch immer brauchbar. Ich danke Ihnen für das hochherzige Vertrauen, mein sehr edler Freund, ich danke Ihnen von Herzen. Es ist ein ausbündig feines Stück Arbeit, was Sie da zu Stande gebracht haben.

Chlodwig nickte finster vor sich hin. Sie haben das Recht, mich zu demüthigen, aber ich bin fühllos gegen harte Worte, und wenn Sie mir die bittersten Beleidigungen ins Gesicht würfen, ich habe keine Ehre mehr reinzuwaschen. Nicht um meinetwillen, sondern um sie, deren Schicksal auch Ihnen nicht gleichgültig sein kann, frage ich Sie noch einmal: wollen Sie meine Bitte erfüllen?

Berndt wandte sich ab. Ihr Verstand hat gelitten, murrte er, indem er heftig mit den Armen an seine Stirne fuhr. Sonst merkten Sie doch, daß ich trotz Ihrer Armsündermiene und der sehr wohl verdienten Selbstverachtung, in der Sie sich gefallen, mein halbes Leben, was sag' ich? den ganzen Rest dieses lumpigen Fröhnerdaseins im Dienst der sogenannten Menschheit dafür hingäbe, wenn ich jetzt in Ihren Schuhen steckte. Was sind alle Qualen, die Ihnen Ihr hochgesinntes musterhaftes Eheweib noch anthun kann, gegen das Bewußtsein, von diesem Mädchen geliebt worden zu sein? Wissen Sie, thörichter Mensch, daß das einzige Verbrechen, das ich Ihnen nicht verzeihen kann, die erbärmliche Reue ist, mit der Sie an Ihre Brust schlagen? Daß, wenn ich's auch übers Herz brächte, Sie zu hassen und zu verachten, wie Sie mir zutrauen, all diese noblen Gefühle von einem anderen, weit stärkeren und gemeineren übertäubt werden würden: von dem blassen Neide auf das Glück, was Sie mir mit diesem tragischen Gesicht gebeichtet haben?

Nein, fuhr er hitzig fort, als Chlodwig tief ergriffen ihm die Hand entgegenstreckte, der Neid ist ein schlechter Kitt der Brüderschaft. Mit Ihnen wünsche ich in alle Ewigkeit nichts mehr zu theilen und hoffe, Ihr interessantes Gesicht und Ihre elegante Figur nie im Leben mehr sehen zu müssen. Aber was Sie von mir verlangt haben, will ich thun, muß ich thun, obwohl ich voraussehe, daß es eine dornenvolle Kommission sein wird. Quittung und Urkunde über die Verwendung stehen Ihnen zu Dienst, falls Sie dessen bedürfen. Im Uebrigen – daß ich Ihnen etwa von Zeit zu Zeit berichten soll, wie das verlassene Weib nach Ihnen zu seufzen fortfährt und wie das Kind dieselben Augen hat, die die Mutter so elend gemacht, das erwarten Sie nicht von mir. Es giebt moralische Unmöglichkeiten, die man respectiren muß.

Chlodwig nahm seinen Hut. Ich danke Ihnen, sagte er, indem sein Blick am Boden hin irrte. Ich weiß, daß ich kein gutes Wort mehr von Ihnen zu erwarten habe. Die gute That, die Sie mir gelobt haben, kann ich nie vergelten.

Er ging aus dem Zimmer. Draußen mußte er sich mühsam besinnen, was er zunächst noch vorhabe. Es flimmerte ihm vor den Augen, er war dem Umsinken nahe. Aber er raffte sich wieder auf und eilte, wie wenn jede Minute Gefahr bringen könnte, seinem Hause zu.

Gina war noch nicht zurück Er zündete die Lampe in seinem Zimmer an, ergriff eine Feder und warf folgende Zeilen auf ein Blatt Papier, in solcher Haft, als schreibe er etwas Auswendiggelerntes nieder. Er hatte sich's freilich unterwegs bis auf die letzte Silbe zurechtgelegt

»Liebe Gina! Vergieb mir den letzten Schmerz, den ich dir machen muß. Es kann nie mehr zwischen uns werden, wie es war, und das Gefühl, daß ich dein Vertrauen durch schwere Schuld für immer verloren habe, würde nie von mir weichen. Darum ist es besser, du bleibst allein. Du hast in deiner starken Seele Heilquellen genug, du wirst auch dieses gewaltsame Zerreißen eines Bandes, das dein reines Empfinden unheilvoll einengen würde, mit der Zeit als eine Wohlthat empfinden. Wenn ich dir danke für Alles, was du mir gegeben hast und gewesen bist, so geschieht es in wahrhaftem Schmerz, daß ich es dir nicht so vergelten konnte, wie ich gesollt hätte. Gedenke meiner mit verzeihender Milde, und der Tod versöhne, was das Leben unheilbar geschieden hat.

Ich wünsche, daß du Allen, die nach mir fragen, sagest, ich sei zu meinem Entschlusse durch die Furcht getrieben worden, ein ähnliches Schicksal stehe mir bevor, wie meinem Großvater mütterlicherseits, der im Irrenhause endete. Du wirst keine Lüge sagen, denn wenn ich länger diese Qual ertragen hätte, wäre ich einem Wahnsinn verfallen, der Schuld auf Schuld gehäuft hätte.

Lebewohl, Gina! Meine Zeit ist um. Mein letzter Wunsch ist, daß du nie einen Hauch der Leiden erleben mögest, die mich aus dem Leben treiben.«

Er siegelte das Blatt ein, und schrieb darauf: »An meine Frau.« Dann nahm er ein anderes und warf mit bebender Hand folgende Zeilen darauf:

»Meine liebe Geliebte, ich muß dich verlassen. Was ich empfinde, indem ich dieses trostlose Wort niederschreibe, ist unaussprechlich. Das einzige volle Glück meines Lebens habe ich dir verdankt. Ich hätte es dir gern mit der Hingabe meines ganzen noch übrigen Lebens vergolten, und muß dich nun so früh und so traurig allein lassen. Du wirst an unserem Kinde einen Trost haben und in der Pflicht, es zu einem guten und tapferen Menschen zu erziehen, der seiner Mutter gleicht, die Kraft finden, auch die Schmerzen unserer Trennung zu überstehen. Freund Berndt weiß, wie ich es damit gehalten wissen will. Vertraue ihm ganz. Er meint es sehr gut mir dir, wenn er mir auch zürnt, daß ich deinen Frieden gestört habe. Traud! ich habe dich unsäglich lieb; ich glaubte auf der Stelle sterben zu müssen vor Jammer und Sehnsucht, als mich heut deine stillen, vergrämten Augen trafen und ein feierliches Gelübde, das ich hatte thun müssen, mich von dir fern hielt. O Liebste, all die schönen, seligen Stunden, die du mir geschenkt, stehen vor mir von einem zauberhaften Schimmer vergoldet, der von deiner armen kleinen Kerze ausging. Nur Eine noch zu erleben, nur einmal noch deine Augen zu küssen, deine treue warme Hand in der meinen zu halten – – es bringt mich von Sinnen, daß das nie mehr sein soll! Lebwohl Traud! Leb tausendmal wohl, mein Glück und Leben! Segen über dein liebes Haupt! Und denk an mich allezeit und vergiß nie, daß, wenn es ein Erinnern jenseits dieser Erde giebt, ich nur einen Gedanken habe: du möchtest noch glückliche Tage genießen. Lebwohl, Traud! Lebwohl!«

Er brach in Thränen aus, die die letzten Worte halb verwischten, faßte sich aber rasch, verschloß auch diesen Brief und trug ihn hinunter, ihn einem Boten einzuhändigen. Dann stieg er mit schweren Schritten wie ein Trunkener die Stufen zu seiner Wohnung wieder hinauf. Als er durch Gina's Zimmer ging, warf er einen letzten Blick auf.das Bild über dem Sopha, zum letzten Mal glitt ein bitteres Lächeln über seinen Mund. Himmlische und irdische Liebe! sagte er vor sich hin. Nicht einmal der Tod kann sie versöhnen.

*

Eine halbe Stunde später kam Gina nach Hause. Sie fragte die alte Dienerin, die ihr öffnete, ob der Herr ausgegangen sei. – Schon über eine Stunde sei er zurück und arbeite in seinem Zimmer. Ob sie die Lampe bringen solle? – Sie werde sie selbst anzünden, versetzte die Frau. Sie war in einer seltsamen Erregung. Irgend ein Wort, das in der heutigen Lectüre ihr das Herz getroffen, hatte darin eine unstillbare Bewegung gestiftet. Zum ersten Mal war es ihr gewesen, als könne auch sie dies feindselig nahe Beisammenleben nicht ertragen. Sie sehnte sich nach einem Blick und Wort ihres Mannes, das ihr erlaubte, selbst wieder einzulenken und das Wirrsal nach und nach zu schlichten. Vielleicht fand er nur nicht den Muth zur Bitte, ahnte nicht, daß sie geneigt sei, von ihrer kalten Höhe herabzusteigen. Aber wenn er ihr nur das leiseste Zeichen eines wahren Kummers gebe – war er nicht der Jüngere? Mußte sie nicht sorgen, daß sie ihn dies nicht zu scharf empfinden ließ?

So trat sie in ihr Zimmer, die Thür zu Chlodwig war nur angelehnt, ein Lichtstreifen fiel herein. Leise ging sie hin und horchte, doch war eine athemlose Stille drinnen. Sie wagte es endlich und öffnete langsam die Thür. An seinem Schreibtisch war er nicht, obwohl dort die Lampe brannte. Chlodwig? rief sie. Bist du hier? Keine Antwort. Da wandte sie sich nach der Seite, wo an der einzigen bücherfreien Wand sein Ruhebett stand. Er lag dort lang ausgestreckt, wie wenn er friedlich schlummerte. Nur der untere Theil seines Gesichts war von der Lampe beschienen, den rechten Arm hatte er über die Stirn geschlagen, der linke hing schlaff herab.

Ein furchtbarer Gedanke schoß ihr durch das Hirn. Der Athem stockte ihr in der Brust, Chlodwig! wiederholte sie mühsam – sie that ein paar Schritte auf den Schlafenden zu, da stieß ihr Fuß auf einen harten Gegenstand der auf dem Teppich lag – sie bückte sich danach, aber ehe die Hand noch darnach greifen konnte, hatte ihr Blick die kleine Waffe erkannt, die ein Lichtschimmer streifte, und mit einem dumpfen Schrei stürzte die unglückliche Frau zusammen.

Als sie wieder zur Besinnung kam, rutschte sie auf den Knieen zu dem Ruhebett hin und tastete in Todesangst nach der Hand, dann nach der Wange des Regungslosen. Die That mußte erst ganz kürzlich geschehen sein, noch war einige Lebenswärme in den Adern zu spüren. Nun raffte sie sich mit ihrer ganzen Willenskraft auf, wankte nach dem Schreibtisch, ergriff die Lampe und kehrte mit ihr zu dem stummen Schläfer zurück. Zitternd hob sie den Arm von seiner Stirn und stierte in das entfärbte edle Gesicht, dessen Augen sich müde geschlossen hatten. Da sah sie das Blut an der rechten Schläfe, das langsam aus einer kleinen runden Oeffnung sickerte. Die Lampe entfiel ihrer Hand, sie warf sich auf den Stuhl, der daneben stand, und eine grauenhafte Nacht umgab sie, in der aber ihr Denken und Empfinden nicht erlosch, bis sie soviel Kraft gesammelt hatte, daß sie sich mit wankenden Knieen erheben konnte. Da schwankte sie nach der Klingel, und als die Alte hereintrat, sagte sie mit dem letzten Aufgebot ihres starken Willens: Dem Herrn ist etwas zugestoßen, Margret. Geh sogleich zum Doctor – er soll eilig kommen – es handle sich vielleicht um Minuten – geh! geh!

Dann kam ihr jene wundersame Kaltblütigkeit zu Hülfe, die in den ersten Momenten nach einem furchtbaren Schlage den Menschen wie in einem nachtwandlerischen Traum allerlei Zweckmäßiges vollbringen läßt, als wäre die grausigste Wirklichkeit nur ein Märchen, das ihm erzählt werde, und ginge ihn im Grunde nicht näher an. Sie hob die Lampe auf und tastete im Finstern nach einem Leuchter auf dem Tische, den Chlodwig zum Siegeln brauchte. Als sie die Kerze angezündet hatte, wagte sie es zuerst nicht, sich wieder nach der Stätte des Jammers umzusehen. Dann gewann sie auch das über sich, und nun entdeckte sie den Brief, der auf dem kleinen, niedrigen Tische zu Häupten des Mannes lag. Sie nahm ihn und las: An meine Frau. Dann lös'te sie das Siegel und versuchte den Inhalt zu entziffern. Aber ihre Hand bebte zu stark, vor den Augen flimmerten die Schriftzüge. Sie legte ihn wieder hin.

Warum hast du mir das gethan! klang es wie unbewußt von ihren Lippen.

Was sollte nun werden? Was würde man nun sagen? Mitten in ihrem wahrhaftigen Schmerz brach doch diese bitterste Frage sich immer wieder Bahn. Das ganze stolze Gebäude ihrer Würde und Herrlichkeit lag zertrümmert zu ihren Füßen. Nur als sie endlich es dahin brachte, seine Abschiedsworte zu lesen, beruhigte sich der wilde Kampf ihrer Gefühle. Jetzt erst, da sie erkannte, wie schonend in ihre Seele hinein er ihr das Herbe zu mildern gesucht hatte, indem er ihr die Maske vorzeichnete, hinter der sie dem Gerede der Welt die Stirn bieten konnte, jetzt fühlte sie, was sie an ihm verloren hatte, und ein tiefes Weh übermannte sie. Doch blieben ihre Augen trocken.

Als der Arzt kam und mit tiefer Erschütterung alsbald seinen Spruch thun mußte, daß keine Hoffnung sei, das entflohene Leben zurückzuholen, als er dann mit innigem Freundesantheil der ärmsten Frau seinen Beistand anbot und sie bat, für diese Nacht in seinem eigenen Hause bei seiner Gattin eine Zuflucht zu suchen, war sie schon wieder so weit gefaßt, daß sie, indem sie jede Hülfe ablehnte, von dem unglückseligen Wahn reden konnte, der ihn in den Tod getrieben. Sie habe es kommen sehen, sie habe Alles versucht, ihn auf andere Gedanken zu bringen, Alles sei an seiner dumpfen Hartnäckigkeit gescheitert. Nun mache sie sich Vorwürfe, ihn während der Ferien verlassen zu haben. Doch habe sie damals noch nicht geahnt, wie entsetzlich ernst es ihm mit seiner Lebensfurcht und der Flucht vor dem vermeintlichen Schicksal gewesen sei. Ihn, den alten Freund und Gewissensrath des Hauses, habe sie nicht einweihen dürfen, Chlodwig habe ihr ein heiliges Versprechen abgenommen, gegen Niemand ein Wort davon zu sagen. Und nun, da sie sich der Hoffnung hingegeben, eine Reise in den Süden werde alle Schatten zerstreuen – –

Sie brach in Thränen aus. Der alte Arzt drückte ihr wiederholt die Hand und sagte die üblichen Gemeinplätze. Endlich verließ er sie. Die beiden Dienerinnen, die jetzt erst von ihm erfuhren, was geschehen, da sie den schwachen Hall des Schusses nicht gehört hatten, stürzten mit lautem Wehklagen herein und geberdeten sich wie unsinnig; sie hatten den gütigen Herrn vergöttert. Das machte die Herrin vollends starr und stumm. Sie wies die fassungslos Jammernden endlich hinaus, und nachdem sie noch einen letzten Blick auf das blasse Gesicht geworfen hatte, verließ sie selbst das unheimliche Zimmer.

*

Sie war aber noch nicht lange in ihrem so harmonisch ausgestatteten Gemach mit dem Streit in ihrem Innern allein geblieben, als drunten die Hausglocke erklang. Es mochte neun Uhr sein, auf der Straße war noch Leben. Wer aber sollte jetzt noch Einlaß begehren, da der Medicinalrath versprochen hatte, vor morgen früh Niemand von dem unseligen Ereigniß ein Wort zu sagen?

Die Alte trat herein und berichtete, ein Frauenzimmer begehre die gnädige Frau zu sprechen, sie müsse um jeden Preis heute noch zu ihr, ihren Namen habe sie nicht sagen wollen, und ein dichtes schwarzes Tuch, das sie um den Kopf gewickelt, habe es unmöglich gemacht, sie zu erkennen, obwohl ihr die Stimme nicht ganz fremd vorgekommen.

Sie könne Niemand sehen, versetzte Gina rauh, Niemand! Am wenigsten eine ganz Unbekannte. Da ging die Thür leise auf, und die verhüllte Gestalt trat hastig ein, blieb aber an der Schwelle stehen, da eine gebieterische Bewegung der Frau sie abwehrte. Was wollen Sie? Wer sind Sie? – Nur zwei Worte! stammelte es unter der Umhüllung. – Gina fuhr zusammen. Sie wußte, wer noch ein Recht zu haben glaubte, zu dieser Stunde hier einzudringen. In der Verwirrung des Augenblicks winkte sie der alten Dienerin, hinauszugehen. Kaum war dies geschehen, so ließ die Verhüllte ihr Tuch vom Gesicht fallen und starrte mit entgeisterten Augen der Frau entgegen.

Ist er todt? Sagen Sie, ist er todt? Wo – wo ist er?

Ihre Blicke irrten durch das Zimmer, dann nach der Thür, und wie hellsehend sich plötzlich dorthin wendend, wo sie die Antwort auf ihre Frage mit Händen greifen mußte, stürzte sie nach der Schwelle des Arbeitszimmers, riß die Thür auf und brach drinnen mit einem erstickten Schrei zusammen.

Dann ward eine tiefe Stille. – – –

Gina war ans Fenster getreten und hatte mit umschleiertem Blick und Sinn zum Himmel emporgestarrt, an welchem sich die Herbstwolken jagten. Sie zürnte auf sich selbst, daß sie so schwach gewesen war, dies Weib nicht unerbittlich von ihrer Schwelle zu weisen.

Und jetzt – warum rief sie sie nicht zurück? Warum duldete sie, daß sie sich einen Platz bei dem Todten anmaßte, der ihr nicht gebührte? Es war nur der tiefe Widerwille gegen das verachtete Geschöpf, der sie immer noch zaudern ließ, wieder in ihre Nähe zu treten.

Doch siegte endlich ihr Stolz und Unmuth. Sie ging ins Zimmer, wo der Todte lag. Das unglückliche junge Weib war neben seinem Lager zusammengebrochen und hielt die kalte linke Hand in ihren beiden, die Augen fest gegen die schmalen Finger gepreßt.

Als sie sich an der Schulter berührt fühlte, fuhr sie in die Höhe und hob ein in Thränen gebadetes Gesicht zu der gestrengen Gestalt empor, die mit steinernen Zügen vor ihr stand.

Stehen Sie auf! hörte sie ihre Feindin sagen. Sie haben schon zu lange meine Geduld mißbraucht. Gehen Sie und lassen Sie sich nie wieder vor mir blicken. Und wenn Sie so herzlos und übermüthig sein sollten, Gerüchte zu verbreiten, als ob Sie mit diesem Unglück in irgend welchem Zusammenhang stünden –

Die Thränen des jungen Weibes versiegten plötzlich. Aber sie erhob sich nicht vom Boden. Sie denken niedrig von mir, gnädige Frau, sagte sie leise, aber bestimmt. Ich kann es Ihnen nicht verübeln. Ich habe Sie schwer beleidigt – oh, und mehr! Ich habe Ihnen das einzige Glück geraubt, das Ihnen theuer sein mußte. Denn was ist Alles, was Sie sonst haben mögen, gegen diesen Mann! O, er war ein Mensch, wie es keinen zweiten giebt, wer ihn kannte, würde mich nicht verachten, wenn er unser Geheimniß wüßte. Aber daß ich es hüten werde, wie mein Heiligstes, das brauchen Sie mir nicht auf die Seele zu binden, gnädige Frau. O, dürft' ich, wie ich wollte, mein Mund würde bald für alle Ewigkeit stumm werden. Aber er hat es mir befohlen, zu leben, und was er gewollt hat, war immer das Rechte. Ich aber – Sie blicken mich so entsetzlich an – Sie haben Recht, ich bin's ja, die ihn getödtet hat, ich ganz allein. Ich liebte ihn zu sehr, ich bedachte Nichts, als daß ich ihn froh und glücklich machen müßte, und da hab' ich eine Sünde begangen, indem ich Ihnen nahm, was nur Ihr eigen sein sollte. Das straft nun Gott durch seinen Tod – ach, aber nicht an mir allein, an uns Beiden. Denn Sie werden es immer mehr empfinden, je länger er todt ist und nicht wieder kommt: mit ihm sind alle Freuden dahin! Nichts kann uns auch nur einen Blick, ein Wort von ihm ersetzen, alle Schätze der Welt, alles Mitleid der Menschen wird Sie nicht entschädigen für das, was Sie durch mich verloren haben. Und darum thun Sie mit mir, was Sie wollen, schlagen Sie mich, treten Sie mich mit Füßen, lassen Sie mich Ihre Magd sein und die härteste Arbeit thun – die Schuld kann ich Ihnen nie abzahlen. O, er war solch einziger Mensch! – Ihre Stimme brach, sie warf sich über den Todten hin und schluchzte, wie wenn ihr das Herz aus dem Leibe brechen wollte. Auf einmal aber wandte sie sich wieder zu Gina. Wenn Sie ein menschliches Gemüth haben, rief sie außer sich, so tödten Sie mich. Es ist zuviel, es ist über meine Kraft. Dort – dort liegt die Pistole – ich bitte, ich beschwöre Sie –

Sie wollte, auf dem Teppich sich windend, die kleine Waffe ergreifen, da fühlte sie sich von Gina's Armen mit sanfter Gewalt aufgehoben. Armes Weib! flüsterte die strenge Frau, du sollst leben und unglücklich sein, wie ich. Wir haben Alle gefehlt, das Leben muß unsere Buße sein. Und nun geh, und nie –nie wollen wir uns wieder begegnen.

Sie hatte sie während dieser Worte immer fester an sich gezogen, jetzt berührte sie mit ihren Lippen leise die Stirnhaare des fieberhaft schauernden jungen Weibes und ließ sie dann aus ihren Armen. Die Traud glitt an ihr hinab und haschte im Fallen ihre Hand, die sie leidenschaftlich an ihre Lippen zog. Sie stammelte ein paar verworrene Worte. Dann erhob sie sich rasch und schwankte aus dem Zimmer.

*

Jahre sind vergangen. Gina hat das Unglückshaus verlassen und in eine stille Wohnung nahe dem Friedhof ihr einsames Leben geflüchtet, das nur noch einen gedämpften Glanz verbreitet. Sie ist noch von ihren Kunstwerken, schönen Palmen und Büchern umgeben, und ihre Freundinnen kommen zu ihr, um Dichter und Denker mit ihr gemeinsam zu studiren und sich an der Harmonie ihres Wesens zu erfreuen, die sie auch aus dem schweren Lebenssturm gerettet hat. Man bewundert noch immer ihr edles Gesicht, das jetzt, da ihr Haar einen silbernen Schimmer hat, fast jugendlicher erscheint, ja sogar Männern noch gefährlich zu werden vermag. Sie aber hält sich mit sanfter Entsagung von der Welt zurück, und die alte Dienerin, wenn sie reden dürfte, würde gestehen müssen, daß ihre Ruhe bei Tage mühsam errungen und ihre Nächte schlaflos sind.

Die Copie der himmlischen und irdischen Liebe hat sie in die städtische Gemäldesammlung gestiftet, die sie niemals betritt. Ob ihr Schicksal über die Deutung des geheimnißvollen Bildes sie eines Bessern belehrt haben mag?

 

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