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Martin der Streber

(1892)

 

Zu den Stammgästen, die sich zweimal wöchentlich am Honoratiorentische des Gasthofs »Zur blauen Traube« zu versammeln pflegten, war heut ein fremder Gast hinzugekommen, ein ernsthafter junger Herr, der, obwohl er die Mitte der Zwanziger noch nicht überschritten hatte, mit gereifter, auffallend selbstgewisser Würde auftrat und ohne Verlegenheit am Gespräch der älteren Herren Theil nahm. Der Stadtpfarrer, ein trefflicher, bei Alt und Jung beliebter Mann, hatte ihn eingeführt und als seinen Schwestersohn, den Candidaten N**, vorgestellt, der soeben seine Examina rühmlich bestanden habe und gekommen sei, um sich nun auch von dem alten Oheim auf den Zahn fühlen zu lassen. Dieser hatte schon früher mit einigem Familienstolz von dem Neffen gesprochen und des guten Rufes gedacht, den das hoffnungsvolle junge Kirchenlicht um sich verbreitet habe. Nun aber, da der so gut Empfohlene in Person sich eingestellt hatte, war dem jovialen alten Herrn, der sonst den vertrauten Kreis durch seine gute Laune belebte, eine gewisse Verlegenheit anzumerken, die ihn zerstreut und einsilbig machte.

Der Grund blieb nicht lange verborgen. Das Städtchen, das sonst nicht zu den ansehnlichsten des Landes zählte, hatte das Glück, unter den Männern, die sein leibliches und geistiges Wohl behüteten, wohl ein Dutzend aufgeweckter Köpfe zu besitzen, Leute von klarem Blick und gesunder Lebenserfahrung, mit mancherlei Interessen, die in kleineren Verhältnissen sonst leicht verkümmern. So pflegte denn die Unterhaltung an diesem Stammtische sich nicht, wie anderwärts üblich, nur um Kirchthurmsfragen und kleinen Klatsch zu drehen, oder in öde Kannegießerei auszuarten. Fast alle Theilnehmer hatten ein Stück Welt durchfahren, ehe sie hier in bescheidenen Aemtern und Berufen vor Anker gingen, und einige witzige Köpfe, der Stadtrichter, der Rentamtmann, der Apotheker, nicht zuletzt der Herr Stadtpfarrer selbst sorgten dafür, daß den soliden Debatten auch die Würze des Humors nicht fehlte. Wer fremd in diese Gesellschaft eintrat, pflegte den ersten Abend genug mit Zuhören und Lachen zu thun zu haben, um mehr als ein gelegentliches Wort dazwischenzuwerfen.

Der junge geistliche Herr aber schien es als seine Aufgabe zu betrachten, gleich am ersten Abend über seine Gaben und Tugenden und seinen Beruf zum Seelsorgeramt keinen Zweifel bestehen zu lassen.

Der Apotheker hatte ein lustiges Geschichtchen zum Besten gegeben. Vor etlichen Tagen war eine Frau zu ihm gekommen mit der Frage, ob er ihr nicht ein Mittel gegen das Träumen zu geben wisse. Sie sei in eine andere Wohnung gezogen und habe gleich am ersten Abend geträumt, sie sei gestorben und in den Sarg gelegt worden, habe aber ihr Bewußtsein behalten. Da seien durchs offene Fenster Bienen hereingeflogen und hätten sich auf ihren Leib gesetzt, so daß sie überall schmerzhafte Stiche empfunden habe, doch ohne sich wehren zu können. Als sie dann aufgewacht, habe sie nur allzu deutlich die Spuren des Traums an ihrer Haut wahrnehmen können. Aehnlich in der nächsten Nacht. Da sei sie aber nicht nur lebend, sondern in solcher Jugend und Schönheit unter einer Schaar guter Freundinnen herumgewandelt, daß Alle sie voll Neid und Eifersucht angeblickt hätten. Auf einmal sei der ganze Schwarm auf sie eingedrungen, mit Nadeln bewaffnet, die sie ihr ins Fleisch bohrten, um sie aus der Welt zu schaffen. Darüber sei sie denn aufgewacht und habe wiederum die Stichmaale deutlich an sich vorgefunden. Ob er ihr nicht dagegen helfen könne.

Ich blieb ganz ernsthaft, berichtete der Apotheker, ließ mir einige der im Traum erhaltenen Wunden zeigen und erklärte dann der guten Dame, dagegen gebe es allerdings ein Mittel, das ich ihr in einer Pulverschachtel vorwies. – Ob sie es in Wasser oder in Oblaten einzunehmen habe? – Es sei nur zu äußerlichem Gebrauch bestimmt. Sie müsse damit vor dem Schlafengehen ihr Bett bestreuen, dann werde sie vor Bienen- und Nadelstichen Ruhe haben.

Vier Tage hörte ich nichts mehr von meiner Träumerin. Endlich erschien sie wieder und erschöpfte sich in Danksagungen. Das Mittel habe prächtig geholfen, nun sei aber leider die Schachtel leer, und sie bitte um eine neue Portion des kostbaren Arcanums.

Ich war jetzt ehrlich genug, zu gestehen, daß die Schachtel nur persisches Insektenpulver enthalten habe, daß ich ihr aber für die Zukunft rathen möchte, die neue Wohnung gründlich reinigen und alle Möbel untersuchen zu lassen, um die bösen Traumgeister ein für allemal zu vertreiben.

Man lachte über das Histörchen, und auch der junge Candidat ließ sich zu einem mitleidig überlegenen Lächeln herab, das mehr der Gesellschaft galt, die sich an einem so billigen Spaß ergötzte, als der Beschränktheit jener Frau. Als dann noch Einer und der Andere aus seiner Bekanntschaft mit dem geringeren Volke Beispiele von abergläubischem Träumen mittheilte und zuletzt die Bemerkung fiel, Träume kämen nicht immer, wie die gemeine Rede gehe, aus dem Bauch, sondern jeder Theil unseres Körpers könne den Anstoß dazu geben, fühlte sich der Gast gleichsam verpflichtet, dem Gespräch einen höheren Schwung zu verleihen, und äußerte in seiner milden und doch überaus sicheren Art, er habe eine höhere Ansicht von der Natur und dem Werth der Träume als jene materialistische. Für ihn seien sie eine der werthvollsten Bürgschaften für die Göttlichkeit und Unvergänglichkeit der Seele, die sich im Schlaf, von den Störungen der Zeitlichkeit befreit, ihres ewigen Ursprungs erinnere und in Ahnungen und Gesichten den Schleier lüfte, der dem irdischen Menschen das Jenseits verhülle.

Auf diese feierliche Aeußerung blieb es in dem befreundeten Kreise stockstill. Nur der–Stadtpfarrer hüstelte, als sei ihm der Rauch seiner Cigarre auf die Brust gefallen, und rückte unruhig auf dem Stuhl hin und her. Sein Neffe aber, der dies Verstummen zu seinen Gunsten auslegte, als ein Zeugniß für den tiefen Eindruck, den seine idealere Anschauung auf diese wackeren, aber etwas vulgären Weltmenschen gemacht, fühlte sich dadurch angeregt, in demselben Tone fortzufahren. Er erzählte, daß er schon als Knabe ein Streben nach höherer Erkenntniß gefühlt habe und, wenn er sich recht schmerzlich der Schranken seiner Menschlichkeit bewußt geworden, fast immer durch verheißungsvolle Träume getröstet worden sei. Nun erzählte er einige von diesen, mit solcher Geläufigkeit, daß der Verdacht nahe lag, es sei nicht das erste Mal, daß er mit solchen Offenbarungen eine andächtig lauschende Zuhörerschaft erbaute. Zumal vor schwärmerisch gläubigen Frauen und Jungfrauen mußte er damit Glück gemacht haben, da es in diesen fast mit dichterischer Kunst componirten Nachtgesichten von verklärten Gestalten, Engeln und Erzengeln wimmelte und zum Schluß fast immer der ganze Himmel in glänzender bengalischer Beleuchtung aufflammte. Besonders rührend und wirkungsvoll stellten sich die ehrwürdigen abgeschiedenen Seelen seiner Eltern dar. Er hatte sie nur als Kind gekannt, aber sie waren mit ihm geistig verbunden geblieben, und seine gute Mutter nahm die Gelegenheit wahr, dem einzigen Sohn allerhand weise Lehren und einen Vorgeschmack jener höheren Erkenntnisse zu geben, nach denen den jungen Theologen so begierig verlangte. Beim Erwachen freilich war dieser Theil der übersinnlichen Erlebnisse seinem Gedächtniß wieder entschwunden. Der irdische Geist faßt ja nicht, was höher ist als alle Vernunft. Nur ein Nachgefühl überschwänglicher Seligkeit verbürgte ihm, daß solche Träume mehr als Schäume waren.

Er hatte sich bei der Schilderung jener himmlischen Erscheinungen so in Eifer geredet, daß sein hübsches, rosiges Gesicht glühte und seine Vergißmeinnicht-Augen leuchteten. Den weiblichen Mitgliedern seiner Gemeinde mußte er in solch erhöhter Stimmung unwiderstehlich erscheinen. Hier aber, am Tisch der Männer, begegnete er einem hartnäckigen Stillschweigen, das ihm selbst auf die Länge nicht ganz geheuer vorkam. Auch sah er um den Mund des Apothekers ein paar verdächtige ironische Blitze zucken und den Rentamtmann, der vorhin alle Träume aus dem Nachtessen hergeleitet hatte, die breiten Schultern in die Höhe ziehen und den Kopf hin und her wiegen, wobei er ein wunderliches Knurren hören ließ, wie eine große Dogge, der man ein ihr nicht zusagendes Futter in den Trog geschüttet hat.

Um einer zweifelsüchtigen Kritik seiner erbaulichen Mittheilungen zuvorzukommen, was er bisher noch niemals nöthig gehabt hatte, wandte der sonderbare junge Schwärmer sich an seinen Nebenmann zur Linken und sagte: Haben Sie niemals ähnliche nächtliche Offenbarungen erlebt, Herr Stadtrichter? Mag auch mein Beruf mich besonders dafür begabt und empfänglich machen, ich sollte doch meinen, Niemand, selbst nicht dem Ungläubigsten könne die Gnade einer solchen Erleuchtung völlig versagt sein.

Zu meinem Bedauern, werther Herr, versetzte der Angeredete, muß ich gestehen, daß ich überhaupt niemals träume. Oder vielmehr ohne Bedauern, zu meiner Beruhigung. Denn da nach Ihrer Vorstellung ein Jeder die Sorgen und Freuden seines Berufs auch in seinen nächtlichen Seelenzustand mit hinübernimmt – was würde für mich verstaubten Actenmenschen dabei herauskommen, als daß ich mich auch im Traum mit all den leidigen Dingen, Verbrechen und sonstigen Menschlichkeiten herumschlagen müßte, die mir über Tag in meinem richterlichen Geschäft zu schaffen machen. Mir würden höchstens abgeschiedene Spitzbuben, Brandstifter und Raubmörder begegnen, die mir schwerlich einen Blick in höhere Erkenntnisse öffneten, zumal sie, wie es heißt, nicht in die oberen Regionen übersiedeln, sondern an einem gewissen niederen Ort ihre irdische Strafzeit fortsetzen. Aber wenn Sie mich darum für einen Ungläubigen halten möchten, wären Sie sehr im Irrthum. Auch mir, mein werther Herr Kandidat, ist einmal eine – wie Sie es nannten – nächtliche Offenbarung zu Theil geworden, und ich habe lange darüber nachgegrübelt, was es damit für eine Bewandtniß gehabt haben möge. Wenn die Herren nichts dagegen haben, möchte ich das seltsame Abenteuer Ihnen mittheilen.

Alle am Tisch gaben eifrig ihre Zustimmung zu erkennen, Einige stießen einander an und warfen sich heimlich vergnügte Blicke zu. Denn der Sprecher war wegen seines sarkastischen Humors und seiner Kunst zu erzählen bekannt, und man hoffte, er werde dem hochtönenden Neuling eine kleine Lection ertheilen und die Gesellschaft an ihm rächen für die Langeweile, die sie während seiner himmlischen Phantasieen erduldet hatte.

Der Stadtrichter aber blickte mit sehr ernsthafter Miene vor sich hin, that ein paar kräftige Züge aus seiner Meerschaumpfeife und sagte:

Disse Geschichte is lögenhaft to vertellen, aber wahr is se doch, denn wie künnt' man se sonst vertellen? Ich muß diese Einleitung zu der berühmten Geschichte vom Swinegel auch der meinigen vorausschicken, weil man sich vielleicht wundern möchte, dergleichen von mir zu hören, der ich schon von Amtswegen verpflichtet bin, allen räthselhaften Vorgängen auf den Grund zu gehen und selbst dem Augenschein nicht zu trauen, wenn die Sache sonstigen allgemeingültigen Naturgesetzen zu widersprechen scheint.

Diesmal aber konnte ich leider kein Zeugenverhör anstellen. Denn der einzige Zeuge war ich selber.

Was ich als solcher erlebte, war Folgendes.

Sie müssen wissen, Herr Candidat, daß ich in einem sehr kleinen Landstädtchen geboren bin, in welchem mein Vater Bürgermeister war. Meine Freunde sagen mir nach, ich geriethe jedesmal in eine lyrische Aufregung, wenn auf meinen Geburtsort die Rede komme. Ich leugne diese Schwäche nicht, theile sie aber mit all meinen Landsleuten und bin überzeugt, wer je Gelegenheit hatte, das unscheinbare Nest, das aber in der malerischsten Wald- und Hügellandschaft liegt, von Angesicht kennen zu lernen, wird unserm hochgesteigerten Localpatriotismus wenigstens mildernde Umstände zuerkennen. Sind wir unter uns, so lassen wir unsern Gefühlen den Zügel schießen und sehen mitleidig auf die nächstgelegenen größeren Städte herab. Daß Einer aus unserer Mitte sich »draußen im Reich« auf die Länge wohl fühle, ohne wenigstens von Zeit zu Zeit einmal wieder nachzusehen, ob unsere Wälder noch so grün, unser Kirchthurm noch so grau ist, wie in seiner Jugendzeit, ist nicht denkbar. Auch heirathet selten ein Stadtkind eine »Fremde«, und wenn ich für meine Person eine Ausnahme gemacht habe – aber das gehört nicht hieher.

Mein eigener Vater hatte »draußen« ein Jahr lang Jura studirt, war dann aber durch die Erinnerung an eine Schülerliebe wieder nach Hause gelockt worden und, um früher einen eigenen Herd zu gründen, in das Geschäft eines Oheims eingetreten. Mit der Zeit hatte er sich emporgebracht und endlich, da er doch einen Anflug von Rechtsgelehrsamkeit hatte, die Bürgermeisterstelle erlangt.

Der Stolz unseres Städtchens war das Landgericht. Sonst besaßen wir von öffentlichen Institutionen nur noch eine treffliche Feuerwehr, eine musterhafte Armenanstalt und die Bürgerschule, die ihre Zöglinge bis zur Tertia des Gymnasiums heranbildete. Es verstand sich von selbst, daß ich sie erst absolviren sollte, um später mich anderswo für das Universitätsstudium vorzubereiten. Denn der Sohn meines Vaters sollte gleichfalls die juristische Laufbahn betreten, nur nicht, wie dieser, auf halbem Wege wieder umkehren.

An diese spätere Zeit dachte ich mit stillem Grauen, weil sie mich von meiner lieben Heimath trennen würde. Desto begieriger genoß ich alle Freuden der Gegenwart, und da wir auf der Schule von der jetzt so viel beschrieenen Ueberbürdung noch nichts verspürten, hatte ich Muße genug, mit gleichgesinnten Schulkameraden in der Umgegend herumzustreifen, wo jeder Busch und Baum, jeder Bach und Wiesenfleck uns bekannt war.

Einer war unter uns, der Sohn einer Kaufmannswittwe, der an diesen wilden Knabenlustbarkeiten fast nie sich betheiligte. Er hieß Martin Röseler, wir nannten ihn aber Martin den Streber, oder auch nur Streber schlechtweg. Den Spitznamen hatte er sich zugezogen, da er, wenn wir ihn von seinen Büchern und Heften weglocken wollten, sich damit zu entschuldigen pflegte, er habe keine Zeit zum Spielen, das Streben nach dem Höheren gehe vor.

Das klingt nun sehr pedantisch für einen zwölf- oder dreizehnjährigen Schulbuben. Auch wurde er unbarmherzig damit aufgezogen und für einen Philister und Duckmäuser erklärt. Wer ihn aber genauer betrachtete, wie seine sinnigen Augen bei irgend einer schönen Dichterstelle leuchteten, oder der hübsche rothe Mund sich zusammenpreßte, wenn es galt, eine schwere Frage zu beantworten, als habe er eine harte Nuß zu knacken, dem mußte er nicht als ein weibischer Stubenhocker erscheinen, sondern als ein nachdenklicher Träumer, in dem einmal ein geisteskräftiger Mann erwachen würde.

Mich hatte er von früh an für sich gewonnen, und wir wurden die besten Freunde. Nur ihm hatte ich es zu danken, daß ich nicht ganz und gar verwilderte, sondern bei all meinem Leichtsinn auch in der Schule gut fortkam. Denn heimlich hatte ich einen ungeheuren Respect vor ihm, wie er an den schwersten und heikelsten Räthseln herumgrübelte und schon lange vor der Confirmation mit den Mysterien des Glaubens sich zu schaffen machte. Das Was stand ihm fest, über das Wie zerbrach er sich rastlos den Kopf. Am liebsten wäre er Theologe geworden, da er dachte, das Studium der Gottesgelahrtheit werde ihm all seine Zweifel lösen. Dazu aber reichten die Mittel seiner alten Mutter nicht aus. Alles, was sie für ihn thun konnte, war, ihn in ein Lehrerseminar zu schicken, wo eine Freistelle offen war. Und so trennten wir uns zu der gleichen Zeit von den Unsern und der Heimath. Ich kam hieher aufs Gymnasium, er in das näher gelegene L**, wo er seinen mehrjährigen Cursus durchmachen sollte, um dann – hoffentlich – in seiner Vaterstadt eine bescheidene Anstellung zu finden.

Bei ein paar Ferienbesuchen, die ich zu Hause machte, traf ich den guten Streber, da ihm zum Reisen die Mittel fehlten, nicht an. Unser Briefwechsel, der in der ersten Zeit ziemlich lebhaft und von seiner Seite ausführlich gewesen war, schlief durch meine Schuld nach und nach ein, und während meiner Universitätsjahre hörte ich nur dann und wann von ihm, da er auch nach der Rückkehr aus dem Seminar sein eingezogenes Leben fortsetzte und sich bei meinen Eltern nicht blicken ließ.

Ich aber, sobald ich das erste Examen hinter mir hatte und nun nach Hause kam, um eine Weile als Praktikant an dem heimathlichen Landgericht zu arbeiten, ich hatte nichts Eiligeres zu thun, als den alten Schulfreund wieder aufzusuchen. Ueber die Beschämung, daß ich ihm so lange nicht geschrieben hatte, half mir sein herzlicher Empfang hinweg. Er begrüßte mich, als ob wir uns gestern erst getrennt hätten, und wirklich fand ich ihn auch ganz, wie er mir im Gedächtniß gestanden hatte, mit dem alten sinnigen Knabenblick und dem ernsten Zug um den Mund, äußerlich freilich herangereift, eine hübsche, schlanke Jünglingsfigur. Seit einem Jahre bekleidete er eine Hülfslehrerstelle an unserer Stadtschule, mit einem bettelhaften Gehalt, über das er sich aber nicht beklagte. Wir tauschten unsere Erlebnisse aus. Die seinen bestanden in nichts Anderem, als in einem ansehnlichen Zuwachs feiner Kenntnisse, und – setzte er mit einem verschämten Lächeln hinzu – in letzter Zeit habe ich eine Bekanntschaft gemacht, eine Bekanntschaft, von der ich eine neue Epoche in meinem Leben datire.

Ich war darauf gefaßt, von einer rührend bescheidenen Liebschaft zu hören. Da ich aber nach dem Namen des Mädchens fragte, schüttelte er lachend den Kopf – denn er konnte auf seine Manier auch ganz lustig sein – und gestand mir, daß es sich nur um die Bekanntschaft mit Schopenhauers Werken handle.

Dann aber wurde er gleich wieder ernst, ja fast traurig. Siehst du, sagte er, es ist wirklich so Etwas, wie du vermuthet hast, ein Zustand, wie er bei Liebenden stattfinden soll, die bald himmelhoch jauchzen, bald zu Tode betrübt sind. Du weißt, daß ich immer nach höherer Erkenntniß gestrebt habe – aus dem Uebernamen, den ihr mir deßhalb gegeben, mache ich mir einen Ehrennamen, wie einstmals die Geusen – und nun dachte ich, als ich auf dieses Goldbergwerk tiefsinniger Gedanken stieß, das der merkwürdige Mann vor uns aufgedeckt hat, ich würde auf einmal reich werden und sorgenfrei leben können. Darin hatte ich mich sehr getäuscht. Wenn ich ihm eine Weile gefolgt bin und glaube, sicher in seinen Fußstapfen wandeln zu können, entschwindet er mir plötzlich, und ich weiß nicht aus noch ein. Ein Glück, daß auch er, wie unsere Kirche, eine Unsterblichkeit verheißt; da werden wir doch das Weltgeheimniß mit helleren Augen anschauen. Hier unten freilich komm' ich mir manchmal vor wie der große Condor, den ich in einer Menagerie gesehen habe. Er stierte in seinem Käfich gewöhnlich mit halb erstaunten, halb traurigen Augen vor sich hin. Plötzlich hob und schwang er seine starken Fänge, als wollte er aus dem niederen Kerker hinaus in die höchsten Lüfte steigen. Er stieß sich aber nur den Kopf an der hölzernen Decke und knickte wieder zusammen mit einem scharfen Wehlaut, der mir in die Seele schnitt. Nun, unser Käfich wird ja einmal geöffnet werden, und dann – dann excelsior!

Ich war damals in Betreff der Fortdauer nach dem Tode sehr skeptisch geworden und hielt mit meinen Zweifeln nicht zurück. Da aber kam ich nicht gegen ihn auf. Er hatte diese Materie nach allen Richtungen gründlich studirt, demonstrirte mir die Leibnitzische Lehre von der untheilbaren, unzerstörbaren Monade, die wir unsere Seele nennten, von der Verpflichtung der Gottheit, wenn wir uns auf Erden redlich fortentwickelt, nach diesem Leben uns einen Tummelplatz zu neuem Wirken und Lernen anzuweisen, was ja auch Goethe, der alte Heide, gegen Eckermann zuversichtlich ausgesprochen habe, und auch die Fäden der Liebe, die hienieden abgerissen, müßten einmal wieder angeknüpft und in einem höheren Lichte fortgesponnen werden.

Nun, sagte ich, mir soll's recht sein. Nur verlange nicht, daß ich mir eine feste Hoffnung darauf mache. Ich muß immer an Jenen denken, der erklärte, er glaube nicht an Unsterblichkeit; denn wenn es hernach nichts damit wäre, würde er sich ärgern, so lange umsonst daran geglaubt zu haben.

Er war so wenig Pedant, daß er selbst über diesen alten Scherz zu lachen vermochte. Ueberhaupt rührte sich in ihm, da er jetzt vierundzwanzig Jahre alt war, neben seinem geistigen Dichten und Trachten ein Trieb nach heiterem Lebensgenuß, den er nun freilich als ein armer Magister, der eine alte Mutter zu ernähren hatte, nicht befriedigen konnte. Neben seinem Schulamt gab er eine Menge Privatstunden, die aber auch nur kärglich honorirt wurden. Was er einnahm, brachte er der alten Frau. Sie war mit den Jahren geizig geworden und gönnte dem erwachsenen Sohn nur ein schmales Taschengeld. An den vielfachen Vergnügungen, die man im Städtchen veranstaltete, um die jungen Leute beiderlei Geschlechts zu einander zu bringen, nahm er nur selten Theil, hielt sich auch dann in schüchterner Entfernung, da er nicht tanzte. Doch sah ich es an den großen, glänzenden Augen, mit denen er diese oder jene junge Ballschönheit verfolgte, daß sein Blut so jung und feurig pulsirte, wie das der gedankenlosesten unserer Altersgenossen, denen das Streben nach höherer Erkenntniß nie eine schlaflose Stunde gekostet hatte.

Drei Jahre blieb ich in seiner Nähe, drei sehr erquickliche Jahre, in denen wir uns täglich sahen und ich noch miterlebte, wie auch eine andere Bekanntschaft, als die des alten Frankfurter Philosophen, »in seinem Leben Epoche machte«. Das junge Wesen, um das sich's dabei handelte, war freilich der gerade Widerpart jenes großen Denkers, ein reines Stück Natur, aber der alten Mutter in einer ihrer glücklichsten Stunden vom Schooß geglitten. Blutjung war das Mädel, als mein Freund sein zuerst ansichtig wurde, nicht über sechzehn, natürlich ein Nachbarskind, das über Nacht die Kinderschuhe vertreten hatte und zum ersten Mal an einer großen Landpartie der ganzen Stadtjugend Theil nahm. Sehr geputzt war es eben nicht, die Eltern waren kleine Leute. Aber mit dem frisch gebügelten Sommerfähnchen, dem alten Strohhut mit blauem Bande und seinen wundervollen braunen Augen konnte sich's neben den stolzesten Honoratiorentöchtern sehen lassen. Freund Martin war zufällig von der Partie, da sie ohne große Kosten verlaufen sollte. Kaum erblickte er die junge Nachbarin, so war es um ihn geschehen, für diesen und alle folgenden Tage. Doch zu einer Annäherung kam es noch nicht. Nur am andern Morgen gestand er mir, es sei ihm völlig klar geworden, daß dieses Thildchen, wie sie gerufen wurde, die ihm vom Himmel bestimmte Lebensgefährtin sei.

Ich staunte ein wenig, woher ihm diese überirdische Erleuchtung gekommen, zumal er noch kein Wort mit seiner Erkorenen gesprochen hatte. Er war aber in einem Zustande so seliger Trunkenheit, daß ich ihn mit meiner nüchternen Vernunft nicht behelligen mochte.

Bald darauf mußte ich ihn verlassen, mein Staatsexamen zu machen. Ich wurde dann gleich hier, wo ich, wenn es die Heimath nicht sein sollte, am liebsten blieb, am Stadtgericht beschäftigt, lernte meine künftige Frau kennen und bürgerte mich dadurch so fest ein, daß ich mehrere Jahre selbst zu flüchtigen Besuchen bei den Meinigen keine Zeit fand.

Erst der Tod meines Vaters rief mich wieder nach Hause zurück. Ich war nicht in der Stimmung, mich viel mit alten Freunden und Bekannten abzugeben. Nur meinen guten Streber besuchte ich. Ich fand einen ganz verwandelten Menschen. Zwischen ihm und seiner ersten Liebe war es richtig geworden, Martin's alte Mutter inzwischen gestorben, er konnte nun daran denken, einen eigenen Hausstand zu gründen, und schon über sechs Wochen sollte gehochzeitet werden. Die dringende Einladung dazu mußte ich ablehnen. Ich sah aber das Brautpaar zusammen und gewann die Ueberzeugung, daß mein guter Martin gerade Die gefunden hatte, die ihm geben würde, was ihm während seiner dürftigen Jugend gefehlt hatte. Wie gefällt sie dir? fragte er mich mit einem glückseligen Gesicht, das die Antwort vorwegnahm. Nun, sagt' ich, zu einer Streberin wirst du dein Frauchen schwerlich erziehen, dafür wird sie dir zu gewissen anderen höheren Erkenntnissen verhelfen, die auch nicht zu verachten sind, und dir mit ihrer kleinen Hand die Stirne glätten, wenn die sich vor unfruchtbarem Spintisiren über das Weltgeheimniß in gar zu häßliche Falten legt.

Er lachte. Zumal da ich ihm den Vers aus der Zauberflöte citirte:

Mann und Weib und Weib und Mann
Reichen an die Gottheit an.

Dies Eritis sicut Deus ist mir zwar etwas zweifelhaft, sagte er. Aber wenn ich auch nicht mit meinem Thildchen philosophiren werde, neben ihr werd' ich's doch wohl nicht lassen können, und sie wird mich so wenig darin stören, wie meinen großen Namensvetter – er meinte den Doctor Martinus – seine Käthe im Weiterforschen nach den Geheimnissen des Glaubens.

Dann schrieb er mir noch ein paar Mal als junger Ehemann, und wieder kam unsere Correspondenz, da ich ein fauler Antworter bin, ins Stocken. Mein Amt nahm mich zu sehr in Anspruch und in den Mußestunden meine eigenen Familienfreuden. Von den seinen erfuhr ich nur, daß ihm seine kleine Frau einen Knaben geboren hatte. Der glückstrahlende Brief, in welchem er mir das meldete, und meine Gratulation waren die letzten Lebenszeichen, die wir austauschten. Und da ich sonst in meiner Vaterstadt keine Verwandten mehr hatte und mit anderen Correspondenten nicht säuberlicher verfahren war, als mit meinem alten Special, hörte ich von dem, was sich bei mir zu Hause zutrug, so gut wie nichts mehr. Denn in die Weltgeschichte griff das gute alte Nest nicht ein, und sein Name wurde in den Zeitungen nie genannt.

Das ertrug ich trotz meines lebhaften Heimathgefühls etliche Jahre, vier oder fünf, dann aber überfiel mich eines Tages die Nostalgie mit solcher Macht, daß ich mir mitten im Jahre, ohne die Gerichtsferien abzuwarten, eine Woche Urlaub nahm, um einmal wieder die Luft meiner Jugend zu athmen.

Ich hatte mich nicht angemeldet und freute mich darauf, auch meinen guten Martin zu überraschen. Auf der letzten Station vor meinem Reiseziel verließ ich die Eisenbahn. Ich wollte die zwei kleinen Meilen, die mich noch von der geliebten Stätte, wo meine Wiege gestanden, trennten, in behaglichem Schlendern zurücklegen. Es war schönes Wanderwetter, die Hitze des Tages verging in dem sanften Abendwind, die Gegend, die ich so gut kannte, zeigte sich in all ihren Reizen unter der günstigsten Beleuchtung, erst des Abendroths, dann des halben Monds, über den leichte Streifwolken hinzogen. So übereilte ich mich gar nicht, rastete, je näher ich dem Städtchen kam, immer häufiger an dieser und jener Stelle, die mir lustige Erinnerungen weckte, verirrte mich sogar einige Male, da in den Ansiedelungen sich Manches geändert hatte, und brauchte reichlich vier Stunden zu einem Wege, den ich sonst in weniger als zweien zurückgelegt hatte.

Als ich dann endlich aus dem letzten Wäldchen heraustrat und über Felder und Wiesen die Thürme und Dächer des kleinen Orts in die duftige Mondhelle hinaufragen sah, fühlte ich mich einigermaßen ermattet. Am Waldrande stand ein Bänkchen, mir wohlbekannt. Da ließ ich mich nieder, um einen Augenblick zu ruhen und das hübsche Bild wieder einmal in mich aufzunehmen. Es mag aber wohl nicht lange gedauert haben, da fielen mir die Augen zu und thaten sich erst wieder auf, als ich vom Thurm der Kirche die späte Stunde schlagen hörte – zehn – elf – oder gar zwölf Schläge, ich hatte nicht genau folgen können, jedenfalls war's hohe Zeit, das Nachtquartier aufzusuchen. Denn man pflegte auch in unserm ersten Gasthof früh zu Bette zu gehen.

Wie ich mich nun aufrichte und meine Schritte beschleunige, seh' ich nicht weit vor mir, auf dem Wiesenwege, der neben der Fahrstraße dem Thore zuläuft, eine dunkle Gestalt, die sich in derselben Richtung fortbewegt: ein schlanker, schwarzgekleideter Mann, dessen lange Rockschöße zwischen den hohen Schafgarben und anderen Unkräutern wunderlich hin und her wehten, während der Kopf, der unbedeckt war, weit zurück im Nacken saß, als ob der Wanderer gespannt die Sterne observirte.

Nicht zwei Minuten konnte ich im Zweifel bleiben, wen ich vor mir hatte, so sehr mich's wunderte, zu dieser nachtschlafenden Zeit ihn hier draußen anzutreffen. Zugleich überkam mich eine lebhafte Freude, wie schön der Zufall es gefügt hatte, daß ich den alten Freund heute noch und in so traulicher Nachtstille wiedersehen sollte.

Martin! rief ich. Bist du's wirklich? Was in aller Welt hat ein zärtlicher Gatte und Vater um Mitternacht hier draußen zu suchen?

Er war bei meinem ersten Worte stillgestanden und wandte sich nach mir um, als ob er seinen Ohren nicht traute. Du bist's? sagte er kaum hörbar. Guten Abend, Wilhelm! – Seine Stimme klang fremd und wie halb erloschen; über sein Antlitz flog nur einen Augenblick ein leiser Schimmer, dann wurde es wieder düster, und die Augen senkten sich zu Boden, als wär's ihm peinlich, mir offen ins Gesicht zu sehen. Auch wunderte mich's, daß er mir nicht wie sonst, wenn wir uns längere Zeit nicht gesehen hatten, beide Hände entgegenstreckte. Das machte auch mich befangen. Statt ihn zu umarmen, trat ich nur nahe zu ihm hin und betrachtete ihn mit bekümmerter Theilnahme.

Wie siehst du denn aus, mein Alter? sagte ich. Es scheint dir seither nicht zum Besten gegangen zu sein, trotz deines häuslichen Glücks. Dein Gesicht ist schmal geworden, dein Näschen so dünn, daß man fast die Sterne durchschimmern sehen kann. Und nun läufst du ohne Hut in der Nachtluft herum und kannst dir unter dem starken Thau den schönsten Rheumatismus zuziehen. Laß uns nur geschwind zur Stadt zurückgehen, du erzählst mir im Gehen, wie das so mit dir gekommen ist.

Ich wollte ihn unterfassen, aber er wich mir mit einer ängstlichen, nicht gerade unhöflichen, aber sonderbar fremden Geberde aus und wandelte mit seinen langen Schritten neben mir hin durch das Gras. Du hast ganz recht gesehen, sagte er, nachdem wir Beide ein wenig verstummt waren, es geht mir auch nicht zum besten. Obwohl es eigentlich undankbar ist, zu klagen. Sie haben's gewiß gut mit mir gemeint. Ich bin ja befördert worden.

Befördert? rief ich. Aber davon höre ich ja das erste Wort. Bist du zum Rector avancirt und hast dich in deiner neuen Stellung überarbeitet, daß du so heruntergekommen aussiehst?

Er schüttelte leise den Kopf, immer mit dem tiefsinnig wehmüthigen Ausdruck.

Nein, Wilhelm, sagte er, so ist's nicht. Ich bin gar nicht mehr in unserer Schule. Sie haben wohl Rücksicht darauf genommen, daß ich mir immer an den Schranken meiner Erkenntniß die Stirne wund stieß, und mir einen Gefallen zu thun gedacht, wenn sie mich in eine höhere Bildungsanstalt versetzten. Da bin ich nun schon eine ganze Weile, habe nichts zu thun, als mich selbst in die Schule zu nehmen, auch sonst könnt' ich sorgenfrei leben, wenn nur nicht –

Er brach plötzlich ab und sah wieder zu den Sternen hinauf. Der Mond stand hinter einer grauen Wolke.

Ich verstehe kein Wort von dem, was du mir da erzählst, Martin, sagte ich. Was ist das für eine höhere Bildungsanstalt? Hat dir das Ministerium etwa ein paar Jahre Urlaub gegeben, um noch auf eine Universität zu gehen? Und was soll nun in Zukunft daraus werden?

Wenn ich das selbst wüßte! erwiederte er mit einem Seufzer. Das ist es ja eben, daß Niemand mir das sagen kann, auch da nicht, wo ich mich jetzt befinde, und wo man sonst so Vieles weiß. Das Traurigste ist, daß ich eingesehen habe, mit dem guten Willen, zu begreifen, was einem offenbart wird, sei es nicht gethan. Das »Ding an sich« kann einem noch so dicht auf den Leib rücken, man hat nicht die Organe, es anzupacken und festzuhalten. Wie sollte man das auch können? So lange man sein bischen Persönlichkeit behält, ist man ein begrenztes Wesen. Wenn ein solches in den Abgrund des Unbegrenzten, des Absoluten blickt, gehen ihm höchstens die Augen über, doch nicht auf, und am Ende kann es noch blind darüber werden, so daß es selbst für die niederen Erkenntnisse nicht mehr taugt. Das ist traurig.

Dann, nach einer Pause: Entsinnst du dich noch, Wilhelm, daß ich dir einmal von dem Condor erzählt habe, der sich in seinem Käfich den Kopf an der Holzdecke blutig stieß, so oft er seine Flügel dehnen wollte? Ein solcher Gefangener ist noch besser daran als Unsereins. Unser Käfich ist mit uns selber verwachsen. Auch wenn die Seele nicht mehr an der harten Schädeldecke des Gehirns sich Beulen stößt – sie selbst ist eingekerkert in ihre Untheilbarkeit und Unzerstörbarkeit, aus der sie nicht herauskann. So eine arme Strebermonade ist dann übler daran als genügsamere, die sich nichts Besseres wünschen, als sich die liebe Sonne wenigstens aufs Dach scheinen zu lassen, da Monaden bekanntlich keine Fenster haben.

Ich hatte ihm mit immer wachsendem Erstaunen zugehört. Bist du nun auch dahintergekommen, alter Freund, rief ich, daß die Bäume der Erkenntniß nicht in den Himmel wachsen? Nun, wenigstens wird es deiner lieben Frau und dem Buben zu Gute kommen, wenn du auf das Speculiren hinfort verzichtest und die Methaphysik Denen überlassest, die Métier davon machen.

Er blieb stehen und senkte den Kopf mit einer tiefschmerzlichen Geberde auf die Brust.

Meine Frau? flüsterte er, und seine Stimme klang noch heiserer. Von der bin ich ja getrennt.

Wie? rief ich. Sie haben dir nicht erlaubt, die süße kleine Person in deine höhere Bildungsanstalt mitzunehmen? Etwa bloß, weil sie keine metaphysischen Anlagen hatte? Oder seid ihr gar –

Ich konnte den Satz nicht vollenden. Es schien mir zu ungeheuerlich, daß diese Ehe, die ich so recht im Himmel geschlossen glaubte, auf Erden nicht Bestand haben sollte, daß die junge Frau am Ende gar etwas verschuldet haben könnte, was diesen liebevollsten aller Gatten genöthigt hätte, von ihr zu gehen.

Ja, fuhr er fort, es ist wirklich so, man hat uns geschieden. Warum es nöthig war? Ich weiß es nicht. Keins von uns hat etwas verschuldet, was eine so grausame Maßregel in meinen Augen rechtfertigen könnte. Aber gegen solche höheren Rathschlüsse giebt es keine Appellation. Es ist noch Anderen meiner jetzigen Collegen nicht besser ergangen, Viele aber ertragen es leichter, weil sie vorher nicht so glücklich waren. Ich dagegen – du kennst mich ja und kennst auch sie – nein, das doch nicht. Ich selbst habe erst in der Ehe erfahren, was für einen Schatz ich an ihr besaß. Und mein Junge, mein prächtiger, kleiner Junge –! O, es ist bitter, und darüber würden auch ganz andere geistige Freuden und ungeahnte Erleuchtungen nicht hinweghelfen. Drei Jahre hab' ich sie besessen, gerade lange genug, um zu erkennen, wie Recht du hattest, mich an den Vers zu erinnern: Mann und Weib und Weib und Mann! – Wenn eine irdische Monade überhaupt so vermessen sein kann, von Gottähnlichkeit zu reden, hier ist sie oder nirgends, und es wird ihr auch gar nicht bange davor. Was darüber ist, ist vom Uebel, wenn es nicht überhaupt der baare Unsinn ist.

Ich konnte, da ich ihn mit fast wilder Desperation dies und noch Anderes in demselben Ton vor sich hin reden hörte, lange keine Worte finden, ihm mein schmerzliches Mitgefühl auszusprechen. Auch grübelte ich rathlos über den Sinn mancher seiner Aeußerungen und war doch zu discret, ihn geradezu zu befragen, da ich einen trübseligen Eheroman hinter der abgerissenen Beichte witterte.

Endlich, als er erschöpft verstummte, kam ich mit der Frage heraus, was ihn denn bewogen habe, diese Gegend wieder aufzusuchen, wo er so Trauriges erlebt. Da nickte er mit dem Kopf und hauchte: Du hast sehr Recht, es ist auch eine Thorheit, aber es ist stärker als ich. Das Gescheidteste wäre, mich in das Unabänderliche zu ergeben. Mein Gott, man hat ja auch in meiner jetzigen Lage noch manche Freude und stille Genugthuung, wenn wieder ein dunkler Punkt sich lichtet und eifriges Streben eine kleine Strecke weiter hinaufführt. Die Meisten meiner Collegen sind auch ganz zufrieden damit, und Einige dünken sich wunder wie groß, wenn sie den Schleier, der das Weltgeheimniß deckt, wieder um einen halben Zoll gelüftet haben. Die haben eben nicht so viel zu Hause zurückgelassen wie ich. Und so kann ich mir nicht helfen: obwohl ich weiß, daß ich mir den Stachel nur tiefer ins Herz drücke, wenn ich wieder einmal das Verlorene mit Augen sehe, – es reißt mich wie mit Stricken zurück, ich frage gar nicht danach, was die Oberen dazu für Augen machen mögen, wenn ich ohne Urlaub fortrenne, aber her muß ich, und sollt' ich hernach zur Strafe in ein dunkles Loch gesperrt werden, wo ich Tage und Wochen lang vom Licht getrennt, hungern und dursten müßte nach dem Brode der Wahrheit und dem Quell der Erkenntniß.

Indem er dies sagte, schlug er einen Seitenpfad ein, der vom Stadtthor ablenkte und auf ein schattiges Wäldchen zuführte. Dieses zog sich eine kleine Anhöhe hinan und war im Sommer ein beliebter Tummelplatz besserer Familien. Denn in dem Försterhause dort, das zwar keine eigentliche Gastwirthschaft ausübte, wurden Getränke verabreicht, an denen man im Schatten hoher Eichen und Linden sich erfrischen konnte.

Wohin führst du mich? fragte ich höchlich erstaunt.

Er gab aber keine Antwort, sondern wandelte mit immer hastigeren Schritten mir voran.

Der Mond war aus den Streifwolken herausgetreten und warf seine Strahlen so kräftig durch die Baumwipfel, daß, wo sie hinfielen, jeder Kiesel und Grashalm deutlich zu erkennen war. Die Vorderseite des Hauses lag im Schatten. Der verstummte Freund aber eilte daran vorbei und machte erst an dem niedrigen Zaune Halt, der das Blumengärtchen an der Rückseite des Hauses von dem freien Waldrevier abgrenzte. Zwei große Hunde hatten dort geschlafen und fuhren mit wüthendem Gebell gegen die Latten des Zauns, als sie uns kommen hörten. Sie machten Anstalten, hinüberzusetzen und uns anzufallen. Martin aber trat dicht an sie heran und bewegte wie grüßend die rechte Hand gegen sie. Da wurden sie plötzlich kleinlaut. Ich sah, wie ihr Fell sich sträubte und beide mit eingezogenem Schweif, zitternd und winselnd nach dem Hause zurückkrochen. Da blieben sie zusammengeduckt liegen, auch als wir durch die nur angelehnte Gitterthür eintraten.

Hier unter den Blumenbeeten war's taghell. Martin aber hielt sich nicht dabei auf, etwa aus Rosen, Levkoyen und Reseda ein Sträußchen zu pflücken zur Erinnerung. Er schritt geradewegs auf ein Fenster zu, dessen Flügel hinter den Gitterstäben halb offen standen, die Nachtkühle hereinzulassen. Ein dünner weißer Vorhang, der in der Mitte auseinanderging, ließ einen Theil des Zimmers überschauen. Mein Freund aber stellte sich so dicht davor, daß ich nur über seine Schulter hineinblicken konnte.

Da sah ich in dem weißen Viereck, das der Mond ins Innere strahlte, das Fußende eines Bettes, daneben eine Wiege. Das Kind, das darin lag, mochte von dem Bellen der Hunde aufgeschreckt worden sein, es focht mit den Aermchen um sich her und fing an zu weinen. Sofort erhob sich in dem Bette neben ihm eine junge weibliche Gestalt, setzte sich aufrecht in die Kissen und langte sich das Würmchen herüber. Dann öffnete sie ihr Nachtjäckchen und legte das Kind an die volle Brust, über die der Mond hinspielte, während das Gesicht im Schatten blieb. Das Kind ließ aber, nachdem es ein Weilchen getrunken, den kleinen Kopf zurücksinken und setzte sein Schreien fort. Da schwang sich die Mutter mit ihm vom Lager herab und trug es nun mit halblautem Singsang das Zimmer auf und ab, bis es sich beruhigte. Nun trat auch ihr Gesicht zuweilen aus dem Schatten hervor, gar lieblich mit den halb verschlafenen, halb zärtlichen Augen unter dem weißen Nachthäubchen, während die bloßen Füße sacht über die blanken Dielen schritten. Herrgott! sagt' ich unwillkürlich vor mich hin, das ist ja –

Ueber die Gestalt des Freundes vor mir lief es wie ein zuckender Schmerz. Er trat plötzlich zurück, da die Frau sich dem Fenster näherte, um es zu schließen. Ja wohl, flüsterte er, das ist sie, meine Thilde, nicht mehr meine! Ist sie nicht noch schöner geworden? Und sieht sie aus, als ob sie nicht glücklich wäre, als ob ihr irgend Etwas fehlte, ich zum Beispiel? Und das soll einem nicht das Herz abdrücken!

Das junge Weib hatte das schlafende Kind in die Wiege gelegt und war selbst wieder unter die Decke geschlüpft. Es war mir räthselhaft, wie sie hier in das Forsthaus kam. Vielleicht zur Sommerfrische? Und der Säugling – Ich wußte nicht, daß du noch ein Kind hattest! sagte ich, nur um das peinliche Schweigen zu brechen.

Es ist ihr Kind, antwortete er mit dumpfer Stimme, ihres und seins. Hast du nicht da hinten neben ihrem Bett noch ein zweites gesehen? Darin schläft ihr jetziger Mann, der Förster, unser Schulkamerad Wenzel. Nur ein Jahr, nachdem wir getrennt wurden, hat sie ihn geheirathet. Kann ich es ihr verdenken, daß sie wieder versorgt sein wollte, da sie von mir nichts behielt als meine armselige Bibliothek und das bischen Hausrath und dazu meinen Buben? Und doch hat mir's weh gethan. Ich hatte sie mehr geliebt als ich sagen kann.

Er wandte sich ab, ein seltsames Stöhnen erschütterte seine Brust.

Erkläre mir nur, sagte ich, warum hat sie den Knaben behalten? Wenn du nicht schuld an der Scheidung warst –

Er antwortete nicht und wandte sich wieder der Gitterthür zu. Laß uns fort! sagte er. Es thut mir nicht gut – ich wußt' es wohl – aber wie gesagt, es zog mich mit Gewalt –

Wenn der Junge aber heranwächst, fuhr ich fort, da mich diese Ungerechtigkeit gegen den guten Menschen empörte, dann wird man ihn dir doch nicht vorenthalten, du wirst ihn wiedersehen und seine geistige Erziehung nicht dem Stiefvater überlassen.

Er trat über die Schwelle des Gartenpförtchens, blieb aber stehen und wandte sich mit einer Geberde der Angst nach dem Hause um.

Wiedersehen? rief er mit einem qualvollen Ton, der mühsam von seinen fahlen Lippen brach. Das ist es ja gerade, wovor mir graut. Meinen Jungen wiedersehen, wenn wir Beide einander fremd geworden sind, er seinen Vater, sein Vater ihn wie eine neue Bekanntschaft betrachten muß, vielleicht der Andere neben ihm, der mir sein Sohnesherz entwendet hat – und vollends sie, die indessen einem Andern Kinder geschenkt und unser erstes Glück vergessen hat wie einen Morgentraum – davor bewahre mich eine gütige Vorsehung – wenn es eine giebt! Hält' ich einen Mord auf dem Gewissen, ein solches Wiedersehen wäre doch eine zu harte Strafe dafür. Nein, versinken, vergessen, bis auf den letzten blassen Schatten der Erinnerung, und müßten in den schwarzen Abgrund auch alle die hohen und herrlichen Erleuchtungen mit hinuntertauchen, nach denen ich, der blöde Narr, der ich war, mich Zeitlebens gesehnt habe!

Ich war tief erschüttert durch diesen Ausbruch einer fassungslosen Qual. Armer Freund, stammelte ich, dir ist grausam mitgespielt worden. Aber das Unrecht, das man dir angethan hat, ist gewiß zu einem Theil wenigstens wieder gut zu machen. Wenn dir auch die Frau jetzt verloren ist, den Knaben wenigstens muß man dir lassen, ich selbst will bei dem Gericht, das ihn dir abgesprochen, für dich appelliren – sage mir nur –

Er schüttelte mit einem bitteren Auflachen den Kopf, In diesem Augenblick trat eine Wolke vor den Mond, die ihn völlig verhüllte, so daß wir unter den dichten Bäumen in schwarzer Finsterniß standen. Als der Himmel sich wieder lichtete und ich mich umsah, wo der Freund geblieben, war er nicht mehr an meiner Seite.

Ich rief seinen Namen, ich suchte ihn, in hellem Aerger, daß er mich ohne Abschied verlassen, hinter allen Büschen und Bäumen – er blieb verschwunden.

Unmuthig trat ich endlich aus dem Wäldchen heraus und schlug den Weg nach der Stadt wieder ein. Vom Kirchthurm drang ein einzelner dumpfer Schlag zu mir herüber – wahrhaftig, es war Ein Uhr nach Mitternacht. Keine Menschenseele weit und breit, auch in den Gassen, die ich nun betrat, nur der leichenhaft blasse Mondschein auf allen Dächern und Mauern. Ich hatte lange am Thor des Gasthofs zu schellen, bis mir ein schlaftrunkener Hausknecht öffnete. Zum Glück erkannte er mich, und ich gelangte ohne Schwierigkeiten in ein leeres Zimmer, das über Tag nicht gelüftet worden war, so daß ich vor dumpfer Schwüle und fieberhafter Aufregung lange nicht zum Schlafen kam.

Als ich spät am andern Morgen im Gastzimmer unten frühstückte und mein alter Gönner, der Wirth, sich zu mir setzte, mich zu unterhalten, kam gleich die Rede darauf, wie die Zeit vergehe und Manchen mitnehme, der sich dessen nicht versehe. Von all meinen alten Kameraden, sagt' ich, die ich nicht wiederfinden soll, ist mir's am meisten leid um den guten Martin Röseler. Wie ist denn das zugegangen, daß er von seiner Frau geschieden worden ist und die Stelle an einer höheren Schule bekommen hat?

Der Mann sah mich mit großen Augen an. An einer höheren Schule? sagte er. Nun, gewissermaßen freilich – Sie drücken sich sehr eigenthümlich aus, Herr Stadtgerichtsassessor – übrigens hat es all seine Bekannten gewundert – er war immer gesund gewesen, wenn auch von zarter Constitution – vielleicht aber das nächtliche Studieren – der Herr Oberlehrer hatte so viel Streben – kurz und gut, er bekam es auf der Brust, hustete, wollte sich nicht schonen – und nicht drei Monate, nachdem er sich gelegt hatte, mußten wir ihn begraben.

Ich erschrak heftig über diese Mittheilung und hatte Mühe, meine Bewegung zu verbergen. Mein guter Martin nicht mehr unter den Lebenden, und doch – in der vergangenen Nacht –? Es war mir wohl Manches bei der Begegnung mit ihm befremdlich, ja unheimlich gewesen – aber auch sein plötzliches Verschwinden hatte mich noch nicht aufgeklärt, und nun blieb mir kein Zweifel: eine Offenbarung aus einer anderen Welt war mir zu Theil geworden, an die ich nur mit leisem Grauen zurückdenken konnte.

Er soll sehr schwer gestorben sein, fuhr der Wirth fort, der sich meine Verstörung mit der Trauer um den alten Freund erklärte; mein Gott, er hatte ja auch das schönste Leben, die Frau war gut zu ihm und er immer noch so verliebt wie ein Bräutigam – das hat auch vielleicht zu allem Andern – und seinen kleinen Jungen vergötterte er förmlich. So was läßt Einer nicht gern im Stich. Na, die Frau hat sich ja wieder verheirathet, sie hat nicht zu klagen. Und ihrem ersten Mann hat ihr zweiter einen schönen Grabstein machen lassen, die Inschrift hat der Herr Oberlehrer noch selbst bestimmt in seiner Krankheit, bloß den Namen, das Geburts- und Todesjahr und darunter ein lateinisches Wort –

Excelsior! ergänzte ich und dachte in meinem stillen Herzen: Armer Freund Streber! Wenn es wahr ist, was du mir heute Nacht vertraut hast, so ist dein letzter Wunsch, der auch dein Lebenswunsch war, nur mangelhaft in Erfüllung gegangen!

*

Keiner von den Zuhörern gab einen Laut von sich, als der Stadtrichter seine Erzählung geendet hatte.

Erst nach einer ganzen Weile hörte man den Candidaten sich räuspern, wie wenn er sich zu einer längeren Rede anschicken wollte. Da stand aber der Stadtpfarrer auf und sagte: Die Herren müssen mich heut entschuldigen, ich habe noch in einer amtlichen Angelegenheit einen Bericht fertig zu machen, und morgen ist Samstag, wo ich auf die Predigt studieren muß. Lassen Sie sich nicht stören, und Ihnen, werther Freund, – wandte er sich an den Stadtrichter – sage ich besten Dank für die merkwürdige Geschichte, die Sie uns erzählt haben, indem ich mir vorbehalte, die Gedanken, die mir dabei gekommen sind, ein andermal unter vier Augen gegen Sie auszusprechen. Bleibst du noch hier, lieber Neffe, oder willst du mich nach Hause begleiten? Den Hausschlüssel könnte ich dir durch das Mädchen schicken.

Der junge Mann erhob sich mit seiner unerschütterlichen Gelassenheit. Ich will doch lieber mit dir gehen, Onkel, sagte er. Auch ich habe mir mancherlei Gedanken gemacht, die aber, wie ich glaube, in diesem Kreise wenig Anklang finden würden. So wünsche ich allerseits gute Nacht!

Als Onkel und Neffe das Gastzimmer verlassen hatten, zwinkerte der Apotheker dem Stadtrichter zu und sagte, in sich hineinlachend: Der hochwürdige junge Herr fände wohl auch ohne die Begleitung des Herrn Onkels heute Nacht den Weg nach Hause. Dem habt Ihr gehörig heimgeleuchtet, Gevatter!


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