Paul Heyse
Jugenderinnerungen und Bekenntnisse
Paul Heyse

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Man hat in Süddeutschland stets unter anderer fable convenue über den Charakter der Berliner auch die sehr verkehrte Meinung von ihren anspruchsvollen Lebensgewohnheiten gehegt. Nichts irriger als dies. Wenn einzelne Parvenüs, die auf Reisen gingen, überall die Nase rümpften und nichts so gut fanden, wie sie es angeblich zu Hause hatten, so konnten diese widerwärtigen Berliner snobs nur für diejenigen maßgebend sein, die sich in den mittleren und unteren Ständen der werdenden Großstadt nie umgesehen hatten. Bei diesen war vielmehr eine so große Genügsamkeit vorherrschend, wie sie in Bayern und Österreich nirgends in den gleichen Schichten der Bevölkerung anzutreffen war. Ihre Wohnungseinrichtung, die engen Höfe, in deren Tiefe kaum ein schwacher Sonnenschimmer fiel und doch ein schwindsüchtiges Gärtchen mit einer Bohnenlaube gepflegt wurde, die Landpartien im »Kremser« nach Pankow, Stralau, dem Grunewald, bei denen der bescheidene Mundvorrat mitgenommen wurde, die Spaziergänge der Bürger und Arbeiterfamilien zu den Wirtschaften in Charlottenburg und Schöneberg, wo »kalte Schale« getrunken wurde oder ein Zettel anzeigte »Hier können Familien Kaffee kochen«, – dies alles zeugte für eine Anspruchslosigkeit im Lebensgenuß, die dem Wiener oder Münchener unbegreiflich gewesen wäre. Berlin war eben noch keine reiche Stadt, und die Arbeiter, die es im Laufe des Jahrhunderts dazu machten, mußten sich noch entsagungsvoll nach der Decke strecken. Auch die geistigen Arbeiter, Beamte und Gelehrte, konnten damals nicht daran denken, wie es schon um die Mitte des Jahrhunderts jeder leidlich wohlstehenden Münchener Familie als selbstverständlich erschien, alljährlich zur Sommerfrische vier bis sechs Wochen aufs Land oder in die Berge zu ziehen. Der Tiergarten mußte für die Bedürfnisse nach frischerer Luft selbst in den Hundstagen ausreichen. Aber mit dem Talent zur Selbstironie, das dem echten Berliner angeboren ist, machte er aus der Not eine Tugend, und von sozialer Unzufriedenheit war damals noch nichts zu spüren.

Auch ich habe bis in meine spätesten Jahre nicht aufgehört, mich als »genügsamer Berliner« mit Humor in manches zu schicken, was mir notdürftig genügen konnte, wenn im Augenblick etwas Besseres nicht zu erreichen war. Damals vollends erschienen mir die beiden Hofzimmerchen als ein sehr stattliches Quartier. Wie bescheiden es ausgestattet war, kam mir eigentlich nie zum Bewußtsein, da der Reiz der Freiheit in eigenen Räumen mich allzusehr beglückte. Ich kam freilich in Häuser, wo es weit glänzender aussah, selbst in den Zimmern der noch die Schule besuchenden Söhne. Denn da mein Vater als ein Eingewanderter keine Familienverbindungen in Berlin besaß und mit seinen Kollegen nicht viel von Haus zu Haus verkehrte, beschränkte sich unser geselliger Umgang fast ausschließlich auf die jüdischen Familien, mit denen meine Mutter schon vor ihrer Verheiratung befreundet gewesen war. Dies waren nun fast lauter reiche Häuser, vor allem die verschiedenen Zweige des Mendelssohnschen Stammes, der Patriarch Joseph Mendelssohn mit seiner seinen alten Frau Hinny, zu deren Hausfreunden Alexander von Humboldt gehörte, Alexander Mendelssohn, dessen einer Sohn, Franz, mein Altersgenosse war, Paul Mendelssohn, Felix' Bruder, dann unter anderem eine sehr musikalische Familie Rubens, bei der ich einmal, da ich mich überarbeitet hatte, einen Sommer lang Gastfreundschaft genoß. Sie hatten die Hälfte der Mendelssohnschen Villa in Charlottenburg gemietet, in deren großem Park ich mich lüften konnte. Auch sonst war's eine vergnügliche monatelange Ferienzeit, in der ich auch an guter Musik keinen Mangel litt. Noch ist mir der Besuch Marschners in lebendiger Erinnerung, und die volle, reine Stimme klingt mir im Ohr, mit der seine schöne, rothaarige (zweite) Frau Lieder ihres Mannes zum Klaviere sang.

Außer diesen waren meine Eltern gern gesehene Gäste bei dem Varnhagenschen Ehepaar und jener trefflichen Madame Levy, deren Haus mit dem parkähnlichen Garten die jetzige Museumsinsel fast gänzlich einnahm. Die trotz ihres Uralters völlig geistesfrische Besitzerin sah jeden Donnerstag allerlei Gelehrte und andre notable Leute an ihrem Tische, und auch ich als ein frühreifer Primaner wurde öfters dorthin mitgenommen und aufs gütigste von der alten »Tante Levy« behandelt.

Mit besonderer Dankbarkeit aber gedenke ich all des mannigfachen Guten, das ich in dem Hause der Leipzigerstraße genoß, in welchem späterhin der Reichstag seinen vorläufigen Wohnsitz aufschlug.

Im Erdgeschoß des Vorderhauses wohnte Felix Mendelssohns jüngere Schwester Rebekka, die mit dem großem Mathematiker Dirichlet vermählt war, über ihnen die Familie Böckh. Noch sehe ich den großen Philologen, wie er am Nachmittag in den Garten kam und an dem Bocciaspiel des Henselschen Kreises teilnahm, das von diesem aus einer italienischen Reise nach Berlin mit herübergebracht worden war. Das einstöckige Hinterhaus zwischen dem geräumigen Hof und dem weitgestreckten Garten hatte nämlich der Maler Wilhelm Hensel inne, der Felix' ältere Schwester Fanny zur Frau hatte. Zu allen früheren freund- und verwandtschaftlichen Fäden, die mich mit diesen trefflichen Menschen verbanden, kam noch die Schulfreundschaft mit ihrem einzigen Sohn Sebastian (dem späteren Herausgeber des reichen und anziehenden Memoirenwerks »Die Familie Mendelssohn«). Diesen begleitete ich alle Sonnabende um zwölf von der Schule nach Hause, um bei einem Schüler seines Vaters, Pietrowski, ein paar Stunden zu zeichnen, leider nach einer unglücklichen Methode, da ich nur große Gipsköpfe in sorgfältiger Durchführung nachzustricheln hatte. Schon seit meinem zehnten Jahre hatte ich eifrig gezeichnet, nicht nur in der Schule, sondern zu Hause nach allerlei Vorlagen, und in den Schulstunden meine Lehren und Mitschüler abkonterfeit. Auf der Reise 1842 mit dem Petersburger Onkel nach Süddeutschland trug ich in ein Skizzenbüchlein allerlei Umrisse von Gebäuden, die mir gefielen, ein, schon damals ein paar Münchner, die ich heute noch bewahre. Meine Hand und meine Augen übten sich früh, und zeitlebens ist mir die Freude am Porträtzeichnen nicht erloschen, ohne daß ich es hierin, so wie in meinen Landschaftsskizzen, je zu wirklicher Künstlerschaft gebracht hätte.

An jenen Sonnabenden blieb ich dann nach der Zeichenstunde zu Tisch im Henselschen Hause und gewann eine warme Verehrung für die edle, hochbegabte Mutter meines Freundes, die trotz ihrer körperlichen Unansehnlichkeit mit den charaktervollen Zügen und dem ruhigen Blick ihrer schwarzen Augen einen beherrschenden Einfluß auf ihre gesamte Umgebung ausübte. Auch zu Sebastians Vater hatte ich eine herzliche Zuneigung, schon um der Güte willen, mit der er meine junge Zeichenkunst aufmunterte. Er war durchaus an Charakter und der Art, sich zu geben, das Widerspiel seiner Frau, mit der er jedoch in der glücklichsten Ehe lebte: ein heiterer, gern witzelnder, zu Gelegenheitsversen stets aufgelegter guter Gesellschafter, bei Friedrich Wilhelm IV. wohlgelitten wegen seiner schwärmerischen Königstreue, in allen Häusern des hohen Adels eingeführt, wo er seine sehr konventionellen idealisierenden Bleistiftporträts zeichnete. Seit einem Kolossalbilde in der Garnisonkirche, Christus vor Pilatus geführt, das die Höhe seines Könnens bezeichnete, hatte er nicht mehr viel Größeres von Bedeutung zustande gebracht.

Wertvoller aber als die malerischen Anregungen, die ich in diesem Atelier empfing, waren mir die musikalischen, die ich seiner Gattin verdankte.

Meine Erziehung in dieser Hinsicht war leider vernachlässigt worden.

Meine Mutter war sehr musikalisch. In ihrer Mädchenzeit hatte sie Gesang und Klavierspiel gelernt, beides aber nach ihrer späten Vermählung nicht mehr geübt, und ihr altes Klavier stand verschlossen in dem dunkelsten Zimmer, jener schon erwähnten »Berliner Stube«. Doch die ersten Lieder, die ich als kleiner Knabe zu hören bekam, sang mir die Mutter vor. Sie besaß ein großes Repertoire kleiner kindischer Reime, die ich sonst nirgends wiedergefunden habe, wie:

Der Kuckuck ist ein alter
Ziesele bum bum basele besele,
Der Kuckuck ist ein alter Mann.
Er muß wohl zwanzig Weiber ha'n.
Er kam vor eines Goldschmieds Haus.
Der Goldschmied sah zum Fenster 'naus.
Ach Goldschmied, lieber Goldschmied mein,
Mach mir ein goldnes Ringelein usw.

Ferner hatte sie einen Vorrat französischer Liedchen:

Ainsi font font font (bis)
Les petites marionettes (bis)

oder:

Que je vous aime,
Das muß ich gestehn.
Sans papa, sans mama,
So ganz allein, ach ja!
Que je vous aime,
Das muß ich gestehn!

oder das bekannte:

Sur le pont d'Avignon . . .

Daß sonst in unserm Haufe musiziert worden wäre, kann ich mich nicht entsinnen. Nur einmal wurde meinen Eltern ein junger Komponist empfohlen, dessen Name mir entfallen ist. Er hatte das obligate lange Haar der Musikanten und ihren großen Durst. Wenigstens sah ich mit Erstaunen, daß er am hellen Nachmittag eine Flasche Rheinwein, die mein Vater ihm vorsetzte, fast allein austrank. Worauf er das alte Instrument öffnete, das ziemlich verstimmt sein mochte, und mit einer dünnen Komponistenstimme mehrere seiner Lieder sang. Eines davon auf einen Eichendorffschen Text machte einen so tiefen Eindruck auf mich, daß ich Worte und Melodie bis heute noch in mir trage:

Wenn der kalte Schnee vergangen,
Stehst du draußen vor der Tür.
Kommt ein Knabe schön gegangen,
Stellt sich freundlich dar zu dir,
Lobet deine frischen Wangen,
Dunkle Locken, Augen licht –
Wenn der kalte Schnee vergangen,
Glaub dem falschen Herzen nicht!

Noch weiß ich, mit welcher Bewunderung ich zu dem Künstler aufschaute.

Ich bat denn auch meine Eltern, mir zunächst Klavierstunden geben zu lassen, was sie gern bewilligten. Es war aber kein rechter Segen dabei. Die Stunden, die ich eine Zeitlang bei einer meinen Eltern befreundeten, uns benachbarten Dame, der Gesangslehrerin Frau Johanna Zimmermann, nahm, gerieten bald ins Stocken. Sie fanden in aller Frühe vor der Schule statt, wo mein Kopf teils noch unausgeschlafen, teils mit der Präparation auf die bevorstehenden Stunden erfüllt war. Im Gymnasium selbst nahm ich eifrig am Gesangsunterricht teil, da ich eine gute Stimme und ein treffliches Gehör und Gedächtnis hatte. Aber eine eigentliche Unterweisung im Technischen der Musik wurde uns nicht zuteil; kaum daß wir die oberflächlichste Kenntnis der Noten gewannen. So habe ich bei großen Festaufführungen – wir wagten uns an Händels »Messias«, Haydns »Jahreszeiten« und schwere kirchliche Kantaten – Solopartien frischweg und ziemlich fehlerlos zu singen gewagt, bloß nachdem ich sie einmal von unserm glänzendsten Solisten, dem Sohn des Tenors der königlichen Oper, Stümer, hatte vortragen hören. Meine vielfachen anderen Allotria neben den Schulfächern, Versemachen und Zeichnen, ließen für eine ernstlichere Pflege der Musik keine Zeit, ein so inniges Bedürfnis ich fühlte, meine musikalische Bildung zu fördern, wozu ich begierig jede Gelegenheit wahrnahm.

Damals waren die Symphoniekonzerte vor dem Oranienburger Tore eben in Aufnahme gekommen, wo man gegen ein Eintrittsgeld von zwei guten Groschen unter der Leitung des Kapellmeisters Liebig an gewissen Nachmittagen eine Symphonie und zwei Ouvertüren klassischer Meister zu hören bekam, in einem großen Saal, in welchem trotz des Tabaksqualms und Bier und Kaffeegeruchs die andächtigste Stimmung herrschte. Ich kann nicht genug sagen, wie sehr ich diesen »populären Konzerten« für Kenntnis und Verständnis der unbegreiflich hohen Werke verpflichtet bin.

Vor dem Oranienburger Tore lag auch die Egellssche Maschinenbauanstalt, neben der Borsigschen damals in Preußen das größte Unternehmen dieser Art. Der Chef des Hauses war als ein Mitglied der katholischen Gemeinde mit meiner Tante Marianne bekannt geworden, und zumal die älteste Tochter, Elise, hatte sich eng an sie angeschlossen. So war auch ich in das Haus gekommen, hatte mich mit den Söhnen befreundet und für jene Elise eine große Verehrung gefaßt, da sie ihr unerfreuliches Verhältnis zu einer jungen französischen Stiefmutter mit klagloser Ergebung ertrug. Ich machte sie in allerlei jugendlichen Herzensnöten zu meiner Vertrauten und weihte sie auch in die poetischen Versuche ein, die sich oft um sie selbst und meine Erlebnisse in ihrer Gesellschaft drehten. In diesem Hause machte ich auch die Bekanntschaft des um mehrere Jahre älteren Peter Cornelius, der mir zu weiterer laienhafter musikalischer Ausbildung verhalf. Er lebte mit Mutter und Schwester in ziemlich engen Verhältnissen in Berlin seinen Studien in der Komposition, und es gereichte mir zu nicht geringer Aufmunterung, daß er – als der erste Musiker, der mir diese Ehre erwies – vier meiner Lieder komponierte, die aus seinem Nachlaß herausgegeben wurden. So oft er mit seinen Kameraden Quartette spielte, durft' ich dabei sein, und hörte dann in meiner Sofaecke eifrig zu, bemüht, das verschlungene viersträhnige Tongewebe genau zu verfolgen. Die geniale Natur des Freundes zog mich lebhaft an, auch seine stille, kluge Schwester war mir sehr lieb geworden. Sie hatten beide, nachdem sie meine »Francesca von Rimini« gelesen, eine sehr gute Meinung von meinem poetischen Talent bekommen. Das viel reifere Gedicht, das darauf folgte, »Urica«, nahmen sie nicht sonderlich günstig auf. Den Grund habe ich nie recht begriffen. Doch als der Jugendfreund später nach München übersiedelte, um dort zunächst die Partitur des »Cid« auszuarbeiten, wollten unsere Wege sich nicht wieder vereinigen, da ich seine Begeisterung für die Meister der Zukunftsmusik nicht zu teilen vermochte.

Alles aber, was mir an musikalischen Genüssen von verschiedenen Seiten zuteil ward, wurde durch die Sonntagskonzerte in Fanny Hensels Gartensaal überboten, zu denen ich ein für allemal Zutritt hatte.

Eine illustre Gesellschaft füllte den weiten Raum, doch war kaum einer darunter, der nicht durch ein intimes Verhältnis zur Musik ein Anrecht auf seinen Platz beweisen konnte, und es galt durchreisenden musikalischen Zelebritäten immer für eine hohe Auszeichnung, der Ehre einer Einladung zu diesen Morgenkonzerten gewürdigt zu werden. Zu den Stammgästen gehörte neben Böckh der alte Steffens, dessen ehrwürdiges Gesicht die reinste Verklärung zeigte, während er dem geistvollen Spiel der Hausfrau oder dem Gesang ihrer Freundinnen lauschte, die Felix' liebliche Quartette vortrugen. Die breiten Glastüren nach dem Garten zu standen offen; zuweilen schmetterte der Vogelgesang mit hinein. Hier wurde die »Letzte Walpurgisnacht«, von dem Komponisten soeben vollendet, zuerst aufgeführt und wie manche der schönen Klavierstücke und Lieder noch im Manuskript frisch vom Blatt gespielt und gesungen. Zuweilen kam auch der geliebte Bruder und Meister in Person von Leipzig herüber und verherrlichte eine dieser Matineen durch sein wundervolles Spiel. Dann war der Saal wie in einen Tempel verwandelt, in welchem eine enthusiastische Gemeinde jeden Ton wie eine himmlische Offenbarung einsog.

Ich selbst stand neben Freund Sebastian zuhinterst auf der Schwelle des Nebenzimmers und reckte meine lange Figur auf den Zehen, um keinen Ton zu verlieren und die Gesichter zu betrachten, die sich um den Flügel reihten. Hier sah ich auch die blonde Löwenmähne des jungen Franz Liszt, der seinen ersten Triumphzug durch Berlin hielt, in der vordersten Reihe der Zuhörerschaft eine schöne, blonde Gräfin, die hernach am Arm des glücklichen jungen Eroberers den Saal verließOb er an jenem Morgen sich herbeiließ, sich an den Flügel zu setzen, der oft unter den Händen der Hausfrau und ihres großen Bruders erklungen war, ist mir nicht erinnerlich. Desto lebendiger steht ein Tag in meinem Gedächtnis, wo ich über ein Jahrzehnt später den hohen Genuß hatte, den wundersamen Künstler für mich allein spielen zu hören. Er war mit seiner Freundin, der Fürstin Wittgenstein, nach München gekommen, um dafür zu wirken, daß Richard Wagner der Maximiliansorden verliehen würde. Zu diesem Zweck lud die Fürstin die Mitglieder des Kapitels der Reihe nach zu Tisch in ihr Hotel, den Bayrischen Hof, und wendete all ihre Liebenswürdigkeit daran, jeden für den Meister der Zukunft günstig zu stimmen. Ich selbst hatte damals zu dem Orden noch keine Beziehung, doch als Mitglied der königlichen Tafelrunde konnte auch ich vielleicht im gewünschten Sinne gelegentlich ein Wort fallen lassen, und so wurde auch mir zuweilen die Ehre zuteil, zu diesen intimen Diners geladen zu werden, öfter sogar als die alten Herren, da die Tochter der Fürstin, die schöne Prinzessin Marie, sonst eines unterhaltenden Tischnachbars entbehrt hätte, wenn die Mutter sich nur ihrer diplomatischen Mission widmete.

Bei den Gesprächen über das Musikdrama und seinen Schöpfer konnte es nicht fehlen, daß auch ich bescheiden zu Worte kam, wobei ich aus meinem Unvermögen, mich für den Sprechgesang und die neue Kunst überhaupt zu erwärmen, kein Hehl machte. Ich mußte versprechen, den Tannhäuser noch ein zweites Mal zu hören, und wurde beim Wiederbegegnen sofort examiniert, ob ich nun nicht bekehrt worden sei. Die große Virtuosität, einen dankbaren Stoff theatralisch wirksam zu machen, erkannte ich bereitwillig an, die Musik hatte mich lebhafter angezogen als das erstemal. Nur mit dem Text konnte ich mich nicht einverstanden erklären. Die trivialen Sprüche der Dichter beim Sängerkampf schienen mir eines Wolframs und Walters unwürdig, wie auch an vielen anderen Stellen mein Ohr beleidigt wurde. Herr Wagner, sagte ich ganz naiv heraus, sollte sich mit einem Poeten assoziieren, etwa von Peter Cornelius seine Texte revidieren lassen. – Wie diese Gotteslästerung auf die Hörer wirkte, die ihren Abgott auch für den größten Dichter aller Zeiten hielten und, da sie nicht deutscher Abstammung waren, nicht entfernt zu fühlen vermochten, wie ein deutscher Poet von dieser dilettantischen Dichtkunst befremdet werden mußte, kann man sich vorstellen. Die Fürstin insbesondere und ihre Tochter schienen mich ein für allemal als einen Barbaren zu betrachten und einfach aufzugeben. Liszt aber verleugnete seine große Liebenswürdigkeit auch jetzt nicht. Er setzte sich an das Klavier und spielte die Ouvertüre zum Tannhäuser mit so zauberhafter Kunst, daß ich hingerissen lauschte und hernach meine Ketzereien zwar nicht widerrief, aber versprach, von jetzt an mit redlichem Willen mich in diese und alle folgenden Schöpfungen des Meisters hineinzuhören.

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Bei jenen Morgenkonzerten im Henselschen Gartensaal hatte noch niemand eine Ahnung, daß einmal die Ära einer Zukunftsmusik anbrechen würde, in welcher dem blondmähnigen jungen Virtuosen eine führende Rolle beschieden war, und deren fanatische Anhänger die Musik eines Felix Mendelssohn mit Achselzucken als abgetan zu den Toten werfen würden.

Die Namen vieler anderer aus den besten Berliner Kreisen und durchreisender hoher Gäste sind mir entfallen. Doch entsinne ich mich, daß einmal auch das gewaltige Silberhaupt Thorwaldsens über die Menge emporragte. Er war am Morgen vorher von drei Malern zugleich porträtiert worden, dem Hausherrn, Begas und, wenn ich mich recht erinnere, Eduard Magnus. Die drei alla prima gemalten Bildnisse standen noch im Atelier, dessen Flügeltür geöffnet war, um nach der Musik die Bewunderer des Meisters einzulassen. An einem anderen Tage fiel mir ein scharfgeschnittener Männerkopf von entschieden jüdischem Typus auf, in dessen Zügen ein Ausdruck gebieterischer Willenskraft und kalten Hohnes lag. Ich fragte Sebastian nach dem merkwürdigen Gesicht. Er nannte mir den Namen Ferdinand Lassalle, vom alten Böckh hier eingeführt, der ihm wegen seiner Abhandlung über Herakleitos den Dunkeln eine glänzende Philologenzukunft weissagte.

Auch die Konzerte in der Singakademie besuchte ich fleißig, zumal eine alte Freundin, die Witwe eines Kammergerichtsrats Gedike, die mit meiner Tante Marianne zusammenlebte, eine der Vorsteherinnen dieses ehrwürdigen Institutes war. Die künstlerische Haltung desselben war seit Zelters Tode ein wenig gesunken. Ihr damaliger Direktor Rungenhagen galt für einen pedantischen und doch energielosen Anhänger der klassischen Musik, der jedem frischen Hauch der neueren Zeit den Eingang wehrte. (Als man meiner Mutter erzählte, er sei krank, und man fürchte für sein Leben, erwiderte sie: »Da liegt wohl die Singakademie in den ersten Zügen?«Noch einige ihrer originellen Worte mögen hier angeführt werden. Als jemand sie zu etwas überreden wollte und sagte: Die Sache ist doch an und für sich recht angenehm – erwiderte sie: »Ja, aber nicht an und für mich.« . . . Ein Bekannter fragte: Ist Herr N. denn ein Jude? – Sie: »Das will ich meinen! Jude mit Jude gefüttert.« . . . »Die L.schen Kinder sehen aus, als ob ihre Mutter sie beim Trödler alt gekauft hätte.« . . . »Der X. macht immer ein Gesicht, als ob er sich's übel nehme, daß er auf der Welt ist. Ich kann doch nichts dafür.« . . . »Wenn R. lacht, sieht es aus, als ob er zu lachen eingenommen hätte.« . . . »Ist das Konkordiatheater (ein neuerbautes Liebhabertheater) hübsch? . . . Nicht besonders, sehr eng und dunkel. – »Also recht passend für Liebhaber.« . . . »Es täte mir sehr leid, wenn ich nächstens abrutschte. Ich habe mich sehr gern gehabt.« . . . »Wenn man mir am jüngsten Tag nicht Equipage schickt, bleib' ich liegen.« . . . Als man sie bei einem munteren Essen, wo viele Toaste ausgebracht wurden, aufforderte, auch eine Tischrede zu halten, sagte sie: »Nein, Kinder, meine Reden sind nicht so schwach, daß sie gehalten werden müßten.«) Immerhin hatte ich auch hier Gelegenheit, mich an guter Musik zu erquicken und meine Kenntnis der hohen Meister zu vervollständigen.

Zu eigenem Komödiespielen auf einem Liebhabertheater war keine Gelegenheit, auch traute ich mir, so leidenschaftlich meine Neigung allem Dramatischen zugewandt war, ein schauspielerisches Talent nicht zu. Wenn es einmal sich fügte, daß ich bei einer Dilettantenaufführung bescheiden mitwirkte, war es nie in jugendlichen Rollen. In einem kleinen Lustspiel, das im Mendelssohnschen Hause am Geburtstage von Felix' Mutter aufgeführt wurde, hatte ich den Papa von Mariechen Böckh, der späteren Frau Professor Gneist, zu spielen und zog mich ohne sonderlichen Ruhm aus der Sache. Ein einziges Mal, in einem französischen Lustspiel, das eine Dame, bei der ich Konversationsstunde nahm, von ihren Schülern aufführen ließ, machte ich einen jungen Ehemann und verliebte mich ein wenig in meine reizende Frau, der ich hernach in einer Menge französischer Gedichte, ohne das geringste Verständnis der fremden Verskunst, zu huldigen fortfuhr. Später aber, auf der Universität, wo Professor Geppert seine Schüler in Stücken des Plautus öffentlich auftreten ließ, gab ich eine Gastrolle als der joviale alte Micio in den »Menächmen«, haud sine laude. Ich hatte aber früh einen zu klaren und hohen Begriff von dem, was zur Kunst des Mimen erforderlich ist, als daß ich an der unzulänglichen Produktion von eigenen oder fremden Liebhaberkünsten Freude gehabt hätte, denen ich auch mein ganzes Leben lang sorgfältig aus dem Wege gegangen bin.

Zu Theatergenüssen kam ich leider nur selten, wegen meines sehr bescheidenen Taschengeldes.

Den ersten vollen Eindruck einer richtigen Bühnenkunst empfing ich durch eine Posse im Königstädter Theater, »Die Reise auf gemeinschaftliche Kosten«, in der mich Beckmanns komisches Talent bezauberte. (Ich konnte ihm lange Jahre später, als er in Wien den Henoch in meinem »Hans Lange« so herrlich spielte, wie ich vor und nach ihm die Rolle von keinem andern gesehen habe, für diese erste theatralische Freude danken.) Mein erster Operneindruck war eine Aufführung des »Fidelio«. Eine sehr liebe Freundin hatte meine Mutter an der Sängerin Milder, deren ich mich in der Rolle der Gluckschen Iphigenie noch dunkel als einer imposanten Erscheinung mit herrlicher Stimme erinnere. Das Königliche Schauspielhaus aber besuchte ich selten, und so vielgerühmt die dort auftretenden Künstler waren, sie hielten in meiner jugendlichen Empfindung den Vergleich nicht aus mit einer französischen Truppe, an deren Spitze das Saint-Aubainsche Ehepaar und der jeune premier Monsieur Péchéna standen. Und als vollends die Rachel zu einem längeren Gastspiel nach Berlin kam, versäumte ich keine ihrer Vorstellungen und verkaufte einige Schulbücher, um mein Parterrebillet bezahlen zu können.

Für unsere deutsche Komödie in Berlin war die große Zeit vorbei. Ludwig Devrient, Iffland, Seydelmann, Beschort lebten nicht mehr. Frau Crelinger mit ihren Töchtern und ihre männlichen Kollegen machten mit ihrem korrekten, etwas nüchternen Spiel stets den Eindruck, als vergäßen sie, selbst wenn es Figuren aus dem Volke darzustellen galt, keinen Augenblick, daß sie die Ehre hatten, königlich preußische Hofschauspieler zu sein. Erst später kam ein anderer Geist in diese Gesellschaft, und Döring, Dessoir, Liedtke, Gern Sohn, Hoppé und Berndal nebst einigen schönen und temperamentvollen Damen, dazu die unvergeßliche Frieb-Blumauer bildeten einen Künstlerkreis, der wohl den Vergleich mit dem Wiener Burgtheater aushalten konnte.

*

Mit diesen Erinnerungen bin ich endlich bis in die Zeit vorgerückt, die, wie alle Übergangszeiten, unbehaglich durchzumachen sind, wo man, den Knabenschuhen entwachsen, noch nicht von den Jünglingen für ihresgleichen, von den Männern vollends nicht für voll angesehen wird und bei einem Gespräch, in welchem man für seine Meinung noch so gute Gründe vorgebracht hat, sich sagen lassen muß: »Werden Sie erst älter, dann werden Sie von dieser Ansicht selbst zurückkommen.« Die schönen Mädchen, denen man eine schüchterne Huldigung widmet, lassen sie sich gefallen, solange kein reiferer Anbeter um den Weg ist, oder beim Tanz, wenn sie sonst keinen Tänzer fanden. Der hoffnungsvolle Primaner, der schon ahnungsvoll eine Welt im Busen trägt, gebärdet sich in unbeholfener Blödigkeit zuweilen dreist und hochfahrend, nur um seine Unsicherheit zu verbergen, und nimmt eine Zurechtweisung wie eine tödliche Kränkung hin. Was man vom Glück der Jugend sagt, liegt vor und nach dieser unerquicklichen Zeit, in der gerade die feinsten und begabtesten Naturen das meiste Herzweh zu erdulden haben.

Ich selbst, obwohl auch mir solche Erfahrungen nicht ganz erspart blieben, kam doch gnädig genug durch, teils weil ein tiefgewurzelter Respekt vor dem Alter in Gegenwart reifer Männer meine Zunge im Zaum hielt, teils weil ich meist mit Altersgenossen verkehrte, die weniger dialektisch geschult waren als ich und meine fürwitzigen Urteile mir hingehen lassen mußten. In Mädchengesellschaften gereichte mir meine allzu grüne Jugend eher zum Vorteil, da ich schon früh für einen heimlichen Poeten galt, von dem gelegentlich angesungen zu werden es immerhin wert war, daß man ihm ein Ungeschick oder eine Dreistigkeit hingehen ließ.

In diese Zeit fällt meine Bekanntschaft mit Geibel und mein Eintritt in das Kuglersche Haus. Was das Verhalten meiner Eltern zu den neuen Menschen, die mich nun an sich zogen, betrifft, so kann ich nicht verhehlen, daß meine gute, zärtliche Mutter den immer regeren Verkehr mit jenem Kreise freilich nicht ohne Eifersucht mit ansah. Auch mein Vater empfand es anfangs schmerzlich, daß ich nun häufiger als sonst, oft mehrmals in der Woche, dem stillen, häuslichen Teetisch fern blieb. Aber in seiner weisen, liebevollen Seele gönnte er mir die Förderung meiner künstlerischen Bildung durch so treffliche Freunde wie Kugler und Geibel und die geselligen Freuden, die mir das Elternhaus nicht bieten konnte. Denn je schwankender sein körperliches Befinden wurde, je mehr zog er sich von allem geselligen Umgang zurück. Nur hin und wieder lud er einen Freund zu Tische, oder es stellte sich ein guter Bekannter oder einer seiner Schüler Lazarus und Steinthal abends bei uns ein, um ihn über seine Sorgen und Beschwerden ein paar Stunden hinwegzuplaudern.

Dann aber, als ich die Eltern in meine zuerst noch heimliche Verlobung mit Kuglers Tochter einweihte, schon im Jahre 1851, begrüßten sie die neue Tochter beide mit wärmster Freude, und auch meine Mutter schloß meine Braut ohne Widerstreben in ihr leidenschaftliches, eifersüchtiges Herz, das nur für wenige Menschen Raum hatte, diese aber um so inniger festhielt. Für ihren in blindem Mutterstolz überschätzten Sohn war ihr die Beste gerade gut genug gewesen. Nun erschien ihr ohne weitere Prüfung die als die Beste, die diesen Sohn glücklich machte.

Daß ihr die Trennung von Sohn und Tochter, die durch meine Berufung nach München notwendig wurde, schwer zu ertragen war, ist begreiflich, und selbst die Befriedigung des mütterlichen Ehrgeizes durch die ehrenvolle Stellung in der Nähe des Königs Max konnte sie nicht ganz über den Verlust der täglichen Gegenwart trösten. Als dann im Winter des folgenden Jahres mein Vater starb, überkam sie vollends das Gefühl einer tödlichen Vereinsamung.

Sie konnte sich aber nicht sofort entschließen, alle Bande, die sie an ihr heimatliches Berlin fesselten, zu zerreißen und zu ihren Kindern nach München überzusiedeln. Auch fand sie sich, dank ihrer lebensmutigen, sanguinischen Natur, äußerlich wenigstens rascher wieder zurecht, als wir ihr zugetraut hatten. In der kleineren Wohnung, die sie bezogen hatte, empfing sie nach wie vor ihre alten Freunde; Schwester Marianne, die sie um acht Jahre überleben sollte, hielt getreu zu ihr; was sie von meinen dramaturgischen und literarischen Erfolgen hörte, bereitete ihr Festtage, und sie las meine Sachen, so wie sie erschienen waren, mit der lebhaftesten, völlig kritiklosen Begierde.

So lebte sie noch neun Jahre, und ich sorgte dafür, teils durch allwöchentliche Briefe, teils durch Besuche in Berlin oder unser Zusammenkommen in den Monaten der Sommerfrische, daß sie die Trennung nicht allzu schmerzlich empfand. Daß sie meine Kinder mit der zärtlichsten großmütterlichen Liebe umfing, brauche ich kaum zu erwähnen. Besonders meinen ältesten Sohn Franz hatte sie zu ihrem Liebling erkoren und konnte stundenlang mit dem Knaben scherzen und Unsinn treiben und ihm die Liedchen vorsingen, mit denen sie uns Kinder belustigt hatte. Auch daß sie ihrer Schenklaune nun erst recht die Zügel schießen ließ, war natürlich. Zu allen Geburtstagen von Kindern und Enkeln kamen reiche Sendungen ihrer gütigen Hand, darunter nicht wenige große gehäkelte Bettdecken und selbstgestrickte Strümpfe für die erwachsenen bis zu den kleinsten Füßen, und ihre Weihnachtskiste war ein unerschöpfliches Schatzhaus. »Wirst du mir auch nicht böse sein,« schrieb sie mir mehr als einmal, »daß du nichts zu erben findest, wenn ich einmal mit meinem Einspänner aus der Welt hinauskutschiert sein werde?«

Als aber Jahr um Jahr verging, manche alte Freunde wegstarben, ihr Befinden, obwohl sie nie eigentlich krank war, doch zuweilen ihr zu schaffen machte, ihr lebhafter Geist jedoch immer noch Ansprüche erhob, die einer einsamen alten Frau nicht befriedigt werden können, fühlte sie ein immer zunehmendes Ungenügen und den heftigen Wunsch, Berlin, das ihr jetzt öde und kalt vorkam, mit unserm München zu vertauschen. So sehr ich bestrebt war, ihr jeden ereichbaren Wunsch zu erfüllen, konnte ich ihr doch nur zureden, auf diesen zu verzichten. Ich sah eine bittere Enttäuschung voraus, wenn sie, da man ohne Schaden keinen alten Baum verpflanzt, in ihren hohen sechziger Jahren ihr gewohntes Leben aufgegeben hätte, das ihr freilich mancherlei Verzicht auferlegte, wie er aber vom späten Alter in den meisten Fällen unzertrennlich ist. Meine Münchener Freunde waren ihr fremd. Die Kinder, mit denen zusammen sie zu leben hoffte, gingen in die Schule, meine Frau war durch häusliche Pflichten, ich selbst durch meine Arbeiten in Anspruch genommen. Sie hätte uns in der Nähe schmerzlicher entbehrt als in der Trennung und wäre sich vollends verloren und verlassen vorgekommen, wenn weder ihre Schwester noch alte Bekannte, die ihr immer noch treu geblieben waren, zu traulichem Geplauder sich bei ihr eingefunden hätten. Ja, schon ihre gewohnte Spenersche Zeitung hätte sie schwer vermißt, und die Annoncen der »Neuesten Nachrichten« wären ihr keine Entschädigung gewesen für die Ankündigungen von Verlobungs- und Todesfällen mit alten Berliner Namen und die Geschäftsanzeigen der Kaufleute, die ihr seit fünfzig Jahren bekannt gewesen waren.

Sie fügte sich endlich meinem eindringlichen Abraten, und ich überzeugte mich, als ich ihr im Jahre 1863, nachdem ich im Jahr vorher in Meran meine junge Frau begraben hatte, auf ein paar Monate ihre beiden ältesten Enkel brachte, daß ihr Leben in der Tat nicht so verarmt und vereinsamt war, wie sie in sehnsüchtigem Ungenügen es darzustellen pflegte. Auch war es noch die alte geistige und leibliche Frische, all ihre Sinne standen ihr ungeschwächt zu Gebote, sie las ohne Brille, hörte den leisesten Ton, und der heitere Witz, mit dem sie jeden Besucher ergötzte, ließ niemand die Stunde für verloren halten, die er bei der alten »Mama Heyse« zugebracht hatte.

Erst im folgenden Jahre mehrten sich ihre körperlichen Beschwerden, eine nahe Lebensgefahr aber schien bei ihrer glücklichen Konstitution und der Unversehrtheit aller Organe nicht vorhanden. Dennoch wurde ich durch allerlei ängstliche Berichte alarmiert und war drauf und dran, im Herbst zu ihr zu reisen, um mich von ihrem Zustande mit eigenen Augen zu überzeugen. Sie selbst aber beruhigte mich wieder, und so fuhr ich am 20. Oktober nach Wien, um am Burgtheater der dritten Vorstellung meines »Hans Lange« beizuwohnen. Ich konnte ihr noch den glücklichen Erfolg telegraphieren und ahnte nicht, daß es die letzte Freude ihres Lebens sein sollte.

Wenige Tage nachher, als ich schon wieder bei den Meinigen in München war, rief mich ein Telegramm der Tante Marianne an ihr Sterbebett. Die Wassersucht, die langsam aufgetreten und oft wieder zurückgegangen war, hatte sich plötzlich edleren Teilen genähert, und der Arzt gab nur noch eine kurze Frist. Sie selbst, als ich um Mittag an ihr Bett trat, begrüßte mich mit ihrer alten Heiterkeit, ohne daß die Schatten des nahen Todes ihr Gemüt und ihren Geist schon verdunkelt hätten. Ich mußte mich zu ihr setzen, ihr von den Kindern und von der Wiener Aufführung erzählen, dann war ihre Hauptsorge, wie in früheren Tagen, was ich essen und wie ich nachts gebettet sein würde. Nur der etwas schwerere Atem ließ erkennen, daß schon vorgestern ein leiser Lungenschlag gedroht hatte sie hinzuraffen, und ihr liebevolles, großes Auge irrte unsicher umher. Aber ihre gute Laune verließ sie auch jetzt nicht. »Es geht noch nicht ans Sterben,« sagte sie; »kein ordentlicher Mensch stirbt.« Dann wieder: »Meine Mädchen sind treu, ich behalte sie auch beide. Wenn sie mich nur behalten! Aber das kann der liebe Gott ja wohl machen, es ist ja nur eine Kleinigkeit, wenn er sonst Lust dazu hat.« – Als ich ihr Wasser reichte, scherzte sie:

»Ein Schlückchen nur
Dem Troubadour!«

Dann sprach sie noch von Iffland, halb im Traum und ganz abgerissen: »Er war sehr häßlich, aber ein sehr guter Schauspieler. Ja, er lebte in Mannheim. Kinder, ich spreche wohl irre, oder habe ich noch meine gerade Sprache? Ja, und Beschort war auch kostbar!« Dann verstand sie nicht mehr klar, was ich sagte, ihr Auge wurde immer trüber, die Lampe schien ihr dunkel, sie wußte nicht mehr, ob wir bei ihr saßen, und lag ganz still. Die schwache Flamme ihres Bewußtseins erlosch unmerklich, nur der Atem ging noch stundenlang aus und ein, bis auch der am Morgen des 27. stillstand.

Ihre helle, heitere Seele war, wie sie sich's immer gewünscht hatte, heiter und ohne Kampf aus dem Leben geschieden.


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