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Die Rächerin.

(1893.)

 

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Nun weißt du Alles, sagte die Kranke und ließ, erschöpft vom langen Sprechen, den Kopf in das Kissen des hohen Lehnstuhls sinken. Sie saß am offenen Fenster. Das blasse junge Gesicht war von einer fieberhaften Röthe überhaucht, die zarten, wachsbleichen Nasenflügel zitterten, und die Brust, die schwer athmete, hob die Falten des dunkelrothen Tuches, das um ihre hageren Schultern gehüllt war. Einen Augenblick lag sie so langausgestreckt, die Augen zugedrückt. Dann schlug sie sie langsam wieder auf und richtete den Blick gegen den klaren Frühlingshimmel, der über die Baumwipfel des Obstgartens hereinschimmerte.

Nein, Gerda, sagte sie jetzt, mit einem seltsamen Aufleuchten ihrer großen Augen, die in weiter Ferne etwas sehr Beseligendes zu erblicken schienen, noch weißt du nichts, so gut wie nichts. Wie es so weit mit mir gekommen ist, daß deine kleine Susi, die so gern lachte, jetzt nie mehr lachen wird, das hab' ich dir erzählt. Aber die Welt von Glück und Wonne, um die ich mein bischen Jugend und Fröhlichkeit hingegeben habe, was weißt du von der? Gewiß, es war ein kurzer Traum, aus dem mich der Tod aufwecken sollte. Aber noch zehn Leben gäb' ich dafür hin, wenn ich ihn noch einmal träumen könnte, so falsch er war, so viel Herzblut er mich gekostet hat!

Sie wandte den Kopf nach der Freundin, die auf einem Schemelchen dicht an ihrem Knie saß und eine kleine Photographie, die sie auf ihrem Schooß hielt, unverwandt betrachtete. Sie schien um einige Jahre älter als die Kranke zu sein, in Allem ihr völliges Widerspiel, ein schöner dunkler Kopf auf einem herrlich gebildeten Nacken, unter dem dicken schwarzen Flechtenknoten eine Fülle krauser Löckchen, die um den gesenkten bräunlichen Hals sich reihten. Zwischen den scharfgezeichneten Augenbrauen stand eine leise Falte, da sie den Blick mit einem Ausdruck starrer Abneigung auf das Bild geheftet hielt. Sie hatte kein Wort während der langen Beichte dazwischengeworfen. Jetzt legte sie die kleine Karte auf das Tischchen, das neben dem Lehnstuhl stand, streifte die Gestalt der Leidenden mit einem raschen Blick, doch ohne ihren Augen zu begegnen, und sagte, sich in den Schultern aufrichtend: Armes Herz! War er wirklich ein so kostbares Opfer werth?

Ich sagt' es ja, Gerda, du kannst es noch nicht verstehen, fuhr die Kranke, sich wieder abwendend, fort. Das Bild – es ist wohl ähnlich, was man so nennt, aber kaum mehr als ein Schattenriß. Das Licht, das im Leben von ihm ausstrahlt, das hat die Sonne nicht an den Tag gebracht. O Gerda, wenn du ihm jemals begegnest –

Mich verlangt nicht danach, erwiderte die Freundin mit einem schroffen Ton ihrer tiefen, weichen Altstimme. Verzeih, Susi, aber diese sogenannten schönen Männer, auch wenn sie keine Todsünde auf dem Gewissen haben, wie dieser, mir haben sie nie gefallen können. Wenn ich nicht fürchten müßte, dich zu kränken, würde ich sagen, ein Wachskopf in einem Friseurladen ist mir lieber. Der weiß wenigstens nichts von dem schönen Bart, der ihm an die Milch- und Blutwangen angeheftet ist, und mißbraucht seine großen Augen mit den langen Wimpern nicht dazu, arglose Mädchenherzen zu bethören. Ich habe immer einen Widerwillen gegen diese Puppenköpfe gehabt, deren ganze Männlichkeit nur in ihrem Bart steckt, und die es an Eitelkeit mit dem kokettesten Weibe aufnehmen.

Du thust ihm sehr Unrecht, Liebe, unterbrach sie die Kranke eifrig. Es ist ja wahr, ich selbst habe es so jammervoll erlebt: er ist treulos, – wenn du willst, charakterlos. Aber nicht aus Eitelkeit, nein, weil er trotz seines kriegerischen Aussehens noch ein Kind ist, freilich ein verzogenes und darum gefährliches Kind. Alles, was er sieht und reizend findet, muß er haben und trotzt so lange und ist so rührend unartig, bis er es bekommen hat. Dann, wenn seine Neugierde oder die erste Freude daran verflogen ist, wirft er's weg, wie wenn er's nie begehrt hätte. Sage nichts, Gerda. Ich seh' es an deinen finsteren Augen, was du denkst: verzogene Kinder sollte man strafen, aber nicht in ihren Unarten bestärken. Ach, Liebste, wenn es nicht so schwer wäre, ihren Schmeichelworten zu widerstehen! Und für ihn sprach noch so Vieles – daß er in so jungen Jahren – er ist nicht über Dreißig – als Offizier den Abschied nehmen mußte, weil ihn auf dem Schießplatz ein explodirendes Geschoß am Fuß verwundet hat, so daß er ihn nun ein wenig nachschleppt – denke doch, seine ganze Laufbahn ihm plötzlich versperrt! Und er war mit Leib und Seele bei seinem Beruf, und daß er wenigstens den Männern gegenüber seinen Mann stand, hat er mehr als einmal in schweren Duellen bewiesen.

Ich habe davon gehört; gegen Ehemänner, denen er ihre Frauen abtrünnig gemacht hat.

Nur ein einzigesmal, du kannst es mir glauben, Gerda; er selbst hat es mir gestanden, und da war die Frau der weit schuldigere Theil. Wie viel ist er verleumdet worden! O, wie ich ihn kennen lernte, war er viel zu unglücklich über sein verfehltes Leben, als daß er an frivole Abenteuer gedacht hätte. Was sollte er nun anfangen, um sein ganzes übriges Leben nicht als ein Müßiggänger zu verbringen? Er hat ein großes Talent zum Zeichnen und Malen, so als Dilettant konnte er sich was darauf einbilden. Aber in seinen Jahren – war's da nicht zu spät, noch einmal in eine gründliche Schule zu gehen? Davon sprach er mir, in der ersten Stunde, wo wir uns kennen lernten. Du weißt, die Eltern hatten mich in die Stadt gebracht zu der Tante, ich verlangte so sehnsüchtig danach, mich zur Sängerin auszubilden, nicht für die Bühne – ich hätte das Lampenfieber nie überwunden, auch wenn meine Stimme größer gewesen wäre. Aber als Concertsängerin oder Gesanglehrerin hätt' ich's wohl zu etwas gebracht, und auch meine Lehrerin machte mir die schönsten Hoffnungen. Schon nachdem ich kaum drei Monate bei ihr studirt hatte, ließ sie mich in einem Prüfungsconcert mit anderen ihrer Schülerinnen auftreten. Ich war besonders gut disponirt an dem Abend, und ich darf es jetzt wohl auch sagen, wo alle Eitelkeiten hinter mir liegen: ich war hübsch, und die Freude an dem Erfolg verschönte mich. Wie überströmte mich das Glück, Gerda, als ich meine Lieder unter rauschendem Beifall gesungen hatte und nun, im Künstlerzimmer neben dem großen Saal, auch meine Lehrerin mir gratulirte, mich auf die Stirne küßte und sagte: Sie sind noch im Werden, Kleine, aber es wird werden, wenn Sie fleißig fortfahren und vor Allem Ihre Gesundheit kräftigen. Und da, da kam noch das Herrlichste – Er. Er hatte vorne in der ersten Reihe gesessen und kein Auge von mir verwandt, das hatte ich wohl gesehen, obwohl ich das Herz nicht hatte, ihn auch nur Einmal geradezu anzuschauen. Nun ließ er sich durch einen musikalischen Freund mir vorstellen, und gleich waren wir, da er sah, daß Complimente mich stumm und verlegen machten, in einem ernsthaften Gespräch, wie alte gute Bekannte. Wie er mich beneide, sagte er, daß ich einer so liebenswürdigen Kunst mich in solcher Jugend gewidmet hätte, da jede Kunst ein volles Leben fordere. Er habe nur ein verkrüppeltes Leben vor sich, und in der Malerei, die er zur Ausfüllung seiner leeren Tage betreibe, werde er ewig nur ein Pfuscher bleiben. So traurig sah er dabei aus, nicht ein Zug von Koketterie in seinem blassen Gesicht, seine Stimme zitterte, er brach plötzlich ab und empfahl sich mit einer stummen Verbeugung.

Er hatte dirs angesehn, arme Unschuld, daß kein sichrerer Weg zu deinem Herzen führte, als das Mitleid.

Nein, Gerda, deine Liebe zu mir macht dich ungerecht. Ja, es ist wahr, ich fühlte von der Stunde an, daß kein anderer Mann mir je so theuer werden könnte. Aber glaube nicht, daß er nun die Rolle des beau ténébreux gespielt und mich durch Bekenntnisse seiner melancholischen Seele zu rühren gesucht hätte. Das nächste Mal, da wir uns in einer kleinen musikalischen Soirée begegneten, war er ganz heiter, ja bis zum kindischen Uebermuth, als die Wirthin, eine muntere junge Frau, nach Tische allerlei Gesellschaftsspiele vorschlug. Er hatte neben mir gesessen, und das Erste, was er mir sagte, war, daß er mich um Verzeihung dafür bat, nach jenem Concert mir etwas vorgeklagt zu haben. Wie um das wieder gutzumachen, unterhielt er mich von lauter lustigen Dingen. Wir wurden so gute Freunde, ich fühlte mich bei ihm so sicher wie bei einem Bruder, da er wirklich trotz seines langen schwarzen Bartes mir noch wie ein großes Kind vorkam; keinen Augenblick dachte ich, es sei Gefahr, mich in ihn zu verlieben. Und wie wir dann zusammen nach Hause gingen – natürlich nicht allein, die Tante hatte mir das Mädchen geschickt, und zwei andere Paare gingen desselben Weges – da bat er mich, ob ich ihm zu einem Porträt sitzen möchte, es meinen Eltern zu schicken, die hier auf dem Lande seit vier Jahren mich nicht hatten ordentlich photographiren lassen. Ich nahm seinen Vorschlag so gern an, mit Vorbehalt, daß die Tante einwilligen würde. Die aber, kaum hatte sie ihn gesehen, als er am andern Tag seine Aufwartung machte, – gleich war sie selbst in ihn verliebt und freute sich darauf, daß er nun eine ganze Woche lang zu den Sitzungen kommen würde. Ich kann nicht schildern, wie diese Tage vergingen; es waren vielleicht die glücklichsten, die ich erlebt habe, weil mir noch keine Leidenschaft die ruhige Wonne seiner Gegenwart trübte, weil wir noch zusammen lachten, wie zwei dumme junge Kinder. Als das uns nicht mehr genügte, als uns das Wort stockte, weil das Herz zu heftig schlug, und das Lachen verstummte, weil uns unser Glück so wie ein Schicksal überschauerte – – –

Sie schwieg und schloß wieder die Augen. Ein Hustenkrampf überfiel sie; das Tüchlein, das sie gegen die Lippen drückte, färbte sich roth.

Gerda hatte sich von ihrem niedrigen Sitz erhoben. Sie stand, die Hand aufs Herz gedrückt, dicht vor der zarten jungen Gestalt, die von dem Kampf in ihrer kranken Brust bis in die Fußspitzen erschüttert wurde, und sah in düsterem Schweigen auf das einst so liebliche Gesicht, die tief eingesunkenen Augen, die schmerzlich verzogene Stirn. Als der Anfall vorüber war, beugte sie sich zu der still Daliegenden herab und nahm ihr sanft das Tuch aus den Händen, mit ihrem eigenen das feuchte Gesicht trocknend.

Laß mir dein Tuch, Susi!

Was willst du damit?

Ich will – es soll mich an etwas erinnern – was ich freilich auch sonst nicht vergessen würde. Es ist ja blutig, Gerda.

Eben darum. Das unschuldige Blut soll mich daran mahnen, daß Einer lebt, der es auf dem Gewissen hat.

Sie wandte sich mit finsteren Augen ab und starrte durchs Fenster. Die Kranke erhob mühsam den einen Arm und haschte nach dem dunklen Kleide der Freundin, wie um sie von einem argen Thun zurückzuhalten.

Was hast du vor? hauchte sie. Um Gotteswillen, Gerda –!

Sei ruhig, mein Liebling! wehrte die Freundin ab. Ich will ihn nicht morden, obwohl er es zehnmal verdient hätte, da er dir das Herz gebrochen hat. Auch will ich ihm keine Scene machen. Wie kann man Jemand ins Gewissen reden, der keins hat? Aber gleichviel – so eine Art Blutrache, das schwöre ich dir, will ich doch vollstrecken.

Gerda!

Nein, ich hab' es nun einmal geschworen, eben jetzt, als du so jämmerlich vor mir lagst. Es soll ihnen nicht Alles so hingehn, diesen übermüthigen Herren der Schöpfung; nicht Alle vom schwächeren Geschlecht sollen anbetend vor ihnen in die Knie sinken und ihren Nacken hinhalten, daß sie den Fuß darauf setzen. Es wird freilich nur eine stille Execution werden, und keiner seiner frechen Brüder wird sich dadurch abschrecken lassen. Denn so lange die Sonne auf- und untergeht, wird sie auf arme Opfer blicken und auf erbarmungslos triumphirende Opferer! Aber gleichviel! Du wenigstens sollst gerächt werden, und dieser Eine soll büßen, was er gesündigt hat.

Eine kleine Stille entstand zwischen den beiden Mädchen. Die Kranke schien erst wieder Kraft sammeln zu müssen, bis sie sprechen konnte. Dann sagte sie, mit einem Nachdruck, wie man ihn dieser wunden Brust kaum noch zugetraut hätte: Ich verbiete dir das, Gerda, hörst du wohl? Du darfst ihm nichts Böses thun. Er ist nicht so schuldig, wie du glaubst. Gieb mir mein Tuch zurück!

Die Andere schüttelte den Kopf. Sie hatte das feuchte Tüchlein ruhig in ihre Tasche gesteckt und sagte jetzt: Rege dich nicht auf. Es wird ihn den Kopf nicht kosten. Aber beschworen ist's – so oder so. Wie? hat er sich nicht mit dir verlobt und dich dann schmählich verlassen, als du krank wurdest?

Unsere Verlobung blieb geheim. Die Eltern sollten nicht eher davon erfahren, als bis er irgend eine Stellung erlangt hätte. Ob die Tante etwas davon ahnte, weiß ich nicht. Als ich aber den ersten Anfall von Bluthusten hatte – mein übermäßiger Fleiß bei den Gesangstudien war Schuld daran, er hatte mich oft genug gewarnt – freilich blieb er da weg, aber nur um mich zu schonen. Er schrieb, er könne es nicht verantworten, mich durch seine Besuche aufzuregen. Er schickte mir noch mehrmals Blumen. Dann mußte er freilich verreisen – in dringenden Geschäften –

Gerda lachte höhnisch auf.

Ja, er mußte verreisen, einer kleiner Erbschaft wegen, fuhr die Kranke eifrig fort, und auf ihren wachsbleichen Wangen traten rothe Flecke hervor. Noch einmal schrieb er mir von jener Stadt aus – dann – dann wurde es schlimmer mit mir – die Tante konnte es meinen Eltern nicht mehr verbergen, die Mutter kam, mich hieher aufs Land zu holen, und seitdem – wie hätte er noch schreiben sollen, da unser Verhältniß nicht verrathen werden durfte? O Gerda, ich weiß, er hat am meisten darunter gelitten. Und jetzt, wenn du mich lieb hast, Gerda –

Was, Liebchen?

Schreib ihm, wie es um mich steht, daß ich – daß ich sterben muß, daß ich ihn nur noch ein einzigesmal sehen möchte – was ist jetzt für eine Gefahr dabei? Mögen es doch Alle wissen, daß wir uns geliebt haben – oh, nur noch einmal seine Augen über mir, seine Lippen auf meinen – dann – dann –

Sie drückte das Tuch gegen ihr Gesicht, die Augen flossen ihr über. Gerda neigte sich tief zu ihr hinab und flüsterte dicht an ihrem Ohr: Sage mir nur noch das, Susi: – ist es wahr? du hast ihm – Alles gegeben?

Einen Augenblick regte sich nichts in dem kleinen Zimmer. Nur die weißen Tüllgardinen am Fenster bewegten sich im lauen Abendwind.

Dann öffnete die Kranke die Augen weit, nickte kaum merklich mit dem Kopf und blickte mit einem verklärten Ausdruck gegen die weißgetünchte Zimmerdecke.

Verachte mich! hauchte sie, indem ein seliges Lächeln über ihre blassen Lippen ging. Ich bereue nichts, was ich für ihn gethan habe, in alle Ewigkeit nicht, und ob ich daran sterben soll. Ich weiß nun doch, warum ich gelebt habe. Es wäre freilich ein überschwengliches Glück, könnt' ich gesund werden und ihn für immer besitzen. Aber das wäre zu viel für ein armes, unbedeutendes Geschöpf, wie ich bin. Und so ist es am Ende besser – aber nicht wahr, du schreibst ihm?

Die Freundin hatte sich wieder von ihr entfernt und stand, ihr den Rücken wendend, an dem kleinen Bücherbrett, dem Bette gegenüber.

Er ist wieder in der Stadt, seit Wochen schon? fragte sie, statt zu antworten.

Die Kranke nickte.

Und da soll ich an ihn schreiben, wenn sein Herz ihn nicht selbst zu dir treibt? Wenn noch ein Funke von jenem Flackerfeuer in seinem Herzen glimmt – hätte er nicht längst zu deiner Tante gehen und von ihr erfahren müssen, in welchem Zustand du dich hier befindest? Und nun willst du, nachdem du ihm alle Schätze deiner jungen Liebe geschenkt hast, um ein Almosen bei ihm betteln? Am Ende gar auf diesen Bettelbrief die Antwort erhalten: es thue ihm leid, er sei beschäftigt, oder er wolle dich durch seine heuchlerische Zärtlichkeit nicht »aufregen«, es könne deiner Gesundheit schaden? Nein, Susi, dazu gebe ich mich nicht her. Wenn wir tödtlich gekränkt und beleidigt sind – zum Schauspiel für unsern Todfeind wollen wir uns nicht machen; lieber uns im dunkelsten Winkel verkriechen und lautlos verbluten, meinethalb mit einem Segenswort für unsern Mörder auf den Lippen, wenn unser Christenthum so weit reicht. Weißt du nicht mehr, wie wir heimlich mit einander den Vicar of Wakefield lasen und jene Verse auswendig lernten:

When gentle woman stoops to folly –?

wie es uns damals so richtig und erhaben schien, daß das betrogene Mädchen keinen anderen Weg hat, in ihrem Liebhaber Reue zu erwecken and wring his bosom, als to die? Nun, du hast es gar zu wörtlich befolgt, armes, geliebtes Herz. Aber ich wäre nicht deine wahre Freundin –

Der Eintritt der Mutter unterbrach sie.

Die etwas beschränkte alte Frau näherte sich, auf den Zehen schleichend, mit einer leidvollen Miene den beiden Freundinnen und sagte: Wie geht es, mein Täubchen? Wie finden Sie unsere Susi, Fräulein Luitgerda? Nicht wahr, besser als Sie gedacht hatten? Der Arzt meint auch, die Gefahr sei vorüber. Aber du darfst nicht mehr sprechen, Kindchen, ich habe dich wieder husten hören, du mußt dich zu Bett bringen lassen. Helfen Sie mir, liebes Fräulein, ich bin so froh, daß Sie heut gekommen sind, mir folgt das unartige Mädchen nicht mehr, am liebsten säße sie die halben Nächte am offenen Fenster, ganz als ob sie Jemand erwartete. Aber nun sind Sie ja gekommen und bleiben bei uns, nicht wahr? bis unsere Susi wieder ganz gesund ist, und erzählen ihr recht viel von Ihrer schönen Reise. O, gewiß wäre es nicht so weit mit ihr gekommen, wenn Sie nicht den ganzen Winter in Italien gewesen wären. Sie hätten es nicht zugegeben, daß unser Kind sich mit den Singstudien so überangestrengt hätte; meine Schwester versteht das nicht, sie hat sie gewähren lassen, bis es zu spät war. Nun, wir wollen sie schon wieder herauspflegen, nicht wahr, Fräulein Luitgerda?

Statt zu antworten, trat die Freundin zu der Kranken hin und sagte: Die Mama hat Recht, du mußt zu Bett, und wenn du eine Weile geruht, vielleicht geschlafen hast, komm' ich wieder zu dir und erzähle dir Allerlei. Jetzt sei aber ein gutes Kind und laß mich machen.

Sie hob das schmächtige Figürchen, wie ein Kind seine Puppe, aus dem Sessel und trug sie nach dem Bett, auf dem sie sie behutsam niederließ. Dann entkleidete sie die willenlos Hingesunkene, band ihr die blonden Flechten lose um das schmale Haupt und rückte ihr die Kissen zurecht. Ein müdes, dankbares Lächeln überflog die feinen, blassen Züge. Dann athmete sie tief auf, schloß die Augen und kehrte das Gesicht nach der Wand. Nur als die Mutter und Gerda schon bei der Thür waren, rief sie die Freundin noch einmal zurück. Gieb mir das Bild, flüsterte sie kaum hörbar. Ich kann nicht schlafen, wenn ich es nicht in der Nähe habe.

Die Andere that widerwillig, was sie gebeten worden war. Dann küßte sie das arme Kind auf den weichen Scheitel und schlich hinaus, der Mutter nach – –

Nicht viele Tage mehr sollte sie das schwindende Leben bewachen. Eine Woche nach dieser ersten Zwiesprach trug man die geknickte Menschenblume auf den Friedhof hinaus. Dicht hinter den Eltern ging die hohe, schlanke Gestalt des schönen Mädchens, thränenlos, mit düster gespannten Brauen. Als der Sarg hinabgesenkt und jeder fromme Brauch vollzogen war, zog die Freundin ein mit Blut getränktes Tuch aus der Tasche und winkte damit der Bestatteten in die Gruft nach. Die seltsame Geberde fiel Niemand auf. Man hatte die Todte sehr geliebt, und Aller Augen standen voll Thränen, die Niemand deutlich sehen ließen, was der Nachbar that.

*

Am Rande der Stadt München, in einer der neu aufgeschossenen Vorstädte steht ein unschönes hohes Haus, dessen dritter und vierter Stock durch je drei umfangreiche Atelierfenster hinlängliches Nordlicht erhält, um einem Halbdutzend des Malens beflissener junger Leute auf dem dornenvollen Pfade der Kunst voranzuleuchten.

Damit aber noch nicht genug: auch in dem steilen Dache, das über dem obersten Gesims aufsteigt, ist ein breites Viereck ausgebrochen und mit mäßig großen Scheiben, von denen nur eine zu öffnen ist, verglast worden. In dem hohen, oben spitz zulaufenden Raum dahinter, dessen leichte Sparrenwände nur mit einer dünnen grauen Tünche überstrichen waren, hatte seit fünf oder sechs Jahren eine aus dem nördlichen Deutschland hergezogene Malerin ihre Werkstatt aufgeschlagen und sich sofort mit solchem Eifer an eine große Leinwand gemacht, daß sie sich nur in den späten Abendstunden einen kurzen Spaziergang gönnte und mit keinem ihrer Haus- und Kunstgenossen den geringsten Verkehr anknüpfte. Ein sehr bescheidenes Kämmerchen bei einem Schneider im dritten Stock diente ihr nur zu einer Schlafstelle, ihre frugalen Mahlzeiten ließ sie sich Mittags und Abends von der Schneidersfrau in das Atelier hinauftragen und beschränkte sich auch dieser harmlosen Seele gegenüber auf den Austausch der nothwendigsten Mittheilungen.

So viel aber hatte die Frau mit der Zeit denn doch erkundet und den übrigen Insassen des Hauses vertraut, daß dieses Fräulein Molly, wie sie sich am liebsten nennen ließ, die Tochter eines invaliden Offiziers gewesen, in dessen Pflege sie ihren brennenden Ehrgeiz, eine große Künstlerin zu werden, viele Jahre lang hatte zurückdrängen müssen. Nach des Alten Tode hatte sie dann all ihren Hausrath zu Gelde gemacht und sich beeilt, da sie nicht mehr die Jüngste war, in der großen süddeutschen Kunststadt sich anzusiedeln, um den Traum ihrer jungen Jahre zur Wirklichkeit zu machen. Ihr kleines Vermögen reichte gerade hin, um bei großer Sparsamkeit etliche Jahre an die Schöpfung eines bedeutenden Gemäldes zu setzen. Wenn dieses alsdann den erwarteten Erfolg haben würde, wäre sie auf Einen Schlag berühmt geworden und hätte sich um die Mittel zu ihrem ferneren Unterhalt keine Sorge zu machen brauchen.

Mehrere Monate hatte sie dann auf die Vorstudien gewendet und Tag für Tag Modelle gehabt, nur weibliche, da der Gegenstand ihres Bildes die Parabel von den fünf thörichten Jungfrauen war. Der nächste Winter war über der Ausführung des Entwurfs vergangen, und die Schneidersfrau, die sich im Verkehr mit Künstlern eine große Sicherheit im ästhetischen Urtheil erworben hatte, sprach von der Leistung ihrer Mietherin mit entschiedener Anerkennung.

Das hatte endlich Einen und den Andern der jungen Maler neugierig gemacht, und Einer nach dem Andern hatte unter einem schicklichen Vorwande an der Speicherthür des fünften Stockes angeklopft und sich bei der Collegin eingeführt. Was sie da zu sehen bekamen, war freilich derart, daß sie in Verlegenheit geriethen, wie sie die Gebote der Courtoisie einem Fräulein gegenüber mit den Forderungen ihres Gewissens in Einklang bringen sollten …

Ein gewisses Talent freilich war in dieser großen Composition nicht zu verkennen, aber eines, das sich vor eine Aufgabe gestellt sah, an die es in keiner Weise hinanreichte. Die fünf leichtsinnigen jungen Mädchen, die in einer offenen Halle mit ihren erloschenen Lämpchen sich dem Schlaf überlassen hatten, während ihre klügeren Gefährtinnen in einiger Entfernung vor einem stattlichen Hausportal mit ihren Lampen eine Art Fackeltanz um den Bräutigam aufführten, waren nicht ohne Geschick auf verschiedene Polster und Teppiche hingelagert und zeigten auch in ihrer Färbung, daß keine ungeübte Hand den Pinsel geführt hatte. In der Zeichnung aber, zumal den vielen Verkürzungen, trat eine rührende Hülflosigkeit zu Tage, da die Künstlerin bisher offenbar nur in kleinem Maßstabe sich versucht und den Mangel einer gründlichen Vorbildung leicht hatte vertuschen können.

Ihre Besucher hüteten sich wohl, mit ihrem Urtheil unumwunden herauszurücken. Die Collegin, die mit bescheidener Spannung neben ihrem Erstlingswerke stand, den Malstock geschultert, die große Palette gesenkt, hatte ein gar zu gutes Gesicht, dessen grobe, unschöne Züge von schlichter Güte verklärt wurden. Dazu kam, daß sie selbst mit einem humoristischen Behagen an der Selbstverkleinerung auf die Mängel ihrer Arbeit hinwies, allerdings wohl in der Hoffnung, die Beschauer möchten günstiger urtheilen, als sie selbst. So hatte denn Keiner den Muth, offen zu bekennen, daß hier noch nichts Lebensfähiges geleistet sei, sondern Jeder suchte sich mit einer gewundenen Rede aus dem Handel zu ziehen, um sich zunächst das freundliche Verhältniß zu der Collegin nicht zu verscherzen.

Auch ihre Aeußerung, das Bild solle demnächst auf dem Kunstverein ausgestellt werden, nahm man ohne jede Warnung als etwas Selbstverständliches hin und bedauerte nur hernach hinter dem Rücken der kühnen Dame, daß sie sich einem Heiterkeitserfolge aussetzen wolle, da sie doch sonst ein liebenswürdiges und gescheites Frauenzimmer zu sein scheine.

Einem einzigen der jungen Leute ließ die Sache keine Ruhe. Um sein Gewissen zu entlasten, setzte er sich einige Nachtstunden hindurch hin und verfaßte ein langes, höfliches Schreiben, in welchem er der geschätzten Collegin zu erklären versuchte, warum ihr Bild noch unzulänglich sei und nicht dazu angethan, das öffentliche Urtheil siegreich herauszufordern.

Am andern Morgen schickte er die Epistel durch die Schneidersfrau hinauf und erwartete mit Herzklopfen das Ergebniß seiner Bemühungen. Erst am Nachmittag kam eine Karte von Fräulein Molly, sie bitte ihn, sich in ihr Atelier hinaufzubemühen.

Hier empfing sie ihn mit der heitersten Miene, streckte ihm beide Hände entgegen und führte ihn vor das verurtheilte Gemälde, das mit einem Tuch verhängt war. Sie werden eine vortheilhafte Veränderung finden, sagte sie mit einem eigenthümlichen Lächeln. Ihre offenherzige Kritik, die ich Ihnen herzlich danke, hat mich dermaßen erleuchtet, daß ich mich eilig bemüht habe, was noch fehlte, hinzuzuthun.

Damit zog sie das Tuch von dem Blendrahmen fort, und der betroffene junge Kritiker erblickte am Rande des Bildes, durch eine improvisirte Thüröffnung hereinschauend, das drollig carikirte, aber sprechend ähnliche Profil der Malerin selbst, die einen spöttischen Blick auf das schlummernde Damenkränzchen warf und mit einem hochaufflackernden Lämpchen, das sie weit in den Raum hineinstreckte, die Scene beleuchtete.

Die Worte versagten ihm, das Fräulein zog ihn aber sofort aus der Verlegenheit, indem sie sagte: Die Idee ist gut, nicht wahr? wenn ich auch nur Zeit hatte, diese sechste thörichte Jungfrau, der plötzlich ein Licht aufgegangen ist, bloß mit ein paar groben Strichen hinzuklecksen. Das Licht aber haben Sie ihr aufgesteckt, und nun will ich dafür sorgen, daß es nicht wieder ausgeht.

Der sehr überraschte Kunstgenosse wußte nichts Besseres zu thun, als der tapferen klugen Jungfrau hochachtungsvoll die Hand zu drücken. Sie blieben dann noch ein Stündchen beisammen, und der junge Freund, um etwas Balsam auf die Wunde zu träufeln, setzte dem Fräulein auseinander, sie dürfe darum nicht irre werden an ihrer künstlerischen Zukunft, da es mit dergleichen Gegenständen überhaupt ein- für allemal vorbei sei, und selbst Rafael, wenn er wieder aufstünde, sich in einer unhaltbaren Stellung befinden würde gegenüber der einzig lebensfähigen neueren Richtung, die auf ein intimeres Verhältniß zur Natur und auf ein Hineingreifen in das simple volle Menschenleben dringe.

Die Frucht dieser trefflichen Aufschlüsse über das Eine, was der Kunst noththue, war eine neue Arbeit von dem gleichen großen Umfang, an welche die Künstlerin gleich am nächsten Morgen Hand anlegte. Das neue Bild stellte das Innere einer ärmlichen Hütte dar, in welcher eine hungernde und fieberkranke Weberfamilie in dumpfem Elend vor sich hinstierte. Durch das kleine Fenster sah ein Stück einer Schneelandschaft herein, der hagere, hohläugige Familienvater hatte eben begonnen, mit der Axt den Webstuhl zu zertrümmern, um Feuerung für den erloschenen Ofen zu verschaffen. Studien dazu hatte die Malerin vor Jahren auf einer schlesischen Reise gemacht, und an zerlumpten Modellen war auch in den ärmeren Stadtvierteln Münchens kein Mangel.

Die Arbeit schritt unter dem aufmunternden Antheil der jungen Leute rüstig fort, kam aber plötzlich ins Stocken. Fräulein Molly mußte den großen Pinsel weglegen, um in aller Eile ein Brautgeschenk für eine junge Verwandte anzufertigen, einen mit Blumen und kleinen Putten zierlich decorirten elfenbeinernen Fächer, dergleichen sie früher, ehe sie sich noch in die große Kunst gestürzt, vielfach zu Stande gebracht hatte. Dies Kunstwerkchen gerieth so ausbündig reizvoll und virtuos, daß es auch auf dem Kunstverein, wo es eine Woche ausgestellt blieb, allgemein bewundert wurde und der Künstlerin zwei Bestellungen ähnlicher Art eintrug. Sie nahm dieselben halb seufzend, halb geschmeichelt an und grub aus ihren Mappen eine Menge Blumenstudien und Zeichnungen nach Kindern aus, die sie bei dem Antritt ihrer Münchener Laufbahn höchlich verachtet hatte. Da sie nun eine verständige Person war und bald empfand, daß sie jetzt erst wieder machte, wozu ihre Kräfte ausreichten, auch ihr kleines Kapital inzwischen so zusammengeschmolzen war, daß sie bald auf einen ehrlichen Verdienst angewiesen sein mußte, so faßte sie eines schönen Morgens einen heroischen Entschluß, kehrte die Leinwand mit dem Hungerbilde gegen die Wand und fühlte, daß ihr ein Stein vom Herzen gefallen war, da sie zuletzt ihr eigenes Werk nicht ohne stilles Grauen und einen fast körperlichen Schmerz hatte betrachten können.

Ueber diese Umkehr auf dem Wege zum Ruhm wurde zwischen ihr und ihren malenden Hausgenossen nicht viel gesprochen. Doch schienen es Alle stillschweigend zu billigen, daß in der gewaltig hohen und weiten Werkstatt statt lebensgroßer »Maschinen« nur noch Werke der Kleinkunst zu Stande kamen, und in geselliger Hinsicht erwies sich die Wandlung nur von günstigen Folgen. Denn zu den sechs Malerjünglingen, die fleißig im fünften Stock vorsprachen, fanden sich jetzt auch Colleginnen ein, um die Bekanntschaft der talentvollen Fächermalerin zu machen, und da Fräulein Molly mit ihrem trockenen Humor, ihrer Selbstverspottung und dem warmen Herzen für Kunstgenossen beiderlei Geschlechts etwas Erquickliches und Erwärmendes hatte, wuchs der Kreis, der sich um sie bildete, im Lauf eines Jahres so stetig an, daß sie keine Stunde am Tag ungestört blieb und in dem Getümmel nicht mehr zu gedeihlichem Arbeiten kam.

Da verfiel sie auf den Ausweg, einen offenen Abend einzurichten. Jeden zweiten Samstag wollte sie für ihre Freunde und Freundinnen zu Hause sein, falls sie sich an einer mäßigen Bewirthung mit Butterbroden und einem Glase genügen lassen wollten. Ihre Arbeiten wurden ihr so glänzend bezahlt, daß sie sich diesen bescheidenen Aufwand erlauben konnte.

Hierauf war man allerseits mit großer Freude und Dankbarkeit eingegangen, und die offenen Abende bei »Tante Molly«, wie man die Freundin hinter ihrem Rücken nannte, genossen mit ihrer zwanglosen Munterkeit, den musikalischen Productionen, von Mitgliedern ausgeführt, und den tugendhaften kleinen Liebesromanen, die hier sich anzettelten, eines wohlverdienten Rufes. Etwa ein Dutzend junger Künstler und ungefähr die gleiche Zahl jüngerer und älterer »Malweibchen«, wie Fräulein Molly sie titulirte, bildeten die stehende Gesellschaft, zu welcher dann und wann ein Fremdling oder ein gutbeleumundeter Hospitant hinzukam. Punkt halb Zwölf wurde durch drei Schläge auf einem Tamtam das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Sonst hatte die Gesellschaft keinerlei Satzungen, da ihr Grundsatz war: »Erlaubt ist, was Tante Molly gefällt«, und nur dem Einen Gesetz mußte sich Jeder unterwerfen, daß alles Gezänk über »Richtungen« ein- für allemal verpönt und es bei Strafe von zehn Pfennigen in eine Vergnügungskasse verboten war, gewisse Schlagworte, als: Idealismus, Naturalismus u. s. w., in die Unterhaltung zu mischen.

*

Das war einen Winter lang zu allgemeiner Befriedigung so fortgegangen, und man hatte sich am Samstag vor Ostern mit der Vertröstung auf fröhliches Wiedersehen im Herbst getrennt.

Als man zum erstenmal, zu Anfang October, sich unter Tante Molly's hohem Dach wieder versammelte, wurden die Gäste bis auf die Hausgenossen durch eine Neuerung überrascht, die großen Beifall fand. Das sehr schmucklose Atelier freilich hatte keinen Zuwachs an behaglicher Ausstattung gewonnen, außer einigen hübschen neuen Skizzen, die von dankbaren Verehrern hineingestiftet worden waren. In eine der Seitenwände aber war eine kleine Thür gebrochen, durch die man in den bisher ganz unwirthlichen Speicherraum gelangte. Nun hatten es die jungen Künstler bei dem Hausbesitzer durchgesetzt, daß ihnen ein ansehnlicher Theil dieser dunklen Höhle überlassen wurde, den sie, um ihren geselligen Abenden etwas mehr Luft zu schaffen, mit den einfachsten Mitteln lustig genug ausgeschmückt hatten. Unter den Dachsparren waren breite Teppiche zeltartig ausgespannt, der rissige Fußboden mit einem Linoleum-Ueberzug geebnet, in einem Winkel eine Sennhütte aufgebaut worden, die als Schenke und Buffet dienen sollte. Durch den ganzen vielwinkligen Raum aber floß ein buntes, röthlich-, bläulich- und goldgelbes Licht aus großen chinesischen Ballons, die an sanftgeschwungenen Schnüren von Balken zu Balken hingen und gerade das richtige geheimnißvolle Zwielicht verbreiteten, bei welchem hübsche Gesichter noch reizender erscheinen und muntere kleine Scenen sich noch phantastischer ausnehmen.

Denen, die sich pünktlich um acht Uhr einstellten, war jedoch nur erst ein verstohlener Blick in die neue Herrlichkeit gestattet. Die Herrin des Hauses, die in gewohnter Traulichkeit ihre Gäste empfangen hatte, schien noch auf Jemand zu warten, und nur Einer und der Andere der jungen Maler verschwand hin und wieder geheimnißvoll durch die Seitenthür, wie wenn es sich da drinnen um Vorbereitungen zu großen Dingen handelte.

Unter den männlichen Theilnehmern befand sich Einer, der sowohl durch seine Gestalt als durch sein Betragen sich von den Anderen unterschied. Ein Kopf wie von einem Paul Veronese oder Tintoretto, die klaren, männlich schönen Züge von einer feinen Blässe überhaucht, das Haar kurz gehalten, der lange, seidenglänzende schwarze Bart bis auf die Hälfte der Brust herabfallend. Dieses edle Haupt erschien auffallend klein durch den breiten Torso, auf dem es saß, und die ganze Erscheinung hätte für ein Muster männlicher Kraft und Schönheit gelten können, wenn der Wuchs etwas mehr über das mittlere Maß hinausgereicht und irgend ein Schaden am linken Fuß nicht ein leichtes Nachschleppen desselben verursacht hätte. Auch mit diesem Gebrechen aber war der junge Gast – er konnte nicht über Dreißig zählen – ohne Frage die anziehendste Figur in dem Kreise der Malerfreunde, unter denen doch mancher anmuthige Juvenil sich sehen lassen konnte, und auch der weibliche Theil der Gesellschaft schien hierüber einverstanden zu sein. Denn sobald sich der Hinkende einer der jungen Damen näherte, um eine unbedeutende Conversation anzuspinnen, überflog das Gesicht der so Ausgezeichneten ein rasches verrätherisches Roth, die Augen wurden glänzender, und die Nachbarinnen betrachteten sie mit unverhohlenem Neide.

Der junge Mann selbst schien den Eindruck, den er machte, nicht zu beachten. Er zeigte sich heut zum erstenmal in diesem Kreise und betrachtete Alles, die Wände, das Geräth und die Menschen, die sich dazwischen herumbewegten, mit einer naiven Neugier, die ihn sehr gut kleidete. Besonders wenn er lachte, wobei seine blanken Zähne unter dem dunklen Bart vorglänzten, erhielt sein Gesicht einen anziehend jugendlichen Ausdruck, während die Augen fortfuhren, zerstreut und träumerisch zu blicken.

Vor wenigen Tagen erst hatte ihn ein junger Hausgenosse, der von seinen italienischen Genrebildchen den Beinamen Beppo oder der Sorrentiner erhalten hatte, bei der Fächermalerin eingeführt. Er hatte dem Fräulein mitgetheilt, dieser Fremdling, den er auf dem Actsaal kennen gelernt, habe viel Talent, obwohl er eigentlich seinen Beruf verfehlt habe, nicht nur weil er seiner Verwundung wegen als Offizier unmöglich geworden, sondern weil er eigentlich von der Natur dazu geschaffen sei, selbst zum Modell zu dienen, statt nach Modellen zu zeichnen. Fräulein Molly, die mit schönen Menschenbildern einen eifrigen Cultus trieb, hatte diesen Neuling sogleich in Affection genommen und ihn zu dem Eröffnungsabend eingeladen. Da es Brauch war, daß sich alle Theilnehmer an den offenen Samstagen nur nach ihren Vor- oder Spitznamen nannten, hatte sie den neuen Gast einfach als Herrn Hubert vorgestellt und den Premier-Lieutnant a. D. unterschlagen, mit einem gewissen Stolz, daß ihr ein so glänzender Fisch ins Netz gegangen war. Befragt um seine bisherige Künstlerschaft, hatte der Novize sich höchst bescheiden geäußert, wie ein guter Schüler, der in eine höhere Klasse versetzt worden, den neuen Mitschülern mit der Bitte um gute Kameradschaft entgegentritt. Die männlichen Collegen behandelten ihn mit etwas herablassender Gemüthlichkeit, die »Malweibchen« flüsterten sich in die Ohren, er sei ein reizender Mensch und werde gewiß furchtbar talentvoll sein.

So stand und saß und plauderte man durcheinander und fing an, das Warten auf den eigentlichen Beginn des Festabends lästig zu finden. Fräulein Molly sah mehrmals ein wenig nervös nach der Uhr und trat endlich zu dem Divan, auf welchem die ansehnlichste weibliche Person, eine schon ältliche berühmte Stillleben-Malerin, mit einigen Colleginnen, dem neuen Gast und seinem Trabanten, dem Sorrentiner, sich unterhielt.

Ich erwarte noch einen Gast, sagte die »Tante«, sich entschuldigend, eine neue Bekanntschaft, die ich erst vor Kurzem gemacht habe. Ein sehr schönes Mädchen, Fräulein Luitgerda R***, die Tochter eines höheren Beamten, der vor einigen Jahren gestorben ist und seine Wittwe mit diesem einzigen Kinde zurückgelassen hat. Sie kam in mein Atelier, um sich im Auftrag einer befreundeten Dame nach meinen Preisen zu erkundigen. Ich war gleich ganz bezaubert von ihrem Gesicht – so was Südliches, Racemäßiges, und welche Gestalt! Na, ihr werdet sie ja sehen; ich hielt sie gleich für unsere Samstage fest, obwohl sie nicht malt und versichert, sie habe überhaupt kein Talent. Aber wer so aussieht, daß er andere Talente inspirirt, braucht nicht selbst mitzuthun. Wenn mir der Himmel ein anderes Gesicht beschert hätte, wäre ich vielleicht auch nicht darauf verfallen, der Schönheit bei Anderen nachzulaufen, sondern hätte mich mit meinem Spiegel begnügt. Ich will nicht sagen, daß man nicht sehr hübsch sein kann und doch Talent haben. Sie brauchen sich nicht gekränkt zu fühlen, meine Damen, Sie haben das bessere Theil erwählt. Aber wenn Sie diese reizende Person sehen – na gottlob, da ist sie ja endlich!

Die Thür ging auf, und die ungeduldig Erwartete trat ein. Ihr langes Ausbleiben und das Rühmen, das die leicht entzündbare Wirthin von ihr gemacht, hatte die empfindlichen Künstlerinnen, die nur zum kleinsten Theil um ihrer körperlichen Reize willen auf Talent hätten verzichten können, in eine gereizte Stimmung gegen die Unbekannte gebracht. Sie hatten sich vorgenommen, diese gepriesene Schönheit mit sehr kritischen Augen anzusehen. Als sie aber vor ihnen stand, in ganz einfachem Kleide, das aber ihrem edlen Wuchs aufs Vortheilhafteste sich anschmiegte, mit einem stillen, höflichen Neigen des schönen Kopfes, und ihre Verspätung mit der entfernten Wohnung entschuldigte, gar nicht wie eine verwöhnte junge Schönheit, die es als eine Gnade ansieht, wenn sie überhaupt irgendwo erscheint, waren die guten Mädchen, die alle eine ehrliche Passion für auserlesene Naturgeschöpfe hatten, sofort entwaffnet. Vollends gewann es der reizenden weiblichen Gestalt alle Herzen, daß ihr an der Bewunderung der jungen Herren, die sich deutlich genug aussprach, nicht das Mindeste gelegen schien. Sogar den vielumworbenen Hubert streifte sie nur mit einem kalten Blick, bemühte sich dagegen aufs Liebenswürdigste um die gute Meinung ihres Geschlechts und sprach mehrmals ihren Dank aus, daß man ihr, als der einzigen Nichtkünstlerin, gleichwohl so freundlich entgegenkam.

Nun endlich konnte die kleine Thür zu dem geheimnißvollen Nebenraum geöffnet und die Gesellschaft, die Damen voran, zum Eintritt eingeladen werden. Sie hatten aber kaum auf einigen Bänken und Stühlen Platz genommen und die Augen an das bunte Zwielicht gewöhnt, als eine polternde Stimme sie erschreckte, die aus dem hintersten Winkel hervortönte. Eine wunderliche, graugekleidete, mit Spinnweben behängte Koboldfigur kam zum Vorschein und gab sich als den Schutzgeist des Hauses zu erkennen, der hier auf dem Speicher seine stille Klause habe und dafür sorge, daß es in diesen obersten Regionen ruhig und nicht feuergefährlich zugehe. Nun sehe er mit Widerwillen eine wilde Schaar eindringen und nicht nur allerlei Illumination an die alten Sparren befestigt, sondern blitzende Augen durch die Dämmerung funkeln, so daß er für Feuerschaden nicht mehr einstehen könne. Die Ratten und Mäuse, die hier oben seine einzige Gesellschaft gewesen, seien ihm tausendmal lieber, als all die geputzten Fräuleins, und der Hauskater, der sich manchmal hinaufversteige, führe gewiß einen harmloseren Wandel, als die schwarzbärtigen jungen Herren, die sich, ohne um Erlaubniß zu bitten, in sein Revier eingedrängt hätten.

Er schwang, nachdem er seine Kapuzinerpredigt in Knittelreimen beendigt, einen langen Stecken und schien gesonnen, sein Hausrecht thätlich auszuüben, als ihm von der anderen Seite ein zierliches, in Silberflor gekleidetes Wesen entgegentrat, das mit einem goldenen Malstock seine Angriffsgeberde parirte. Er sei der Genius der Kunst, erklärte er, und wohl werth, hier Gastfreundschaft zu genießen, zumal es sein Werk sei, daß die öden, dumpfen Hallen ein so wohnliches Aussehen gewonnen hätten. Hieraus entspann sich ein munterer, mit allerlei persönlichen Anspielungen auf Molly und ihre Gäste gewürzter Dialog, der mit einer ehrlichen Versöhnung des ungleichen Paares endete, unter lebhaftem Applaus der sehr erheiterten Gesellschaft. Die junge Malerin, die den Genius gemacht, wurde von ihren Freundinnen umarmt; der Kobold, der das kleine Spiel gedichtet, entledigte sich seines Spinnwebengewandes und setzte sich sofort an ein altes, noch leidlich dienstfähiges Klavier, um mit zwei geigenden Freunden ein Mozart'sches Trio zu executiren. Auf dieses edle Tonstück, das in dem weiten Raum, Dank dem Zeltdache, einen herrlichen Eindruck machte, folgten ein paar ungarische Lieder, von einem hübschen Mädchen zum Klavier gesungen, dann noch eine Violin-Sonate, des Spielers eigene Composition, deren die Freunde, wie der junge Meister bat, »schonend sich erfreuten«, und hiemit war der erste Theil des Festprogramms zu Ende.

Alles erhob sich, um sich bei der Sennhütte, in deren Schatten ein Fäßchen lag, nach so vielen Kunstgenüssen leiblich zu erfrischen. Die Maler hatten es sich nicht nehmen lassen, wenigstens für diesen ersten Abend die Kosten der Ausschmückung und Bewirthung allein zu tragen, und machten nun die galanten Wirthe, indem sie die Damen bedienten, wobei es an allerlei Späßen und kleinen Courmachereien nicht fehlte, so daß bald eine ungebundene Fröhlichkeit die beiden hohen Räume durchhallte. Da fast alle Theilnehmer an dem kleinen Fest in harter Arbeit sich ihr Leben zu verdienen hatten, gaben sich Alle mit anspruchslosem Behagen der glücklichen Stunde hin und genossen mit vollen Zügen, was ihnen als des Lebens Ueberfluß nach sauren, oft kümmerlichen Wochen erscheinen mußte.

Am Stillsten von Allen waren die Zwei, die heute zum erstenmal Zugang in diesen Kreis gefunden hatten. Man hatte es gleichsam selbstverständlich gefunden, daß die beiden Schönsten, als die sie neidlos anerkannt wurden, auf einander angewiesen seien. Keinem der Mädchen fiel es ein, mit der reizenden Fremden rivalisiren zu wollen, und als Hubert sich ihr näherte und den Platz neben ihr einnahm, sagte sich jeder der jungen Männer, wenn auch mit einem heimlichen Seufzer, daß es Thorheit wäre, ihm das Recht der Meistbegünstigung streitig zu machen.

Die Schöne aber gab durch nichts zu erkennen, daß sie sich durch die Huldigung des Interessantesten unter den Männern sonderlich geschmeichelt oder gar tiefer berührt fühle. Sie überließ sich ganz dem Genuß der verschiedenen poetischen und musikalischen Leistungen und antwortete auch in den Pausen nur einsilbig auf das, was ihr Nachbar an sie hin redete. Von dem Glase, das er ihr brachte, nippte sie nur und gab es gleich wieder zurück. Dann stand sie auf und gesellte sich wieder zu den Mädchen, die sich in das Atelier zurückgezogen hatten. Sie wurde dort befragt, ob ihr nicht ganz wohl sei, da ihre Blässe auffiel und ein schweres Athmen, das zuweilen ihre schöne junge Brust zu beklemmen schien. Sie versicherte, sie habe sich nie wohler befunden, sie habe in der Regel wenig Farbe, und nur die Hitze in dem überfüllten Speicherraum habe sie ein wenig beengt. Molly brachte ihr ein Glas Wasser, das sie begierig auf Einen Zug austrank. Ihre Augen starrten dabei mit einem seltsamen Ernst ins Leere.

Sieh nur ihr Profil, flüsterte eine der Malerinnen einer Freundin zu. Wie eine Hagar in der Wüste, oder eine Judith. – Wie kommst du nur auf so semitische Vergleiche? erwiderte die Andere. Sie hat doch eher einen römischen oder florentinischen Typus. Ich muß eine Studie nach ihr machen, wenn sie sich nur dazu hergiebt. Seltsam, so lieb sie ist, etwas Unnahbares bleibt ihr doch eigen, ich könnte nie »Du« zu ihr sagen. Aber ich bin geradezu verliebt in sie. Ob sie unglücklich ist, oder etwa eine hoffnungslose Leidenschaft hat?

Der Gegenstand dieser heimlich spähenden Neugier hatte sich wie erschöpft auf den Divan gesetzt und mit der ungarischen Sängerin, die »Tante Molly's Hauslerche« genannt wurde, in ein trauliches Plaudern eingelassen.

In der kleinen Thür, die in den Speicherraum führte, stand Hubert und sah zu den beiden Mädchen hinüber. Eine seltsame Befangenheit schien sich seiner bemächtigt zu haben. Er strich sich mit der schönen, schlanken Hand durch den langen Bart, und seine dunklen Brauen zogen sich nachdenklich zusammen.

Sie observiren das neue Gestirn, hörte er jetzt seinen Freund und Bewunderer Beppo dicht neben sich sagen. Am Ende verbrennen Sie sich schon über Nacht an diesen kühlen Strahlen.

Die Sterne die begehrt man nicht, erwiderte der Andere mit einem Achselzucken.

Ja, wir Spatzen, lachte der Maler. Aber ein Adler wie Sie? Im Ernst, wie finden Sie sie?

Einstweilen suche ich sie noch, und wer weiß, ob das Finden der Mühe lohnt. Aber um die Zeit zu vertreiben, giebt man sich ja auch einmal mit einem Räthsel ab.

Ein Räthsel, das so wundervolle Augen hat, ist doch wohl der Mühe werth, auch wenn dahinter nur eine stolze Kokette stecken sollte; ich meine, die die Stolze spielt, um Männer zu fangen.

Sie sind ganz auf dem Holzweg, Beppo. Der ist es Ernst mit ihrer Unnahbarkeit. Sie muß Erfahrungen gemacht haben. Jedenfalls ist sie ein lebensgefährliches Wesen, und man muß sich in Acht nehmen, sich nicht zu tief mit ihr einzulassen.

Der Sorrentiner lachte verdutzt auf. Er war überzeugt, daß seinem Freunde, den er neidlos als den unüberwindlichsten Weiberbändiger anstaunte, selbst diese Eroberung nur ein Spiel wäre, wenn er es darauf anlegte. Nun, murmelte er, als Hubert ihn verließ und in das Atelier trat, Sie scheinen sich nicht gerade zu fürchten vor dieser Lebensgefahr. Waidmann's Heil!

Hubert näherte sich den beiden Mädchen auf dem Divan, deren Gespräch sofort verstummte.

Erlauben mir die Damen, mich zu ihnen zu setzen? fragte er mit seiner wohlklingenden Stimme. Das Stehen wird einem hinkenden armen Teufel schwer.

Gerda veränderte keine Miene. Sie nickte nur leicht mit dem Kopf, wandte sich dann wieder zu der Hauslerche und setzte das unterbrochene Geplauder fort. Erst nach einer Weile, da eine kleine Pause eintrat, sagte Hubert, der auf einem kleinen Malschemel Platz genommen hatte:

Sie waren kürzlich in Italien, gnädiges Fräulein?

Ja, den letzten Winter.

Ich kenne das gelobte Land nur wenig, da ich, kurz nachdem ich Offizier geworden war, drei Wochen Urlaub hatte. Ich kam nur bis Florenz. Ich beneide Sie um Alles, was Sie in sechs ganzen Monaten dort gesehen und erlebt haben mögen.

Oh, sagte Gerda und sah ruhig an ihm vorbei, es kommt darauf an, wie und unter welchen Umständen man die Dinge sieht und erlebt. Das Beste kann seinen Reiz verlieren in einer Lage und Umgebung, die uns um die rechte Stimmung bringt. Ich fühlte mich beschränkt während der ganzen Zeit; ich hatte das Anerbieten einer alten Dame angenommen, sie zu begleiten, da ich nicht wohlhabend genug bin, um aus eigenen Mitteln eine italienische Reise bestreiten zu können. Aber ich ertrage keine Abhängigkeit, außer von Personen, die ich sehr liebe. Und so haben die schönsten Wunder der Kunst und Natur manchmal mich nicht viel glücklicher gemacht, als eine herrliche Küstenlandschaft den Galeerensklaven, der an ihr vorbeirudert, mit der Kugel am Bein.

Die junge Ungarin lachte. Sie brauchen starke Bilder, Fräulein Gerda.

Und dann, fuhr das schöne Mädchen fort, und ihre Stimme wurde rauher – als ich nach Hause kam, wartete meiner ein Kummer, der über die ganze sonnige Herrlichkeit des Südens einen schwarzen Schatten warf: der Tod einer Freundin, mit der ich im Institut sehr intim gewesen war, obwohl sie einige Jahre jünger war, als ich. Darüber konnten mir alle Rafaels und Michelangelos nicht hinweghelfen.

Eine kleine Pause trat ein

Woran starb sie? fragte die Ungarin, eine mitleidige Miene machend, nur um etwas zu sagen.

An einer Krankheit, die von der ärztlichen Schulweisheit geleugnet wird, aber doch nicht aus der Welt zu schaffen ist, obwohl sie jetzt ein wenig aus der Mode kommt: an gebrochenem Herzen. Sie war von einem Manne betrogen worden, den sie zu heiß geliebt hatte. Dergleichen ist ja alltäglich, doch wem es just passiret –

In diesem Augenblick klangen aus dem Nebenraum die ersten Tacte eines Walzers herüber, der auf dem Klavier gespielt wurde. Zugleich erschienen im Atelier einige junge Leute, sich Tänzerinnen zu holen. Einer zog die Ungarin auf, ein anderer verneigte sich vor Gerda. Sie entschuldigte sich, daß ihr das Tanzen vom Arzt verboten sei, und der junge Mann entfernte sich mit betrübter Miene.

Hubert blieb allein mit ihr.

Er hatte, als sie der gestorbenen Freundin erwähnte, durch keine Bewegung verrathen, daß ihn eine peinliche Erinnerung überkam. Er fuhr fort, eine kleine Tube spielend zwischen den Fingern zu drehen, die er von Molly's Maltisch genommen hatte. Jetzt lächelte er sogar, jenes Lächeln eines verwöhnten Kindes, für das alles Beste gerade gut genug ist.

Wie dankbar bin ich Ihrem Arzt, sagte er, daß er ein Vorurtheil gegen das Tanzen hat. Denn offenbar überschätzt er die nachtheiligen Folgen für Ihre Gesundheit, mein Fräulein, da Sie, wie man in Italien sagt, doch gewiß salute da vendere haben, dem äußeren Anschein nach. Mir wird nun aber das Glück zu Theil, Sie ein wenig für mich zu haben. Oder hätten Sie gar aus himmlischem Erbarmen mit einem armen Invaliden jenes Verbot nur vorgeschützt, um mich nicht allzu schwer empfinden zu lassen, daß hinfort Spiel und Tanz für mich vorbei ist?

Sie streifte ihn nur mit einem kalten Blick und erhob sich rasch.

Ich bedaure, sagte sie, daß ich diese schmeichelhafte Auslegung nicht gelten lassen kann. Ich habe wirklich nicht einen Augenblick an Sie dabei gedacht, und wenn ich auch nicht selbst tanze, so seh' ich doch gern dem Tanzen zu. Ich dächte, wir verfügten uns in den Ballsaal.

Damit schritt sie, ohne auf ihn zu warten, auf die kleine Thüre zu, und er folgte ihr, sehr unzufrieden mit sich selbst, daß er noch nicht weiter gekommen war, vielmehr sich eine offenbare Niederlage geholt hatte.

*

Es war lustig anzuschauen, wie in der sanften Dämmerung unter den im Luftzug leise schwingenden Lampions die Paare sich auf dem glatten Linoleum-Estrich herumschwangen, während jetzt Tante Molly am Klavier saß und unermüdlich einen Tanz nach dem andern spielte. Erst nach einer ausführlichen Franchise und zwei Rundtänzen gönnte sich die aufopfernde Wirthin eine längere Ruhepause und wischte sich eifrig den Schweiß von dem erhitzten Gesicht. Dann aber, als einige der jungen Tänzer lebhaft in sie hineingesprochen hatten, schritt sie quer durch die hin und her wandelnden Paare, gerade auf Gerda zu, die in einem Winkel unter dem schiefen Dach im Dunkeln saß, hinter ihr, auf ihre Stuhllehne gestützt, Hubert, der zuweilen über diese oder jene Tänzerin eine Bemerkung machte, ohne eine Antwort zu erhalten.

Liebe Allerschönste, sagte die Fächermalerin und legte ihre große Hand auf Gerda's Schulter, nun kommt die Reihe an Sie. Man hat allgemein bedauert, daß Sie sich nicht engagiren lassen wollen. Da habe ich den Herren verrathen, wie wir neulich von den italienischen Tänzen gesprochen und Sie mir gestanden haben, Sie hätten von der Tochter Ihrer Padrona den Saltarello tanzen gelernt. Ich komme nun als feierlich Abgesandte von der gesammten Gesellschaft mit der Bitte, Sie möchten ihn uns zeigen. Mit Ihrer Gestalt und Ihren Bewegungen muß es sich ganz wundervoll ausnehmen, und wir wären Ihnen Alle so dankbar – Sie dürfen es uns nicht abschlagen, warum sind Sie so schön? Beauté oblige. Wie? Sie können das nicht ohne einen Partner? Natürlich sollen Sie den haben; Herr Beppo hat erklärt, wenn Sie mit ihm vorlieb nehmen wollten – er habe in Neapel bei einer Wittwe mit zwei schönen Töchtern gewohnt, die hätten es ihm beigebracht, und an Sonn- und Feiertagen seien noch ein paar Vettern dazugekommen, von denen der eine Guitarre gespielt hätte. Hier haben wir unsern Geiger, Kosinski, der versichert, er habe die echte Saltarello-Melodie hundertmal gehört, da – hören Sie nur – er fängt schon an; nein, es wird keine Ausrede angenommen; so eine alte Jungfer, wie ich, versteht auch ein strenges Hausregiment zu führen. Kommen Sie nur, Beste! – Da bringe ich sie, meine Herrschaften! Ist das nicht liebenswürdig, daß sie sich doch erbitten läßt?

Ein vielstimmiger fröhlicher Zuruf begrüßte das schöne Mädchen, das sich wie willenlos mitten in den Kreis hineinführen ließ. Nur ihre Wangen rötheten sich ein wenig, als die kleine Ungarin auf sie zusprang und sie umarmte. Einer der Maler lief in sein Atelier hinunter und holte ein Tamburin, ein echtes, das aus Capri stammte. Der Geiger, ein Pole, den man hier Kosinski nannte, weil sein eigentlicher Name schwer auszusprechen war, spielte eine wilde Introduction mit kühnen Sprüngen und Passagen; Beppo trat seiner Tänzerin, sich höflich verneigend, entgegen und stellte sich in Positur; nun setzte der Spieler mit der Tanzmelodie wieder ein, und nachdem alle Uebrigen einen möglichst weiten Kreis gebildet hatten, begann das Tanzduett.

Gerda hatte ihr Kleid so weit aufgeschürzt, daß ihre Füße bis an die feinen Knöchel frei geworden waren. Nun bog sie die Schultern ein wenig zurück, legte die Hände an die Hüften und begann mit langsamen Schritten, den schlanken Leib nur wenig bewegend, nach dem Tact der Musik sich hin und her zu wenden. Ihr Tänzer, der von nicht eben großem Wuchs, aber wohlgebaut und gelenkig war, hatte sein Sammtröckchen abgestreift und über die linke Schulter gehängt. Nun wußte er es sehr zierlich zu machen, wie er sich der spröden Schönen näherte, bald dicht auf sie eindringend, bald wie schmollend zurückweichend, gleichsam bemüht, sie aus ihrer züchtigen Zurückhaltung herauszulocken und in den Wirbel des Tanzes hineinzuziehen. Während er sie mit feurigen Blicken unverwandt betrachtete, hielt sie die schönen Augen beständig zu Boden gesenkt, als ob der Blick an die Figuren gebannt wäre, die ihre Füße beschrieben. Ihr Gesicht blieb dabei völlig ernst, nur die Löckchen an ihrem Nacken und das eine, das über der Stirn sich aus dem dichten Haar freigemacht hatte, wehten in zitterndem Spiel über der bräunlichen Haut. Nach und nach schien die eintönig fieberhafte Melodie auch ihr ins Blut zu dringen, das pochende Tamburin das Feuer zu schüren. Ihre Bewegungen wurden rascher, sie hob zuweilen die Arme und schwenkte die Hände über dem Kopf, als ob sie Castagnetten darin klappern ließe, ihre Brust hob sich ungestümer, und hin und wieder streifte ein Blitz unter ihren Wimpern hervor den jungen Menschen, der seinerseits sich immer leidenschaftlicher geberdete und die Melodie in jauchzenden Tönen mitsang.

Plötzlich aber brach sie ab, stand tiefathmend mit geschlossenen Augen und preßte die Hand gegen das Herz. Auch Beppo und der Geiger hörten mit Tanz und Spiel auf; Molly eilte auf die Tänzerin zu und fragte ängstlich, ob ihr unwohl geworden sei. Als sie aber lächelnd die Augen wieder aufschlug und versicherte, es sei nichts, nur wenn sie weiter getanzt hätte, wäre sie Gefahr gelaufen, umzusinken, da in der beklommenen Luft ihr schwindlig geworden sei, beruhigte sich das gute alte Gesicht, und rings umher brach ein so heftiges Beifallsklatschen los, daß die Lampions an ihren Schnüren von der Erschütterung stark hin und her schwankten.

Die Mädchen umdrängten Gerda und überhäuften sie mit liebkosenden Ausdrücken der Bewunderung; die jungen Männer blieben auch nicht zurück, bis auf Hubert, der in seinem dunklen Winkel kein Auge von der herrlichen Gestalt verwandt hatte, jetzt aber, wie zur Bildsäule verzaubert, auf demselben Fleck blieb und erst auf Beppo's begeisterte Frage, ob er je etwas Reizenderes gesehen habe, mit einem unverständlichen Naturlaut antwortete.

Molly hatte die über und über Glühende, nachdem sie sie zärtlich umarmt und auf die Stirn geküßt, in das Atelier entführt und den Anderen zugewinkt, sie dort ein wenig allein zu lassen. Die Zurückbleibenden benutzten die Zeit, sich in enthusiastischen Ausdrücken über das Schauspiel, das sie eben genossen hatten, zu äußern. Nicht sowohl die Schönheit des Gesichts und der Gestalt und die Anmuth der Bewegungen waren es gewesen, was Alle bezaubert hatte, sondern das verhaltene Feuer, das plötzlich, nachdem es lange sich hatte zügeln lassen, aus der strengen Haft hervorgelodert war und verrathen hatte, daß in der scheinbar kühlen und gelassenen Seele dieses Mädchens ein leidenschaftliches Temperament verborgen lag.

Das Verlangen nach ihr wurde immer ungeduldiger, und die kleine Ungarin übernahm es endlich, sie wieder zurückzuholen. Doch schon auf der Schwelle des Thürchens trat die Fächermalerin ihr entgegen und berichtete den sehr Enttäuschten, Fräulein Gerda habe sich schon in Begleitung ihres Dienstmädchens auf den Heimweg gemacht, da ihre Mutter nicht eher schlafe, als bis die Tochter wieder zu Hause sei. Sie lasse die Gesellschaft grüßen und bitte zu entschuldigen, daß sie ohne Abschied fortgegangen sei.

Als eine Stunde später, nachdem noch mancher minder klassische Tanz getanzt worden war, auch die Uebrigen aufbrachen, fiel es den jungen Damen unliebsam auf, daß Hubert gleich unten auf der Straße sich verabschiedete, ohne irgend Einer sein Geleit anzutragen. Er schlug die entgegengesetzte Richtung ein, in der doch seine Wohnung nicht lag. Offenbar empfand er das Bedürfniß, noch einen einsamen Spaziergang zu machen. Doch war er noch keine hundert Schritt weit gegangen, als er Beppo's Hand an seinem Arm fühlte.

Sie stürmen ja wie der wilde Jäger in Nacht und Nebel hinein! rief der Freund mit schüchternem Lachen. Ich bin meine Dame geschwinde losgeworden, da sie nur drei Häuser weit nebenan wohnt, wollte mich doch auch nach Ihnen umsehen. Hat der kalte Strahl am Ende doch gezündet, und ich störe Sie im ersten Stadium, wo so ein Brand noch eine sehr angenehm prickelnde Empfindung macht? Ein Wunder wär's nicht, denn Sie haben ganz Recht, sie ist eine lebensgefährliche Hexe. Ich selbst – na, ich kam ja dem Feuer nah genug beim Tanz, um ganz gehörig angesengt zu werden. Aber wenn Sie Ansprüche machen – sagen Sie's nur grad heraus, Hubert, ich bin nicht so eitel, es mit Ihnen aufnehmen zu wollen, und meine Brandwunden werden wohl noch heilen.

Was schwatzen Sie für Unsinn! entgegnete der Andere heftig. Sie haben vollkommene Freiheit, dieses kalte »Bild ohne Gnade« anzubeten. Das Wenige, was ich mit ihr getheilt habe, hat mich überzeugt, daß sie jeden Andern eher als mich einer herablassenden Miene würdigen und einen flotten Tänzer jedenfalls einem hinkenden Invaliden vorziehen würde. Sie würden mich aber verbinden, Beppo, wenn Sie mich nicht begleiteten. Ich habe ein unsinniges Kopfweh, und jedes Wort, das ich sprechen soll, wird mir sauer. Gute Nacht!

Er ließ den Andern stehen, der ihm mit ungläubiger Miene nachstarrte und Menschenkenner genug war, um trotz aller Betheuerungen den Grund dieser unwirschen Laune nicht sowohl im Kopf des bewunderten Freundes, als in seinem Herzen zu suchen.

*

Erst lange nach Mitternacht langte Hubert bei seiner Wohnung an, die im Erdgeschoß eines hübschen, in einem Garten stehenden Hauses nahe an der Königinstraße lag. Das lange Herumstreifen mit dem lahmen Fuß hatte ihn ermattet, und trotz der herbstlichen Nachtkühle war er in Schweiß gebadet. Er beeilte sich aber nicht, zu Bett zu gehen, sondern zündete nur ein Licht an und sank, den Hut noch auf dem Kopf, in einen Lehnstuhl, wo er eine gute Weile in brütender Dumpfheit sitzen blieb. Als er sich endlich doch niedergelegt hatte, wollte der Schlaf noch ein paar Stunden lang sich nicht einstellen. Er mochte die Augen offen halten oder schließen, immer stand das Bild des Mädchens vor seiner aufgeregten Seele. Er hörte jedes ihrer Worte und empfand von neuem den Unmuth, den ihre offenbare Geringschätzung in ihm aufgestachelt hatte. Was hatte er ihr gethan, daß sie ihn so schlecht behandelte? Ob sie eine Ahnung hatte, daß auch er, wie Jener, dessen Untreue ihrer Freundin das Herz gebrochen, ein junges Leben auf dem Gewissen hatte? Doch von seiner eigenen Schuld dachte er nicht schwer, er hatte die tödtliche Krankheit nicht verursacht. Und wie sollte sie davon wissen? Es war wohl nur ein ganz allgemeiner Männerhaß, wie er ihn schon hin und wieder bei stolzen jungen Mädchen getroffen hatte, die für die Enttäuschung durch einen Einzigen das ganze Geschlecht verantwortlich machten. Hatte sie doch auch alle Anderen mit gleicher hoheitsvoller Herbheit behandelt und sich geflissentlich nur mit dem weiblichen Theil der Gesellschaft beschäftigt. Warum sollte er also verzweifeln, nach und nach mit all den Künsten, in denen er Meister war, das Eis zu schmelzen? Und wenn es diesmal einer langwierigen Geduld und Ausdauer bedurfte, ja wenn er sich selbst darüber unauflöslich verstrickte – war der herrliche Preis nicht jeder Mühe werth? Konnte er sein unstetes Herumschweifen besser zu Ende bringen, als wenn er für immer an diesem stolzen Herzen seine Zuflucht fand?

Als er am späten Morgen aufwachte, hörte er den Regen gegen seine Fenster schlagen, und der halb schon entblätterte Garten sah grau und triefend herein. Es war kein gutes Malwetter heute. Dazu fühlte er nun wirklich nach der schwer durchträumten Nacht den Schmerz hinter den Schläfen, den er gestern gegen Beppo nur vorgeschützt hatte. Er beschloß also, heute nicht wie sonst in das Atelier des Malers zu gehen, der ihn bei seinen Malstudien in die Lehre genommen hatte, sondern zunächst sein körperliches Unwohlsein durch eine kalte Douche zu bekämpfen. Dann saß er eine Stunde lang, eine Cigarrette nach der andern rauchend, ein Buch auf den Knien, in dem er nicht zwei Zeilen las, immer das Löckchen über der schönen Stirn vor Augen, das in der Bewegung des Tanzes so reizend gezittert hatte.

Endlich war's Mittag geworden, da erhob er sich und machte sorgfältiger als sonst seine Toilette. Er war nicht, was man eitel zu nennen pflegt. Der Vorzüge seiner äußeren Erscheinung war er sich seit zu langer Zeit bewußt, um noch viel daran zu denken oder ihnen durch kleine Mittel nachzuhelfen, da sie ohne weiteres Zuthun immer den gleichen Eindruck machten, wie es einem reichen Menschen nicht einfällt, sein Vermögen beständig neu zu berechnen. Heute aber stand er eine Weile vor dem Spiegel und betrachtete sich aufmerksam. Zum erstenmal kamen ihm seine regelmäßigen Züge unbedeutend und leer vor, die Stirn nicht hoch genug, die Augen ausdruckslos, das Ganze trotz des üppigen dunklen Bartes weichlich und weibisch. Er hätte dafür gern eine charakteristische Häßlichkeit eingetauscht, und ein Trost war ihm die kleine Narbe, die in seinem Stirnhaar eine weiße Furche zog, – das Andenken an einen jugendlichen Ehrenhandel – und ein Dutzend grauer Härchen an den Schläfen.

Dann kleidete er sich langsam an, von Kopf bis Fuß in melancholisches Schwarz, und verließ, in einen grauen Regenmantel gehüllt, das Haus.

Er wußte genau, wohin er wollte; er hatte die Wohnung gestern Abend noch von Molly erfahren, unter einem unscheinbaren Vorwande. Dennoch schlug er nicht den geraden Weg ein, sondern durchkreuzte die benachbarten Straßen, bis er sich endlich ein Herz faßte, die drei Stiegen des unfreundlichen Hauses hinaufzuklimmen. Es war ihm angenehm, daß sie kein reiches Mädchen war und in einem der entlegneren Stadtviertel so hoch unterm Dach wohnte. Auch hatte sie ja unbefangen davon gesprochen, daß sie sich einschränken müsse. So konnte sie nicht zweifeln, daß seine ritterliche Bemühung um sie nur ihrer Person galt.

Ob das Fräulein zu sprechen sei? fragte er, oben angelangt, das Mädchen, das ihm öffnete.

Fräulein Gerda sei zu Hause, die gnädige Frau aber ausgegangen. Sie wolle nachsehen.

Hubert übergab seine Karte und wartete mit Herzklopfen in dem dunklen Flur, der mit Schränken verstellt, doch sehr sauber gehalten war. Was sollte er ihr sagen? Sollte er gleich ein Gespräch über intime Dinge anknüpfen, oder nur die üblichen Redensarten vorbringen?

Ehe er noch schlüssig geworden war, kehrte das Mädchen zurück. Das Fräulein lasse bitten. So trat er bei ihr ein.

*

Sie hatte an einem der beiden Fenster gesessen, die auf Gärten und darüber hinaufragende Hinterhäuser gingen. Als sie seinen Namen hörte, war sie vom Sitz aufgefahren, die große Leinwanddecke, an der sie stickte, war ihr vom Schooß geglitten. Da er nun eintrat, stand sie mitten im Zimmer, beide am Leib herabhängende Hände leicht geballt, wie wenn sie sich auf einen Angriff gefaßt machte. Die Falten an ihrem einfachen Hauskleide, das ihre schöne, schlanke Gestalt bequem umschloß, zitterten leise, und das Löckchen an ihrer Stirn schien sich ein wenig emporzusträuben.

Bei seinem Anblick aber verlor sich sofort ihre kampfbereite Haltung. Er grüßte sie, an der Schwelle stehen bleibend, mit einer ehrerbietigen Befangenheit, die ihm sehr liebenswürdig zu Gesicht stand. Dann ließ er die Augen neugierig in dem mäßig großen Zimmer herumgehen, das mit alten Möbeln und Bildern anständig, aber ohne alle Zierlichkeit der neueren Zeit ausgestattet war.

Wie hübsch Sie wohnen, gnädiges Fräulein, sagte er und seine Stimme klang unsicher, sein Lächeln erschien verlegen. Dort über dem Sopha – das sind gewiß die Bilder Ihrer Eltern. Sie gleichen merkwürdig Ihrer Frau Mutter. Ich bedauere, sie nicht zu Hause zu finden. Doch vor Allem muß ich um Verzeihung bitten, daß ich es gewagt habe – es ist auch noch nicht die Stunde, einen Damenbesuch zu machen –

Sie hatte sich noch immer nicht geregt, weder seine Verbeugung mit dem leisesten Neigen erwidert, noch ihm einen Sitz angeboten. Darf ich fragen, was Sie zu mir führt? sagte sie fast unfreundlich, da er schwieg und immer nur an den Wänden herumsah.

Sie werden es mir hoffentlich nicht als Zudringlichkeit deuten, erwiderte er und sah jetzt in ihr Gesicht, das dem Licht abgekehrt war, so daß nur das Weiße ihrer Augen und das Leuchten der dunklen Sterne darin deutlich zu erkennen war – aber da Sie mir gestern gesagt hatten, der Arzt habe Ihnen das Tanzen verboten, und dann doch so liebenswürdig waren, der Bitte der Gesellschaft nachzugeben – und dann waren Sie plötzlich verschwunden – ich konnte mir's nicht versagen, nachzuforschen, wie Sie auf die Erregung durch den leidenschaftlichen Tanz geschlafen haben.

Wie Sie sehen, befinde ich mich ganz wohl.

Das freut mich wirklich, mein gnädiges Fräulein, das freut mich außerordentlich. Ich habe Sie sogar schon in der Arbeit gestört, während mich die Nachwehen des gestrigen Festes – glauben Sie nicht, daß wir die Nacht durchgetanzt hätten – wir gingen sehr solide vor Mitternacht nach Hause – und doch, ich war heut unfähig, einen Pinsel in die Hand zu nehmen.

Zu meiner Arbeit bedarf es keiner künstlerischen Stimmung, erwiderte sie trocken.

Und doch schaffen auch Sie ein Kunstwerk. Dieses Tischtuch – Sie malen ja förmlich mit der Nadel, und die feine Zusammenstellung der Farben

Es ist nicht mein Verdienst. Das Muster wurde mir so vorgezeichnet. Ich mache dergleichen zum Verkauf, nicht etwa zu meinem Vergnügen, oder nur insofern, als es mich freut, der Mutter mit dem Erlös dieser Stickereien diese und jene kleine Freude zu machen, die sie sonst sich nicht gönnen würde. Wir haben, was wir brauchen, aber hin und wieder verlangt das Herz nach etwas Ueberflüssigem.

Ein kleines weißes Kätzchen, das auf dem Sopha gelegen hatte, war herabgesprungen und rieb sich schnurrend mit aufgerichtetem Schweif an Gerda's Kleide, den Fremden aus den röthlichen Augen argwöhnisch anblinzelnd. Das Mädchen hob es auf und behielt es im Arm. Noch immer lud sie Hubert nicht zum Sitzen ein.

Er stützte sich auf die Lehne eines Stuhls und sagte, als ob er jetzt erst seiner Beklommenheit Meister geworden wäre, mit seinem guten Lächeln, das ihn sehr verschönte:

Sagen Sie mir's offen, Fräulein Gerda, mein Besuch ist Ihnen unangenehm. Werfen Sie mich nur ohne Umstände hinaus, der Zweck meines Kommens ist ja erreicht. Ich sehe Sie so schön und blühend vor mir, daß ich mir mit meiner nächtlichen Sorge um Sie lächerlich vorkomme.

Sie streichelte einen Augenblick das Kätzchen und betrachtete aufmerksam den kleinen seidenweichen Kopf. Unangenehm ist nicht das Wort, sagte sie dann sehr ruhig. Aber ich bin nicht gewohnt, Herrenbesuche zu empfangen, zumal in Abwesenheit meiner Mutter. Wir leben sehr zurückgezogen und fast ohne jeden Umgang, da sich die Bekannten meines seligen Vaters nur selten an uns erinnern, und meine Mutter, die aus Oesterreich stammt, hier keine Verwandten hat. Sie begreifen daher –

Gewiß, sagte er und nahm den Hut wieder, den er auf den Sessel gelegt hatte. Aber hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie bäte, mich einmal Ihrer Frau Mutter vorzustellen?

Das würde kaum einen Zweck haben. Meine Mutter macht nicht gern neue Bekanntschaften und liebt nur die Gesellschaft von ein paar älteren Damen, mit denen sie einigemale in der Woche zu einer Tarokpartie zusammenkommt.

Und Sie sitzen dabei und vertrauern Ihre schöne Jugendzeit neben einem ebenso ehrwürdigen als langweiligen Spieltisch?

O, was mich betrifft – die Mutter hat nichts dagegen, ja sie liebt es sogar mehr als ich selbst, daß ich außer dem Hause Unterhaltung finde, wie sie zu meinen Jahren paßt. Ich habe noch vom Institut her einige Freundinnen, zu denen ich manchmal gehe. Und auch der Kreis, den ich bei Fräulein Molly kennen gelernt habe –

So darf ich hoffen, Ihnen dort wieder zu begegnen? Das tröstet mich darüber, daß Sie mir jede Aussicht abschneiden, dies trauliche Zimmer öfters betreten zu dürfen. Und nun – leben Sie wohl, mein verehrtes Fräulein, und nichts für ungut! Ich bitte, mich unbekannterweise Ihrer Frau Mama zu empfehlen.

Er verbeugte sich und zauderte noch einen Augenblick, wie in Erwartung, daß sie ihm zum Abschied die Hand reichen würde. Sie fuhr aber fort, das Kätzchen zu streicheln, und neigte nur den Kopf ein wenig, als er die Schwelle überschritt.

Als wenige Minuten darauf die Thür sich wieder öffnete und die Mutter eintrat, stand das Mädchen noch immer auf demselben Fleck mitten im Zimmer und nickte, wie aus einem tiefen Traum aufgestört, der alten Frau zu, die ein wenig kleiner war als die Tochter, aber trotz der bescheidenen Kleidung eine sehr respectable Figur machte. Noch jetzt hatten die blassen, verwelkten Züge mit ihrem mädchenhaft anspruchslosen Ausdruck einen unvergänglichen Reiz, während das Gesicht ihres Kindes auch im häuslichen Verkehr etwas Herbes und Eigenwilliges hatte.

Du hast Besuch gehabt, Gerdchen? Der Herr trat gerade aus dem Hause, als ich hineinging; er fiel mir auf, da er ungewöhnlich hübsch ist; auch daß er hinkt, bemerkte ich gleich und wunderte mich, daß er mich grüßte, sehr artig und als ob er mich ganz wohl kennte. Wer ist es und wie kam er zu uns?

Er hat hier oben dein Bild gesehen, Mutterl, es gleicht dir ja auch jetzt noch. Gestern Abend habe ich ihn kennen gelernt; er machte mir eine Höflichkeits-Visite, ich habe ihn aber nicht dazu aufgemuntert, wiederzukommen.

Die Mutter hatte ihren Mantel abgelegt und war eine Weile nachdenklich hin und her gegangen. Plötzlich sagte sie wieder:

Er hat mir einen sehr guten Eindruck gemacht. Ich bedauere, daß wir nicht in den Verhältnissen sind, einem so artigen Mann unser Haus zu öffnen. Du lebst gar zu sehr wie im Kloster, Gerdchen. Auch ich hätte nichts dagegen, junge Gesichter um mich zu sehen, und dann – du bist am Ende fünfundzwanzig und ein halbes Jahr alt – man muß doch auch an die Zukunft denken.

Sie erkundigte sich nun angelegentlich nach Hubert's Verhältnissen, seinem Beruf, und wie er zu dem lästigen Gebrechen gekommen sei, das ihn aber nicht entstelle. Die Tochter berichtete, was sie wußte. Du scheinst ein besonderes Wohlgefallen an ihm gefunden zu haben, Mutterl, sagte sie mit einiger Schärfe. Ich begreife nicht, wie man einem so eitlen und siegesgewissen Herrn der Schöpfung den Gefallen thun kann, ihm gleich auf den ersten Blick zu huldigen. Von mir soll er das nicht erleben.

Sie wandte sich ab und nahm ihre Stickerei wieder vor. Die alte Dame schwieg und schüttelte nur heimlich den Kopf über ihr seltsames Kind, dessen leidenschaftliche Abneigung gegen einen so anziehenden Mann ihr unerklärlich war.

*

Zu dem nächsten offnen Abende Tante Molly's fand sich nur eine kleine Schaar der näheren Freunde ein, von den »Malweibchen« kaum die Hälfte, von den jungen Künstlern nur die Hausgenossen und Hubert. Im Speicherraum, der nicht geheizt werden konnte, spürte man heute den scharfen herbstlichen Nordwind allzu empfindlich, um darin auszudauern. So war man auf das Atelier beschränkt, und unter den ein- für allemal Geladenen bestand eine stillschweigende Uebereinkunft, nicht allsamstäglich zu erscheinen.

Hubert aber, obwohl offenbar nicht in der geselligsten Laune, war als der Erste bei seiner Gönnerin eingetreten, hatte einen suchenden Blick in dem noch leeren Raum herumgehen lassen und dann mit einem stillen Seufzer auf dem niedrigen Divan unter dem Bilde der thörichten Jungfrauen Platz genommen. Da blieb er auch, während nach und nach die Uebrigen sich einfanden. So oft die Thür ging, wandte er den Kopf nach dem Eintretenden und ließ ihn immer wieder auf die Brust sinken, ohne den neuen Gast anders als mit flüchtigem Augenwink zu grüßen. Man war schon gewohnt, ihm allerlei Unarten hingehn zu lassen. Auch war er heute auffallend blaß, und da er völlig stumm blieb, flüsterten die Mädchen sich ins Ohr, er scheine Schmerzen an seinem kranken Fuß zu leiden. Nur Molly, die ihn scharf beobachtete, argwöhnte die Wahrheit.

Ihnen ist heut nicht behaglich, lieber Herr Hubert, sagte sie, dicht vor ihn hintretend. Ich weiß wohl, was Ihnen fehlt.

Er sah sie wie geistesabwesend an. Was meinen Sie, verehrte Freundin?

Die Akustik meines Ateliers erscheint Ihnen mangelhaft.

Wie so, Fräulein Molly?

Sehr einfach: weil das Echo heute fehlt, das sonst so hübsch zu reimen weiß, heute aber, wenn Sie »Wer da?« rufen, nicht: »Gerda!« antwortet.

Sie sind sehr im Irrthum, geschätzte Gönnerin, erwiderte Hubert mit einem leichten Erröthen. Ich habe eine schlechte Woche hinter mir und wieder einmal mit schweren Zweifeln zu kämpfen, ob es nicht klüger wäre, die Palette an den Nagel zu hängen und Steinklopfer zu werden. Ein einfacher moralischer Katzenjammer, verehrte Freundin, an dem die schönsten Augen der Welt nichts ändern würden.

Er stand seufzend auf und bemühte sich, wenigstens zuhörend an der Unterhaltung der Uebrigen teilzunehmen, wobei Allen seine Zerstreutheit auffiel. Das Klavier war aus dem Speicher wieder herübergebracht worden. Kosinski spielte mit der kleinen Ungarin eine Mozart'sche Sonate, hernach wurde die Mappe eines jungen Landschafters betrachtet, die im letzten Sommer mit den hübschesten Aquarellskizzen gefüllt worden war, die Stimmung wurde wieder so munter und behaglich wie sonst, gleichwohl verschwand Hubert lange vor der hergebrachten Polizeistunde und wurde höchstens von dem Sorrentiner vermißt, der ebenfalls keine zehn Worte aus ihm herausgelockt hatte.

All diese Sünden aber machte er am nächsten Samstag wieder gut. Auf seinem Gesicht leuchtete eine fröhliche Ueberraschung auf, als er bei seinem Eintritt Gerda neben der Herrin des Hauses sitzen sah. Auch ihr kühles Erwidern seines Grußes schlug seine gehobene Stimmung nicht nieder. Molly erkundigte sich nach seinem Katzenjammer. Er sei noch nicht gewichen, erwiderte er, aber für heut Abend wie ein bissiger Hund an die Kette gelegt und unschädlich gemacht. – Sie hoffe, er werde selbst das Bellen unterlassen, sagte das kluge alte Fräulein und drohte lächelnd mit dem Finger. Das schöne Echo functionire ja heut wieder, das verbanne alle Mißtöne.

Gerda beobachtete ihn im Stillen, obwohl sie ihn gänzlich zu übersehen schien. Ohne das finstere und feindliche Gefühl, das sie gegen ihn nährte, hätte sie ihm das Zeugniß geben müssen, er sei wirklich liebenswürdig. Er sprudelte über von harmlosen Scherzen, widmete sich besonders den weniger glänzenden unter den Malweibchen und schien nur den Ehrgeiz zu haben, für einen guten Jungen gehalten zu werden, der keinen Andern in Schatten stellen wolle. Man hatte beschlossen, eine Samstagzeitung zu veranstalten, zu welcher Zeichnungen, Verse und kleine prosaische Beiträge anonym eingeliefert werden sollten. Zum Redacteur war Tante Molly gewählt worden, deren Censur, falls sie hin und wieder nöthig werden sollte, alle Mitarbeiter sich blindlings unterwarfen. Eine erste, noch ziemlich magere Nummer wurde heute verlesen, und die Zeichnungen, die meist mit der Feder flüchtig hingeworfen waren, gingen von Hand zu Hand. Dann galt es, die Verfasser zu errathen. Hubert, statt Namen zu nennen, ließ sich ein Blatt Papier geben und zeichnete die Profile der Betreffenden in geistreich carikirenden Strichen hin, eine Kunst, in der er Meister war. Es wurde viel gelacht, und zuletzt forderten die Anwesenden, die nicht alle mitgearbeitet hatten, daß auch ihr Conterfei von dem unbarmherzigen Stift entworfen würde. Hubert gehorchte und war gegen die Häßlichen galant genug, so daß Keine sich zu beklagen hatte. Als zuletzt nur noch Gerda und er selbst übrig blieben, weigerte er sich entschieden, indem er behauptete, das Fräulein sei ebensowenig caricabel wie die Venus von Milo. Dann sann er einen Augenblick und strichelte hastig einen allerdings etwas ins Pathetische übertriebenen Umriß des schönen Kopfes hin, mit geisterhaft kalten Augen, dazu die Gestalt bis an die Kniee, in einem orientalischen Gewande. In den Händen hielt sie eine Schüssel, auf welcher ein Männerhaupt lag, dessen langer Bart über den Rand herabhing. Das Profil des Enthaupteten glich unverkennbar dem Zeichner selbst, und mit großen Buchstaben stand unten geschrieben: Herodias und Hans der Träumer.

Keiner wußte etwas Kluges zu sagen, als das anzügliche Blatt die Runde machte und ein ohnehin schon durchsichtiges Geheimniß vollends entschleierte. Nur Beppo hatte die Stirn, sich ganz unwissend zu stellen und das Talent des Zeichners enthusiastisch zu preisen. Als die Skizze zu ihrem Verfertiger zurückkehrte, stand dieser ruhig auf, knitterte das Blatt zusammen und steckte es in den Ofen. Alle schrieen auf und stürzten hinzu, ihn zurückzuhalten. Nein, meine Herrschaften, sagte er mit einem ironischen Kopfschütteln, solche Späße dürfen nur einen Augenblick leben. Nur dann kann ich hoffen, von Fräulein Gerda Absolution für meine blasphemische Versündigung zu erlangen.

Sie antwortete nicht gleich. Erst nach einer Pause sagte sie: Künstlerphantasieen soll man nicht ernst nehmen. Ich bedaure nur, daß mir jedes Zeichentalent versagt ist. An einem Thema, mich zu revanchiren, würde mir's vielleicht nicht fehlen.

Ihre Stimme klang schärfer als sonst. Doch nur Wenige waren feinhörig genug, in den Worten einen tieferen Sinn zu ahnen.

*

Daß ein Schleier über ihrem Wesen lag, den sie auch in den heitersten Momenten nicht ganz lüftete, war bald einem Jeden unter diesen leichtlebigen guten Gesellen klar geworden. Doch hatte das zarte Helldunkel nur dazu beigetragen, den Reiz ihrer Erscheinung zu erhöhen. Die Mädchen, an deren kleinen Leiden und Freuden sie ungeheuchelten Antheil nahm, vergötterten sie, und die jungen Männer würden sie heftig umworben haben, wenn sie nicht vor Hubert, als dem einzigen zu ernstlichen Hoffnungen Befugten, zurückgetreten wären.

Aber diese Hoffnungen rückten den ganzen Winter hindurch ihrem Ziel um keines Strohhalms Breite näher.

An den vier oder fünf offnen Abenden, wo das erlesene Paar sich begegnete, blieb es von Hubert's Seite bei einer andächtigen Huldigung aus der Ferne, die kaum beachtet zu werden schien. Auch in den Concerten der musikalischen Akademie, die Gerda regelmäßig besuchte, wußte Hubert sich ihr nur flüchtig zu nähern, indem er beim Verlassen des Saals ihr in der Garderobe behülflich war, ohne sie doch nach Hause begleiten zu dürfen, da ihr Mädchen sie regelmäßig erwartete. Ein paarmal zu Anfang war er durch ihre Straße gegangen. Da sie dann aber, wenn sie zufällig am Fenster saß, mit einer kalten Miene sich sofort zurückgezogen hatte, ohne seinen Gruß zu erwidern, sah er ein, daß er auf diesem Wege die geringe Gunst, die er ohnehin nur besaß, vollends verscherzen würde.

Noch einmal nahm er eine Gelegenheit wahr, ihr durch die Vermittlung der Kunst, die er jetzt so lässig trieb, zu huldigen.

Weihnachten war herangekommen, das die Hausfreunde der Fächermalerin nicht vorübergehen lassen wollten, ohne sich für so viel Liebes und Gutes, das sie von ihr genossen, dankbar zu bezeigen. In zwei aneinanderstoßenden Ateliers des vierten Stockes, da es unter dem Dach zu eng geworden wäre, wurde ein großer Christbaum gerüstet und am zweiten Feiertag, der ein Samstag war, Molly zu einer nachträglichen Weihnachtsfeier eingeladen. Unter den vielen sinnigen oder nützlichen, künstlerischen oder wirthschaftlichen Geschenken, die man ihr darbrachte, befand sich ein Aquarell Hubert's, das mit großem Talent ausgeführt war und sehr bewundert wurde. Es stellte jene Scene am Eröffnungsabend dar, Gerda unter der reizend geheimnißvollen Beleuchtung durch die bunten Kugeln über ihrem Haupt in der Geberde jenes Tanzes, der Alle entzückt hatte; ihr gegenüber, vom Rücken gesehen, den schlanken Beppo, im Kreise umher, aus dem Dunkel erkennbar genug auftauchend, wohl ein Dutzend der wohlbekannten Gesichter, während die Uebrigen sich in den tieferen Schatten verloren. Niemand aus der Gesellschaft hatte ihm dazu gesessen, und doch war die Aehnlichkeit überraschend, vor Allem bei der Hauptperson selbst, von deren schönem, glühendem Gesicht alles Licht auszugehen schien.

Während die Anderen sich dem Künstler gegenüber in Ausdrücken der Bewunderung erschöpften, betrachtete Gerda das kleine Bild nur mit einem flüchtigen Auge und sagte kein Wort. Sie hatte zu Molly's Bescherung eine schöne Handarbeit beigesteuert und zu der Strohlotterie für die Uebrigen allerlei reizende Sächelchen, war auch den ganzen Abend von besonderer Liebenswürdigkeit und heiterer als sonst. Hubert strahlte in naiver Glückseligkeit, da sie ihm auf seine Bitte aus einem Zweiglein künstlicher Blumen, das sie gewonnen hatte, eine kleine Blüte ablös'te, mit einem sonderbaren Lächeln freilich, an dem er aber kein Arg hatte. Auch blieb sie länger als gewöhnlich und wehrte sich zum erstenmal nicht dagegen, daß Hubert und Beppo sie und ihr Mädchen den weiten Weg durch die schöne klare Winternacht nach Hause begleiteten.

Am folgenden Tage aber erhielt Molly ein Billet von ihr: sie werde sich leider so bald nicht wieder bei ihr blicken lassen können; sie habe die Mama sehr unwohl gefunden, als sie spät heimgekehrt sei, und könne es nicht übers Herz bringen, sie des Abends allein zu lassen, ehe diese beängstigenden Zufälle, die seit Jahren sich nicht mehr gezeigt, wieder völlig überwunden seien.

*

Als die gute Seele bei der nächsten Zusammenkunft ihren Gästen diese unholde Nachricht mittheilte, war das Bedauern groß und zumal die kleine Ungarin für den ganzen Abend um ihre muthwillige gute Laune gebracht. Hubert schwieg. Er saß wie schlaftrunken in einem Winkel des Ateliers, zeichnete mit Kohle auf die Rückseite eines Blendrahmens allerlei Figuren, die er wegwischte, sobald ihm Jemand über die Schulter sah, und da Jeder genug von seinen Empfindungen zu wissen glaubte, ließ man ihn unbehelligt mit Versuchen, ihn seinem Trübsinn zu entreißen.

Er selbst dachte so wenig daran, seine leidenschaftliche Verstimmung zu verbergen, daß er an den folgenden Abenden überhaupt nicht mehr erschien. Doch war er auch sonst auf einmal unsichtbar geworden. Beppo traf ihn nie zu Hause, und im Atelier seines Meisters ließ er die Farben auf der angefangenen Studie eintrocknen. Die kleine Ungarin wollte ihm einmal Abends auf der dunklen Straße begegnet sein, einem Menschen wenigstens, der einen Hut und Mantel trug wie Hubert und den Fuß nachschleppte. Doch obwohl sie im Vorübergehen seinen Namen rief, war das seltsame Gespenst, in sich versunken, an ihr vorübergeeilt und um die nächste Straßenecke verschwunden.

Darüber vergingen einige Wochen, der Februar kam heran, die offenen Abende wurden spärlicher besucht, da der Carneval die jungen Leute vielfach zu anderen Vergnügungen lockte. Beppo, der all die Zeit so unruhig herumgegangen war, wie ein treuer Hund, der im Gedränge seinen Herrn verloren hat, saß eines Samstags Abends eine Stunde lang unter vier Augen mit der Wirthin auf dem Divan zu Füßen der thörichten Jungfrauen. Es muß etwas geschehen, sagte er. Sie müssen einschreiten, Fräulein Molly. Sie allein können ihm ins Gewissen reden, daß es eine Sünde und Schande ist, wie er den Werther spielt und sich an ein Paar kalten Augen langsam zu Asche verbrennt. Teufel auch! wenn sie eine solche Gans ist, einen so famosen Menschen ablaufen zu lassen, soll er ihr den Gefallen nicht thun, sich zu Tode zu schmachten. Bei Ihnen ist das Unglück geschehen, hier ist er dieser fischblütigen Nixe zuerst begegnet; ich weiß noch, wie er gleich damals sagte: sie ist eine lebensgefährliche Person. Aber man läßt seine Freunde doch nicht in Lebensgefahren stecken, zumal wenn man sie selbst hineingebracht hat, und darum müssen Sie sich an ihm die Rettungsmedaille verdienen, Fräulein Molly.

Ich werde nichts ausrichten und mich nur blamiren, sagte das Fräulein, ihr grobes, gutmüthiges Gesicht in tragische Falten legend. Ich bin zwar durch die gütige Vorsehung, die mich als ein garstiges Schätzchen in die Welt geschickt und mir sogar die berate beauté diable versagt hat, vor der Dummheit bewahrt geblieben, mich jemals mit der verliebten Liebe einzulassen. Man setzt in keine Lotterie, von der man weiß, daß sie nur Nieten enthält. Wenn mich's einmal anwandelte – Sie wissen, Beppo, ich bin immer für schöne Menschen passionirt gewesen – aber nein, ich ließ mir keine Schwärmerei über den Kopf wachsen. Wenn so'n Vergißmeinnicht in mir aufsprießen wollte, gleich mit der Wurzel ausgerissen wie ein schnödes Unkraut. Aber ich war gerade darum zur Vertrauten wie geschaffen, weil ich keine eignen Ansprüche machte, und darum hab' ich von Liebschaften genug gesehen und gehört, um zu wissen, daß man eher einem Esel ausreden könnte, eine schöne Distel sei ein schlechtes Futter, als einem Verliebten Vernunft beibringen. Und doch – der arme Mensch dauert mich zu sehr, ich will wenigstens nachsehen, wie es mit ihm steht. Aus dem Mädel werd' ich auch nicht klug. Sie hat mich ein paarmal am Vormittag besucht. Aber so fein oder grob ich auf den Busch klopfte, es war nichts aus ihr herauszubringen.

Am andern Morgen, da sie sich zur Arbeit ohnehin nicht aufgelegt fühlte, nahm sie ihren etwas altmodischen Mantel um, setzte einen großen runden Sammthut auf, der sie nicht schöner machte, aber geeignet war, mit Hülfe eines grauen Schleiers ihre Häßlichkeit möglichst zu verbergen, und machte sich auf den Weg zu der entlegenen Wohnung Hubert's.

Sein Bursche, der ihm vom Militär her gefolgt war, wollte sie abweisen. Der gnädige Herr sei nicht zu Hause. Sie erklärte aber ruhig, für sie werde und müsse er zu Hause sein, schob den verblüfften Menschen beiseite und trat rasch durch den kleinen Vorraum in das nächste Zimmer, ohne anzuklopfen.

Von einem niedrigen, mit einem türkischen Teppich bedeckten Ruhebett erhob sich langsam eine Gestalt in kurzer Joppe und starrte der Eintretenden entgegen. Das Gesicht war fahl und eingefallen, der Bart ungepflegt, die Augen flackerten wie die eines Fieberkranken.

Sie sind es, Fräulein Molly! Verzeihen Sie, ich bin, wie Sie sehen –

Das Wort stockte ihm, er warf die Cigarrette weg, die das Zimmer mit einem starkduftenden Gewölk erfüllt hatte, und bemühte sich, die offene Jacke zuzuknöpfen. Draußen vom Garten schimmerte der Schnee herein, und im Ofen glühten die Kohlen.

Ja, ich bin es, lieber Hubert, sagte die Malerin, indem sie die leichten Schneeflocken von ihrem Mantel schüttelte, aber nicht ich habe zu verzeihen, sondern Sie, daß ich Ihnen zu so einer Unstunde in Ihre friedliche Höhle einbreche wie ein Gerichtsvollzieher. Und freilich, mit Executor-Absichten bin ich auch gekommen, Sie böser Mensch. Aber lassen Sie mich sitzen. Ich habe mich so außer Athem gelaufen bei dem abscheulichen Wetter. Herrgott, wie sehen Sie denn aus? Gar nicht mehr der schöne Hubert – der reine Eccehomo, obwohl für meinen Geschmack – na, ich will Ihnen keine Complimente machen. Die Situation ist ohnehin heikel genug: ein schönes junges Mädchen, das einem berüchtigten Don Juan am Sonntagsmorgen eine Visite auf seinem Zimmer macht, – hoffentlich fährt Ihr Diener fort, Sie zu verleugnen, sonst wehe meiner Renommée!

Sie versuchte zu lachen, es wollte aber nicht recht glücken, und auch er stimmte nicht mit ein.

Darf ich fragen, verehrte Freundin, was Sie zu mir führt? sagte er.

Sie hatte sich auf das Lotterbett gesetzt und den schweren Hut abgenommen. Nun sah sie sich erst ruhig in dem Zimmer um, das im Stil einer eleganten Junggesellen-Wohnung eingerichtet war, noch an seine Offizierszeit erinnernd. Nur ein paar große Copieen nach Rubens und Van Dyk über dem Sopha deuteten auf den veränderten Beruf des Inwohners.

Sie haben es recht hübsch hier, sagte die Malerin, besonders im Sommer, wenn die Rosen vor Ihrem Fenster in Blüte stehen. Aber so hübsch finde ich es doch nicht, daß Sie sich hier eigensinnig einsperren dürften und in dieser Klause den Einsiedler spielen. Nein, versuchen Sie nicht, mir einen blauen Dunst vorzumachen. Das besorgen schon Ihre Cigarretten. Ich will Ihnen sogar ohne weitere Betheuerung auf Ihr ehrliches Gesicht hin glauben, daß Sie krank sind, ich ahnte so was, und darum bin ich hergekommen, um Sie in die Kur zu nehmen, und Sie werden sehr artig sein und sich gegen meine Sympathiemittel nicht sträuben. Nicht wahr, lieber Freund?

Sie streckte ihm jetzt erst die Hand entgegen, in die er zögernd die seine legte. Ihre Hand ist kalt, sagte sie kopfschüttelnd. Kalte Hände, heißes Herz.

Ich versichere Sie, meine theure Gönnerin, mir ist ganz wohl. Ich bleibe nur zu Hause, weil ich zum Arbeiten nicht aufgelegt bin und mich schäme, unter Menschen zu gehen, die keine Tagediebe sind, wie ich.

Seien wir keine Kinder, die mit einander Versteckens spielen, erwiderte die Malerin. Sie sind kränker, als Sie vielleicht selbst wissen; man braucht keine tiefe Wissenschaft zu haben, um das zu sehen. Aber sagen Sie mir, bester Freund, warum wenden Sie sich nicht an den Arzt, den einzigen, der Ihnen Heilung bringen könnte?

Er kehrte sich ab und trat ans Fenster. Haben Sie nie gehört, sagte er nach einer Weile, daß man den Weg zum Arzt nicht einschlagen mag, weil man sein Leiden lieber noch eine zeitlang ertragen, als hören will, daß es unheilbar sei?

Narrheit! hörte er die tiefe, rauhe Stimme hinter seinem Rücken sagen. Ich begreife Sie nicht, Hubert. Ein Soldat und – verzeihen Sie – ein solcher Feigling! Aus welchen Symptomen schließen Sie, daß für Ihr Fieber kein Kraut gewachsen sei?

Liebe Freundin, versetzte er und näherte sich ihr wieder, wenn ich davon nicht so tief überzeugt wäre, glauben Sie mir – mein Zustand ist so qualvoll, alle Versuche mit gemeinen Trostmitteln sind so kläglich gescheitert – und doch – nein, ich kann nicht daran zweifeln: wo ich zum erstenmal in meinem Leben eine tiefe und übermächtige Leidenschaft fühle, begegne ich einem eisigen Haß, ja vielleicht etwas Schlimmerem, der erbarmungslosesten Verachtung. Glauben Sie nicht, daß ich aus selbstquälerischer Laune mir das zusammengeträumt hätte. Ich habe es an nichts fehlen lassen, um Gewißheit zu erlangen. Daß ich in der Gesellschaft Anderer schlecht behandelt wurde, übersehen, als ob ich nur ein geduldeter Eindringling wäre, war noch das Wenigste. Warum sollte sie sich mit mir abgeben, wenn ich ihr gleichgültig war? Und vielleicht war's eine kokette Absicht, mich ihre Macht fühlen zu lassen durch geflissentliche Kälte, während alle Andern mich durch Güte und Freundlichkeit verwöhnten. Auch daß sie nie für mich zu Hause war, obwohl ich dreimal versuchte, mich in ihrer Wohnung und im Beisein ihrer Mutter mit ihr auszusprechen, will ich ihr nicht übel deuten. Sie hat mir selbst gesagt, die Mama wünsche keinen Herrenverkehr in ihrer Zurückgezogenheit. Aber daß sie – die Stimme zitterte ihm, er mußte einen Augenblick innehalten – daß sie mir einen langen, ehrerbietigen Brief, in welchem ich sie um Aufklärung ihres schroffen Betragens bat – daß sie mir den uneröffnet zurückschickte – wollen Sie noch mehr Beweise für die unüberwindliche Abneigung gegen einen Menschen, der ihr nie etwas zu Leide gethan hat?

Sie glauben wirklich, daß sie Ihren Brief nicht gelesen hat?

Das Siegel war unverletzt. »Nicht einmal gelesen!« sagt Gräfin Orsina. Natürlich! was liegt ihr an der Beichte eines Menschen, den sie für den niedrigsten aller gewissenlosen Frauenjäger von Profession hält!

Sie phantasiren, lieber Freund. Wie käme sie dazu, Sie so niedrig zu taxiren?

Er biß sich die Lippe, und seine Brauen zogen sich düster zusammen. Ich weiß nichts Bestimmtes, sagte er dumpf, aber gleich in der ersten Stunde unserer Bekanntschaft ließ sie ein Wort fallen, das ich nur dahin deuten konnte, sie habe mich im Verdacht, an dem frühen Tod einer ihrer Freundinnen Schuld zu sein. In meinem Briefe fragte ich sie geradezu, was ich davon zu halten hätte? Aber da es ja gleichgültig ist, ob ein so verächtlicher Mensch, wie ich, eine Niedertracht mehr oder weniger auf dem Gewissen hat –

Die Malerin stand auf. Das darf nicht so fortgehen, sagte sie. Ich und Ihre anderen Freunde können Sie nicht länger in diesem jämmerlichen Zustande lassen, aus dem sich am Ende eine wirkliche Krankheit entwickelt, deren Verlauf nicht abzusehen ist. Sie müssen sich mit ihr aussprechen, und ich wette, Sie haben Gespenster gesehen, irgend ein einfältiges Geschwätz oder ein Mißverständniß liegt vor, das mit einem einzigen Wort aus dem Wege zu räumen ist. Wenn sich's aber doch um etwas Ernsteres handelte, nun, so müssen Sie Manns genug sein, lieber Hubert, dieses Mädchen sich aus dem Kopf zu schlagen, – auch wenn es Ihnen sauer würde, was ich wohl begreifen kann. Denn sie ist ein seltenes Wesen an Leib und Seele. Aber einen Mann, der sich um Eine unseres Geschlechts – ich rechne mich freilich kaum dazu – sein ganzes Leben zerstören läßt, halte ich für einen Schwächling. Bei Licht besehn, sind die Besten unter uns keine Engel, und ein Mann hat Besseres zu thun, als vor verliebter Desperation zum Narren zu werden. Wissen Sie was? Finden Sie sich morgen Nachmittag um fünf Uhr bei mir ein. Ich werde dafür sorgen, daß Ihre Donna Diana sich auch zu mir verfügt, und daß Sie beide dann ungestört sich verständigen können. Wollen Sie?

Meine theure, gütige Freundin! stammelte er und neigte sich auf ihre Hand herab, die er in großer Bewegung küßte. Sie aber entzog sie ihm, faßte mit beiden Händen seinen Kopf und küßte ihn auf die Stirn.

So, mein armes Kind! sagte sie gerührt. Das mußt du dir von deiner mütterlichen Freundin gefallen lassen. Und jetzt Courage! Gehn Sie ein bischen spazieren, lieber Hubert, und seien Sie nach Möglichkeit guter Dinge. Wenn Sie in dieser abgehärmten Eremitengestalt vor die schöne Geliebte hintreten, können Sie sich nicht wundern, daß man Sie nicht liebenswerth findet. Auf morgen also! Und bis dahin wünsche ich Ihnen wohl zu schlafen.

Sie setzte ihren Hut wieder auf, in der Eile ein wenig schief, wickelte sich in den Mantel und verließ, seine Begleitung abwehrend, hastig das Zimmer.

*

Das Schneegeriesel hatte den ganzen Tag nicht aufgehört. Es war schon völlige Nacht im Hause, als Gerda um fünf Uhr die steilen Treppen zu Molly's Atelier hinaufstieg. Oben stand sie aufathmend still, das Herz klopfte ihr, eine beklommene Ahnung sagte ihr, daß die »wichtige Mittheilung«, die ihr die Freundin verheißen hatte, nicht erfreulich sein würde. Auf das aber, was sie erwartete, war sie nicht gefaßt.

Die Thür öffnete sich, da sie kaum die Klingel gezogen hatte, das Atelier aber schien leer zu sein, so weit der graue Februar-Himmel, der zu dem breiten Fenster hereinsah, den Raum überblicken ließ. Doch nein, im Schatten der Thür regte sich jetzt eine dunkle Gestalt und trat ihr zögernd entgegen – Hubert.

Im Augenblick wurde ihr klar, daß sie in einen Hinterhalt gelockt worden war. Sie behielt aber Fassung genug, um ohne weiteren Gruß zu fragen, ob Fräulein Molly nicht zu Hause sei.

Nein, mein Fräulein, erwiederte Hubert mit etwas unsicherer Stimme. Fräulein Molly hatte einen Gang zu machen, ich denke aber, sie wird sehr bald wiederkommen.

Sie warf ihm einen eisigen Blick zu und ging an ihm vorbei, nach dem Fenster, vor dem ein alterthümlicher Sessel stand. Auf den ließ sie sich nieder, da ihr die Kniee zitterten und ihre Kraft sie zu verlassen drohte. Es war nur mäßig warm im Gemach, obwohl die Kohlen in dem kleinen eisernen Ofen noch glühten. Der Schneewind hauchte zu stark gegen die Scheiben, und die Speicherwände waren dünn.

Sie hatte die Kapuze ihres Mantels unterwegs über das Hütchen gezogen und warf sie auch jetzt nicht ab. Nur den Schirm schüttelte sie leise, daß die Flocken gegen den dünnen Teppich stoben. So schien sie entschlossen, die Rückkehr der Malerin schweigend abzuwarten, als ob sie hier oben ganz allein wäre.

Auch blickte sie nicht auf, als sie ihn langsam sich ihr nähern sah. Und dann, als er zu sprechen anfing, blieb sie wie in sich versunken, und ihr Gesicht in dem tiefen Schatten ließ nicht erkennen, was in ihr vorging.

Mein Fräulein, sagte er, es widerstrebt mir, eine Komödie zu spielen, an die Sie doch nicht glauben. Es ist kein Zufall, daß Sie Fräulein Molly nicht vorfinden. Sie hat mir, weil mein Zustand sie dauerte, Gelegenheit zu einem Gespräch mit Ihnen verschaffen wollen, da alle Versuche, mich Ihnen mündlich oder schriftlich zu nähern, hartnäckig von Ihnen abgelehnt wurden. Ich habe ihr kein Hehl daraus gemacht, wie es um mich steht, daß ich zu Grunde gehe, wenn Sie in Ihrer Feindschaft gegen mich beharren. Ich weiß, daß Sie eine leidenschaftliche Abneigung gegen mich hegen, Sie haben mir's zu deutlich zu erkennen gegeben, Sie werden's auch jetzt nicht der Mühe werth halten, es zu leugnen. Nicht wahr, mein Fräulein?

Sie schwieg noch immer und bohrte die Spitze ihres Schirms in den Teppich. Ich wüßte nicht, sagte sie endlich, warum ich Ihnen Rechenschaft geben müßte von dem, was ich fühle.

O doch, mein Fräulein! fuhr er lebhafter fort. Ich verehre Sie zu sehr, um zu glauben, daß Sie absichtlich ungerecht sein könnten und einem Menschen, gegen den Sie ein Vorurtheil haben, nicht erlauben möchten, sich zu rechtfertigen. Ich bin mir nicht der geringsten Verschuldung gegen Sie bewußt. Wenn ich Ihnen unsympathisch bin, bis zu völligem Widerwillen – das muß ich eben leiden, so schmerzlich es mir ist. Aber Sie haben mir vor allen Anderen ein Mißtrauen, eine Verachtung gezeigt, die mich beleidigen. Wären Sie ein Mann, so hätte ich längst Rechenschaft gefordert und sie mir erzwungen. Bei einem Mädchen versagen diese Mittel. Ich kann nur bitten, daß Sie mir offen sagen wollen, was Sie gegen mich haben, warum Sie mich nicht einmal der Rücksicht würdigen, die man dem Fremdesten schuldig ist, daß man einen Brief, den er geschrieben, wenigstens lies't, mag man ihn dann auch zerreißen und die Stücke ihm vor die Füße werfen!

Sie senkte den Kopf noch tiefer auf die Brust, und wieder vergingen einige Minuten, ehe sie sich zu antworten entschloß.

Ich begreife nicht, warum Sie die Sache so tragisch nehmen. Wenn ich zu erkennen gebe, daß ich den Verkehr mit diesem oder jenem Menschen nicht wünsche, muß ich dafür Gründe anführen? Giebt es immer Gründe für eine unbezwingliche Antipathie? Und was bin ich Ihnen, daß Sie sich darüber nicht beruhigen können und mich meiner Wege gehen lassen, als wäre ich überhaupt für Sie nicht auf der Welt?

Er trat ihr einen Schritt näher.

Warum ich das nicht kann, und was Sie mir sind, Fräulein Gerda? sagte er mit bebender Stimme. Muß ich Ihnen das noch sagen? Haben Sie mit dem unfehlbaren Scharfsinn, der in solchen Fällen jedem Weibe eigen ist, nicht in der ersten Stunde unserer Bekanntschaft gesehen, daß ich an Sie verloren war, ohne Widerstand, ohne Rettung? Hat meine stille Werbung um einen freundlichen Blick, ein gütiges Wort von Ihnen – so viele Monate lang – nicht den geringsten Eindruck auf Sie gemacht, und wenn Ihre Antipathie unbezwinglich war, schien ich Ihnen nicht wenigstens eines flüchtigen Mitleids werth, wie man es dem gleichgültigsten Nebenmenschen schenkt, den man von einem unheilbaren Leiden ergriffen sieht?

Sie sah zu ihm auf, nur ein paar Secunden lang. Sein bleiches, eingefallenes Gesicht und die gebrochene Haltung, in der er vor ihr stand, sprachen zu deutlich zu seinen Gunsten, als daß sie die Wahrheit seiner Worte hätte bezweifeln können. Gleichwohl zuckte sie, scheinbar ungerührt, die Achseln.

Ich gestehe, sagte sie, daß ich bis heut alles Andere eher von Ihnen gedacht hätte, als daß Sie Werth darauf legten, bemitleidet zu werden. Natürlich konnte es mir nicht entgehen, daß Sie sich um mich bemühten. Da ich aber die Erste nicht bin, der Sie diese Ehre erweisen, und auch die Letzte nicht sein werde – nein, lassen Sie uns dieses Gespräch abbrechen. Sie werden mich nie und nimmer überzeugen, daß es Ihnen ans Leben geht, wenn ich keine Lust habe, Ihre vielen Siege über Frauenherzen um einen zu vermehren. Jemand, der Sie gut kannte, hat von Ihnen gesagt, man dürfe Ihnen Ihren Wankelmuth nicht so sehr Übel nehmen, Sie seien eben ein Kind – ein liebenswürdiges Kind, setzte dieser Jemand hinzu –, das Alles haben müsse, was ihm gefalle. Wenn einem solchen verzogenen Kinde einmal eine Leckerei, nach der ihm gelüstet, nicht zu Theil wird, verzieht es freilich das Gesicht zum Weinen, es tröstet sich aber Gottlob bald, und darauf werde auch ich mich verlassen, wenn ich Ihnen jetzt einen kindischen kleinen Kummer machen muß.

Er richtete sich hoch auf.

Sie sind grausam, knirschte er, und seine Augen öffneten sich weit. Sie mißbrauchen Ihre Macht gegen einen Wehrlosen und verhöhnen einen Unglücklichen, der sich Ihnen auf Gnade und Ungnade ergeben hat. Wenn ich das Kind war, als welches ich Ihnen geschildert worden bin, – nun, aus Kindern werden Leute. In den langen Wochen, wo ich von Ihnen fern gehalten wurde – wenn Sie mich Tag für Tag hätten sehen können – o mein Fräulein, selbst Ihrem Haß trau' ich nicht zu, daß er Stand gehalten hätte bei dem erbarmungswürdigen Schauspiel, wie dieser von Ihnen verspottete kindische kleine Kummer an meiner Lebenskraft zehrte, mich zu einem Schatten meiner selbst machte, daß ich am Ende in meiner Verzweiflung irgend etwas Tolles angestellt hätte, gegen Sie oder mich selbst, wenn die gute Freundin sich nicht meiner Qual erbarmt hätte. Sie mögen davon denken, wie Sie wollen, einmal wenigstens muß ich es Ihnen gesagt haben, damit Sie sich hernach nicht mit Ihrer Ahnungslosigkeit entschuldigen können: so hoffnungslos nach Allem, was Sie mir sagen, diese Leidenschaft ist, sie beherrscht mich ganz und gar, und was auch aus mir werden mag, ich muß darauf verzichten, jemals eine glückliche Stunde zu erleben, da ich Sie nie besitzen werde.

Er wandte sich ab, schwankte nach dem Sopha hin und sank auf das niedrige Polster, mit Mühe die Thränen zurückdrängend, die ihm während der letzten Worte in die Augen getreten waren.

Da hörte er sie plötzlich sagen: Ist das Alles wirklich wahr, wenigstens wie Sie's in diesem Augenblick zu empfinden glauben? Sie lieben mich über Alles in der Welt, und Sie werden unglücklich, wenn ich nicht die Ihre werde?

Seine Thränen versiegten im Nu. Etwas wie plötzliche Hoffnung loderte in ihm auf. Gerda! rief er, sich wieder zu ihr wendend. Sie können noch fragen? Was für Schwüre soll ich Ihnen thun, wenn Sie mich, so gering Sie mich sonst schätzen mögen, in diesem Augenblick einer Lüge fähig halten können?

Nun wohl, erwiderte sie, und ihre Stimme hatte einen unheimlich harten Klang, ich will Ihnen also glauben, daß Sie es mit Ihrer Verzweiflung ehrlich meinen. Und nun darf ich Ihnen auch gestehen, daß mich Ihr Bekenntniß außerordentlich freut, und daß diese Stunde mir viele andere voll Schmerzen und Bitterkeit vergütet, die ich um Ihretwillen gelitten habe.

Er starrte sie an, rathlos, was diese seltsamen Worte meinten. Er war aufgesprungen und wieder vor sie hingetreten. Gerda! stammelte er und versuchte ihre Hand zu haschen. Sie aber wickelte sich fester in ihren Mantel und sah mit glühenden Augen zu ihm auf.

Sie sind ehrlich gegen mich, sagte sie hastig. Ich will es nicht minder sein. Ich habe von unserm ersten Begegnen an den leidenschaftlichen Wunsch gehegt, daß eine Stunde kommen möchte, in der Sie mir solche Worte sagen würden. Ja, ich habe Alles, was in meiner Macht stand, gethan, um Sie dahin zu bringen, so schlecht ich mich sonst auf kokette Manöver verstand. Zum Glück war es nicht nöthig, Ihnen gegenüber viel Künste zu brauchen. Daß ich mich kalt gegen Sie zeigte, nicht im Mindesten empfänglich für Ihre vielgepriesene Liebenswürdigkeit, Schönheit, Unwiderstehlichkeit, das genügte vollkommen. Anfangs war's wohl nur der Ehrgeiz eines unfehlbaren Siegers, auch diese Festung zu erstürmen, was Sie an mich fesselte. Wenn es im Lauf der Zeit etwas Tieferes und Ernsteres geworden ist, wie ich Ihnen glauben will, – um so besser. Meine Absicht ist erreicht. Ich habe mein Geschlecht – aber nein, was liegt mir an den Närrinnen, die Ihnen so eilig ins Garn laufen, als wär' es eine besondere Ehre, von Ihnen betrogen zu werden! – eine Einzige an Ihnen zu rächen, darauf kam es mir an. Und nun danke ich Ihnen, daß Sie mir die Last dieser Verpflichtung – denn ich habe einen Eid darum geschworen – vom Herzen genommen haben. Nun leben Sie wohl und denken Sie von mir so schlecht Sie wollen, das wird Ihnen vielleicht helfen, nicht ganz und gar Ihr Leben für verloren zu halten, sondern bald wieder ein ganz behagliches Gefühl zu gewinnen, als Liebling der Götter und Menschen, dem nur einmal die leibhaftige Nemesis über den Weg gelaufen ist.

Sie erhob sich von ihrem Sitz, zog die Kapuze fester unter dem Kinn zusammen und machte Miene, ihn zu verlassen. Da trat er ihr still in den Weg.

Sie werden nicht aus diesem Zimmer fortgehen, sagte er mit Nachdruck, ehe Sie mir noch eine Frage beantwortet haben: wer war jene Einzige, die zu rächen Sie sich gelobt hatten und die Ihnen nun danken wird, daß Sie Ihr Gelübde so glänzend gelös't haben?

Sie sah ihm starr in die Augen.

Wissen Sie es nicht selbst? Oder ist mehr als Eine, die sterben mußte, weil Sie ihr Treue gelobt und die Treue gebrochen haben? Oder hilft das eitle Herz einem Manne über alle Schauer von Schuld und Reue hinweg? Regt sich nichts in Ihnen, als ein leichtsinniges Erinnern an einen leichten Sieg, wenn Sie den Namen Susanne hören?

Ich wußt' es, sagte er, düster zur Erde blickend, ich wußt' es von der ersten Stunde an, diese Einzige war's, dieser Schatten stand zwischen uns. Ja wohl, jede Schuld rächt sich auf Erden. Aber Sie haben die Strafe vorweggenommen, ehe Sie den Schuldigen verhört haben. Nein, nun sollen Sie ihn hören. Wenn ich ein Mörder wäre, mein Richter könnte mir's nicht verweigern, mir einen Vertheidiger zu stellen, und der sollen Sie sein, Sie selbst. Sie haben nur die Anklage gehört und daraufhin Ihren Spruch gefällt. Was wissen Sie von den mildernden Umständen, die der Angeklagte vorbringen kann? Was wissen Sie von ihm selbst? Sie halten mich für einen eitlen Mann, der sich auf leichte Siege über Ihr schwaches Geschlecht etwas zugute thut. Sie irren, mein Fräulein. Es ist wahr, ich habe von früh an, was man so nennt, Glück bei den Frauen gehabt und mir kein Gewissen daraus gemacht, anzunehmen, was mir geschenkt wurde. Aber der Himmel weiß, gerade diese leichten Siege haben mich davor bewahrt, eitel darauf zu werden. Man theilt diesen Triumph mit allzu schlechten Gesellen. Wer es erlebt, daß die unliebenswürdigsten, widerwärtigsten Patrone sich der Erfolge selbst bei den schönsten und edelsten weiblichen Wesen rühmen können, weil das schwächere Geschlecht nicht bloß liebebedürftig, sondern großmüthig ist und Geben für seliger hält als Nehmen, der muß ein großer Narr oder Geck sein, wenn er sich einbildet, seine besonderen Vorzüge, etwa daß er ein flotter Offizier ist oder einen malerischen Kopf hat, verschafften ihm diese wohlfeilen Lorbeern. Ich war nicht besser als Andere, mein Fräulein, aber doch besser als die Schlechten. Nie habe ich ein Weib betrogen, das nicht betrogen sein wollte, nie mehr versprochen, als ich zu halten Willens war. Und jenes eine Mal –

Er stockte und trat einen Augenblick vor das Bild der thörichten Jungfrauen. Es war inzwischen völlig dunkel im Atelier geworden, die letzten Kohlen im Ofen erloschen, man hörte nur den Wind die Schneewirbel gegen die Scheiben schlagen. Gerda war auf den kleinen Sessel vor dem Maltischchen gesunken, so blieben sie einige Minuten still und horchten auf die Schläge ihres Herzens. Bis Hubert sich halb wieder umwandte.

Sie haben sie ja gut gekannt, sagte er, Sie nannten sie Ihre Freundin. Dann wissen Sie auch, welch ein überschwänglich hingebendes Herz in der armen, zarten Brust klopfte. Nie war ich einem Mädchen begegnet, das so ganz Seele zu sein schien, so gar nichts von der Evasnatur ihrer Schwestern hatte. Und ihre Stimme, der feuchte Glanz in ihren Augen, das entzückende Kinder- oder Engelslächeln an ihrem Munde, wenn sie sang! Sie bezauberte mich in der ersten Stunde, wo ich sie sah und hörte, daß ich glaubte: an der Seite eines solchen Geschöpfes müßte ich ein besserer Mensch werden und nie nach etwas Anderem verlangen, als von ihr geliebt zu werden. Eine gemeine Liebschaft mit ihr anzufangen, hätte ich für den Gipfel der Niedertracht gehalten. Auf Tod und Leben ging's diesmal, davon war ich tief durchdrungen.

Und als sie mir – nur dreimal hatten wir uns gesprochen – ihre Gegenliebe gestand, mit keinem Gott hätte ich getauscht.

Aber diese Götterwonne war zu herrlich, um lange zu währen. Der Keim der furchtbaren Krankheit, der in ihr gelegen hatte, entwickelte sich in der Schwüle dieser Leidenschaft mit unheimlicher Schnelle. Ich erschrak tödtlich, als ich es zuerst erkannte, und mußte alle Kraft und Verstellungskunst aufbieten, es vor ihr zu verhehlen. Sie selbst aber sollte nicht lange in der glücklichen Unwissenheit bleiben. Nach einer schlimmen Nacht, wo sie zum ersten Male Blut gehustet hatte, empfing sie mich in wilder Verzweiflung. Ich muß sterben, schluchzte sie, und weiß jetzt erst, was Leben heißt! Ich suchte sie zu beruhigen, ich verbot ihr zunächst das Singen. Um, wenn ich bei ihr war, sie vom Sprechen abzuhalten, das ihre Brust angriff, brachte ich ihr Bücher, aus denen ich ihr vorlas. Sie lag dann in ihren Schaukelstuhl zurückgelehnt, die Augen halbgeschlossen, den Blick aber unverwandt auf mich gerichtet, und schien ruhig zuzuhören, während sie doch an Anderes dachte. Denn bei den heitersten Stellen sah ich sie nicht lächeln.

So gelang mir's, sie ein wenig aufzurichten, das Leiden pausirte, wir gingen wieder Arm in Arm in ihrem Zimmer herum und plauderten von der Zukunft, und selbst ich, obwohl der Arzt mir nichts verschwiegen hatte, wagte wieder zu hoffen.

Eines Abends aber, da ich mich um ein paar Stunden verspätet hatte, fand ich sie wieder sehr viel schlechter. Das Warten habe sie so angegriffen, sie habe wieder Schmerzen auf der Brust gehabt, nun sei ihr besser, nur noch sehr matt. Ich solle mich zu ihr setzen und wieder etwas lesen.

Das that ich und sah, wie sie die Augen fest zudrückte, und dachte, am Ende lese ich sie in Schlaf und werde mich dann sacht fortschleichen.

Auf einmal aber schlug sie die Augen groß auf, legte mir die kleine kühle Hand auf das Buch und hauchte ganz leise: Es ist Wahnsinn, daß wir die kurze Zeit so vergeuden. Was gehen uns fremde Menschen an? Wirf das Buch weg und küsse mich!

Ich hatte mich streng im Zaum gehalten, sie nicht durch stürmische Liebkosungen aufzuregen. Auch jetzt, so sehr es mich zu ihr hinzog, faßte ich nur ihre Hände und küßte ihre Stirn und Augen und wollte mich dichter neben sie setzen, daß sie wie sonst ihren Kopf an meine Schulter drücken könnte. Aber sie hielt mich fest, und ich sah ihre großen Augen mit einem so eigenen verzehrenden Feuer auf mich gerichtet, wie nie zuvor. Hubert, flüsterte sie, soll ich ins Grab sinken, ohne jemals ein volles Glück gekostet zu haben? – Du wirst leben, Liebste, und wir werden glücklich sein, erwiderte ich verwirrt und suchte ihrem verlangenden Blick auszuweichen. Komm, laß uns vernünftig sein! – Da gab sie plötzlich meine Hände frei und stieß mich mit nervöser Heftigkeit zurück. Du liebst mich nicht, wie ich dich, hauchte sie, sonst würdest du mich nicht zur Vernunft ermahnen! – Ein wilder Thränenstrom brach ihr aus den Augen, ich beugte mich in heftiger Bewegung zu ihr hinab und hob sie wie ein Kind in meinen Armen auf und trug sie im Zimmer herum, während ich ihr die zärtlichsten Worte gab und die nassen Wangen mit Küssen bedeckte. Und sie, immer fassungsloser sich an mich klammernd: Ist es wahr? Du liebst mich? Ich bin dein, ganz und gar – deine einzige Liebe – dein Weib –?

Die Stimme brach ihm, er raffte sich gewaltsam auf und trat an das Fenster. Da stand er eine geraume Zeit, das heiße Gesicht gegen die überfrorene Scheibe gedrückt. Dann wandte er sich langsam zu dem Mädchen um, das regungslos dagesessen hatte.

Sie wissen nun, wie es gekommen ist, mein Fräulein. Ich will nicht sagen, daß ich ohne Schuld war, aber auch ein Heiliger hätte wohl nicht die grausame Kraft besessen, in diesem Augenblick nur an sein eigenes Seelenheil zu denken. Und glauben Sie mir, es ist mir nicht leicht geworden, Ihnen das Alles zu sagen. Sie werden es unritterlich finden, daß ich nicht lieber die Schuld des gewissenlosen Verführers auf mich genommen habe, als einer Todten die größere Hälfte zuzuwälzen. Ich muß auch das hinnehmen. Ich kann Alles leichter ertragen, als vor Ihren Augen nicht ganz so dazustehen, wie ich nun einmal bin. Auch wie ich mich weiter betragen habe, will ich nicht beschönigen. Ja, es ist wahr: seit jener verhängnißvollen Stunde war's wie ein Frost über meine Liebe gekommen. Ich sah nicht mehr das überirdische Wesen in ihr, sondern ein armes, schwaches, vielbegehrliches Weib, ja mir schauderte zuweilen, wenn sie sich mit grenzenloser Inbrunst an meine Brust schmiegte, als hielte ich ein Gespenst in den Armen, einen Vampyr, der mir das frische Lebensblut aussaugte. Und so bin ich eines Tags von ihr gegangen, um sie nicht wiederzusehen. Ich schrieb ihr, was die Wahrheit war, der Arzt habe das strenge Verbot gethan, sie vor jeder Aufregung zu behüten. Sobald ich von meiner Reise zurückkehrte, würde ich natürlich sofort zu ihr kommen, wenn sie verspräche, ruhig zu bleiben. Ruhig bleiben! Welch eine grausame, unmögliche Bedingung! Ich fühlte das wohl, ich war in heller Verzweiflung, daß dies das Ende sein sollte, aber ein Ende mußt' ich machen, da doch nichts mehr zu retten war.

Er schwieg und trat ihr näher, das Haupt demüthig geneigt, als ob er von seiner Richterin nun ein freisprechendes Wort erwartete. Da stand auch sie auf und sagte:

Nichts mehr zu retten? Auch nicht das Letzte, was das arme Herz unter seinen Qualen noch aufrecht halten konnte: der Glaube an die unwandelbare Treue Dessen, den sie mit allen Kräften ihrer Seele liebte? War's wirklich eine übermenschliche Aufgabe, bis zuletzt auszuharren neben diesem hinschwindenden Leben, selbst alles Gespenstergrauen zu besiegen und Liebe zu heucheln, wenn sie wirklich erstorben war? Das hätte ein Weib gethan, das hat so Manche vollbracht, die von dem Manne nie so viel Glück und Gabe empfangen hatte. Aber das wäre ein zu großes Opfer gewesen; es war so viel bequemer, schöne Worte zu schreiben und sich vorzureden, es sei Pflicht, die kurze Frist, die dem armen Leben noch gegönnt war, durch aufregende Zärtlichkeit nicht abzukürzen. Das war unritterlich, nicht daß Sie mir gebeichtet haben, was ich ohnehin mir schon so gedeutet hatte. Aber Sie thun mir zu viel Ehre an, Ihre Richterin bin ich nicht. Nur, da ich die Vertheidigerin der Gegenpartei sein muß, bedaure ich, auch die mildernden Umstände nicht in so günstigem Lichte sehen zu können. Genug, daß die Todte selbst Sie freigesprochen hat. Die Lebende –

Die Thür ging auf, und die Malerin trat ein.

Guten Abend, sagte sie mit möglichst unbefangener Stimme. Ich habe mich verspätet, aber man hat mich hoffentlich nicht vermißt. Haben die Herrschaften sich ausgesprochen? Ist nun Alles in Ordnung?

Alles! erwiderte Gerda. Ich bin Ihnen dankbar, liebe Freundin, daß Sie dies Gespräch herbeigeführt haben. Es ist immer besser, über die gegenseitigen Gesinnungen keinen Zweifel bestehen zu lassen. Adieu! Nein, begleiten Sie mich nicht hinaus. Ich finde meinen Weg.

Sie nickte Molly zu, ohne sich nach Hubert umzusehen, und verließ rasch das Gemach.

Wie ist das? fragte die Malerin, ihr betroffen nachblickend. Haben Sie das Eis nicht zum Schmelzen gebracht?

Es ist kein Eis, erwiderte Hubert dumpf, es ist eine Höllenflamme, die zwischen uns aufschlägt und uns das Mark im Leibe verdorren wird. Fragen Sie mich nichts, betrachten Sie mich als ausgestrichen aus dem Buche der Lebendigen. Und da ich morgen auf eine weite Reise gehe – nein, erschrecken Sie nicht, ich schieße mir keine Kugel vor den Kopf, ich brauche nur eine Luftveränderung – so haben Sie Dank für all Ihre Lieb' und Güte. Daß Sie mir nicht helfen konnten, war nicht Ihre Schuld, nur mein Schicksal.

*

Am Morgen des andern Tages wurde Gerda durch Hubert's Burschen folgendes Billet gebracht:

»Sie haben Ihren Spruch gefällt, verehrtes Fräulein. Ich unterwerfe mich ihm, da ich keine höhere Instanz kenne, an die ich appelliren könnte. Doch unter Ihren Augen ferner noch herumzugehen, mit Ihrer Verachtung beladen, wäre eine zu harte Strafe, selbst für einen noch größeren Sünder. Ich entziehe mich ihr, indem ich mich selbst verbanne. Mein Anblick soll Ihnen nie wieder schmerzliche Erinnerungen wecken. Mich aber wird ein unauslöschliches Bild überallhin begleiten. Leben Sie wohl!

H.«

Der Bediente war sogleich wieder gegangen. Noch aber hatte Gerda nicht Zeit gehabt, sich aus ihrer Bestürzung aufzuraffen und einen Entschluß zu fassen, als ein Dienstmann ihr einen zweiten Brief brachte, auf dessen Umschlag sie die kräftige Handschrift der Fächermalerin erkannte.

Molly schrieb:

»Was haben Sie denn angestellt, Sie böses Mädchen? Wollen Sie mir wirklich meinen armen Hinkefuß ins Elend treiben? Ich sah gleich heute früh bei ihm nach, ob er über Nacht auch keine dummen Geschichten angefangen hätte. Er ist ein solcher Kindskopf, daß man ihm Alles zutrauen kann, zumal er als ehemaliger Soldat mit Schußwaffen umzugehen weiß. Gottlob fand ich ihn nur beschäftigt, seinen Koffer zu packen, was freilich auch ziemlich verrückt ist, denn zu einer Vergnügungsreise ist die Witterung doch noch nicht angethan. Na, da er mir nichts verschweigen kann, kam ich bald dahinter, daß er so ziemlich bis ans Ende der Welt gehen will. Das Malen sei ihm doch einmal verleidet, er werde zeitlebens nur ein Stümper bleiben; da sei's gescheidter, sein altes Metier wieder zu ergreifen, irgendwo bei wilden Völkern, wo man den Krieger nicht darauf ansehe, ob er für den Parademarsch qualificirt sei. Auch ein hinkender Teufel stehe in Ost-Afrika oder einem andern schwarzen Weltwinkel noch seinen Mann. Nun frag' ich Sie, ob wir das leiden dürfen. Wenn die Buschiri oder Wahehe uns den schönen Menschen umbringen und aufessen – auch Ihnen, Sie schönes Ungeheuer, wird nicht ganz geheuer dabei sein, trotz Ihres Fischbluts. Ich habe ihm schwören müssen, nicht wieder bei Ihnen zu interveniren; er habe sich schon von Ihnen beurlaubt und reise in jedem Falle. Auch sage ich weiter nichts, als was übermorgen doch vielleicht schon in den »Neuesten Nachrichten« stehen würde, und sag' es Ihnen, da ich geschworen habe, stumm zu sein, nur Schwarz auf Weiß, denn ich hasse Sie in diesem Augenblick zu sehr, um Ihnen nicht, wenn ich zu Ihnen käme, die gröbsten Sottisen zu sagen, obwohl ich doch eine zu gute Meinung von Ihnen habe, um Ihnen nicht zuzutrauen, daß Sie ebenso gut wie schön sind und selber wissen werden, was ein guter Mensch zu thun hat, wenn er einen Andern durch seine Schuld dahin gebracht hat, daß er sich den Hals abschneiden will, während noch Zeit ist, ihm ins Messer zu fallen. Nein, was man für Noth und Aerger hat mit Denen, die man am meisten liebt! Womit ich verbleibe Ihre geschworene Feindin

Molly.«

Der Dienstmann wartete, ob er eine Antwort erhalten würde. Gerda ergriff hastig eine Feder und schrieb folgende Zeilen:

»Es hätte der Drohung mit Ihrer Feindschaft nicht bedurft, liebe Freundin. Ich werde das Meinige thun, das Unheil zu verhüten, und zweifle nicht am Erfolg.

Ihre getreue

G.«

Dann nahm sie ein anderes Blatt und schrieb:

»Sie dürfen nicht fortgehen, wenn Sie mir nicht unedelmüthig für die Verirrung einer leidenschaftlichen Stunde eine lebenslange Buße auferlegen wollen. Ich bin eine maßlose Natur. Ich hatte kein Recht, mich zur Richterin und Rächerin aufzuwerfen, und in dieser schlaflosen Nacht hatte ich Muße genug, mein frevelhaftes Gelübde zu bereuen, da ich Ihre Schuld in milderem Lichte sah, als ich gestern noch beim Abschied Ihnen gesagt hatte. Verzeihen Sie mir Alles, was ich Ihnen angethan, und suchen Sie mich überhaupt zu vergessen, wie ich mich bemühen werde, die Erinnerung an das letzte Jahr in mir auszulöschen. Wenn wir uns je wieder begegnen sollten, wollen wir uns wie neue Bekannte begrüßen.

G.«

Als Hubert diesen Brief empfing, war gerade Beppo bei ihm. Die Malerin hatte ihn von seiner Staffelei weggeholt, um ihn Hubert als Wächter beizugeben. Er solle versuchen, ihn zur Raison zu bringen, und keinesfalls ihn abreisen lassen. Beppo hatte einen Haß auf das schöne Mädchen geworfen und erging sich, dem Anderen gegenüber, in den stärksten Ausdrücken gegen die kokette, hochmüthige Prinzeß, der nicht einmal ein Mensch wie Hubert zu gut sei, um ihre herzlosen Launen an ihm auszulassen.

Was schreibt Ihnen denn Ihre allerungnädigste Hoheit? fragte er, indem er, auf einem der Koffer sitzend, mit grimmiger Miene aus seiner kurzen Pfeife dampfte.

Hubert faltete den Brief langsam zusammen und steckte ihn in die Tasche.

Sie will, daß ich bleiben soll.

Und nun bleiben Sie wirklich? Hören Sie, Hubert, ich bin zwar bei Ihnen als Geheimpolizist postirt, um Sie todt oder lebendig vom Reisen abzuhalten, aber eh' ich leide, daß diese Herodias, diese grausame Hexe Ihnen ferner den Fuß auf den Nacken setzt, rathe ich Ihnen selbst, zu reisen, und wär's nur bis Pasing oder Dachau, um fern von Madrid darüber nachzudenken, daß Sie doch was Besseres zu thun haben, als sich von einem Paar hübscher Augen zum Narren machen zu lassen.

Es ist beschlossen, erwiderte Hubert düster, ich reise nicht. Ich werde wieder zu arbeiten versuchen. Uebrigens bitte ich Sie, sich aller leichtfertigen Urtheile zu enthalten, in einer Sache, die Sie nicht verstehen, und über eine Dame, die Niemand in meiner Gegenwart beleidigen soll.

Er rief seinen Burschen und befahl ihm, wieder auszupacken. Dann nahm er, ohne auf Beppo's Anwesenheit zu achten, Hut und Mantel und ging nach dem Atelier des Meisters, bei dem er arbeitete.

So trieb er es auch die folgenden Tage und Wochen, immer bis zur einbrechenden Dunkelheit. Den Rest des Tages hielt er sich zu Hause, lesend, rauchend, meist aber auf seinem Divan lang ausgestreckt, ohne jede Beschäftigung, als mit seinen wühlenden Gedanken. Wenn Beppo oder ein- und das andere Mal die »mütterliche Freundin« ihn besuchten, schien er nichts zu vermissen und plauderte von Allem, wovon die Anderen anfingen. Sie sahen aber mit Kummer, daß er abmagerte und die Augen immer tiefer in ihre Höhlen sanken.

Molly's Samstage zu besuchen, war er nicht zu bewegen. Auch nicht, als er gehört hatte, daß an dem offnen Abend, der auf jene entscheidende Unterredung folgte, Gerda unerwartet sich eingefunden hatte, heiter und liebenswürdig, wie wenn sie es darauf abgesehen hätte, Molly's angedrohte Feindschaft zu entwaffnen, was ihr auch vollständig gelang. Als die Fächermalerin Hubert davon erzählte, zuckte er nur die Achseln. Um so besser, sagte er. Was aber geht es mich an?

Er schien entschlossen, allen Umgang mit den alten Freunden für immer zu meiden und nur noch seiner Kunst zu leben.

So hatte er denn auch, bei seinem besinnungslosen Fleiß, gegen Ostern sein erstes Bild zu Stande gebracht, das großen Beifall fand und sogar einen Käufer. Die Glückwünsche seiner beiden Getreuen nahm er mit bitterem Lächeln hin. Ja wohl, sagte er, wir haben es herrlich weit gebracht, ganze fünfhundert Mark, Zahlen beweisen. – Pfui, Hubert! schalt die Malerin, Sie sind ein Ungeheuer von Undank gegen das Schicksal. Zur Strafe müssen Sie sich am Ostersamstag doch noch einmal meine Hühnersteige hinaufbemühen. Wir feiern den Schluß der Wintersaison mit Eierkuchen und einer Bowle. Ich verspreche Ihnen feierlich, kein Mensch soll Ihnen über Ihr Bild was Schönes sagen, überhaupt wird man keine Notiz von Ihnen nehmen. Sie sollen in einem stillen Winkel sitzen dürfen und im Genuß Ihrer eignen Unliebenswürdigkeit nicht gestört werden. Aber ich fordere das von Ihnen als einen Freundschaftsbeweis. Es ist mir ehrenrührig, daß es den Anschein hat, als hätten Sie mich gänzlich abgeschafft.

Er versprach – etwas zögernd – wenigstens auf eine Stunde zu kommen. Eine Frage schien ihm noch auf den Lippen zu schweben, er unterdrückte sie aber, und Molly eilte sich, ihn zu verlassen, eh' ihn sein Versprechen wieder gereut hätte.

Als er dann wirklich kam, war ihm der Zwang, den er sich anthat, kaum anzumerken. Auch begegneten ihm Alle so unbefangen, als wäre sein langes Fernbleiben Niemand aufgefallen. Es war wieder sehr hübsch und lustig unter dem hohen Dache – »auf der Menschheit Höh'n« wie Beppo den Schauplatz ihrer kleinen Feste zu nennen pflegte. Die Frühlingssonne hatte schon hinlängliche Wärme unter den Dachsparren verbreitet, daß heute auch der Nebenraum mit den Lampions hinzugezogen werden konnte. Und gerade hier war der günstigste Platz, die Ostereier zu verstecken, die von den einzelnen Mitgliedern geliefert worden waren, ein jedes mit einer Zeichnung oder Malerei und einem lustigen Sprüchlein illustrirt, eine eßbare Ausgabe des Samstagblattes, sagte die Fächermalerin. Mit dem Aufsuchen dieser kleinen Kunstwerke begann das Programm des heutigen Abends, und auch Hubert betheiligte sich daran und las eben mit gutmüthiger Miene, unter einem rothen transparenten Ballon stehend, einen Vers von seinem Ei vor, der auf seinen Winterschlaf in der Bärenhöhle abzielte, als plötzlich Aller Augen sich nach der kleinen Thür wendeten, durch die ein verspäteter Gast, kein geringerer als Gerda selbst, in den helldunklen Raum trat.

*

Molly eilte mit einem freudigen Ausruf auf sie zu, umarmte sie und zog sie mitten in den Kreis hinein, der die lange Vermißte gleichfalls mit fröhlichen Liebeszeichen begrüßte. Es schien Allen, als ob sie inzwischen noch schöner geworden sei, die Augen dunkler und leuchtender, da das Gesicht ein wenig an Fülle verloren hatte, vor Allem der Ausdruck weicher und herzlicher. Eine gewisse schüchterne Anmuth war über ihr ganzes Wesen ausgegossen, die jenes Herbe und Hoheitsvolle verdrängt hatte. Sie nickte den bekannten Gesichtern in der Runde mit einem leichten Erröthen zu, wie wenn sie sich zu entschuldigen hätte, daß sie sich einzudrängen wage. Als sie sich Hubert dicht gegenüber sah, streckte sie ihm die Hand entgegen, was sie nie gethan hatte. Eine Röthe stieg ihm bis in die Stirn hinauf, während er die Hand ergriff und mit einer ehrerbietigen Verbeugung sie ein paar Secunden lang in der seinen hielt. Alle bemerkten es, daß eine Wandlung im Gemüthe des seltsamen Mädchens vorgegangen war. Beppo konnte sich nicht enthalten, seiner Nachbarin zuzuraunen: Die Nixe scheint plötzlich eine Seele bekommen zu haben!

Es wurde aber nicht viel über ihr Fortbleiben und das plötzliche Wiederkommen gesprochen, nachdem Gerda gesagt hatte, die Mutter habe eine bessere Zeit gehabt, und da die kleine Ungarin, die sie besuchte, ihr mitgetheilt, daß heute der Schluß der Winterfreuden gefeiert werden solle, habe die Mama darauf bestanden, daß sie sich auch einfinden sollte. Sie habe nun freilich kein bemaltes Osterei beisteuern können, aber ganz ohne Beitrag doch auch nicht bleiben wollen.

Damit holte sie aus ihrem rothsammtenen Beutelchen ein ziemlich großes längliches Ei hervor, das mit weißer Seide bekleidet und mit Confect gefüllt war. Auf die eine Schale war ihre Photographie befestigt, um die Molly sie längst schon gebeten hatte. Sie überreichte das kleine Andenken der Freundin, die sich aber weigerte, es für sich zu behalten. Sie wolle nicht so viel Neidische machen, das Ei müsse auch versteckt oder ausgelos't werden. Dabei warf sie Hubert einen vielsagenden Blick zu, steckte das Geschenk aber vorläufig in die Tasche, und es war für diesmal nicht weiter die Rede davon.

Nun nahm die Lustbarkeit ihren Verlauf in gewohnter Weise, mit Musik und Gesang, Plaudern und Beschauen von Skizzenbüchern und Vorlesen der letzten Nummer der Samstagszeitung. Es war Allen anzumerken, daß das freundlichere Betragen der beiden Hauptpersonen gegen einander der Feststimmung einen besonderen Aufschwung gab. Zwar sprachen die Beiden kaum ein gelegentliches Wort zusammen. Aber sie sahen nicht wie sonst an einander vorbei oder fremd vor sich hin, sondern vermieden es sogar nicht, neben einander zu sitzen und, wenn sie über einen von Beppo's Späßen lachten, sich mit den Augen zu begegnen.

Niemand beachtete es, daß die Polizeistunde heute nicht eingehalten wurde. Erst als man draußen von einer Thurmuhr Eins schlagen hörte, erhob sich Gerda erschrocken und war nicht länger zu halten. Ihr Mädchen hatte inzwischen unten in Molly's Wohnstübchen seit zwei Stunden geschlummert. Als aber die ganze Gesellschaft, lauter als es den Hausgenossen lieb sein mochte, unter Schwatzen und Lachen die Treppe hinunterrauschte, erklärte Beppo, zu so später Stunde könne er die Damen unmöglich den weiten Weg allein gehen lassen. Kommen Sie mit, Hubert? fragte er. Der Freund nickte nur; so trennte man sich vor der Hausthür von den Uebrigen und schlug selbviert den Heimweg zu Gerda's Wohnung ein.

Die Nacht war kühl und still, die Straßen menschenleer. Leichte Frühlingshauche wehten aus den Vorgärten, an denen sie vorübergingen, und hin und wieder hörten sie eine Amsel, die im halbfertigen Nest sich rührte, aus dem Schlaf ein paar einzelne Töne singen. Gerda und Hubert schritten schweigend dahin, desto aufgeräumter war Beppo, der von hundert Dingen redete, ohne eine Antwort abzuwarten.

An einer Straßenecke aber blieb er plötzlich stehen.

Ich möchte mich hier von den Herrschaften beurlauben, sagte er trocken. Den Rest des Weges finden Sie wohl allein, und mir fallen die Augen zu, wie Sie an meiner schläfrigen Conversation gemerkt haben werden. Vergnügte Feiertage, gnädiges Fräulein! Gute Nacht, Hubert!

Damit war er um die dunkle Ecke verschwunden.

Die Beiden setzten ihren Weg fort, das Mädchen ging hinterher.

Als ob sie längst darauf gewartet hätte, mit ihrem stillen Begleiter allein zu sein, wandte sich Gerda plötzlich zu ihm und sagte:

Wie schön ist Ihr Bild, das ich vor einigen Tagen im Kunstverein gesehen habe!

Hat es Ihnen wirklich gefallen?

Sie werden auf meinen Beifall nichts geben, da ich keine Kennerin bin. Auch maße ich mir nicht an, den künstlerischen Werth zu beurtheilen. Aber schon der Gegenstand, und daß Sie ihn so liebevoll durchführen konnten, hat mir große Freude gemacht. Dieser Kahn, der auf dem schönen, sonnigen Flusse, an dem herrlichen Wäldchen vorbeigleitet, die glücklichen Menschen darin, der junge Schiffer, der das Ruder in den Grund taucht und dabei auf seine Frau blickt, die das Kindchen an der Brust hält, – es ist ein solcher Frieden darin, es muß Ihnen wohl gewesen sein, als Sie es malten.

Sie irren, Fräulein, erwiderte er düster. Als ich es entwarf, da freilich war ich ganz guter Dinge. Es war im Herbst, eh' ich – eh' ich Fräulein Molly's Bekanntschaft machte. Seitdem hat sich so Manches ereignet – als ich wieder daran ging, war ich ein anderer Mensch geworden. Die Studien aber waren einmal da. So ist das Bild endlich doch noch zu Stande gekommen, aber was mir die Hand führte, war nur mehr mein bischen Talent, nicht mehr die Freude an der Aufgabe, höchstens der Neid.

Der Neid?

Auf die drei glücklichen Menschen im Kahn, die das besitzen, woran ich selbst keinen Anspruch mehr habe.

Nun schwiegen sie wieder eine Zeitlang, dann sagte Gerda, und ihre Stimme verrieth, wie schwer es ihr wurde, unbefangen zu erscheinen, da eine Horcherin hinter ihnen ging:

Haben Sie mir noch immer nicht verziehen, was ich Ihnen zu Leide gethan? all das Häßliche, Böse, Maßlose? Sie sollten es doch thun, gerade weil ich selbst es noch immer nicht fertig bringe. Daß ich mich zur Richterin aufwarf, hat sich nun gegen mich gekehrt, mein Rachegelüst sich an mir selbst gerächt. Ich habe Tag und Nacht daran denken müssen, daß ich Ihnen Unrecht gethan hatte, Sie keiner tieferen Empfindung fähig hielt. Wenn ich etwas wüßte, womit ich das wieder gut machen könnte, kein Opfer wäre mir zu groß. Sehen Sie, gerade neulich, als ich eben Ihr Bild gesehen hatte, da bin ich Ihnen unter den Arcaden begegnet. Ich war verschleiert, doch hätten Sie mich wohl erkannt, da ich dicht an Ihnen vorbeiging. Sie gingen aber mit so tiefgesenkter Stirn, sahen so bleich und todestraurig aus, ich war so erschrocken, daß ich Sie vorbeigehen ließ, ohne Sie anzureden, und nachher schämte ich mich meiner Feigheit und Herzlosigkeit und habe seitdem keinen frohen Augenblick gehabt. Soll das immer so fortgehen – mit Ihnen – und mir?

Wir werden uns wohl darein ergeben müssen, sagte er dumpf. Es giebt eben Schicksale, an denen mit dem besten Willen nichts zu ändern ist. Wo eine unbezwingliche Antipathie vorhanden ist –

Seien Sie großmüthig, flüsterte sie, während ihr die Augen feucht wurden. Habe ich Ihnen nicht geschrieben, daß ich Sie bäte, das Vergangene ruhen zu lassen, und wir wollten neu mit einander anfangen? Wenn ich Ihnen nun sage, daß ich ganz anders zu Ihnen gesinnt bin, daß ich die arme Todte jetzt wohl begreifen kann – Sie stockte, da er plötzlich stehen blieb und sie scharf ansah.

Schonen Sie einen wunden Mann, sagte er schroff. Sie meinen es gut in diesem Augenblick, aber ich bin auf meiner Hut vor neuen bitteren Täuschungen. Vielleicht reden Sie selbst sich jetzt ein, daß Sie etwas für mich empfänden, was mich aus meinem Elend heraufreißen könnte. Ich bin Ihnen dankbar für diese großherzige Regung, aber ich kenne Sie besser, ich weiß, daß Sie wohl vergeben, aber nicht vergessen können, und so armselig es mit mir steht, ich bin noch immer zu stolz, um mit bloßem Mitleiden vorlieb zu nehmen. Hier sind wir vor Ihrem Hause, mein Fräulein. Hoffentlich schlafen Sie heute besser, und um meinen Schlaf brauchen Sie nicht besorgt zu sein, dem helfe ich mit allerlei Hausmitteln nach. Gute Nacht, mein Fräulein!

Er zog den Hut und wandte sich ab. Das Dienstmädchen hatte die Hausthür aufgeschlossen und war in den dunklen Treppenflur vorangegangen, dort eine kleine Kerze anzuzünden. Gerda stand an der Schwelle, ohne sich zu regen. Plötzlich that sie ein paar Schritte dem langsam Fortgehenden nach.

Hubert!

Er stand still und blickte sich um.

Ich habe Ihnen noch etwas zu sagen. Sie müssen es wissen, wir haben ja keine Geheimnisse vor einander. Hubert, es ist nicht Mitleid, es ist – wissen Sie denn nicht selbst, was es ist? Wollen Sie mich so demüthigen, daß Sie mir's nicht von den Augen ablesen?

Sie streckte ihm beide Hände entgegen. Im nächsten Augenblicke fühlte sie sich von seinen Armen umschlungen und stürmisch an seine Brust gerissen. Aber er küßte sie nicht, er drückte ihren Kopf gegen seine Schulter, streichelte ihr Haar und trocknete ihr die von Thränen überströmte Wange mit seiner zitternden Hand. Gerda! flüsterte er. Wenn es wahr ist – wenn es mehr ist als himmlisches Erbarmen – Gott, Gott! das zu erleben! Wie bin ich das werth! Gerda, meine Geliebte! mein Weib!

Ein Schauer überlief sie. Sie machte sich plötzlich aus seiner heftigen Umschlingung los. Wir sind nicht allein! hauchte sie. Morgen – kommen Sie morgen! Gute Nacht! O Gott, was hab' ich gethan!

Und die Hände vors Gesicht schlagend, wankte sie nach der Thür zurück und ins Haus hinein, faßte dort den Arm der Dienerin, als ob sie umzusinken fürchtete, und ließ sich wie eine Nachtwandlerin die Treppe hinaufführen.

*

Die Mutter wachte noch, als sie bei ihr eintrat. Die alte Dame pflegte halb sitzend ihre Nächte im Bette zuzubringen, da ihr sonst das Athmen schwer wurde. Die Lampe stand neben ihrem Kopfkissen, ein alter Roman, in dem sie gelesen hatte, lag auf der Decke, die Brille daneben.

Das feine alte Gesicht unter der weißen Nachthaube nickte der Tochter liebevoll entgegen. War's hübsch, Gerdchen? Hast du dich gut unterhalten?

Schilt mich nur, Mutterl, daß ich mich so verspätet habe! sagte die Tochter und beugte sich zu der Alten hinab, sie zu küssen. Ich weiß nicht, wie es kam, Niemand dachte an die Uhr – sie waren so lustig – ich erzähle dir morgen –

Du weißt, daß ich nicht viel Schlaf brauche. Ich freue mich, wenn du einmal vergnügt gewesen bist. Du siehst aber ganz blaß aus. Hast du wieder getanzt?

Sie schüttelte den Kopf. Morgen, Mutterl, morgen! Ich bin todmüde, und du mußt jetzt schlafen. Gute Nacht, liebstes Mutterl!

Sie küßte sie noch einmal auf die welken, halb erloschenen Augen und eilte dann durch die kleine Thür, die beide Schlafzimmerchen verband und immer halb angelehnt blieb. Die Lampe hatte sie mit hereingenommen, aber der helle Nachthimmel sah durch die weißen Vorhänge herein, und die alte Frau dachte noch nicht an Schlaf.

Sie hörte ihr Kind nebenan sich entkleiden, dann das Fenster noch einmal leise öffnen, als ob es dem jungen Blut in dem engen Zimmerchen zu beklommen wäre. Erkälte dich nicht! rief sie ihr zu. Da ging die Thür noch einmal auf, und Gerda, nur halb ausgekleidet, glitt herein. Mutterl, flüsterte sie und kniete neben das Bett hin, die Hand der Alten ergreifend, ich kann nicht schlafen, eh' ich dir noch etwas gesagt habe. Ich habe mich heut Abend verlobt.

Gerda – mein Liebling –

Ja, Mutterl, du mußt es noch wissen, es wird dich freuen, du hast es ja schon lange gewünscht.

Sie drückte ihr Gesicht gegen die Decke und hielt die Hand der Mutter fest in ihren beiden.

Die alte Frau richtete sich noch etwas höher in den Kissen auf und streichelte mit der andern Hand sacht das aufgelös'te Haar ihres Kindes.

Mit wem, Gerdchen? Kenn' ich ihn?

Du hast ihn ein einzigesmal gesehen, er hat dir gleich so gut gefallen, weißt du noch? Du bist ihm unten im Hause begegnet, ich habe dir nachher von ihm erzählen müssen –

Wenn es Der ist, wenn er wirklich ein so guter und braver Mensch ist, wie er mir damals vorkam, und dich glücklich machen wird –

O Mutterl, wenn ich ihn nur glücklich mache! Ich habe ihm lange wehthun müssen. Heute Abend – aber das Nähere sag' ich dir morgen. Er wird morgen kommen, Mutterl. Sei freundlich zu ihm, er ist ein edler Mensch, besser als deine Tochter, und er wird dich lieb haben, er hat so gut von dir gesprochen – er ist so einsam und wird erst wieder froh werden, wenn er Menschen hat, die ihn lieben. Nun weißt du's, Mutterl, nun schlaf wohl und – gieb mir noch einen Kuß und sage, daß du mir nicht zürnst!

Dir zürnen, Liebling! – Die alte Frau beugte sich weit aus dem Bette und umfing die schlanke Gestalt ihres Kindes mit zitternden Armen. Wenn du glücklich mit ihm wirst, hauchte sie, mag er sein, wer er will – ich werde ihn segnen.

Sie hielten sich eine Weile umfaßt, dann schlüpfte das Mädchen in ihr Zimmer zurück. Sie lag aber noch stundenlang mit offenen Augen in ihrem Bette. Wenn du glücklich wirst! sagte sie mehr als einmal vor sich hin, und immer überlief sie ein seltsames Frösteln. Auch die Mutter nebenan regte sich noch lange in ihren Kissen. Die Nacht verdämmerte bereits, als die beiden aufgeregten Seelen erst zur Ruhe kamen.

*

Gegen Mittag des nächsten Tages ließ Hubert sich bei der alten Dame melden. Sie saß im Wohnzimmer auf dem Sopha in ihrem schwarzseidenen Kleide feierlich angethan, ihre beste Haube mit lila Bändern um das noch reiche silberweiße Haar, das schöne alte Gesicht leicht geröthet. Gerda trug ihr Hauskleid wie alle Tage – sie wußte freilich, wie gut es ihr stand – und war wieder am Fenster mit einer kunstreichen Arbeit beschäftigt.

Es wurde nicht viel gesprochen bei diesem ersten Besuch. Sie wissen, weßhalb ich komme? sagte Hubert, indem er die Hand der Mutter ergriff und ehrerbietig küßte.

Die alte Dame hatte sich über Nacht eine hübsche kleine Rede ausgedacht, mit der sie dem Eidam ihr einziges Kind ans Herz legen wollte. Nun brachte sie kein Wort davon über die Lippen. Ich hoffe, Sie werden sie glücklich machen, sagte sie nur. Sie verdient es. Sie ist das beste Kind auf der ganzen Welt.

Dann neigte sie sich Hubert's gesenktem Kopf entgegen und küßte ihn auf die schöne weiße Stirn, während ihr die Augen übergingen. Er war ebenfalls sehr bewegt, faßte sich aber und wendete sich zu Gerda, die ihn nur mit den Augen begrüßt hatte.

Ist es auch Ihre Hoffnung, wie die Ihrer gütigen Mutter, daß ich Sie glücklich machen werde? fragte er ganz demüthig.

Sie nickte nur. Da wagte er es, den Arm um ihren Hals zu legen und sie sanft zu sich emporzuziehen. Er hatte nun wohl ein Recht auf einen ersten bräutlichen Kuß. Sie sah aber seltsam still und fremd zu Boden und gönnte ihm nur, ihre glühende Wange mit seinen Lippen zu berühren. Es ist Alles noch so neu, sagte sie. Haben Sie Geduld mit mir!

Er war so wenig von ihr verwöhnt worden, daß ihn diese spröde Zurückhaltung nicht irre machte an seinem Glück. Er blieb noch eine Stunde und sprach fast nur mit der Mutter, von seiner Familie, die bis auf entfernte Verwandte ausgestorben war, seiner unterbrochenen militärischen Carrière, und daß er nun in dem neuen Beruf sich Ehre zu machen hoffe, daß seine geliebte Frau sich ihres invaliden Mannes nicht zu schämen hätte. Gerda hatte sich zur Mutter gesetzt, zwischen sie und den Bräutigam. Sie überließ ihm die eine Hand, die er zuweilen schüchtern drückte. Als das Mädchen hereinkam und fragte, ob es noch ein Gedeck auflegen sollte, erhob er sich. Er wolle nicht gleich ihnen in ihrem Haushalt lästig fallen. Vielleicht dürfe er Abends wiederkommen. Dann, als er der Mutter schon die Hand geküßt hatte, fragte er noch zwischen Thür und Angel, wann er hoffen dürfe daß die Hochzeit stattfinden werde. Im Herbst, denke sie, sagte die Mutter. Es sei schon der Ausstattung wegen an eine frühere Zeit nicht zu denken. Das schien ihn ganz niederzuschlagen. Er heftete einen bittenden Blick auf seine Braut und erwiderte: Er wolle sich dem Willen Gerda's unterwerfen, doch glaube er, auch sie werde es vorziehen, ihre junge Ehe schon in den Sommer hinein anzufangen. – Ich stimme Allem zu, was Sie wünschen, sagte Gerda, ohne ihn anzublicken, immer mit einem wunderlichen Ton willenloser Ergebung, doch ohne Freudigkeit. Und so kamen sie nach längerem Verhandeln überein, daß die Trauung schon zu Pfingsten geschehen sollte, wofür der Bräutigam in überströmender Freude so dankbar war, daß er beim Abschied die Mutter umarmte und auf beide Wangen küßte, während die Tochter ihm wieder nur einen flüchtigen Kuß auf Stirn und Schläfe gewährte.

Du bist so kühl gegen ihn, sagte die alte Dame, da er gegangen war. Ich begreife dich nicht recht. Er ist ein bezaubernder Mensch und vergöttert dich. Wenn du ihn durch deine Seltsamkeit dir nur nicht abwendig machst!

Laß mich nur, Mutterl! erwiderte das Mädchen. Ich kann nichts gegen meine Natur. Er kennt mich und verlangt nicht, daß ich mich ändere, eh' die Zeit es mit sich bringt. – –

Die Zeit aber, wo auch sie den zärtlichen Trieb empfinden würde, ihrem Verlobten wärmer und hingebender zu begegnen, blieb immer noch fern; selbst als die Mutter, entgegen der altbürgerlichen Sitte, das Brautpaar nicht lange allein zu lassen, da sie das Betragen ihrer Tochter peinlich berührte, sich oft stundenlang in der Wirthschaft zu schaffen machte, wenn Hubert gekommen war. Die Liebenden schienen aber diese Gunst sich wenig zu Nutz zu machen. Wenigstens fand die Mutter, wenn sie dann wieder ins Wohnzimmer kam, Hubert regelmäßig seiner Braut gegenüber, die ihren Platz am Fenster nicht aufgab und eifrig damit fortfuhr, die Initialen ihres Namens in die Wäsche der Ausstattung zu sticken.

Sie waren dabei nicht stumm. Aber sie sprachen von Dingen, die ihre Herzensangelegenheit nicht betrafen, von Gerda's Jugendjahren, ihrer italienischen Reise, seinen Arbeiten – mit einer gelassenen Vertraulichkeit, wie ein längstverheirathetes Paar. Auch den Freunden fiel diese Unzärtlichkeit auf. Beppo, nachdem er zuerst dem schönen Wesen in seiner drolligen Art Abbitte geleistet, daß er sie gehaßt habe, da sie seinen Freund verzweifeln ließ, wurde wieder stutzig über ihre Unnahbarkeit. Ich an Ihrer Stelle, sagte er hernach zu Hubert, nähme sie einmal kurzweg in die Arme und küßte sie so lange und erbarmungslos auf diese strenggeschürzten Lippen, bis das Blut in ihren Marmoradern zu fließen anfinge.

Sie thun ihr sehr Unrecht, an ihrer Warmblütigkeit zu zweifeln, sagte Hubert, melancholisch lächelnd. Sie ist wie eine Südländerin. Auch in Italien, wissen Sie ja, beträgt sich eine Braut wie eine Nonne gegen den Bräutigam, weil sie weiß, daß sie vor sich selbst und ihrem eignen heißen Blut auf der Hut sein muß. Und bei Gerda ist's wohl noch etwas Anderes. Uebrigens, wenn ich damit zufrieden bin –

Nun freilich, lachte Beppo, Pfingsten ist ja nicht mehr weit, und im wunderschönen Monat Mai, wo alle Knospen springen – – –

Daß die Verlobung dieses auserwählten Paars unter allen Theilnehmern am Samstagskränzchen das fröhlichste Aufsehen gemacht hatte, bedarf keiner Versicherung. Die gute Molly, der Hubert sie vor allen Anderen angezeigt hatte, rührte in ihrer Aufregung, und da sie die übrigen Malweibchen alle einzeln einweihen mußte, mehrere Tage lang keinen Pinsel an. Sie fühlte sich besonders stolz und glücklich, da sie sich als die Begründerin des jungen Glücks und den Schutzgeist der beiden Verbundenen betrachtete, wollte eine solenne Verlobungsfeier veranstalten und nahm es Gerda übel, daß sie sich entschieden dagegen wehrte. Desto weniger ließ sie sich's nehmen, dem Bräutigam bei der Einrichtung seiner neuen Häuslichkeit an die Hand zu gehen.

Zufällig war in dem Hause, wo Hubert die eine Hälfte des Erdgeschosses bewohnte, zu Ostern die andere Hälfte frei geworden, zu der noch eine Kammer mehr und eine Küche gehörten. Zu den drei Junggesellenzimmern kam nun noch Raum genug für den jungen Hausstand hinzu, und die Lage des Hauses im Garten war so anmuthig, daß auch Gerda's Mutter gleich dafür eingenommen war. Sie bestand darauf, die Möblirung der neu hinzukommenden Räume selbst zu bestreiten. Ein verstorbener Oheim und Pathe hatte für den Fall, daß seine Mündel sich verheirathen würde, ein eigenes Legat ausgesetzt, das nun seine Verwendung finden konnte. Was aber die Auswahl und Anordnung der Einrichtungsstücke betraf, so überließ sie diese bereitwillig dem Geschmack des Künstlers und seiner »mütterlichen Freundin«, die aus Möbelmagazinen, vor Allem aus den Vorräthen der Antiquare eifrig zusammenschleppten, was ihnen zum Rahmen für das reizende Bild der jungen Hausfrau passend schien.

Diese selbst redete ihnen nicht darein. Sie ließ sich geduldig zu den Händlern führen, um einen geschnitzten Schrank oder eine alte Truhe zu besichtigen, ehe der Handel abgeschlossen wurde, lobte auch getreulich, was die Anderen ausgesucht hatten, doch mit so zerstreuter Miene, daß Molly oft genug den Kopf schüttelte und sie gegen Hubert nur damit entschuldigte, sie liebe ihn wahrscheinlich so sehr, daß sie auch in einem indianischen Blockhause mit ihm glücklich sein würde.

*

So kam endlich Pfingsten heran.

Je mehr der Tag der Hochzeit sich näherte, je ungleicher und befremdlicher wurde die Stimmung der Braut. An manchen Tagen konnte sie sich überhaupt nicht entschließen, Hubert zu sehen. Die Mutter klagte ihm, daß sie ihr Kind nicht wiederkenne. Sie finde oft kaum ein paar Stunden Schlaf, genieße bei Tisch kaum einen Bissen und schließe sich stundenlang ein, worauf sie dann mit verweinten Augen und blaß wie eine Lilie wieder zum Vorschein komme.

Eine ernstliche Aussprache, die Hubert endlich erzwang, führte zu keiner Lösung des Räthsels. Auf seine innige und traurige Bitte, ihm zu gestehen, ob sie es bereue, ihm ihr Wort gegeben zu haben, erklärte sie in großer Bewegung, aber sehr entschieden, sie sei ihm ganz so gesinnt, wie da sie sich ihm verlobt habe, er müsse Nachsicht mit ihr haben und ihr vertrauen, daß sie ihre dunkle Verworrenheit überwinden und ihm eine gute Frau werden würde.

Endlich, am dritten Tage vor dem Pfingstsamstag, an dem sie getraut werden sollten, hatte Gerda dem Drängen der Mutter nachgegeben und war zur Beichte gegangen. Seit Jahr und Tag, selbst zu Ostern, hatte sie diese Pflicht einer guten Katholikin versäumt.

Nun kam sie als eine Verwandelte aus der Kirche zurück, mit hellen Augen und heiterer Stirn. Auf die Frage der Mutter, der dieser Anblick hoch erfreulich war, sagte sie: Ich hatte ein unerfülltes Gelübde auf der Seele, das hat mich all die Zeit her so schwer bedrückt. – Doch nicht ins Kloster zu gehen und nie zu heirathen, Kindchen? – Nein, Mutterl, etwas Anderes, wovon ich nicht reden mag. Der Pfarrer hat es von mir genommen. Es sei ein Unrecht gewesen, es überhaupt zu geloben. Nun ist mir ganz leicht, nun soll Alles noch gut werden.

Hubert war entzückt, da er die Geliebte wie eine von schwerem Leiden Genesene am Abend wiedersah. Zum erstenmal fand er sie in der Stimmung einer glücklichen Braut, die ihrem Verlobten auch ihre Lippen nicht verweigert und seine Sehnsucht schüchtern erwidert. Nur als er stürmischer wurde, entzog sie sich ihm sanft, lockte das weiße Kätzchen auf ihren Schooß, ließ aber, während sie mit der einen Hand den kleinen seidenen Rücken streichelte, die andere beständig in Hubert's beiden Händen und wich seinen glücklichen Blicken nicht aus.

Als sie dann mit der Mutter in die Kirche fuhr, sah aus dem weißen Schleier und den Myrthenzweigen ein stilles, aber süß verträumtes Gesicht hervor, das Alle, die sich um die Kirchenpforte und innen um den Altar drängten, bezauberte. Es sollte eine kleine, einfache Hochzeit sein, als Trauzeugen waren nur Molly und Beppo geladen, den Cavalier der Mutter machte der alte Hausarzt, der die Braut von klein auf kannte. Die Stammgäste der Samstagabende hatten sich's aber nicht nehmen lassen, außer einem schönen Hochzeitsgeschenk, einem großen Teppich, zu dem sie Alle beigetragen, die Sessel des Brautpaars ganz in Blumen zu hüllen, und aus dem Sängerchor, der eine geistliche Musik aufführte, klangen die Stimmen der kleinen Ungarin und anderer Freundinnen wohlbekannt an das Ohr der Braut, als sie mit ihrem Erkorenen das Schiff der Kirche durchschritt. Man raunte sich ins Ohr, daß sie nie reizender gewesen sei, daß man ein schöneres Paar sich nicht denken könne. Nur Beppo flüsterte Molly, die er am Arm führte, mit einer grimmigen Geberde zu, es sei Sünd' und Schande, zwei solche Prachtfiguren durch die niederträchtige moderne Kleidung verunstaltet zu sehen. Wie ganz anders würde die Braut sich ausnehmen im Kostüm der Bella Tizian's und Hubert in Sammt und Atlas, eine feine Krause um den schlanken weißen Hals.

Nach vollzogener Trauung und glücklich überstandener Umarmung durch ein Dutzend Malweibchen stieg das junge Paar in den Wagen, in den zweiten die Mutter mit dem alten Hausfreund und die Brautjungfer mit ihrem Cavalier. Man hatte sich überzeugt, daß in der engen Wohnung der Mama kein bequemer Raum für das Hochzeitsmahl sein würde, und ein Hôtelzimmer erschien allzu ungemüthlich. Da hatte sich der alte Doctor ins Mittel gelegt und sein Landhaus, eine halbe Stunde von der Stadt am Isar-Ufer aufwärts gelegen, für das kleine Fest angeboten. Seit mehreren Jahren hatte es freilich verödet gestanden, da die Hausfrau gestorben war. Doch waren die Zimmer noch in gutem Stande und zumal ein Gartensaal sehr geeignet, die kleine Festtafel darin aufzuschlagen.

Das hatte nun Hubert mit Beppo's Hülfe, und nachdem er einen Koch angeworben, bestens besorgt, und als die Gesellschaft nach einer heiteren Fahrt durch die frühlingsgrünen Isar-Auen draußen sich versammelte, waren Alle des Lobes voll für den freundlichen Einfall des alten Herrn, der sich's zum Dank ausbat, den Platz an der anderen Seite der Braut einnehmen zu dürfen.

Das Wetter war so lieblich, daß man die große Glasthür nach dem Garten zu offen lassen konnte. Von den jungen, schüchtern aufblühenden Büschen draußen wehten leise Düfte herein, die Vögel zwitscherten aus den Baumwipfeln, und ein kleiner Springbrunnen plätscherte nahe bei den Stufen, die zum Rasenplatz hinunterführten.

Diese bescheidene Tafelmusik machte sich doch hin und wieder vernehmlich, da die Unterhaltung nicht allzu laut geführt wurde und zuweilen ganz ins Stocken gerieth. Das neuvermählte Paar sann in stillen Gedanken, doch nicht unfroh, vor sich hin; die Mutter, die immer ein wenig feierlich blieb, antwortete nur einsilbig den kurzen Sätzen ihres Nachbars, des Doctors, der viel Reden bei Tische für die Gesundheit unzuträglich erklärte, und so trugen Beppo und Molly die Kosten der Unterhaltung fast allein.

Erst der Champagner lös'te auch den Einsilbigeren die Zungen, ja zuletzt schwang sich sogar die Brautmutter zu einem kleinen Trinkspruch auf, der freilich bald in wehmüthigen Rückblicken auf längst überstandene Schicksale sich erging und durch vorquellende Thränen ohne rechten Schluß zu Ende kam. Gerda stand auf und fiel der treuen Alten um den Hals, man umarmte sich überhaupt. Hubert schloß mit Beppo eine geräuschlose, aber herzliche Brüderschaft, und der Herr des Hauses, der schon vorhin der Malerin sehr beflissen den Hof gemacht hatte, bedauerte laut seine sechzig Jahre, da er sonst sich wohl getraut hätte, ihr noch gefährlich zu werden.

Die Mutter, die in den letzten Nächten vor Aufregung kein Auge zugethan hatte, war durch den ungewohnten Weingenuß wie betäubt und ließ sich von ihren Kindern in ein abgelegenes Zimmer führen, wo sie auf einem Sopha bald in tiefen Schlaf sank. Indessen wandelten die Anderen durch den weitläufigen Garten und ließen sich unter einer schattigen Linde an einem Tischchen nieder, wo Alles zum Rauchen und Kaffeetrinken bereit stand. Der alte Doctor war sehr aufgeräumt, erzählte von Gerda's Kinderjahren, wie sie von früh an ein eigengeartetes, sinniges und starkwilliges Ding gewesen sei und so bis in die letzten Jahre gesund, daß es ihm ein Räthsel gewesen, wie sie im vorigen Sommer auf einmal allerlei Anwandlungen von Herzschwäche bekommen habe, so daß er ihr das Tanzen habe verbieten müssen. Ob sie damals schon ihren heutigen Herrn und Gemahl kennen gelernt oder einen Seelenschmerz erlitten habe?

Die Braut war tief erglüht und betheuerte nur, sie könne sich keines besonderen Erlebnisses erinnern. Hubert sah ernst vor sich nieder. Der alte Herr merkte, daß er nicht wohlgethan hatte, auf die Vergangenheit zurückzukommen, und beeilte sich zu versichern, er sei um so glücklicher, daß er nun als Hausarzt völlig überflüssig bei der jungen Frau sein werde und nur als Hausfreund geduldet zu werden hoffe. Auch hätten sie nichts Vernünftigeres beschließen können, als auf die Thorheit der üblichen Hochzeitsreise zu verzichten und ihre Ehe im eigenen Nest zu beginnen.

Das erinnerte Gerda daran, daß es Zeit sein möchte, die Mama nach Hause zu bringen. Sie ging ins Haus zurück, und alle Blicke folgten der schlanken, reizenden Gestalt, die in dem weißen, hoch unter dem schönen Busen gegürteten Kleide wie ein Wesen aus einer andern Welt erschien. Kranz und Schleier hatte sie schon vor dem Essen abgelegt, ihr herrliches, glänzend dunkles Haar lag nur in einem schweren Knoten auf dem bräunlichen Nacken, so daß die Maleraugen, nachdem sie im Hause verschwunden war, sich in stillem bewunderndem Einverständniß zuwinkten.

Es fing schon an zu dämmern, als sie mit der Mutter wieder erschien, der den Schlaf abzukürzen sie sich lange nicht hatte entschließen können. Der alte Hausfreund erbot sich, die Mama heimzubegleiten, in seinem eigenen Wagen. Davon wollte Gerda nichts hören. Sie selbst müsse noch einmal nach Hause, ihr Kleid zu wechseln. So stieg das junge Paar mit der alten Dame in den Wagen, und die Anderen blieben noch eine Weile beisammen.

*

Als sie in der Stadt ankamen, war der Abend schon hereingesunken. Gerda zündete sofort in allen Zimmern Licht an und zog sich dann, nachdem sie Hubert in der Wohnstube umarmt und gebeten hatte, nur eine Viertelstunde zu warten, in ihr eigenes Zimmerchen zurück, sich umzukleiden und die Siebensachen, die sie zu ihrer Toilette brauchte, in ein Handköfferchen zu thun.

Nebenan ging die Mutter hin und her, öffnete Schränke und Schubfächer in nervöser Unruhe und fragte zuweilen durch die Thür, ob die Tochter Dieses und Jenes nicht auch mitzunehmen wünsche. Jetzt trat sie bei ihr ein, da Gerda soeben das Letzte vollbracht und ihr Hochzeitskleid in den Schrank geschlossen hatte und nun auf ihrem schmalen Bette saß, einen Augenblick Athem zu schöpfen, ehe sie von ihrer Mädchenjugend für immer schied.

Sieh einmal, was ich hier noch gefunden habe, Gerdchen, sagte die Mutter, zu unterst in der alten Kommode, wo du deine Ballfähnchen verschlossen hattest. Ich kramte nur so gedankenlos in der Garderobekammer und suchte das rothe Flortuch, das dir einmal so gut gestanden hat. Da gerieth mir dies Battisttüchel in die Hand. Es ist aber keines von deinen, übrigens noch ganz gut, hier in der Ecke steht ein Buchstabe, den ich nicht errathen kann, und seltsam – da in der Mitte ist ein dunkler Fleck, fast wie ein Blutfleck. Wie bist du nur zu dem Tüchlein gekommen?

Es war so dunkel in dem kleinen Zimmer, und die junge Frau auf dem Bette saß überdies dem Fenster abgekehrt, sonst wäre die Mutter wohl erschrocken über die tödtliche Blässe, die plötzlich das junge Gesicht entfärbte.

Das Tuch, stammelte sie – was für ein Tuch? Nein, es ist keins von den meinen – schenk es, wem du willst, Mutter – nein, gieb es mir nur – ich entsinne mich, wem es gehören mag – gieb es mir –

Wenn du weißt, wer es verloren hat, natürlich giebst du's zurück. Ich will es aber erst waschen lassen.

Nein, nein – gieb mir's – so wie es ist! Ich besorge das schon. Gut, daß sich's noch gefunden hat – oder auch nicht gut. Es ist aber nun – einerlei. Sie nahm der Mutter das Tüchlein aus der Hand und steckte es hastig in die Tasche.

Deine Hand zittert, Kind, du bist angegriffen. Willst du dich nicht noch eine halbe Stunde niederlegen und ausruhen?

Die Braut schüttelte den Kopf. Er wartet schon so lange, sagte sie kaum hörbar. Ich muß zu ihm – ich bin nur etwas erschöpft von dem ganzen Tage, und jetzt – aber es geht vorüber, – siehst du, ich kann ganz aufrecht stehen. Gieb mir nur deine Hand – o Mutter, Mutter, liebes Mutterl!

Sie sank der Alten an die Brust, als ob die Kraft sie verließe, und plötzlich brach sie in krampfhaftes Weinen aus. Hubert hörte es durch die Thür. Er fand es ganz natürlich, daß der Abschied die beiden so innig Verbundenen tief erschütterte. Und wirklich vergingen nicht mehr fünf Minuten, da trat seine junge Frau zu ihm ein, die Augen noch naß, aber ihm liebevoll zunickend, während sie seine Hand ergriff und flüsterte: Laß uns gehen, Hubert, bitte, laß uns rasch hinaus! Ich habe mich schon beruhigt. Den kleinen Koffer hat das Mädchen in den Wagen hinuntergebracht. Komm – komm – komm!

Sie zog ihn hinaus und die dunkle Treppe hinab. Hubert hob sie in den Wagen, noch einmal bog sie sich hinaus und winkte der Mutter zu, deren trauerndes Gesicht oben aus dem Fenster blickte, dann fuhren sie durch die kühle Abendluft nach ihrem neuen Heim.

Sie fanden Hubert's Diener an der Gartenthür zu ihrem Empfange bereit und drinnen alle Zimmer erleuchtet. Im Wohnzimmer stand das Geräth zum Thee auf dem runden Tisch, ein Geschenk des alten Arztes, dazwischen Blumen in schönen Vasen, deren Duft ihnen entgegenwehte. Der Bursch fragte, was die Herrschaften zu befehlen hätten. Hubert drückte ihm ein Goldstück in die Hand und sagte, er könne gehen, wohin er wolle, die gnädige Frau werde selbst den Thee bereiten. – Die Köchin sei dagewesen, um zu sagen, sie möchte, wenn es den Herrschaften recht sei, erst am Dienstag eintreten, die Frau, bei der sie gewohnt habe, sei krank geworden, und sie könne sie nicht wohl ohne Pflege lassen über die Feiertage. – Es ist gut, versetzte Hubert. Wir werden bei der Mama essen, und für alles Uebrige sind Sie ja bei der Hand, Friedrich. – Der Bursch stammelte noch etwas wie einen Glückwunsch und zog sich mit freundlichem Grinsen zurück.

Gerda war auf einen Stuhl gesunken und sah mit starren Augen vor sich hin. Hubert trat zu ihr.

Willst du nicht ablegen, Liebste? Wir sind nun zu Hause. Der Abschied von der Mama hat dich angegriffen. Ich muß jetzt Mutterstelle bei dir vertreten und es dem geliebten Kinde bequem machen.

Er wollte ihr das Mäntelchen abnehmen. Sie ließ es aber selbst von den Schultern gleiten und nahm in nervöser Hast den Hut ab.

Komm, sagte er und reichte ihr die Hand, sie aufzurichten. Wir wollen unser kleines Reich in Augenschein nehmen.

Er zog ihren Arm in den seinen und führte sie über die Schwelle des Wohnzimmers in ein kleineres, einfenstriges Gemach, das zum Eßzimmer bestimmt war. Ueber dem runden Tisch in der Mitte hing eine Lampe, die das Geräth auf dem zierlichen Buffet, die Krüge und blanken Platten beleuchtete. Nächsten Sonntag geben wir unser erstes kleines Diner, scherzte er, wenn die Köchin gut einschlägt. Für sechs Menschen, wie wir heute beisammen waren, reicht der Tisch eben aus. Es fehlt nur noch an Bildern hier. Aber dafür will ich schon sorgen.

Sie ließ einen irren, zerstreuten Blick an den Wänden herumgehen und drückte nur stumm seine Hand.

Nun traten sie in das Schlafzimmer, das aus zwei Fenstern in den Garten sah. Die Vorhänge waren dicht zugezogen, ein röthliches Zwielicht ging von einigen Lampen aus, die auf hohen Consolen standen. Vor dem Spiegel am Fensterpfeiler brannten zwei Kerzen auf einem Rococo-Tischchen, die Betten standen gegen die eine Wand, an der andern lehnte eine Chaiselongue, Alles neu und reich und bequem, wie Hubert es liebte, und zugleich mit dem feinen Auge des Künstlers ausgewählt und geordnet. Eine kleinere Thür im Hintergrunde führte in ein Gemach, das zu Gerda's Boudoir bestimmt war und über ein Höschen hinweg ebenfalls in Gärten sah.

Nun lass ich dich aber fünf Minuten allein, um den feierlichen Frack endlich vom Leibe zu bekommen, sagte Hubert. Wenn du dir's noch bequemer machen willst – das Handköfferchen steht dort auf dem Stuhle, und der entzückende seidene Schlafrock hängt neben dem Bette. Und dann giebt mir meine holde Hausfrau eine Tasse Thee. Gerda! Giebt es einen beneidenswertheren Sterblichen auf tausend Meilen in der Runde?

Er zog sie an sich und küßte sie auf die schönen, festgeschlossenen Lippen. Ich muß dich noch küssen lehren! flüsterte er und gab sie frei. Dann ließ er sie allein und ging in sein Junggesellenzimmer hinüber.

Als er die Kleidung gewechselt und die weiße Cravatte mit einem lose geknüpften Tuch vertauscht hatte, trat er wieder ins Wohnzimmer, auf seine junge Frau zu warten. Sie zauderte ein wenig lange. Er zündete einstweilen das Spirituslämpchen unter dem Theekessel an, setzte sich dann in den Sophawinkel und versenkte den Blick in die blaue Flamme, zog dann die Uhr hervor – es war inzwischen neun Uhr geworden – von der Straße her über den Garten weg hörte er eine Ziehharmonika einen Tanz spielen – das verklang bald, und nun war Alles still ringsum. Er seufzte ein paarmal tief auf, als drohe die Last des Glückes ihn zu erdrücken, hörte, wie das Wasser im Kessel zu singen anfing, und hielt es an der Zeit, sein saumseliges Weib herüberzuholen.

So stand er auf, ging leise durch das Eßzimmer und öffnete die Thür des Schlafgemaches, ein Scherzwort auf den Lippen. Der Anblick aber, der sich ihm dort bot, machte ihn verstummen.

Sie saß an dem Rococo-Tischchen vor dem Spiegel, das Kleid, das sie abgestreift hatte, lag neben ihr auf dem Teppich, so daß ihre glänzenden Schultern frei geworden waren. Sie war offenbar im Begriff gewesen, ihr Haar loser aufzustecken, das die Mutter des Kranzes wegen ihr fester als sonst gebunden hatte. Irgend Etwas hatte sie darin unterbrochen, ein schreckender Gedanke sie übermannt. Denn die reiche Flut ihrer Haare war ihr über die Stirn geflossen und sie hatte beide Hände fest dagegen gedrückt, wie um die Augen gegen einen entsetzlichen Anblick zu verschließen.

Im Nu war er an ihrer Seite, beugte sich zu ihr hinab und rief sie mit den zärtlichsten Namen. Nur ein krampfhaftes Zittern, das ihre Glieder schüttelte, ließ erkennen, daß sie seine Nähe empfand. Was ist geschehen? rief er in wachsender Angst. Bist du plötzlich krank geworden? Dein Herz? – Du hörst mich doch, Liebste? Soll ich dir kölnisches Wasser bringen? Oder zum Doctor –

Sie schnellte in die Höhe, blieb aber starr aufgerichtet gegen seinen umfangenden Arm gelehnt, die Hände immer noch vor das Haar gedrückt, das ihren Kopf ganz einhüllte.

Nicht, nicht! stammelte sie. Ich – bin nicht ohnmächtig – es ist nur – sieh dich um, sieh hinter mich – steht sie noch da?

Wer, Liebste? Wer soll dastehen? Niemand ist hier, als dein Liebster, dein Mann, dein bester Freund!

Sie lös'te die Hände langsam vom Gesicht, öffnete aber die Augen noch nicht. Dann nickte sie ein paarmal sehr rasch vor sich hin.

Es ist keine Täuschung gewesen, ich sah sie ganz deutlich, wie ich mich eben hingesetzt hatte und in den Spiegel blickte. – Von da hinten kam sie – weiß, wie ich sie im Sarge gesehen – ich drehte mich nicht um nach ihr – ich war wie gelähmt – sie blieb auch so im Schatten nahe am Bett, und ich sah nur ihre Augen auf mich gerichtet, aber so wild und starr! Ich wollte schreien, um Hülfe rufen – ich konnte nicht, es schnürte mir die Kehle zu – nur die Hände faltete ich, sie zu beschwören, daß sie wieder gehen sollte und nie wiederkommen – da hörte ich sie leise lachen, wie wenn sie mich höhnte, schadenfroh, und fiel auf den Stuhl hin und stopfte mir das Haar in die Ohren und drückte die Augen zu – o mein Gott, mein Gott, es ist furchtbar!

Sie sank wieder auf den Stuhl, und ein Schauder erschütterte ihren Leib, daß die Lichter auf dem Tischchen wankten.

Liebes, geliebtes Herz, du hast geträumt! rief er in heftiger Erschütterung. Blick auf! Ich bin ja bei dir! Was kann dir geschehen?

Ja, ja! hauchte sie, du mußt mich schützen. Sie soll keine Macht haben über mein Glück – ich bin ihr nichts schuldig – der Pfarrer sagte es ja auch – aber komm weg – ich kann hier nicht bleiben – führe mich –

Sie faßte nach seinem Arm, sich daran aufzurichten. Wie sie aber auf ihren Füßen stand und das Haar aus dem Gesicht zurückwarf, zitterte sie so stark, daß sie wieder umzusinken drohte. Er legte den Arm um ihren Leib und drückte sie an sich, seine Lippen suchten ihren Mund; sie erwiderte aber seinen Kuß nicht. Sie drängte ihn bittend hinweg und starrte über seine Schulter in den dämmrigen Hintergrund des Zimmers. Laß mich! rief sie plötzlich, sich ganz ihm entwindend. Da kommt sie wieder – sie will nicht leiden, daß wir uns haben – sie hebt ihren weißen Finger und droht mir – siehst du nicht? Hörst du nicht, wie sie wieder leise lacht? Fort – fort – du sollst nicht – du hast kein Recht, Susi – was hab' ich dir gethan? O mein Gott! Nein, Hubert, halte mich nicht – ich kann – ich darf nicht – o alle guten Geister, rettet mich!

Mit einem schrillen Aufschrei war sie von Hubert weggestürzt, hatte die Thür in das Boudoir aufgerissen und war seinem Blick entschwunden. Er hörte, wie sie den Riegel vorschob, dann einen dumpfen Ton, als ob sie an der Schwelle zusammengebrochen wäre.

Eine kurze Weile stand er selbst wie betäubt und suchte sich zu fassen, dann schwankte er nach der Thür, pochte daran, erst leise, dann dringender, rief ihren Namen mit den zärtlichsten Schmeichelworten, bat, flehte, beschwor sie, sich zu beruhigen, ihm zu öffnen und ihn nicht dem trostlosesten Jammer zu überlassen.

Erst nach langer Zeit kam ihre Stimme zurück: Ich bitte dich bei Allem, was dir theuer ist, Hubert, fordere es heute nicht von mir. Ich bin ruhiger geworden; hier bin ich geborgen. Ich lege mich auf das Sopha und bin ganz still und fürchte mich auch gar nicht mehr. Aber zu dir kommen kann ich nicht, verzeih, Hubert, es ist unmöglich. Ich will beten, daß es nicht wieder kommt, Gott wird gnädig sein, morgen siehst du mich wieder, aber heut – kein Wort mehr! Schlaf auch du! Armer, geliebter Freund, wie beklag' ich dich, daß du dein Herz an mich gehängt hast!

Er stand noch eine Weile und versuchte auf alle Art, ihren Sinn zu wenden. Sie antwortete aber nicht mehr. Endlich ließ er ab und kehrte in das Zimmer zurück, das so traurig verödet schien. Nach einer halben Stunde, da nebenan sich nichts mehr regte, überfiel ihn die Angst von Neuem, sie könne ohnmächtig geworden sein oder gar sich ein Leids angethan haben. Er drückte sein Ohr gegen das Schlüsselloch, hörte aber kein Stöhnen oder Wimmern. Dann ging er sacht aus dem Zimmer durch den Flur und die kleine Treppe hinab auf den Hof hinaus. Man konnte, wenn man sich an dem weitausgebauchten Gitter in die Höhe zog, zu dem Fenster hineinspähen, dessen Vorhänge nicht so dicht wie im Schlafzimmer geschlossen waren. Es gelang ihm, durch die Blumentöpfe, die hinter den Eisenstäben im Freien standen, ins Innere zu blicken. Er sah aber nur, daß auf dem Ruhebett die weiße Gestalt lag, wie es schien, ruhig ausgestreckt. Da seufzte er bitter auf und kehrte in die Wohnung zurück. Es peinigte ihn, in dem öden Schlafzimmer übernachten zu müssen. Und doch – wenn sie etwa seiner bedürfte oder sich eines Andern besänne, mußte er in der Nähe sein.

So warf er sich auf die Chaiselongue, in Kleidern wie er war, und verbrachte den größten Theil der ersehnten Hochzeitsnacht in den traurigsten Gedanken, einsam hineinhorchend zu seiner Geliebten, deren gleichmäßige Athemzüge ihm endlich wenigstens die Sorge um ihr Leben vom Herzen nahmen.

*

Gegen Morgen war der Unglückliche eingeschlummert. Als der Tag durch die Ritzen der dunkelrothen Vorhänge hereinschimmerte und ihm das Bewußtsein seiner Lage zurückkehrte, sah er sein junges Weib neben seinem Lager knien. Sie hatte die Augen mit einem rührenden Ausdruck demüthiger Zärtlichkeit auf ihn gerichtet und berührte jetzt leise mit ihren weichen Lippen seine Hand, die auf der schwer athmenden Brust ruhte. Guten Morgen, Hubert, flüsterte sie. Wir haben lange geschlafen. Willst du aufstehen? Ich werde für das Frühstück sorgen.

Er richtete sich auf und betrachtete sie mit erstaunten Augen. Sie schien ganz vergessen zu haben, was zu Nacht mit ihr geschehen war, und er hütete sich, sie daran zu erinnern. Langsam erhob er sich, wie zerschlagen in allen Gliedern, und folgte ihr in das Wohnzimmer. Der Bediente trat ein und fragte, ob die Herrschaften etwas zu befehlen hätten. Daß das Theegeschirr noch unberührt war, schien ihm nicht aufzufallen. Hubert schickte ihn wieder hinaus und ließ sich stumm und müde im Sopha nieder. Seine junge Frau aber beschäftigte sich scheinbar heiter und vom Schlaf erquickt mit der Bereitung des Thees, lächelte ihn dazwischen liebevoll an und ließ dann und wann ein unbedeutendes Wort fallen, über ihre Einrichtung, die Vertheilung der Bilder an den Wänden, die Pflanzen des Gärtchens, die zu den Fenstern hereinsahen.

Erst als sie gefrühstückt hatten, wobei Hubert nur einsilbig auf ihre Bemerkungen eingegangen war, fragte er, so verloren vor sich hin redend:

Was werden wir nun thun, Gerda?

Eine flüchtige Rothe stieg ihr ins Gesicht.

Ich habe es mir überlegt, sagte sie: es wird besser sein, wir machen doch eine kleine Fahrt ins Land hinaus. Nicht weit, Hubert, nicht etwa über den Brenner. Aber hier in der Stadt bleiben – meinst du nicht auch? – ich gewöhne mich hernach besser ein. – Wenn wir für ein paar Tage an den Starnberger See gingen, gleich heute Morgen – mein Handkoffer ist noch gepackt, Friedrich weiß ja Bescheid, was du für kleine Ausflüge brauchst –

Er erstaunte, wie vernünftig und gelassen sie das Alles besprach.

Und deine Mutter, die uns zu Tisch erwartet?

Der schicken wir ein Billet durch Friedrich. Sie wird es uns nicht übel nehmen. Das Wetter ist so herrlich.

Aber es ist Pfingstsonntag, Herz, alle Orte und auch die Eisenbahn überfüllt.

Um so besser, antwortete sie, und ihr Gesicht wurde wieder sehr ernst. Mir ist am wohlsten unter recht vielen Menschen. Nur wenn ich allein bin –

Allein mit mir?

Sie faßte seine Hand und küßte sie wieder. Du weißt ja, hauchte sie – du mußt ein wenig Geduld haben. Es ist stärker als ich – aber ich habe mir fest vorgenommen, ich will es bezwingen. Nur diesmal thu mir's zu Liebe!

*

Eine Stunde später saßen sie in einem menschenwimmelnden langen und luftigen Eisenbahnwagen dritter Klasse und fuhren dem schönen See entgegen.

Hubert hatte Billette der ersten Klasse nehmen wollen, da ihm das Angaffen fremder Menschen gerade heut unerträglich war. Aber Gerda bestand darauf, unter dem Volk zu bleiben. Auch waren sie in dem Getümmel ziemlich unbeobachtet, und der Anblick so vieler pfingstfröhlicher Gesichter aus den geringeren Ständen schien die junge Frau wohlthätig zu beschäftigen. Nur zuweilen versank sie auf Augenblicke in ein düsteres Brüten, das ihr schönes Gesicht dann zu einer bleichen Maske versteinerte. Rasch aber schüttelte sie die Anwandlung von Grauen wieder ab und grüßte mit einem besonders innigen Blick zu ihrem Gatten hinüber, der, in sich gekehrt, zwischen Furcht und leiser Hoffnung, am offenen Fenster saß.

In Starnberg bestiegen sie das Dampfschiff, das gleichfalls überfüllt war, und machten die weite Rundfahrt an den sonnigen Ufern mit, die mehrere Stunden dauerte. Sie hatten sich nicht darüber verständigt, wo sie ihr Nachtquartier wählen sollten. Sie wollten es dem Zufall überlassen. Ueber Mittag blieben sie an einem der kleinen Orte auf dem westlichen Ufer und nahmen im Freien auf einer schattigen Veranda ihr Mahl ein. Ueberall Gedränge, geputzte Frauen und Kinder, ein Durcheinanderschwirren vergnügter Stimmen, das ihnen über ihr eigenes einsilbiges Miteinandersein hinweghalf. Als nach einigen Stunden, während deren der Tag sich neigte, der Dampfer abermals anlegte, um neue Passagiere gegen alte auszutauschen, schlug Hubert vor, mit aufzubrechen. Wir dürfen nicht zu spät uns nach einem Zimmer für die Nacht umsehen, sagte er, wenn wir nicht am Ende unter freiem Himmel übernachten sollen.

Das wäre vielleicht das Beste! sagte Gerda mit ernsthaftem Gesicht. Aber wie du willst, Hubert. In Starnberg selbst finden wir wohl noch am ehesten Quartier.

Als sie sich dem Ziel ihrer Fahrt näherten, traten bereits einzelne Sterne am Himmel hervor. Doch konnte man noch am Landungssteg alle Gesichter der Menschen unterscheiden, die hier auf Freunde und Bekannte warteten.

Das junge Ehepaar war das letzte, das den schmalen Brückensteg betrat. Gerda hatte sich von dem Ausblick auf die in Duft gehüllten Berge nicht trennen können. Jetzt näherte sie sich an Hubert's Arm der weit in den See hinausgebauten Landungsbrücke und setzte eben den Fuß auf den Steg, als sie zusammenfuhr, ihren Arm aus dem ihres Gatten zog und regungslos nach dem Ufer hinstarrte.

Was hast du, Kind? fragte Hubert. Komm, wir sind die Letzten und dürfen die Schiffsleute nicht aufhalten.

Sie antwortete nicht. Sie faßte nur wieder seinen Arm, ein leises, dumpfes Stöhnen kam aus ihrer Brust, und er fühlte, daß wieder ein Schauer von Kopf bis Füßen sie überlief.

Sprich doch! bat er. Nimm dich doch zusammen! Was sollen die Leute denken?

Sie deutete flüchtig nach dem Ende des Steges hinüber, den nun schon die Letzten der Passagiere verlassen hatten.

Sieh nur hin! stammelte sie kaum hörbar. Dort – gleich am Ufer, siehst du sie nicht? Sie wartet auf uns – sie will uns nicht ans Land lassen, auch hier nicht sollen wir Ruhe finden – nein, nein, ich gehe nicht auf den Steg – sie ist im Stande und stößt mich hinunter – in die Tiefe – sie gönnt mir's nicht –

Was ist der gnädigen Frau? fragte der Kapitän theilnehmend, da er die tödliche Blässe und Aufregung der jungen Frau bemerkte.

O nichts, erwiderte Hubert rasch. Ein wenig Kopfweh von der heißen Fahrt. Komm jetzt nur, Liebste! Du wirst sehen, setzte er flüsternd hinzu, wenn du nur den Muth hast, dreist draufloszugehen, verschwindet der Spuk, der nur in deinem Kopf Gestalt angenommen hat. Nein, wehre mir nicht. Mein armes geliebtes Herz, sei tapfer!

Er machte ihre Hand, mit dem sie das Geländer des Steges umfaßt hatte, mit einiger Gewalt los und wollte sie am Arm fortführen. Aber sie war nicht von der Stelle zu bringen. Mit weit aufgerissenen Augen stierte sie unverwandt auf dieselbe Stelle am Ufer hin, ihre Züge verzerrten sich in furchtbarer Angst, wirre Worte drangen über die zitternd geöffneten Lippen, sie hob die Arme winkend und abwehrend gegen das Ufer, und jetzt – mit dem Ruf: Sie kommt! Sie hascht nach mir! Rette mich! trat sie rückwärts über das Brett, das den Dampfer mit dem Landungssteg verband, und versank augenblicklich in der krystallhellen Flut.

Im nächsten Moment hatte Hubert Rock und Stiefel abgestreift und war ihr nachgestürzt. Entsetzt sahen die Leute auf dem Schiffe und die am Ufer noch Herumzaudernden den Untergesunkenen nach. Einer der Matrosen warf sich ebenfalls in den See und schwamm um das Schiff herum, tauchte mehrmals unter, kam aber wieder auf die Oberfläche, ohne die Spur gefunden zu haben. Bis in die Nacht hinein wurden die Versuche, das unglückliche Paar zu retten, fortgesetzt. Der See schien eine unbekannte Schlucht geöffnet zu haben, welche die beiden Opfer rettungslos verschlungen hatte.

Erst am dritten Tage trieben die beiden Leichen bei Possenhofen ans Land und lagen in der schilfigen Bucht mehrere Stunden unentdeckt, bis ein Fischer sie fand und vollends auf den Uferabhang hinaufbrachte. Ihre Gesichter zeigten einen friedlichen, erlös'ten Ausdruck. Die junge Frau hatte mit den Armen den Hals ihres Mannes so fest umklammert, daß man Mühe hatte, die starren, kalten Finger auseinander zu lösen. Man kannte sie nicht. Erst am folgenden Tage gelang es, ihre Namen zu ermitteln. Wie das Taschentuch, mit dem Buchstaben S gezeichnet, in das Kleid der Todten kam, die doch Gerda geheißen, wußte sich Niemand zu deuten. Ein Blutfleck war aber nicht mehr darin, den hatten die Wellen des Sees bis auf eine blasse Spur ausgelöscht.

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