Paul Heyse
Jugenderinnerungen und Bekenntnisse
Paul Heyse

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Nach dieser Abschweifung, die man der Pietät für einen verschollenen alten Freund zugute halten wird, kehre ich zu der Zeit zurück, wo mir durch den Eintritt in das Kuglersche Haus im eigentlichsten Sinne eine vita nuova aufging.

Der Hausherr selbst, 1808 in Stettin geboren, stand damals in der Vollkraft seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit und als vortragender Rat im Kultusministerium auf der Höhe seiner Wirksamkeit auf vielen Gebieten künstlerischer Kultur, da sein Chef, der Minister von Ladenberg, ihm das größte Vertrauen in seine Einsicht und Redlichkeit bewies. Neben der Vollendung und immer neuen Bearbeitung seiner bahnbrechenden kunstgeschichtlichen Werke, neben den Aktenstößen, die sich auf seinem Pulte häuften, fand aber der so vielfach Begabte noch Zeit zu dichterischen Aufgaben, und dieser unwiderstehliche Nebentrieb seiner Natur war es auch gewesen, was ihn mit dem um sieben Jahre jüngeren Geibel zusammengeführt hatte.

Mit anderen künstlerischen Gefährten, darunter vor allen dem Malerdichter Robert Reinick, dem Architekten Strack, dem Bildhauer Drake, hatte Kugler schöne Lehr- und Wanderjahre genossen und in den verschiedensten Künsten sich versucht. Er zeichnete, radierte, sang, blies das Waldhorn, komponierte Lieder im Volkston, die er selbst gedichtet hatte. Eine Frucht dieser romantischen Jünglingszeit war das im Jahre 1830 erschienene »Skizzenbuch«, das seine ersten Gedichte enthielt, mit eigenen, zum Teil phantastischen Radierungen illustriert und mit den Noten seiner eigenen Komposition begleitet. Sein allbekanntes »An der Saale hellem Strande« erschien hier zum erstenmal, mit einer Zeichnung der alten Rudelsburg. Ein so vielseitiges Talent lief Gefahr, sich in dilettantischem Selbstgenuß zu verzetteln. Aber der redliche Ernst, der im Grunde seines Charakters lag, bewahrte ihn vor dem Schicksal, aus so vielen fröhlichen Blüten keine dauernde Frucht zu gewinnen. Er sammelte seine Kräfte zu gründlichen Studien der Kunstgeschichte, einer Wissenschaft, die damals noch in den Windeln lag, und um deren rasches Aufblühen er im Wetteifer mit seinem Freunde Karl Schnaase sich ruhmvoll verdient machen sollte.

Über die Ergebnisse seiner Forschung, die in einer großen Reihe umfangreicher Bände niedergelegt sind, ist die Wissenschaft seitdem vielfach hinausgegangen, manches berichtigend und nach neueren Quellen ergänzend. Dennoch sind diese Bücher in ihrer ersten Form wertvolle Zeugnisse geblieben, wie sich die Fülle der Erscheinungen in einem ungewöhnlich künstlerisch begabten Geist gespiegelt und einen glücklich bezeichnenden Ausdruck gefunden hat.

Als ich ihn kennen lernte, war Kugler mit der Ausarbeitung seiner »Geschichte der Baukunst« beschäftigt. Zur Übung in seinen geliebten freien Künsten ließ dies große Werk ihm kaum noch Zeit, es sei denn, daß er einzelne architektonische Illustrationen selbst radierte und abends zum Klavier eines seiner alten Lieder sang oder den stattlichen Band hervorholte, in welchem er aus dem Schatz der Volkslieder aller Nationen die charakteristischsten gesammelt hatte. Aber die poetische Ader war zu stark in ihm, um sich lange unterbinden zu lassen. Die Tage der Lyrik waren freilich vorüber. Er trug sich dagegen mit einer Fülle von Plänen zu historischen Dramen und Novellen, deren Ausführung durch das ganze nächste Jahrzehnt eifrig betrieben wurde, und über die er mit Freund Emanuel und bald auch mit mir auf weiten Spaziergängen sich auszusprechen liebte.

Wie oft holte er mich aus meiner Wohnung in der Behrenstraße ab, um durch den Tiergarten, am »Knie der Frau Crelinger« vorbei (so hieß bei den Berlinern die Villa der berühmten Schauspielerin, die an der Charlottenburger Chaussee gerade da gelegen war, wo die Straße im rechten Winkel abbog) bis zum »Türkischen Zelt« mit mir zu wandern. Dort rasteten wir ein wenig bei einer Flasche – Limonade Gazeuse! und traten bald den Heimweg nach dem Hallischen Tore an. Was wurde auf diesen traulichen Wanderungen nicht alles besprochen, wie oft auch lange Zeit geschwiegen! Dann kam es wohl vor, daß Franz eine Melodie pfiff, die ihm eben eingefallen war, zu der ich dann ebenso den Text aus der Luft griff. Das hernach so oft komponierte Lied »Waldesnacht, du wunderkühle« entstand auf diese Art zu einer feierlich getragenen, für ein Waldhorn passenden Melodie, deren träumerischer Klang von keinem der späteren Komponisten erreicht worden ist. Zuweilen auch kehrte sich das Verhältnis um; was ich in den Tag hineinsang, regte ihn an, einen Text dazu zu verfassen, womit wir dann abends am Klavier den Frauen etwas zu raten aufgaben.

Das Kuglersche Haus war damals der Sammelpunkt eines ganzen Schwarms aufstrebender junger Leute, die sich freudig als seine Schüler bekannten. Der bedeutendste darunter, Jakob Burckhardt, geboren 1818, konnte schon für einen jungen Meister gelten und stand dem älteren Freunde mit eigenem Urteil und einer Fülle auf eigene Hand erworbener Kenntnisse zur Seite, so daß Kugler ihm die Bearbeitung der zweiten Auflage seiner »Geschichte der Malerei« anvertrauen konnte, für die Burckhardt aus frischen eigenen Studien in Italien ein großes Material der wertvollsten Notizen gesammelt hatte. Noch ahnten wir nicht, zu welch beherrschender Stellung in der Geschichte der Kunst und Kultur der damals Neunundzwanzigjährige, der mit seiner heiteren Feinheit, seiner poetischen und musikalischen Begabung den häuslichen Kreis belebte, schon im Lauf der nächsten Zeit sich emporschwingen sollte. Damals sah er mit bescheidener Unterordnung zu dem älteren Meister und Freunde auf, ließ sich geduldig von Tante Luise abkonterfeien und sang, wenn er darum gebeten wurde, zum Klavier seine italienischen Volkslieder mit einer zarten, seelenvollen Stimme. Daß in ihm selbst ein Lyriker steckte, der sich wahrlich sehen lassen konnte, wenn er auch die Tarnkappe vorzog, hatten wir an den beiden anonym gedruckten dünnen Heftchen »Ferien, eine Herbstgabe« und »E Hämpfeli Lieder« erkannt, die letzteren, das Lieblichste, was je im Basler Dialekt gedichtet worden, mir heute noch unvergeßlich. Auch er war mit Geibel herzlich befreundet, wärmer und dauernder als mit den anderen jungen Hausfreunden: Fritz Eggers, der jahrelang das Kunstblatt redigiert und durch seine Rauchbiographie sich um die moderne Kunstgeschichte verdient gemacht hat, Wilhelm Lübke, der der Kunstgeschichtsforschung durch eine unermüdliche literarische Betriebsamkeit Eingang in den weitesten Kreisen verschaffen sollte, dem genialen Architekten (unter anderem Erbauer des Frankfurter Theaters) Richard Lucae, Theodor Fontane und andere. Adolf Menzel, der damals schon Kuglers »Geschichte Friedrichs des Großen« durch seine herrlichen Illustrationen verewigt hatte, stand diesem Kreise persönlich ferner, bei dessen geselligen Abenden man ihm kaum einmal begegnete.

Was aber die verschiedenen Elemente dieser Schülerschaft anzog und zusammenhielt, fast mehr noch als die unermüdliche, immer mit Rat und Tat hilfsbereite Güte des Meisters, waren die liebenswürdigen Frauen und Mädchen, die der zwanglosen Geselligkeit des Kuglerschen Hauses einen unwiderstehlichen Reiz verliehen. Vor allen anderen die Hausfrau selbst, eine Tochter Eduard Hitzigs, der selbst noch, als ein gebrochener alter Mann, im Erdgeschoß seines Hauses an der Friedrichsstraße 242 vegetierte und seinen Lehnstuhl nie verließ, um in die obere Wohnung der Tochter hinaufzusteigen. Er freute sich aber ihres Glückes, des wachsenden Ansehens ihres Gatten, der drei lieben Kinder, die sie ihm geboren hatte, und dann und wann wünschte er auch einen der jungen Hausfreunde bei sich eintreten zu sehen. Seine Erinnerungen an die eigenen berühmten Freunde, E. T. A. Hofmann, Zacharias Werner, vor allem den edlen Chamisso, bildeten dann das Thema des Gesprächs.

In solcher Umgebung war Franz Kuglers Frau aufgewachsen, ein Poetenkind, an dessen Wiege Dichter gestanden hatten. Auch ihr Vater, der alte »Ede«, hatte sich als Dichter versucht. Sie selbst aber hatte von dem Kastalischen Quell, der durch ihr väterliches Haus rauschte, nur so viel gekostet, um ihren Sinn für alle Schönheiten der Dichtung zu läutern und den Instinkt für das Echte und Große in sich zu befestigen. So bewegte sie sich anspruchslos auch unter der künstlerischen Jugend, auf die der Adel ihrer ernsten Schönheit und die weibliche Milde ihres Wesens einen Zauber ausübten, wie ihn ihr Bräutigam in dem Gedicht

Du bist wie eine stille Sternennacht

und späterhin Geibel bei der Widmung seiner Gedichte geschildert hatte:

Du aber wandelst durch den Garten
In stiller Anmut lächelnd hin.

Neben ihr, in vielem ihr voller Gegensatz, stand Kuglers Schwester Luise, äußerlich ohne jede Anmut, mit lebhaften, derben Bewegungen ihre Reden begleitend, eine echt pommersche Frohnatur, dabei mit einem zarten Sinn für alles Künstlerische begabt, wie sie es denn auch im Blumenmalen und Dekorieren von Kunstblättern zu nicht geringer Fertigkeit gebracht hatte. Sie wohnte mit ihrer trefflichen, alten Mutter in einem Hause, das dem Hitzig-Kuglerschen gerade gegenüber lag, brachte all ihre Abende in der brüderlichen Familie zu, vergötterte die Kinder, tat der Schwägerin alles Liebe und Gute an und nahm an den poetischen Gastgeschenken, die die Hausfreunde lieferten, begierig teil, einen nach dem andern im Profil in ihr Album zeichnend. Alle liebten sie und verkehrten, beim größten Respekt vor der Grundliebenswürdigkeit und Tüchtigkeit ihres Naturells, weit zwangloser mit »Tante Ihßy« als mit der Herrin des Hauses.

Außer ihr gingen noch andere anziehende weibliche Gestalten in den großen, niedrigen Mansardenzimmern der Frau Klara aus und ein, zunächst die Töchter ihres Schwagers, des Generals Baeyer, der den ersten Stock des Hauses bewohnte. Seine Gattin, Eugenie, von deren Schönheit alle, die sie gekannt hatten, nicht genug zu sagen wußten, war schon vor einigen Jahren gestorben. An den verwaisten fünf Kindern vertrat Frau Klara neben einer alten Gouvernante Mutterstelle. Auch diese Mädchenjugend war unter künstlerischen Einflüssen aufgeblüht, die zweite Tochter, Emma, die später mein Freund Otto Ribbeck heimführte, schon über das Backfischalter hinaus, dem Kuglers Töchterchen Margarete in kurzen Röcken und wehenden Haarschleifen als ein übermütiges Schulkind noch angehörte. Eine schöne, blonde Nichte Kuglers, Klara Wulsten, lebte zu verschiedenen Malen längere Zeit unter ihrem Dache, und an reizenden jungen Freundinnen war kein Mangel.

Hiernach wird man begreifen, daß ein siebzehnjähriger Student, dem der Eintritt in dieses Haus gestattet wurde, sich die Pforten des Paradieses eröffnet zu sehen glaubte. Zudem war es noch die gute alte Zeit des Berliner Lebens, in der die engeren Verhältnisse, die bescheidneren Sitten der Stadt, die noch nicht davon träumte, als Weltstadt zu gelten, jenen anspruchsloseren Zuschnitt der Geselligkeit begünstigten, der allein ein wärmeres Zusammenschließen der Menschen möglich macht und heutzutage schon wegen der räumlichen Weitläufigkeit des Verkehrs fast ganz geschwunden ist. Man durfte noch ungeladen an eine gastliche Tür anklopfen, ohne die Hausfrau in Verlegenheit zu setzen. Wenn der unvorhergesehenen Gäste einmal so viele wurden, daß das Wohnzimmer wie ein gefüllter Bienenkorb schwärmte, – für die Bewirtung mit Tee, Butterbrot und kalter Küche reichte der häusliche Herd immer noch aus, da niemand kam um eines Soupers willen, sondern um unter liebenswürdigen Menschen ein paar Stunden lang plaudernd und scherzend sich's wohl sein zu lassen.

Nun aber wäre nichts irriger, als zu glauben, daß solche Abende sich zu Sitzungen einer kleinen privaten Kunstakademie gestaltet hätten. So wenig der bekannte scharfe, kritische Ton, der in gewissen ästhetisch angehauchten Berliner Salons vorherrschte, hier angeschlagen wurde, so wenig war es auf ein beständiges Besprechen poetischer oder kunsthistorischer Themata abgesehen. Und dies war nicht zuletzt das Verdienst des Hausherrn, der, ehe er abends zu den Seinigen kam, den Professor- und Geheimratsrock in seinem Arbeitszimmer auszog und in ein bequemes Hausvaterkostüm schlüpfte. Wenn ihm Fernerstehende eine gewisse Steifheit und ablehnende Kälte nachsagten, berührten sie damit sein eigentliches Wesen so wenig wie die Berichte aus Weimar über Goethe von solchen, die in dem großen Dichter nur den Minister gefunden haben wollten. Seine scheinbare Geheimrätlichkeit entsprang nur aus einer Art Zerstreutheit und naiver Unbekümmertheit um den Eindruck, den er auf fremde Menschen machte, aus einer nachlässigen, poetischen Träumerei, in der er von seinen sehr energischen Arbeiten ausruhte. So konnte er auch unter uns jungen Leuten lange stumm dasitzen, nur mit seinen freundlichen Mienen unsere zwanglosen Scherze oder ernsten Debatten begleitend. Dann stand er wohl endlich auf, wenn die Frauen »ein Lied für das Gemüt« von ihm verlangten, und sang ein paar Eichendorffsche Lieder in seiner eigenen einfachen Melodie oder spanische und italienische Volksweisen, zu denen er die Worte gedichtet hatte, und die wir nicht müde wurden immer von neuem zu hören.

*

Jenes erste Jahr aber, das ich in dem traulichen Hause verleben durfte, stand fast ausschließlich unter dem Zeichen Geibels.

Er war damals besonders produktiv und bereitete die Herausgabe seines zweiten Bandes, der »Juniuslieder«, vor, die im folgenden Jahr erschienen. Ich habe diese Juniuslieder stets für die reifste und reichste dichterische Gabe gehalten, die Geibel seinem Volke beschert hat. Alle Töne, über die seine Leier gebot, sind hier voll und rein angeschlagen: neben der zarten, süßen Naturempfindung und den Liebesliedern, die seinen ersten Band fast ausschließlich gefüllt hatten, erklingen die zornigen und weihevollen Töne, mit denen er Deutschlands politische Kämpfe begleitete, jene Seherworte, in denen er schon damals seinen unerschütterlichen Glauben an die Wiederkehr der alten Kaiserherrlichkeit aussprach, als wir alle noch eine Erhebung und Einigung Deutschlands in dieser Form für einen Traum mittelalterlicher Dichterphantasie hielten.

Durch tiefe Nacht ein brausen zieht
Und beugt die knospenden Reiser.
Im Winde klingt ein altes Lied,
Das Lied vom deutschen Kaiser.

Wie männlich klar und bei aller feierlichen Wucht doch maßvoll erhebt er seine Stimme für die damals heiß umstrittenen Herzogtümer, wendet sich gegen die »Kleingläubigen«, die in den Stürmen der Zeit den herannahenden Untergang ahnten, und träumt von glücklicheren Tagen»,wo die Christen Menschen werden«. Mögen manche dieser Lieder in der Form den Einfluß der Freiligrathschen Lyrik verraten und die markigen Sonette an Rückerts »geharnischte« erinnern: der Gehalt in ihnen ist sein eigen, und immer muß es ihm zum Ruhm angerechnet werden, daß er in dem tosenden Hader der Parteien fortfuhr, auf die Stimme seines Genius zu horchen, um sich von seinem Wege weder rechts noch links abdrängen zu lassen. Durch alle die eifernden und dräuenden, klagenden und anklagenden Herzensergüsse klingt immer wieder der zuversichtliche Glaube an den endlichen Sieg dessen, was ihm das Höchste war: die Befreiung seines Volks von allem Druck, aller Schmach unter denen es gelitten.

Es ist ein großer Maientag
Der ganzen Welt beschieden.

Und wenn dir oft auch bangt und graut,
Als sei die Höll' auf Erden,
Nur unverzagt auf Gott vertraut,
Es muß doch Frühling werden!

Neben so bedeutsamen Offenbarungen seines Innern stehen liebenswürdige Gelegenheitsverse, in denen er seine Freunde anredet, allerlei Humoristisches, Gnomen und Sprüche voll Geist und Gemüt, zum Schluß die schöne, kleine, epische Dichtung »König Sigurds Brautfahrt«, im musterhaftesten Stil des alten Nibelungenepos. Alles in allem ein so gehaltvoller, reicher und farbenfrischer Gedichtband, wie die achtundvierziger Zeit nichts Ebenbürtiges ihm an die Seite zu stellen hatte.

Gleichwohl hatten die »Juniuslieder« nicht den Erfolg wie der erste Band der Gedichte. Zum Teil lag die Schuld wohl an dem Titel, der erst durch das Sprüchlein, das als Motto vorangesetzt war, erklärt wurdeEin ähnliches Ungeschick in der Wahl eines Titels sollte meinem ersten Versbüchlein, mit dem ich mich in München einführte, verhängnisvoll werden. Das Motto, das zur Erklärung des Titels »Hermen« dienen sollte, bewirkte dies erst, wenn das Buch schon gekauft ward, wozu das rätselhafte Wort nicht einlud.. Weiß man doch, daß die große Menge gern sicher geht und ein einmal akkreditiertes Buch lieber verlangt als ein neues, das ihm unter einer problematischen Etikette angeboten wird. Diejenigen aber, deren Amt es gewesen wäre, das Publikum darüber aufzuklären, daß der Dichter hier seine gepriesenen Erstlinge überboten habe, die Wortführer in der Presse hatten anderes zu tun. Es galt, leidenschaftlicheren Vorkämpfern der »Freiheit« zuzujubeln, solchen, die »auf der Zinne der Partei« standen. Emanuel Geibel, der zum Maßhalten ermahnte, konnte man den Backfischen überlassen, deren Dichter zu sein er in heiterer Selbstironie gelegentlich einmal geäußert hatte. Es ist oft genug verhängnisvoll, eine nur in halbem Ernst gemeinte unterschätzende Selbstkritik offen auszusprechen, die dann gedankenlose oder übelwollende Kunstrichter begierig sich aneignen und für das Zeugnis tiefer Selbsterkenntnis ausgeben.

Im Sommer 1847 aber, wo die Gewitter, die sich im Revolutionsjahr über Frankreich und Deutschland entluden, nur erst von fern durch die gährende politische Schwüle sich ankündigten, hatte man noch für alles Poetische eine dankbare Empfänglichkeit. Es waren schöne Abende, wenn Geibel, der fast täglich im Kuglerschen Hause sich einfand, das schmale abgegriffene Taschenbuch hervorzog und das neueste Gedicht las, das ihm der Tag beschert hatte. Wir saßen in dem großen Wohnzimmer mit den drei tiefen Fensternischen um den runden Tisch, die Frauen mit einer Handarbeit beschäftigt, Luise Kugler ihr Zeichenbuch vor sich, während irgendeiner der Anwesenden ihr sitzen mußte. Die Kinder hatten ihr Spielzeug weggeworfen und sich hochaufhorchend in die dunklen Ecken gekauert, um nicht zu früh zu Bett geschickt zu werden; alle, und nicht zuletzt die jungen Hausfreunde, hingen an den Lippen des Dichters, der, die Brauen zusammengezogen, heftig den Knebelbart zausend, mit seiner tiefen, eintönigen Stimme den »Morgenländischen Mythus« las –

Welch ein Schwirren in den hohen Lüften
Nächtlich überm Kaschmirsee! – Von Flügeln
Rauscht's, als kämpften droben Schwan und Rabe
Flatternd hin und her, und wundersame
Stimmen gehn dazwischen, scheltend, flehend;
Weithin trägt den Schall der Wind im Mondlicht. – –

Auf eine solche Vorlesung erfolgte nicht immer ein einmütiger Beifall. Zuweilen wagte sich auch eine kritische Stimme hervor, zumal wenn es ein dramatisches Fragment betraf, und auch wir Jüngeren faßten uns wohl ein Herz, mit einem Bedenken nicht zurückzuhalten. In der Regel nahm Geibel dergleichen Einreden mit guter Laune auf. Aber schon damals machte ihm das innere Leiden zu schaffen, das ihm durch sein ganzes Leben den freien Genuß des Daseins verkümmerte. Sein reizbares Temperament konnte dann heftig auflodern, und von den Lippen, denen eben noch die sanftesten lyrischen Töne entströmt waren, brachen dann Ausdrücke von so hanebüchener Art, wie sie eher einem hanseatischen Bootsmann als dem hochgestimmten Seher und Sänger geziemten. Besonders mit Luise, die ihm in ihrer pommerschen Naturfrische bei aller tiefen Bewunderung und warmen Freundschaft an derber Geradheit nichts nachgab, kam es hin und wieder zu einem leidenschaftlichen Disput, den er gelegentlich mit dem gut lübeckischen»Back di wat, Sela!« abschnitt, in hellem Zorn das Zimmer verlassend.

Er kam dann bald wieder sacht zu derselben Tür herein, die er so dröhnend zugeschlagen hatte, beugte vor der Gekränkten, ritterlich Abbitte leistend, ein Knie, oder zog sich mit einem Scherz aus der Affäre. Einmal unter anderem mit einem lustigen Gasel, dessen Kehrreimzeilen das schnöde Wort wiederholten:

Holde Künstlerin Luise – Back di wat!
Hör das Wort, das ich erkiese: Back di wat!
Bist du klug, so wählst du dir zum Wappenschild
Die Palett' und zur Devise: Back di wat!
Denn in diesen Silben schlummert Zauberkraft;
Keine Formel bannt wie diese: Back di wat!
Und des Westens Sänger müßten sie erhöhn,
Wie des Orients Hafise: Back di wat!
Hätt es Adam einst zur Eva kurz gesagt,
Daß er noch im Paradiese: Back di wat!
Und wir wandelten auf Blumen allzumal,
Statt zu gehn auf hartem Kiese: Back di wat!
Mancher Held, er ward ein Held nur durch dies Wort,
Das so gern ich würdig priese: Back di wat!
Zum Zyklopen sprach es leise schon Uliss,
Flüsternd unterm Widderfliese: Back di wat!
Hannibal, der Alpenklettrer sprach's am Fels,
Und es barst der Alpenriese: Back di wat!
Cäsar, da sein Schifflein schwankte hoch im Sturm,
Rief: Du wiegst den Cäsar, Briese. Back di wat!
Jenen Fluten rief's entgegen, die er brach,
Camoens, der Portugiese: Back di wat!
Als sie schmachtend sich ihm nahte, sagte kühl
Abälard zu Heloise: Back di wat!
Aber laut bei Roßbach donnert's König Fritz
In das Ohr Herrn von Soubise: Back di wat!
Ja, die Welt erobern müßte jener Held,
Welcher mit Trompeten bliese: Back di wat!
Im Marienbade friedlich singt's der Gast,
Singt's zu Karlsbad auf der Wiese: Back di wat!
Und sobald er ausgesungen seinen Spruch,
Naht die heißersehnte Krise: Back di wat!
Darum einen Tempel möcht' ich stolz dir baun,
Auf geschliffnem Marmorfliese: Back di wat!
Und mit goldnen Lettern überm Säulengang
Schreiben auf die breiten Friese: Back di wat!

Es war unmöglich, ihm länger zu grollen. In dem großen Zuschnitt seiner Natur verschwanden diese kleinen Menschlichkeiten, und je näher ich ihm kam, desto fester verband mich mit ihm das Gefühl einer dankbaren, brüderlichen Liebe und Treue. Auch seine dichterische Begabung imponierte mir je länger je mehr. Immer noch blieb ich mir bewußt, daß unsere Naturen zu verschieden waren, als daß ich einen tieferen Einfluß auf mein poetisches Trachten und Treiben von ihm hätte empfangen können. Und wenn

Ein jeglicher muß seinen Helden wählen,
Dem er die Wege zum Olymp hinauf
Sich nacharbeitet –

so war sein Weg nicht der meine. Aber in vollem Maße mußte ich den Adel seines Gemüts, das von aller Phrase weit abliegende Pathos seiner Gesinnung und den Ernst seiner künstlerischen Selbstzucht anerkennen, dabei immer wieder die souveräne Herrschaft über alle Kunstmittel bewundern. Was er dichtete, reifte stets zu einem geschlossenen, in sich vollendeten Gebilde heran, dem es freilich vielfach an jener reizenden Unmittelbarkeit, den charakteristischen Zügen naiver persönlicher Eigenart fehlte, wie sie an den größten oder doch von mir geliebtesten Dichtern mir entgegentraten. Aber wenn sein Bestreben, alles auf den höchsten Ausdruck zu bringen, im Starken wie im Zarten jene scheinbar nachlässigen Naturlaute ausschloß, die ein lyrisches Gedicht als eine Offenbarung der Seele in unbewachten Augenblicken erscheinen lassen, so bewahrte doch der warme Pulsschlag seines Bluts sein Dichten vor der Erstarrung zu kühler akademischer Formschönheit. Je älter er wurde, desto deutlicher trat der priesterliche Zug seines Naturells hervor. Er fühlte sich mehr und mehr als der geweihte Mund, aus dem in ihrer feierlichsten Stunde die Seele seines Volkes sprach, und in den »Heroldsrufen«, die er in der glorreichsten Zeit der deutschen Kämpfe und Siege herausgab, sind Töne angeschlagen, wie sie vor ihm nur Klopstock, freilich oft schwülstig und gesucht, seiner Bardenharfe entlockt hatte.

Nicht minder erschien mir auch die strenge Selbstkritik verehrungswürdig, der er seine Dichtungen unterwarf, ehe er sie veröffentlichte. Seine »Sämtlichen Werke« umfassen nur acht Bände. Und doch, bei der Leichtigkeit, mit der er in Versen improvisierte, hätte er ihre Zahl unschwer auf das Doppelte bringen können. Sein feines künstlerisches Gewissen bewahrte ihn davor, dies Phantasieren auf einem immer bereiten, wohlgestimmten Instrument für etwas Höheres zu halten als ein geselliges Talent. Wie manchen Abend aber hat er uns damit ergötzt!

Die Kinder wurden längst zu Bett gebracht,
Zu scheiden mahnt' auch uns die Mitternacht.
Doch zwischen Tür und Angel, schon im Gehn,
Blieb er in plötzlicher Erregung stehn
Und wand uns aus dem Stegreif eine Kette
Melodischer Oktaven und Sonette,
Elegisch bald, bald humoristisch endend,
Aus seinem Füllhorn unerschöpflich spendend,
Daß der sonoren Verse Klang hinaus
Sich dröhnend schwang und unten vor dem Haus
Ein später Wandler stehen blieb und lauschte,
Was für ein Spuk da oben raunt' und rauschte.

Diese Gabe ist ihm allezeit treu geblieben. Noch in der späteren Münchener Zeit, als sein körperliches Leiden ihn oft schwer verdüsterte, konnte er bei einer Flasche edlen Weins, wenn die Freunde ihn dazu anreizten, sich in die alte Stegreiflaune zurückfinden. Es gab dann zuweilen ein lustiges Wettsingen, zumal zwischen ihm und Dingelstedt, der nicht in lyrischem Pathos, sondern mit scharfgeschliffenen, witzigen Vierzeilen Geibel herausforderte, ihn aber so schlagfertig fand, daß auch er zuletzt den Meister in ihm erkennen mußte.

*

Hier nun habe ich noch eines anderen literarischen Kreises zu gedenken, von dem ich vielfache Förderung genoß, der literarischen Gesellschaft, die unter dem Namen des »Tunnels über der Spree« sich allsonntäglich ein paar Nachmittagsstunden in einem Café hinter der katholischen Kirche versammelte, eigene dichterische Arbeiten sich vorzulesen und darüber ernsthaft zu Gericht zu sitzen.

Theodor Fontane hat in seinen liebenswürdig hingeplauderten Lebenserinnerungen auch dem Tunnel ein anziehendes Kapitel gewidmet. Ich kann mich daher an dieser Stelle einer ausführlicheren Schilderung dieser »Kleindichterbewahranstalt«, wie Geibel mit sehr ungerechtem Hohn den Tunnel nannte, enthalten und will Fontanes Darstellung gegenüber nur bemerken, daß ich von der Spannung und Spaltung der Mitglieder in zwei Gruppen, die er ausführlich bespricht, nie das geringste wahrgenommen habe. Im übrigen, so mancherlei Seltsames, Pedantisches und Unpoetisches auch mit unterlief – jeder, der es mit seiner künstlerischen Entwicklung ernst nahm, mußte den wohltätigen Einfluß dieser Genossenschaft dankbar anerkennen.

In einem Kreise von zwanzig bis dreißig poesiebeflissenen Männern, die den verschiedensten Berufen angehörten, waren die wirklichen Talente natürlich in der Minderheit. Wenn es zur Abstimmung über vorgelesene Dichtungen kam, gab die Mehrheit der Dilettanten, unter denen es an biederen Philistern nicht fehlte, gewöhnlich den Ausschlag. Aber auch den Talentvollsten konnte daran liegen, das Urteil des gröberen »gesunden Menschenverstandes« zu erfahren, das er ja auch von dem großen Publikum zu erwarten hatte, und eine unschätzbare Abhärtung gegen törichtes Lob und verständnislosen Tadel wurde dem grünen Neuling zuteil, als der ich selbst, trotz meiner Jugend, durch Kugler eingeführt und freundlich aufgenommen wurde. Man weiß, daß niemand unter seinem bürgerlichen Namen Mitglied war, sondern jeder einen Tunnelnamen erhielt, der den Vorteil gewährte, daß alle Rücksicht auf Rang und Stand ferngehalten wurde. So scheute man sich nicht, da eine unbedingte Offenherzigkeit herrschte, einem Anakreon, Cook oder Lessing ins Gesicht zu sagen, was man dem Geheimrat A. oder dem Oberst N. N. gegenüber doch wohl für unschicklich gehalten hätte. Allen aber war es stets um die Sache zu tun. Und da bei der Umfrage nach einer Vorlesung jeder sein Urteil abgeben und begründen mußte, hatte diese schulmäßige Einrichtung zugleich den Vorteil, auch die Schüchternen in freier, zusammenhängender Aussprache über ästhetische Themata zu üben.

Man hatte mir, da ich ein sehr sentimentales, todesahnungerfülltes Gedicht vorgelesen hatte, den Namen Hölty gegeben. Ich zeigte bald ein anderes Gesicht mit minder elegischen Zügen und muß mich sogar anklagen, daß ich oft die Bescheidenheit vergaß, die meiner Jugend geziemt hätte, und dilettantischen alten Herren, von deren talentlosen Versen man billig überhaupt nicht viel Redens hätte machen sollen, rücksichtslos zu Leibe ging. Man verzieh mir aber dergleichen Unarten, da man meine raschen Fortschritte sah und sie zum Teil der erzieherischen Kraft des Tunnels zum Verdienst anrechnete. Und da ich die »Späne« Fontanes, Lepels, Scherenbergs und anderer wahrhaft Begabter mit großer Wärme anerkannte, gewann ich gerade unter den Besten Freunde, denen ich durch mein ganzes Leben verbunden blieb.

Der bedeutendste von diesen und zugleich meinem Herzen der nächste war Theodor Fontane. Er war zehn Jahre älter als ich, ganz anderen Lebenskreisen entstammt, von etwas kühlem Temperament, in dem sich die Elemente des französischen Esprit und der deutschen, ausgesprochen märkischen Charakteranlage vereinigt fanden, zu einer Erscheinung von unwiderstehlicher Anziehungskraft. Die völlige Abwesenheit alles Gemachten, Konventionellen, die sich in seinem Bekenntnis, ihm fehle der Sinn für Feierlichkeit, aussprach, die helle Klugheit, mit der er Menschen und Dinge auf ihren letzten Gehalt zu beurteilen suchte, ohne sein eigenes Wesen weder zu überschätzen noch je zu verleugnen, dazu dichterische Töne des echtesten Klanges, die er auf verschiedenen Gebieten anzuschlagen wußte – dies alles erregte in mir eine hingebende Liebe und Bewunderung, die er, wie mir scheint, niemals so recht voll erwiderte, obwohl er von meinem Talent von Anfang an die beste Meinung hatte. Unsere Naturen waren allzu verschieden. Für das, was mir schon früh als das Höchste in Kunst und Poesie erschien, hatte er nur eine respektvolle Hochachtung, da er im Erhabenen, ohne sich darüber klar zu werden, stets etwas wie Pose witterte. Er hatte freilich nie den Einfluß der antiken Dichtung erfahren, da er in einer Gewerbeschule für den Apothekerberuf vorgebildet worden war. Auch als er gegen das achtundzwanzigste Jahr diese Fessel abschüttelte, sich ganz auf sein schriftstellerisches Talent stützend, fehlte unter den Bildungsstoffen, die er nach wie vor reichlich in sich aufnahm, unter anderm auch alles, was zu philosophischer Betrachtung der Weltprobleme anregen konnte. Dafür trat sein historischer Sinn immer stärker hervor, sein leidenschaftliches Interesse an merkwürdigen Zuständen und Gestalten einer nicht allzu entfernten Vergangenheit, vor allem neben den englischen an denen seiner Heimat, die er mit dem Auge des Dichters in voller Leibhaftigkeit heraufbeschwor und in festen Zügen vor uns hinzustellen wußte. Für die eigentliche Lyrik, wie er sie vor allem an Storm bewunderte, fehlte ihm jede Begabung. Auch in seinen Herzensangelegenheiten, bei aller Echtheit der Empfindung, bewahrte er sich eine gewisse nüchterne Klarheit, die keinen Hauch von Traumstimmung oder dichterischer Überschwänglichkeit hatte.

Seine ersten Erfolge im Tunnel verdankte er den von Frische und Kraft strotzenden Gedichten auf die »Männer und Helden« der Zeit Friedrichs des Großen. Was auf dem Gebiet der bildenden Kunst den alten Schadow so groß gemacht hat und später in Menzel aufs Höchste gesteigert worden ist, ein idealer Wirklichkeitssinn, eine Verklärung des Nüchternen und zuweilen höchst Prosaischen, die wieder einen Eindruck hoher Kunst machen, den coin de nature, vu par un tempérament zu etwas unendlich Wertvollem erheben – vorausgesetzt, daß das Naturobjekt nicht völlig gleichgültig oder gar abstoßend ist, war auch Fontane eigen.

Wie hoch im Lauf der Zeit diese Kraft charakterisierender Darstellung selbst des Alltäglichsten bei ihm sich entwickelte, wie er insbesondere seinen Menschenblick schärfte, zeigen, um nur ein Beispiel anzuführen, die Porträts, die er von besonders interessanten und ihm nahestehenden Tunnelgenossen entwarf (»Von Zwanzig bis Dreißig«, S. 195–378). Da mir alle diese Charakterköpfe wohlbekannt sind, kann ich die Schärfe und Feinheit jedes Zuges beurteilen und neben der Richtigkeit der Auffassung die hohe Billigkeit im Urteil, die überlegene Sicherheit in der Verteilung von Licht und Schatten nicht genug bewundern. Dazu der von eigentlich literarischer Prätension vollkommen freie Stil, ein beständiges parlato, wie es auch in seinen von Witz und Ungebundenheit funkelnden Briefen so liebenswürdig erscheint, wenn auch zuweilen ein Berlinischer Bummelton durchklingt.

So hat er in diesen Konfessionen, in denen er auch seine Schwächen und Menschlichkeiten schonungslos preisgibt, neben der endlosen Reihe glänzender Porträtfiguren auch sein eigenes Bild treu nach dem Leben gezeichnet, und die wachsende Popularität, die seinem Namen zuteil geworden, heftet sich meines Erachtens noch mehr als an seine Werke an den unvergleichlichen Zauber seiner Person, der durch alles, was von intimen Zeugnissen seines Lebens besonders auch in seinen Briefen nach und nach zum Vorschein kommt, an Wärme und Lebendigkeit immer noch zunimmt. Aus diesem Grunde werden auch seine Wanderbücher wohl unbestritten ihren Rang über allen ähnlichen »Reisebildern« behaupten, da die Figur des Dichters zwischen allem, was er sieht und erlebt, mit seinen hellen Augen und dem nie vordringlichen, stets aus der Sache entspringenden Humor ihren Reiz behalten wird.

Nichts Hochromantisches rings zu sehn,
Pappeln umschwirrt von Spatzen und Krähn,
Ein roter Kirchturm hin und wieder,
Ein Schloßdach dunkelt schwarz hernieder –
Dächer von Ziegel, Dächer von Schiefer,
Dann und wann eine Krüppelkiefer,
Am trägen Flusse Schilf und Rohr,
Und am Abhang schimmern Kreuze hervor –
Ein Land, mit dem verwöhnte Touristen
Wohl nicht viel anzufangen wüßten,
Das leibt und lebt so frisch und echt,
Spricht seine Sprache schlecht und recht;
Ist nichts so groß und nichts so klein,
Der Dichter schließt's in sein Herz hinein,
Und wie er geliebt, was er geschrieben,
So müssen wir's nun wieder liebenAn Theodor Fontane zum siebzigsten Geburtstag..

Diese beiden Gaben, die er im höchsten Maße besaß, scharfe Beobachtung des Lebens und die Fähigkeit, das Erlebte und Geschaute in reizvoller Lebendigkeit darzustellen, kamen ihm auch für seine Romane und Novellen zustatten, so daß er bald nach seinen ersten noch etwas tastenden Schritten zu einer führenden Stellung unter den zeitgenössischen Erzählern gelangte und heute als das glänzendste Talent der neuen realistischen Schule anerkannt wird.

Hier aber gingen unsere Wege auseinander. Da ich von einem novellistischen Kunstwerk oder einem Roman einen höheren Begriff hatte, als daß es sich dabei nur um eine interessante Darstellung des vielgestaltigen Menschenlebens handle, um gut erzählte Geschichten, wie sie eben in buntem Wechsel sich oft zu ereignen pflegen, nicht um bedeutende Fälle sittlicher oder geistiger Konflikte, in denen wir daran teilnehmen, wie sich irrende und strebende Sterbliche mit ihren größeren oder kleineren Schicksalsaufgaben abfinden, konnte mir eine Dichtung nicht genügen, der jeder coin de nature gleich wertvoll war, wenn er nur Gelegenheit bot, von irgendeiner malerischen Seite aufgefaßt zu werden. Das Gemeine wurde als ebenso wichtig, wie das Edle, das Alltägliche so berechtigt zur Schilderung, wie das Seltene und Bedeutende betrachtet, das Kranke und Abstoßende sogar gegenüber dem Gesunden und Erquicklichen bevorzugt, da es an pathologischem Reiz diesem überlegen war. Fontane kannte unser Berlin in all seinen Schichten, von den obersten Regionen der Junker, Geheimräte und hohen Offiziere bis in die untersten Volksklassen, wußte um ihre Sitten und Unsitten Bescheid und beherrschte meisterhaft ihren Jargon. Sie so zu schildern, wie sie waren, mit einem neutralen kühlen Interesse an den verschiedensten Modellen, war sein Talent und sein einziger Ehrgeiz. Während man dem Erzähler folgte, war man im Bann seiner großen plastischen Kunst, seines Humors und der Echtheit eines jeden Zuges. War er zu Ende, so fühlte man, daß all seine Kunst nichts Bleibendes, Nachwirkendes in der Seele zurückgelassen, da keine tiefere Idee – wenn das von den Naturalisten belächelte Wort hier einmal gebraucht werden mag – die Handlung zu einer Art organischer Einheit zusammengefügt hatte. Alles war damit erschöpft, daß man wieder einmal davon Zeuge gewesen war, wie es eben in der Welt zuzugehen pflegt.

Um diese Sätze durch ein Beispiel zu illustrieren, will ich an eine Novelle erinnern, die für die Mängel und Vorzüge des Fontaneschen Naturalismus typisch ist.

Sie schildert ein Liebesverhältnis zwischen einem jungen adligen Offizier und der hübschen Tochter aus einer Gärtnerfamilie. Die Eltern haben gegen dies aussichtslose Verhältnis nichts einzuwenden, der vornehme Liebhaber imponiert ihnen, sie gönnen dem Mädchen die heimlichen Freuden dieses Umgangs. Eine Landpartie an heiterem Sommertag wird ausführlich geschildert, mit aller Anmut, die dem Erzähler eigen ist. Die Umgebung, die reizende Abgeschiedenheit, das Glück des Paars tritt in bezaubernder sinnlicher Gegenwart vor unser Auge. Eine tiefere Empfindung wird dadurch nicht geweckt. Weder der junge Baron noch das Gärtnerskind haben sich selbst oder uns irgend etwas zu sagen, was über das Alltäglichste hinausginge, sie sind beide völlig unbedeutende Naturen, an denen nur die Jugendfrische und äußere Gestalt anziehend erscheint, eine Art beauté du diable.

Und diese vergeht auch bald nach diesem Tage, den wir miterlebt haben. Das flüchtig angeknüpfte Verhältnis wird ebenso rasch, wie es geschlossen war, gelöst, ohne großes Herzweh zu hinterlassen. Mein Gott, eine Liebschaft zwischen einem Offizier und einem Mädchen niederen Standes ist ja so etwas Alltägliches! Aber wenn ein Dichter dieses tausendfach sich ereignenden Falles sich bemächtigt, erwarten wir, daß es nicht bei der Konstatierung der Tatsache bleibe; daß noch irgend etwas geschehe, was diesen Fall interessanter mache, als tausend ähnliche, ihm einen gewissen sittlichen Wert verleihe. Beide haben nach der Trennung geheiratet, der Baron ein Fräulein seines Standes, das er nicht sonderlich liebt, das Mädchen einen widerwärtigen Menschen, gegen den sie sogar einen stillen Abscheu empfindet. Sie wünschte eben versorgt zu werden. Aber jetzt – jetzt wird doch noch etwas kommen, ein Wiedersehen wird irgendwie stattfinden und vielleicht sogar eine Katastrophe herbeiführen, bei der es zu irgendeinem Konflikt käme? Die eigentliche Novelle wird jetzt erst beginnen und zu irgendwelcher Höhe gelangen? Nichts derart! Denn in der Wirklichkeit pflegt es dabei zu bleiben, daß eine solche Liebschaft keine Fortsetzung hat, es sei denn eine natürliche »Folge«, die ebenfalls auf die gewohnte alltägliche Weise abgefunden wird.

Wie aber stimmt nun mit dem höchst einfachen Verlauf dieser Geschichte der Titel »Irrungen, Wirrungen«, ein Titel, der durch nichts in der Erzählung gerechtfertigt wird. Alles verläuft ja ganz regelrecht, keine der Personen irrt sich in der andern, und von einem Wirrsal, das zu lösen wäre, ist keine Rede. Nur der Leser irrt sich, wenn er eine Vertiefung des Stoffes erwartet, die der Dichter ihm schuldig geblieben ist!

*

Von dieser langen Abschweifung kehre ich zum Tunnel zurück.

Was Fontane dort zum besten gab, ließ seine spätere Entwicklung nicht ahnen, so daß auch ein künstlerischer Gegensatz zwischen uns sich nicht von fern ankündigte. Ich war sehr angetan von seinen Balladen, die zwar fühlbar durch Percys relics of ancient poetry beeinflußt waren, doch auch oft weit über deren chronikartigen Stil hinausgingen. Ich erinnere nur an den herrlichen Archibald Douglas, das Kleinod aller deutschen Balladenpoesie.

Was mich selbst betrifft, so brachte ich im Tunnel 1851 meine erste Novelle »Marion« und die Erzählung in Versen »Die Brüder«, die bei der ausgeschriebenen Doppelkonkurrenz für die beste Erzählung in Prosa und Versen beide den Preis erhielten. Ich verhehlte mir nicht, daß hier, wie bei dem Eindruck alles Künstlerischen auf jedes Publikum, der Wert und Reiz des Stoffes den Ausschlag bei der Beurteilung gegeben hatte. Doch war ich sehr glücklich und von da an, da ich mir nun die Ziele immer höher steckte, vor jeder Überhebung bewahrt.

Bald nachher sollte ich noch bei einer anderen Preisbewerbung als Sieger hervorgehen.

Im Berliner Zoologischen Garten war ein Bär gestorben, den man, um eine Staarbildung auf seinen Augen zu operieren, chloroformiert hatte. Die Operation war auch gelungen, der Patient aber aus der Narkose nicht wieder aufgewacht. Dieses Ereignis hatte unser Tunnelmitglied, der Bildhauer Wilhelm Wolff, der sich besonders durch Skulpturen aus dem Tierreich auszeichnete, in einer humoristischen kleinen Gruppe verewigt. Der selig entschlafene Bär ruht, das schwere Haupt auf die rechte Schulter herabgesunken, von verschiedenen Ärzten in Tiergestalten umgeben, zu seinen Füßen sein kleiner Sohn, der die Tatzen vors Gesicht hält, auf der andern Seite ein ironisch lächelnder Fuchs, hinter dem Toten ein Widder als Famulus mit der Chloroformflasche.

Das lustige Bildwerkchen sollte in Bronze gegossen und mit einer Inschrift versehen werden, zu deren Abfassung der Künstler einen Wettbewerb im Tunnel ausschrieb. Preis: ein Abguß der Gruppe.

Die Verse, mit denen ich siegte, sind mehrfach ungenau zitiert worden, so daß sie hier im richtigen Wortlaut stehen mögen:

Der Bär ist nun ein stiller Mann,
Das Chloroform ist schuld daran.
Ein ärztliches Kollegium
Ging mit dem Tier zu menschlich um.
Das Füchslein grinst, das Bärlein flennt,
Der Wolf setzt ihm dies Monument.

*

Geibel hatte sich, wie schon angedeutet, dem Tunnel beharrlich ferngehalten. Er war nicht der Mann dazu, sich vor einem größeren Kreise Zensuren über sein poetisches Wohlverhalten gefallen zu lassen, zumal vor einer Korona, die so bedenklich aus Laien und Kennern gemischt war. Auch sollten wir ihn bald verlieren. Ende Februar 1848 hatte Ernst Curtius, der Hofmeister des Prinzen Friedrich Wilhelm, ihn auf Befehl des Prinzen von Preußen eingeladen, der zweiten Vorstellung seines »Meister Andrea« beizuwohnen, die diesmal vor dem Könige stattfand. Er erlebte darauf noch den Ausbruch der Märzrevolution mit uns und zog sich bald darauf nach Lübeck zurück, wo er während der Jahre 1849 bis 51 an seinen dramatischen Entwürfen weiterarbeitete.

Mit welcher Stimmung er der Bewegung, die vom 18. März ausging, gegenüberstand, sagten uns seine Briefe. Schon seiner maßvollen, tief religiösen Natur war das wüste Treiben, das nicht auf eine ruhige Entwicklung so tief berechtigter politischer Forderungen und langgenährter volkstümlicher Wünsche, sondern auf einen jähen Umsturz zielte, ein Greuel. Zudem fühlte er sich dem Könige für die freiwillig gewährte Pension zu Dank verpflichtet und hatte im Hause seines hohen Bruders so viel Freundliches und Huldvolles genossen, daß ihn die Ereignisse aufs persönlichste mittreffen mußten, die den verehrten Prinzen nach England trieben, und der Gedanke ihn im Innersten empörte, daß an der Wand des Palais, in welchem noch vor kurzem sein »Meister Andrea« aufgeführt worden war, nun mit großen Buchstaben das freche Wort »Nationaleigentum« geschrieben stand.

Wir jüngeren, politisch völlig Unreifen hatten keinen Schutz gegen das hitzige Freiheitsfieber, das damals auch besonnenere Köpfe ergriff. Die Abenteuerlust der Jugend kam hinzu. Es war so aufregend schön, mit Flinte und Schleppsäbel, eine Feder am grauen Heckerhut, im Studentenkorps mitzumarschieren, nachts Schildwacht zu stehen auf der Rampe vor dem »Nationaleigentum«, oder im Schweizersaal des Schlosses die Nächte zu durchwachen und mit den Freunden Roquette und Fritz Eggers Verse auf Endreime zu machen, um den Schlaf abzuwehren. Auch blieb es nicht bei diesen Reimscherzen, die mit der großen Sache nichts gemein hatten. Wir konnten der Versuchung nicht widerstehen, in die stürmischen Klänge der Zeit auch unser Wort mit hineinzuwerfen, und ließen ein Heftchen im Verlag der Gubitzschen Buchhandlung erscheinen unter dem Titel »Funfzehn neue deutsche Lieder zu alten Singweisen«, natürlich »den deutschen Männern Ernst Moritz Arndt und Ludwig Uhland gewidmet«. Nur der alte Arndt hat ein freundliches Wort zum Dank an uns gewendet.

Wiederholt hatte mich Geibel davor gewarnt, zu früh mit meinem Dichten hinauszutreten; ich sollte warten, bis ich »einen Schlag damit tun könnte«. Zu einem Schlage nun kam es auch diesmal nicht, nur zu einem Schlag ins Wasser. Denn diese wohlgemeinten patriotischen Herzensergüsse, deren Begeisterungssturm stets die schwarzrotgoldene Fahne flattern ließ, gingen spurlos vorbei.

Wie ich jetzt das graue Heftchen wieder aufschlage, steigt meine Jugend daraus empor. Vier Gedichte von Bernhard Endrulat, zwei von Louis Karl Aegidi, der sich zu einem wirklichen Politiker auswachsen sollte, zwei mit N. N. bezeichnet – verbarg sich unter dieser Maske ein gewisser Geheimrat? Ich bin heut nicht mehr imstande, es zu entscheiden, die Züge sind allzusehr verwischt. Die noch übrigen sieben kommen auf mein eigenes Konto. Ich finde, wenn ich sie noch so redlich prüfe, daß sie weder besser noch schlechter sind als die meisten, die damals durch die Zeitungen gingen. Eines, das letzte von ihnen, möge hier seinen Platz finden, um den Ton zu bezeichnen, auf den unsere Gemüter damals gestimmt waren.

Einen Mann!

Mel.: Prinz Eugen, der edle Ritter usw.

                  O du Deutschland, edle Fraue,
Welch ein' schlimme Witwentrauer
Ist ergangen über dich,
Seit dein weiland Mann und Kaiser
Stieg hinab in den Kyffhäuser,
Barbarossa Friederich!

Freier kamen gnug gelaufen,
Kamen gar zu hellen Haufen,
Sechsunddreißig an der Zahl.
Warum tatst du alle nehmen?
Edle Frau, du mußt dich schämen:
Sechsunddreißig auf einmal!

Ei, du hast es bald gespüret,
Wie die Herrn dich nasgeführet
Und ins Fäustchen sich gelacht.
Sechs mal sechs macht sechsunddreißig;
Rührtest du dich noch so fleißig,
Hast es doch zu nichts gebracht.

Deinen Söhnen auch vor allen
Sollte nimmermehr gefallen
Solch verzwicktes Regiment.
Und sie schrieen Weh und Zeter,
Aber ach, die Herren Väter
Machten bald dem Schrei'n ein End.

Endlich nahm's den Herrgott wunder,
Da man Anno achtzehnhundert-
Achtundvierzig schrieb im März,
Machte nicht viel Federlesen
Mit dem ganzen tollen Wesen,
Daß uns leichter ward ums Herz.

Jetzo mag vor allen Dingen
Eines noch nach Wunsch gelingen,
So man nicht erkämpfen kann:
Unser Herrgott sei so gnädig,
Daß Frau Deutschland nicht bleib' ledig,
Send' er einen mächt'gen Mann.

Nicht den alten morschen Kaiser,
Der verzaubert im Kyffhäuser
Ganz verträumet sitzen soll;
Nein, ein frisches, junges Leben,
Allem Deutschen heiß ergeben,
Aller Kraft und Treue voll.

O du Deutschland, edle Fraue,
Fröhlich im Gemüt vertraue:
Neue Hochzeit hebt dir an,
Wenn der Freier wird erscheinen,
Den wir grüßen wie noch keinen.
Nun gottlob, das ist ein Mann!

Der junge Sänger und Seher ahnte nicht, wie spät – dann aber wie glorreich sein Wunsch sich erfüllen sollte.


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