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In der Geisterstunde

(1892)

 

I. Die schöne Abigail.

Wir hatten nach dem Abendessen in einem befreundeten Hause bei Bowle und Cigarre bis in die späte Nacht hinein geplaudert, zuletzt über die Entlarvung eines spiritistischen Gauklers, die gerade vor wenigen Tagen gelungen war und bei Gläubigen und Spöttern großen Lärm gemacht hatte. An den Bericht über den Vorgang – Einer aus unserem Kreise war zugegen gewesen – hatte sich ein endloses Gespräch über das Für und Wider jener räthselhaften Erscheinungen geknüpft, die auf der helldunklen Grenze zwischen Seelen- und Nervenleben stehen und selbst von der hochmüthigsten Wissenschaft nicht länger mit Schweigen und Achselzucken abzufertigen sind. In das lebhafte Gewirre der widerstreitenden Meinungen hinein erklang plötzlich der tiefe Ton der alten Standuhr, die Mitternachtsstunde ankündigend. Als der letzte der zwölf harten, langsamen Schläge verhallt war und eine kleine Stille entstand, hörten wir aus dem Sophawinkel heraus die helle Stimme der jungen Schwester der Hausfrau, die in ihrer drollig trockenen Tonart ausrief: So! die Geisterstunde wäre nun glücklich angebrochen. Ich erlaube mir den Vorschlag zu machen, daß jetzt die Debatte über Suggestion, Telepathie, Autohypnose, und wie der confuse Spuk sonst noch heißen mag, geschlossen wird und wir uns endlich mit etwas Soliderem beschäftigen, ich meine, mit echten und rechten Gespenstergeschichten, wie sie zur Geisterstunde passen. Ich glaube zwar an die tanzenden Nonnen in »Robert der Teufel« so wenig wie an den fliegenden Holländer, trotzdem aber kann ich mich eines angenehmen Gruselns nicht erwehren, wenn sie gut gespielt und gesungen werden, und nichts hab' ich lieber, als wenn mir – in guter Gesellschaft – die Haut ein bischen schaudert und das Haar zu Berge steht. Gerade daß man weiß, es ist Alles Unsinn, und doch hat es diesen wunderlichen Effect, ist das Hübsche daran, wie man es ja auch bei allem Poetischen erfährt, das uns mit fortreißt, obwohl wir wissen, es ist ein Spuk der Phantasie. Verzeihen Sie, Herr Doctor, wandte sie sich lächelnd zu mir, ich schwatze da sehr unbescheiden über Dinge, die Sie besser verstehen. Aber warum sind Sie Alle, nachdem die Uhr Zwölf geschlagen, so wie auf Verabredung verstummt? Der Erste, der den Mund öffnet, wenn ein Engel durchs Zimmer geflogen ist, sagt bekanntlich immer etwas Dummes.

Alle sieben Weisen könnten nichts Klügeres über die Wirkung der Poesie sagen, als was Sie eben geäußert haben, liebes Fräulein, erwiderte ich, mich gegen sie verneigend. Ich freue mich, eine so tapfere Idealistin in Ihnen zu begrüßen, welcher Schiller, wenn er sie hätte reden hören, seine Hochachtung bezeugen würde als einer werthen Gesinnungsgenossin. Denn in der That meinte er ja auch: was sich nie und nirgend hat begeben, das allein veraltet nie. Aber lassen wir diese ästhetischen Principienfragen und kommen zu unserer mitternächtigen Tagesordnung. Sie wollen Spukgeschichten hören? Wenn nun aber Niemand von uns eine recht ausbündige, die nicht gar zu kindisch und köhlergläubig wäre, in Bereitschaft hat?

Nein, sagte das kluge Mädchen lachend, das versteht sich, es darf nicht etwa auf einen bloßen Bademantel hinauslaufen, der, zum Trocknen aufgehängt, vom Winde hin und her geweht wird und sich für ein Gespenst ausgiebt, wie ich selbst als kleines Mädchen einmal erlebt habe. Es muß Etwas sein, was einem vernünftigen Menschen, und der kein Hasenfuß ist, was aufzurathen giebt, und wofür auch nicht gleich eine prosaische Aufklärung bei der Hand ist. Wie wär's, wenn wir Umfrage hielten, und wer nichts derart aus eigener Erfahrung oder nach glaubwürdiger Mittheilung zu erzählen wüßte, müßte ein Pfand geben?

Dann rücke du selbst nur gleich mit deinem Pfand heraus, sagte ihre Schwester lächelnd, denn schwerlich sind dir außer jenem Bademantel überirdische Gesichte zu Theil geworden.

Wer weiß! versetzte die Muthwillige und bemühte sich, eine geheimnißvolle Miene zu machen. Aber ich komme zuletzt. Der Doctor hat jetzt das Wort. Wir bitten um ein recht hübsches Gespenst, Herr Doctor, Wahrheit oder Dichtung, in Prosa oder in Versen ist uns gleich, nur daß es uns recht eiskalt dabei über den Rücken läuft und zu gleicher Zeit eine sanfte ätherische Hand uns das Gesicht streichelt.

Damit kann ich nun freilich nicht dienen, versetzte ich, wenn ich nicht etwas zusammenfabeln will, was ich doch aus dem Stegreif nicht wagen würde. Das Höchste in dieser Art hat schon ein Höherer geleistet, der Dichter der Braut von Korinth. Mir selbst ist nur ein unscheinbares Erlebniß in der Erinnerung, das für eine geheimnißvolle Wirkung in die Ferne, die längst durch tausend Thatsachen bestätigt ist, ein neues Zeugniß ablegt. Ich war als ein junger Mensch von dreiundzwanzig Jahren in Rom und hatte in Berlin die beiden Menschen zurückgelassen, denen von all meinen Nächsten ich am meisten fehlte: meine Mutter und meine Braut. Im frühen Frühling des Jahres 1853 nun, an einem dunklen, stürmischen Abend, sitzt meine Liebste ruhig mit einer Handarbeit bei ihren Geschwistern, als sie heftig unten an der Hausthür klingeln hört und mit dem Rufe: das ist Paul! hinaus- und die Treppe hinuntereilt, um selbst das schon verschlossene Hausthor zu öffnen. Niemand stand draußen an der Schwelle, und sie mußte sich, da sie zurückkam, von den Brüdern mit ihrer »bräutlichen Phantasie« necken lassen. Am anderen Morgen besucht sie meine Mutter, die kommt ihr mit den Worten entgegen: Denke nur, was mir gestern Abend begegnet ist! – und erzählt genau denselben Hergang, wie sie plötzlich die Hausglocke gehört habe, mit dem lebhaften Ton, den ich anzuschlagen pflegte, zu meinem Vater hineingeeilt sei und ebenfalls ausgerufen habe, das müsse ich sein, der unten stehe, worauf sich auch hier das Ganze als eine Sinnestäuschung erwiesen habe. Oder doch als etwas Anderes? Denn acht Tage später kam ein Brief aus Rom mit der Nachricht, daß ich an einem Malariafieber bedenklich krank gelegen, und gerade an jenem Abend die Gefahr auf ihre Höhe gestiegen sei.

Wieder ward eine kleine Stille in der Runde. Dann sagte das Fräulein ruhig: Eine nachdenkliche Geschichte, von der ich jedes Wort glaube. Denn von den Wirkungen der Seelen auf einander ohne die Vermittlung sinnlicher Zwischenträger haben wir ja heute Abend schon genug unwidersprechliche Beweise gehört. Und so sollen Sie ohne Pfand sich gelöst haben, obwohl es keine eigentliche Gespenstergeschichte ist, keine solche, die unglaublich ist und uns doch gruseln macht. Jetzt ist die Reihe an dem Herrn Obersten. Ich fürchte nur, der wird uns auch im Stich lassen. Denn so viel ich weiß, haben die Gespenster einen heiligen Respect vor Leuten, die Waffen tragen und schon aus Beruf Courage haben müssen.

Sie wandte sich mit diesen Worten an meinen Nachbar, der sich während der letzten Stunde, so lange das Gespräch sich um die Geheimnisse des Zwischenreichs gedreht, auffallend schweigsam verhalten hatte. Ein stattlicher Mann, zu Anfang der Fünfziger, Haar und Bart vorzeitig ergraut; die wetterbraune Farbe des Gesichts stach mit einem gewissen coloristischen Reiz dagegen ab, und nur ein leises Zucken, das dann und wann den festen Mund umzog, verrieth ein geheimes Leiden. In der That hatte der treffliche Mann, der mit Leib und Seele Soldat war und im Kriege von 70 und 71 mit Auszeichnung gedient hatte, wegen tief eingenisteter rheumatischer Beschwerden in Folge seiner Feldstrapazen vor zwei Jahren den Abschied nehmen müssen, mit Oberstenrang und allen sonstigen Ehren, die ihn jedoch über seine gezwungene Unthätigkeit so wenig zu trösten vermochten, wie die kriegsgeschichtlichen Studien, mit denen er seine Muße ausfüllte.

Wir Alle schätzten ihn sehr und freuten uns, daß er in unserm Kreise seiner schwermüthigen Stimmung Herr zu werden im Stande war und bei den witzigen Thorheiten, auf welche die Schwester der Hausfrau zuweilen verfiel, das dankbarste Publicum abgab.

Desto bestürzter sahen wir nun, wie er auf die letzten Worte des Fräuleins erblaßte, den Blick zu Boden kehrte und eine Weile unschlüssig schien, was er erwidern sollte.

Es war offenbar, daß irgend eine wunde Stelle in seinem Innern berührt worden war, und daß er nach seiner angeborenen Tapferkeit sich bemühte, den Schmerz zu verwinden und nichts davon zu Tage kommen zu lassen.

Eben wollte das betroffene Mädchen, das bei all seinem Uebermuth einen feinen Herzenstact besaß, die unliebsame Uebereilung wieder gut machen und unter einem scherzhaften Vorwande den Oberst von der Pfänderpflicht freisprechen, als dieser die Augen mit ruhigem Entschluß wieder aufhob und sagte:

Ich hätte allerdings etwas zu erzählen, was den Anforderungen, die Sie an eine richtige Spukgeschichte stellen, hinlänglich entsprechen möchte. Ich müßte aber, um verständlich zu machen, warum dies Erlebniß mir so nahe ging, ziemlich weit in meine Vergangenheit zurückgreifen und allerlei Herzensabenteuer berühren, die Ihnen nicht sehr interessant sein können. Zudem ist die Polizeistunde längst überschritten –

Das Fräulein ließ ihn nicht ausreden. Ich bin nicht die Hausfrau, sagte sie mit einem lieblichen Erröthen, und habe wohl überhaupt schon zu dreist das Wort geführt. Aber wie ich meine Schwester kenne – von dem lieben Schwager gar nicht zu reden – so ist es ihr nie zu spät, eine merkwürdige Geschichte erzählen zu hören, zumal wenn es sich um Herzensabenteuer eines so verehrten Hausfreundes handelt. Ueberdies ist die Bowle noch nicht zur Hälfte ausgetrunken, was mich, die ich sie gebraut habe, kränken muß. Lassen Sie mich also Ihr Glas wieder füllen, dann will ich mäuschenstill sein und recht mit Wonne mich graulen.

Sie merkte, daß sie doch nicht den rechten Ton gefunden hatte, denn auf seinem Gesicht erschien kein Lächeln, wie sonst bei ihrem schalkhaften Geplauder. Auch wir Andern geriethen in eine etwas beklommene Stimmung, da wir den Freund jetzt aufstehen und ein paar Mal das Zimmer durchschreiten sahen. Er stand endlich an dem längst erloschenen Ofen still, lehnte sich mit dem Rücken daran und begann seine Geschichte.

*

Was ich Ihnen erzählen will, liegt schon eine ziemliche Strecke Zeit hinter mir, über zehn Jahre. Doch bei der leisesten Erinnerung daran steht Alles wieder so leibhaft vor mir, als hätte sich's gestern zugetragen, und ich habe ganz dieselben Schauer von Glut und Frost in meinem Blute zu überstehen, wie in jener wundersamen Nacht.

Ich schicke dies voraus, damit Sie mich nicht im Verdacht haben, Ihnen einen leeren Traum vorzutragen. Träume pflegen zu verschäumen. Was ich damals erlebte – doch ich will ohne weitere Vorrede zur Sache kommen.

Es war also im Jahre 1880, im Hochsommer. Ich hatte mir vier Wochen Urlaub ausgewirkt, da mein rheumatisches Leiden eben damals anfing, mich unerträglich zu peinigen. Das Wildbad aber, auf das ich meine Hoffnung gesetzt hatte, that Wunder. Nach drei Wochen fühlte ich mich wie neu geschaffen, und da die Hitze in jenen Thalgründen mir im Uebrigen nicht wohlthat, sprach der Badearzt mich nach den üblichen einundzwanzig Bädern frei und rieth mir, den Rest meiner Ferien in einer kühleren Gegend zuzubringen, mit aller Vorsicht freilich, um nicht wieder einen Rückfall heraufzubeschwören.

Nun hatte ich in B. einen Jugendfreund, mit dem ich seit dem Frieden nicht wieder zusammengekommen war. Nach dem Kriege, den er als Regimentsarzt gerade in meiner Compagnie mitgemacht, hatte er in dieser seiner Vaterstadt die Leitung des Krankenhauses übernommen, sich verheirathet und nur durch die Zusendung der Geburtsanzeigen seiner fünf oder sechs Kinder die Fäden unserer alten Freundschaft fortgesponnen.

Um so wohlthuender war mir's, da ich ihn jetzt unvorbereitet überfiel, den guten Kameraden ganz so herzlich gesinnt wiederzufinden wie damals, als ich von ihm Abschied nahm, um nach meinem Wundbette in Mainz evacuirt zu werden. Ich mußte zu Tische bei ihm bleiben – die einzige Zeit des Tages, neckte ihn seine liebenswürdige Frau, wo er nicht dem Ersten Besten mehr gehörte als seinem eigenen Fleisch und Blut –, und da ihn in den nächsten Stunden seine Stadtpraxis wieder in Anspruch nahm, verabredeten wir, daß ich ihn Abends nach dem Theater in einem Weinhause, das er mir bezeichnete, erwarten sollte.

Mein einsamer Nachmittag verging rasch genug. Ich kannte zwar, außer meinem Kriegskameraden, keine lebende Seele in der schönen alten Stadt, die ich als Fähnrich vor langen Jahren einmal flüchtig durchwandert hatte. Aber es gab an allen Ecken und Enden so viel Merkwürdiges zu schauen, so Manches reizte mich, ein paar Striche in meinem Skizzenbuch zu machen, und das Wetter war so lieblich durch ein Morgengewitter gekühlt worden, daß ich das Theater – eine sehr fragwürdige Sommerbühne – fahren ließ und die Zeit bis zu unserm Stelldichein lieber mit einem Spaziergang in der stillen Abendluft die baumreichen Flußufer entlang ausfüllte.

Ich hatte mich dabei so in meine Gedanken eingesponnen, daß ich erst an den Rückweg dachte, als es völlig Nacht geworden war. Eine Nacht freilich, in der sich's so anmuthig lustwandelte wie am Tage: denn der Mond ging fast schon mit seinem vollen Schein über den Erlenwipfeln auf und erhellte die Gegend dergestalt, daß man an den flachen Uferstellen die Kiesel durch die Wellen wie kleine Silberkugeln schimmern sehen konnte.

So auch erschien die Stadt von einem silbernen Duft umwoben, wie aus einem Märchen vor mich hingepflanzt, als ich mich ihr wieder näherte. Es schlug schon Neun von der alten Domkirche, ich war müde und durstig von meinem langen Streifzuge und hatte mir die Rast in dem Weinhause, zu dem ein gefälliger Bürgersmann mich hinwies, wohl verdient. Da ich meinen Freund noch nicht vorfand, ließ ich mir etwas zu essen geben und einen Schoppen leichten Weins, mit dem ich den ersten Heißdurst löschte. Noch immer ließ der Doctor auf sich warten. Er mußte nun aber jeden Augenblick kommen, und so bestellte ich im Voraus einen feurigen Rauenthaler, von dem er mir bei Tische gesprochen hatte, um ihm gleich in diesem edlen Tropfen Willkommen zuzutrinken, sobald er einträte. Es war wirklich ein »Trank voll süßer Labe«, würdig, die Blume alter Freundschaft damit zu begießen. Doch verfehlte er seinen Zweck. Statt meines guten Kameraden erschien, so gegen Zehn, ein Bote mit einer Karte, auf der der Freund sein Ausbleiben zu entschuldigen bat; er sei über Land gerufen worden zu einem schweren Patienten und könne nicht absehen, ob er in dieser Nacht überhaupt zurückkehren würde.

So war ich auf mich selbst angewiesen und auf den Wein, der mich leider nicht heiter zu stimmen pflegte, wenn ich ihn nicht in freundlicher Gesellschaft trank. Seit ich meine Frau verloren habe, damals ging es ins dritte Jahr, überfiel mich bei der einsamen Flasche regelmäßig eine tiefe Melancholie, die geflissentlich zu nähren ich nicht mehr jung und sentimental genug war. Um ihr auch diesmal nicht zu verfallen, griff ich nach den Zeitungen, die mir fast alle zu Gebote standen, da die wenigen Stammgäste an ihren abgesonderten Tischen sich eifrig ihrer Scat- oder Schachpartie hingaben.

Was mir zunächst – auf der letzten Seite des Localblattes – ins Auge fiel, war die Liste der städtischen Sehenswürdigkeiten. Da ich den ganzen morgigen Tag noch zu bleiben gedachte, war mir dieser Wegweiser ganz erwünscht, und ich notirte mir Einiges, was meine Neugierde reizte, in mein Taschenbuch. Da fiel mein Blick auf eine Anzeige, die meine Gedanken plötzlich in eine weit entlegene Zeit zurücklenkte: »Jeden Montag und Donnerstag ist die Windham'sche Gemäldesammlung im Erdgeschoß des Rathhauses unentgeltlich geöffnet.«

Windham! Nein, ich irrte mich nicht; das war der Name gewesen. Ein Windham hatte im letzten Kapitel meines Jugendromans die Hauptrolle gespielt. Nun dämmerte es auch in mir auf, daß ich später einmal gehört hatte, dieser Windham habe sich mit seiner jungen Frau hier in B. niedergelassen. Seitdem war er mir verschollen geblieben. Und nun hier so unverhofft an ihn erinnert zu werden! –

Aber Sie können ja nicht verstehen, was mich an der unscheinbaren Zeitungsnotiz so seltsam aufregte. Ich muß nun doch noch weiter ausholen.

Sie wissen, daß ich als Sprößling einer unterfränkischen Soldatenfamilie im Cadettenhause zu München erzogen worden bin und es in dem Jahre vor Ausbruch des französischen Krieges zum Oberlieutenant gebracht hatte. Ich war neunundzwanzig Jahre alt und hatte außer meinem Beruf, dem ich mit Leib und Seele anhing, nicht viel erlebt. Eine sehr ideale Fähnrichsliebe, die ein albernes Ende nahm, hatte mich vor den mancherlei Verirrungen meiner Altersgenossen bewahrt, mir aber das weibliche Geschlecht nicht im besten Lichte gezeigt. Doch posirte ich nicht als Weiberfeind, und da ich ein leidenschaftlicher Tänzer war, selbst noch auf der Kriegsakademie, machte ich auch den Carneval des Jahres 70 als einer der Flottesten mit, ohne mir die Flügel zu verbrennen.

Bis auch meine Stunde geschlagen hatte.

Auf einem der öffentlichen Bälle erschien so um die Mitte des Februar eine auffallende junge Schönheit, die alle bisherigen Ballköniginnen verdunkelte.

Sie war erst vor Kurzem mit ihrer Mutter, da der Vater vor Jahr und Tag gestorben war, aus Oesterreich herübergekommen, um, nachdem sie die Trauer abgelegt hatte, noch etwas Winterfreuden zu genießen. Ihre Gestalt, ihr Benehmen, ihre Art sich auszudrücken, all das hatte einen fremdartigen Reiz, der schon aus der seltsamen Mischung ihres Blutes zu erklären war. Denn ihre Mutter, eine hochgewachsene, röthlich blonde Schottin von strenger, puritanischer Haltung und langsam ungelenken Geberden, hatte einen steirischen Edelmann geheirathet, der sich auf einer Reise durch ihr heimathliches Hochland in das junge Mädchen verliebt hatte. Sie war ihm nach seinem Gut gefolgt, hatte sich aber dort nicht zu acclimatisiren verstanden. Trotzdem schien sie in einer glücklichen Ehe mit dem leichtblütigen katholischen Gatten gelebt zu haben und seinen Tod noch immer nicht verwinden zu können, als sie mit ihrer Tochter auf Reisen ging.

Diese, damals schon in den ersten Zwanzig, hatte von der Welt bisher nichts gesehen, als was auf zehn Meilen in der Nachbarschaft ihres Landsitzes sich ihr dargeboten hatte. Der Vater, der im Punkt der ehelichen Treue vielleicht nicht der Gewissenhafteste gewesen war und alljährlich viele Monate in Wien zubrachte, hatte seine Frau den Versuchungen der großen Stadt sorgfältig fernzuhalten gewußt und die Tochter vollends vor allem Verkehr mit jungen Männern behütet. Beide hätten es wahrlich nicht bedurft, da ihr kühles Temperament sie hinlänglich schützte. Denn hierin war Abigail – so war das Fräulein nach einem uralten Brauch der mütterlichen Familie getauft worden – das echte Kind ihrer Mutter, der sie äußerlich durchaus nicht ähnlich sah, nicht einmal durch die Farbe des Haars, die bei der Tochter durchaus keinen röthlichen Schimmer hatte.

Ich will aber nicht den thörichten Versuch machen, Ihnen diese reizende junge Person zu beschreiben. Nur Zweierlei fiel mir gleich bei dem ersten Begegnen auf und verfolgte mich bis in meine Träume: der seltsam glanzlose Blick ihrer großen grauen Augen, die immer ernst blieben, auch wenn der Mund lächelte, und daß sie die schönsten Arme hatte, die ich je gesehen. Sie trug sie gegen die damalige Sitte ganz entblößt, an den Achseln nur durch einen schmalen Florstreifen von den herrlichen Schultern abgetrennt, was die Damen, zumal die Mütter, scandalös fanden, obwohl die Wiener Mode diese Tracht sanctionirte und das Fräulein im Uebrigen sich in Worten und Geberden aufs Züchtigste betrug. Aber die Arme waren zu schön, um nicht Aufsehen zu machen und so viel Neid wie Bewunderung zu erregen. Eine Farbe wie etwas vergilbter weißer Atlas, mit einem matten Glanz, und in der Biegung des Ellenbogens eine zarte blaue Ader. Selbst die kleinen, hellen Narben am linken Oberarm, die von der Nadel des Impfarztes herrührten, hatten einen eigenen Reiz, als wären sie mit absichtlicher Koketterie der glatten Haut eingeätzt worden, um deren edle Feinheit desto mehr bemerklich zu machen.

Und so die Hände, als sie beim Souper die Handschuhe abstreifte, der schönste Fuß im weißseidenen Schuh, ein Ebenmaß und eine Schmiegsamkeit der Glieder, die sie dem österreichischen blauen Blut, nicht der schottischen Hochlandsrace verdankte.

Ich war, so wie ich den ersten Blick auf das herrliche Geschöpf geworfen hatte, unter dem Zauber dieser fremden, kühlen Augen. So unbefangen ich sonst selbst den reizendsten Frauen gegenübertrat, das Herz schlug mir heftig, und meine Rede verwirrte sich, als ich ihr vorgestellt wurde und sie um einen Tanz bat.

Auch fand ich meine Besinnung nicht so bald wieder, während ich mit ihr durch den weiten Saal mich umschwang, und war wüthend auf mich selbst, daß ich eine so unbeholfene Figur machte. Beständig mußte ich denken: Sie ist kein Weib wie alle anderen. Eine Göttin! Kein Wunder, daß ihre Blicke so kühl auf das armselige Menschengewühl herabsinken. Ist es zu denken, daß man einen solchen Mund küssen dürfte? Und der Sterbliche, um dessen Hals sich diese Arme schlängen, müßten dem nicht die Sinne vergehen und er in diesem übermenschlichen Glück zu einem Aschenhäufchen verlodern?

Sie sehen, es war eine richtige Bezauberung. Was man vom Blitz und Schlag einer plötzlichen Verliebung redet, hatte ich an mir erleben sollen.

Ich gewann aber bald so viel Herrschaft über mich, daß ich mich mit guter Manier in mein Schicksal ergeben und an diesem ersten Abend die Rolle eines ritterlichen Verehrers spielen konnte, ohne mich zu so überschwänglichen Huldigungen fortreißen zu lassen, wie die Meisten meiner Kameraden. Das kam mir mehr zu Statten, als wenn ich an Schönheit und Liebenswürdigkeit Alle überglänzt hätte. Denn das seltsame Mädchen, obwohl dies ihr erster Ballwinter war, nahm doch alle Auszeichnungen, die ihr zu Theil wurden, zumal die süßen Reden ihrer Tänzer, mit so kühler Miene entgegen, als ob es ihr beim Tanz einzig und allein auf die Bewegung ankäme und die eitlen jungen Herren, so schön geputzt und frisirt sie waren, ihr nur als Mittel zu diesem Zweck willkommen wären.

Das gestand sie mir denn auch ganz harmlos, als wir beim Souper mit einander plauderten, und daß es ihr eher lästig und langweilig sei, wegen ihrer Schönheit beständig begafft und umschmeichelt zu werden. Keine Spur von Koketterie konnte ich an ihr bemerken, doch einen Hang zur Ironie und Menschenverachtung, der in einem minder reizenden Wesen sehr abstoßend gewirkt hätte, an Fräulein Abigail aber nur wie ein seltsames Schmuckstück, etwa ein blanker Stachelgürtel um den schmiegsamen Leib, sich ausnahm.

Da ich ihr nicht ein einziges schmeichelndes Wort sagte, wurden wir gleich an diesem ersten Abend sehr gute Freunde, und ich erhielt sogar von der Mutter die Erlaubniß, sie in ihrem Hause aufzusuchen.

Ich machte, wie Sie denken können, gleich am anderen Tage davon Gebrauch. Ich mußte doch fragen, wie der Ball ihnen bekommen sei, und fand die Damen in einer möblirten Wohnung so behaglich eingerichtet, daß mir klar wurde, sie lebten in den bequemsten Verhältnissen. Gleichwohl machte die Mutter kein Hehl daraus, daß sie nur gekommen sei, um für die Tochter einen Mann zu finden, wozu auf dem abgelegenen Landsitz keine Aussicht sei. Das Mädchen hörte jede Aeußerung, die in diesem Sinne fiel, mit dem äußersten Gleichmuth, wie wenn es sich durchaus nicht um sie selbst dabei handle, sondern um eine Laune der Mama, die hoffentlich auch wieder vergehen werde.

Das Zutrauen, das sie so rasch zu mir gefaßt hatte, entzog sie mir auch nicht wieder, sondern gab mir immer neue Beweise, daß ihr meine Gesellschaft angenehm sei, meine Art, Welt und Menschen zu betrachten, ihr die richtige scheine. Sie erzählte mir ihr ganzes Leben, das freilich keinem Roman ähnlich sah. Verliebt war sie nie gewesen und konnte sich von dem Zustand eines leidenschaftlichen Herzens überhaupt keine Vorstellung machen. Geliebt hatte sie nur Einen Menschen, ihren Vater. Mit der Mutter verstand sie sich in keiner Sache und beobachtete alle kindlichen Pflichten fast mechanisch, ohne das Geringste dabei zu empfinden. Ja, sagte sie mir einmal, es ist vielleicht so, wie Sie sagen, ich habe kein richtiges Mädchenherz, und doch –

Dabei drückte sie die Augen ein, lehnte den schönen blonden Kopf zurück, und ihre halb geöffneten Lippen hatten einen halb schmerzlichen, halb wilden Ausdruck von Dürsten und Verlangen.

Gleich darauf lächelte sie und fing eine spöttische Rede an über gewisse junge Damen, die sie kennen gelernt und die ihren Freundinnen beständig Bulletins über die Zustände ihrer zärtlichen Herzen zu hören gaben.

*

All diese Vertraulichkeiten waren weit entfernt, mich eitel zu machen und kühne Hoffnungen in mir zu wecken.

Ich verbrachte aber fast einen Abend wie den andern in der Gesellschaft der beiden Damen, theils, so lange der Carneval dauerte, bei öffentlichen Festen, wo ich nun bereits für den unzertrennlichen Cavalier und begünstigten Bewerber galt, theils an ihrem behaglichen Theetisch als einziger Hausfreund männlichen Geschlechts. Nur dann und wann fand sich eine ältere Dame, eine österreichische Bekannte der Mutter, dazu, und es wurde ein kleiner Tarok gespielt, bei dem Abigail die Zuschauerin machte. Sie verhehlte ihre Langeweile nicht, wie sie überhaupt mit keiner ihrer Empfindungen je zurückhielt. Und doch blieb ein räthselhafter dunkler Grund in ihrem Wesen, der zuweilen in unbewachten Stunden durchblickte und mich jedesmal mit einem leisen, unheimlichen Frösteln überschauerte.

Ich war im Verlauf der Wochen und Monate so offenherzig gegen sie geworden, daß ich selbst dieses nicht gerade schmeichelhafte Gefühl dem verwöhnten Mädchen nicht verhehlte.

Sie sah ruhig und mit unbeweglichen Augen über mich hinweg.

Ich weiß, was Sie meinen, sagte sie. Es ist Etwas in mir, wovor ich mich selbst fürchte, und kann es doch nicht näher bezeichnen. Vielleicht die Ahnung, daß ich nie erfahren werde, was Glück ist, freilich auch Anderen kein Glück zu bringen bestimmt bin, ohne eigene Schuld, und daß mein innerstes Wesen sich dann empört und auf irgend Etwas sinnt, um sich für diese Zurücksetzung zu rächen. Wissen Sie, wie ich mir vorkomme? Wie ein Eiszapfen, der eine Flamme lustig flackern sieht und sich schämt, so starr und kalt zu bleiben, und nun näher heranrückt und dabei nichts weiter erreicht, als daß er langsam abschmilzt; wenn aber die letzte eisige Starrheit geschwunden ist, wird er selbst nicht mehr vorhanden sein. Das Gleichniß hinkt auf beiden Füßen, ich weiß es wohl; aber es ist doch Etwas daran, und Sie wissen vielleicht auch, was mit der Flamme gemeint ist.

Es war das erste Mal, daß sie auf meine längst nicht mehr verborgene Neigung anspielte, freilich unbarmherzig genug, da sie mir jede Hoffnung abschnitt. Wer weiß aber, wohin das Gespräch noch geführt hätte, wenn die Mutter nicht dazugekommen wäre.

Und freilich hinkte das Gleichniß. Denn auch die Flamme brannte nicht so lustig, wie ein rechtschaffenes Liebesfeuer soll, sondern hatte wunderliche Anfälle von Kühle und Versuchungen völligen Erlöschens.

So recht ins Lodern gerieth sie nur, wenn ich mit dem wundersamen Mädchen unter vier Augen war oder im lichterhellen Saal ihre ganze Schönheit an mir vorüberschwebte. War sie meinen Augen entrückt, so kam sie mir durchaus nicht aus dem Sinn, ja ich mußte nun erst recht an sie denken, dann aber stets mit einer räthselhaften Abneigung, obwohl ich ihr nichts Bestimmtes vorwerfen konnte. War's eine Sünde, mich nicht zu lieben? oder von der Liebe überhaupt noch keinen Hauch gespürt zu haben? Und jener dunkle Grund, der ihr selbst unheimlich war, konnte er sich nicht eines Tages als ein ganz unschuldiger Hintergrund erweisen, auf welchem allerlei lichte Freuden sich desto farbiger und reizender ausnahmen?

Und dennoch, die Thatsache stand fest: ich wünschte, ich hätte das schöne Mädchen nie kennen gelernt, das mich doch immer von Neuem zu sich hinzwang und, wenn ich in ihrer Nähe war, meine Sinne in einen magischen Aufruhr brachte.

Nur Einmal meinen Mund auf diese durstigen Lippen zu drücken, nur Einmal von diesen weichen, schlanken Armen umfangen zu werden – ich bildete mir ein, damit würde der Zauber gebrochen und ich mir selbst zurückgegeben werden.

Die Mutter sah mich kommen und gehen, ohne sich über mein Verhältnis zu ihrem Kinde besondere Gedanken zu machen. Daß ich verliebt war, fand sie nur in der Ordnung, aber ganz ungefährlich bei der Sinnesart des Mädchens, die sie nur zu gut kannte und nicht zu bekämpfen suchte, da sie ihrem bei aller äußerlichen Frömmigkeit weltlich speculirenden Geist sehr erwünscht war. Sie wollte höher hinaus mit ihrer gefeierten Tochter, als ein schlichter Oberlieutenant es ihr bieten konnte, und hoffte von mir vor Allem, daß ich durch meine Bekanntschaften ihr den Eintritt in die aristokratischen Kreise erleichtern würde. Dann würde es, calculirte sie, auf die Länge an einem gräflichen oder gar morganatischen Schwiegersohn nicht fehlen.

Der Sommer machte zunächst einen Strich durch diese Rechnungen, da die »Gesellschaft« sich zerstreute und aufs Land hinauszog. Auch meine beiden Damen mietheten eine Villa in Tegernsee, zu meinem Leidwesen, da ich jetzt nur einmal alle sieben Tage sie besuchen konnte. Die Entbehrung schürte nun allerdings die Flamme dergestalt, daß ich von Samstag zu Samstag in einer fieberhaften Ungeduld hinlebte, zugleich in steter Angst, während meiner langen Entfernung möchte sich irgend Jemand an die einsamen Frauen herandrängen, der den Ansprüchen der Mama genügte und der Tochter nicht unwillkommner als irgend ein Anderer wäre.

Diese Sorge war überflüssig. Dagegen verfinsterte sich plötzlich die Luft über der ganzen deutschen Welt so drohend, daß alle Einzelgeschicke davon überschattet wurden.

Der französische Krieg brach aus. Ich begrüßte ihn freudig, auch weil er meiner eigenen unerträglichen Situation ein Ende machte. Nur mit genauer Noth, indem ich einen nächtlichen Ritt daran setzte, konnte ich die Zeit zu einem Abschiedsbesuch in Tegernsee erschwingen. Ich fand, am frühen Morgen, das schmerzlich geliebte Mädchen im Garten, da sie mein Kommen nicht erwartet hatte. Sie hatte ein Bad im See genommen, und die Morgenluft schauerte über ihre blasse Haut und das blonde Haar, das ihr wie ein weicher Mantel über den Rücken hinabhing. Als sie hörte, was mich zu so ungewohnter Zeit hinausgeführt, wechselte sie die Farbe keinen Augenblick, nur ihre Augenlider senkten sich, als ob sie einen Vorhang über das niederlassen wollte, was in ihr vorging.

Nun, sagte sie, da wird ja Ihr sehnlichster Wunsch erfüllt. Non più farfallon andrai amoroso – Sie werden Wunder der Tapferkeit verrichten und als ein berühmter Sieger zurückkehren. Ich wünsche Ihnen das beste Glück und werde Ihrer täglich gedenken.

Werden Sie das wirklich? sagte ich. Und etwas herzlicher als jedes anderen Muttersohns, der seine Brust pro patria den Kugeln der französischen Mitrailleusen aussetzt?

Wie können Sie daran zweifeln! sagte sie und brach eine Blume ab, deren Duft sie wieder mit jenem sehnsüchtigen Ausdruck einsog. Sie wissen, daß ich Ihnen sehr gut bin. Habe ich Ihnen nicht auch mehr Vertrauen bewiesen, als noch je irgend einem jungen Mann? Sind Sie damit nicht zufrieden?

Nein, Abigail, sagte ich, und Sie wissen ja auch sehr gut, warum. Und nun schüttete ich mein ganzes Herz zum ersten Mal – da ich dachte, es sei vielleicht das letzte Mal – in leidenschaftlicher Erregung vor ihr aus. Ich weiß, schloß ich, Sie empfinden gar nichts Aehnliches. Der Blitz, der in mein Herz eingeschlagen, hat Ihnen nicht ein einziges Haar Ihrer Stirnlöckchen versengt. Ich bin auch nicht so verblendet, zu glauben, Sie würden aus bloßem Mitleid, um mich nicht ganz hoffnungslos ins Feld ziehen zu lassen, ein wärmeres Gefühl heucheln. Es mußte mir aber einmal von den Lippen, zu meiner eigenen Erleichterung – und nun empfehlen Sie mich Ihrer Frau Mutter, deren Morgentoilette ich nicht stören will, und bewahren Sie mir ein geneigtes Andenken.

Da schlug sie die Augen auf und sah mir gerade ins Gesicht, sehr ernsthaft, während ihre sonst immer gleichmäßig gefärbten Wangen eine leichte Röthe überflog, die sie sehr verschönte.

Nein, sagte sie, so dürfen Sie denn doch nicht von mir gehen, und Gott weiß, ob man sich je wieder sieht. Ich will Ihnen das Geständniß mit auf den Weg geben, daß ich fest überzeugt bin, wären Sie noch ein paar Wochen oder Monate wie bisher freundlich und gut gegen mich gewesen, so hätte sich der bewußte Eiszapfen in ein frisch grünendes Reis verwandelt und Blüten getrieben – wieder ein hinkendes Bild, aber Sie verstehen mich. Vielleicht denken Sie an dieses Frühlingsmärchen, wenn Sie im kalten Bivouac Nachts nicht einschlafen können, und erwärmen daran Ihr fröstelndes Herz.

Ich kann nicht schildern, wie mir bei diesen Worten zu Muthe war.

Was ich in dem ersten Schwindel und Taumel aller Gefühle gestammelt habe, mögen die Götter wissen. Nur so viel ist mir erinnerlich, daß ich unter Anderm die Zumuthung an sie stellte, nun sofort zur Mutter zu gehen, sie um ihren Segen zu bitten und dadurch unser Einverständniß zu einer regelrechten Verlobung zu stempeln.

Wenn Sie mit meiner eigenen Erklärung nicht zufrieden sind, sagte sie kaltblütig, so thut mir's leid; zu mehr aber fühl' ich mich für jetzt nicht aufgelegt – wahrhaftig, aufgelegt sagte sie, und sah dabei zum Verrücktwerden reizend und marmorkühl aus. Wenn wir uns in aller Form verlobten, würde ich keine ruhige Stunde haben, sondern mir immer wie Bürger's Lenore vorkommen. Nicht blos die ewige Unruhe: bist untreu, Wilhelm, oder todt? fürchte ich, sondern noch etwas viel Schlimmeres. Ich bin nämlich entsetzlich abergläubisch, oder vielmehr, ich glaube steif und fest, daß jene Ballade nicht eine bloße schaurige Fabel ist, sondern so oder anders, aber in der Hauptsache sich wirklich zugetragen hat. Wenn Ihnen etwas Menschliches begegnete, lieber Freund, und Sie hätten ein festes Anrecht auf mich, als auf Ihre feierlich Ihnen angelobte Braut – ich schliefe keine Nacht mehr und weiß bestimmt, daß irgend ein Spuk meinem armen Dasein ein Ende machen würde. Also lassen Sie uns das Weitere der Fügung des Himmels anheimstellen und ziehen Sie ins Feld, von meinen herzlichsten Gedanken überall begleitet.

Das war nun danach angethan, meine hochgespannte Stimmung unsanft herabzudrücken. Umsonst versuchte ich, mit Ernst und Scherz sie zu rühren, daß sie mir etwas mehr einräumte. Doch nicht einmal das Versprechen, mir zu schreiben, konnte ich ihr abgewinnen und mußte mich endlich mit sehr getheilten Gefühlen von ihr losreißen. Nichts von wahrer, warmer Hingebung hatte ich gespürt in der Umarmung, die sie mehr duldete als erwiderte, und die so lang ersehnten Lippen, die ich flüchtig berühren durfte, waren von einer Kühle, als hätten sie nicht soeben ein freundliches, verheißungsvolles Wort gesprochen.

Gleichviel: als hoffnungsloser Liebhaber war ich gekommen, und als glücklicher, wenn auch noch nicht erklärter Bräutigam ritt ich wieder davon.

Das Glück war nun freilich nicht überschwänglich groß. Es bestand nur darin, daß ich in allen dienstfreien Augenblicken daran denken konnte, welch ein Siegespreis nach Beendigung des damals unabsehlichen Krieges meiner wartete, vorausgesetzt, daß man sich »dazu aufgelegt« fühlen würde, meine Liebe und Treue zu belohnen, und daß ich von Zeit zu Zeit die Versicherung eben dieser Lieb' und Treue nebst Berichten vom Kriegsschauplatz nach Tegernsee, später nach München schicken durfte.

Eine Antwort kam nie.

Anfangs hatte ich kein Arg dabei. War's nicht ganz correct, daß ein junges Mädchen einem jungen Manne, mit dem sie nicht in aller Form verlobt war, keine zärtlichen Briefe schrieb? Und andere als zärtliche hätten mich doch nicht glücklich gemacht.

Wer weiß auch, ob nicht die puritanische Mama, die ohnehin das Verhältniß nicht billigen mochte, ein entschiedenes Verbot erlassen hatte.

Aber alle Mütter der Welt, alle correcten Grundsätze hätten ein wahrhaft liebendes Herz nicht abhalten können, dem von Entbehrungen und Gefahren umringten Liebsten ein wenig Trost in die Ferne zukommen zu lassen. Wie beneidete ich meine Kameraden um gewisse Briefchen, mit denen sie sich in irgend einen stillen Winkel schlichen, um im Genuß einer solchen »Liebesgabe« nicht gestört zu werden. Ich ging immer leer aus, obwohl ich doch meinerseits der Post mehr als mancher Beglücktere zu thun gab. Und eines Tages schämte ich mich der allzu selbstlosen Rolle, die ich spielte. Ich beschloß, keine Zeile mehr zu schreiben, ehe eine Nachfrage nach mir geschehe. Mochte sie mich nun für »untreu oder todt« halten – es war an ihr, zu zeigen, ob mein Leben oder Sterben den geringsten Werth für sie habe.

Wochen und Monate vergingen seit diesem Entschluß – und keine Zeile kam. Doch wenn Sie dächten, ich hätte unter diesem völligen Zusammenbruch meiner Hoffnungen schwer gelitten, so würden Sie sich irren. Ich empfand vielmehr eine Erleichterung und erkannte, daß ich all die Zeit in einer trügerischen Illusion von Glück und Liebe befangen gewesen war, da im Grunde nur meine Sinne mit im Spiel gewesen und vielleicht mehr noch ein geheimer Trotz, diesem unnahbaren Wesen doch endlich näher zu kommen und das Eis zu schmelzen.

Was mir nun geschehen war, gab mir noch zeitig genug eine heilsame Lehre. Das war keine Frau, wie ich sie brauchte. Ein Glück, daß ich noch mit gutem Gewissen zurücktreten und stehen bleiben konnte, wo ich stand, ohne zu erleben, daß sie mir einen Schritt entgegenthat.

*

So ging das Jahr zu Ende; wir hatten weder einen Weihnachts- noch einen Neujahrsgruß ausgetauscht. Im Februar wurde ich verwundet und nach Mainz transportirt. Wie ich in dem Hause, in welchem ich wochenlang die liebevollste Pflege fand, Die kennen lernte, die im nächsten Jahr meine Frau wurde, gehört nicht hierher. Das Wort, das unser Schicksal entschied, war noch nicht zwischen uns gesprochen worden, wir wußten nur, daß wir einander fürs Leben gefunden hatten, da kam eines Tages ein Brief Abigail's, sie habe in der Zeitung von meiner Verwundung gelesen und frage bei mir an, ob sie und die Mutter kommen sollten, mich zu pflegen. Von bräutlichen Gefühlen keine Spur, ein Brief dessen Inhalt aus dem unpersönlichsten Gebot allgemeiner Nächstenliebe hervorgegangen sein konnte.

Vielleicht hatte die Mama ihn dictirt. Aber mußte die Tochter so sklavisch nachschreiben?

Ich bat Helene, der ich damals zuerst von meinem nun gelösten Verhältniß erzählte, in meinem Namen für das freundliche Anerbieten zu danken. Es fehle mir Nichts, und ich sei in der besten Pflege.

Das war das letzte Lebenszeichen, das ich von meinem angebeteten »Bild ohne Gnade« erhielt. Ein allerletztes, das im Herbst 71 von mir ausging, die Verlobungsanzeige, kam als unbestellbar aus München zurück. Als ich kurz darauf selbst wieder nach Hause kam, erfuhr ich, die Damen seien schon vor dem Einmarsch der siegreichen Truppen fortgezogen, Niemand wisse, wohin, vielleicht nach Oesterreich zurück auf ihren Landsitz.

Doch schon im nächsten Jahr drang das Gerücht zu uns, die schöne Abigail habe sich ebenfalls vermählt, mit einem hochbejahrten reichen Norddeutschen, der sie in einem Badeorte kennen gelernt. Uebrigens ein feiner und überall hochgeachteter Mann, großer Kunstfreund und Besitzer einer ausgewählten Gemäldesammlung neuerer Meister, der das schöne Fräulein wohl mehr als eine Zierde seiner Galerie, ein athmendes plastisches Kunstwerk sich angeeignet habe, da er fünfunddreißig Jahre älter sei und von schweren gichtischen Gebrechen geplagt.

Daß der kalte Fisch, wie man Abigail nannte, sich nicht lange besonnen habe, eine solche Heirath einzugehen, schien Niemand zu verwundern.

Seitdem hatte ich nie wieder ein Wort von ihr gehört; der Ort, wo sie lebte, war mir nicht im Gedächtniß geblieben, nur den Namen Windham hatte ich behalten. Und nun las ich ihn in dem Localblatt, das ich ahnungslos überflogen hatte, und konnte nicht zweifeln, es war ihr Gatte, von dessen Bildergalerie hier die Rede war.

Ich rief den Kellner und fragte, ob er mir Näheres von dem Besitzer dieser Galerie und seiner Familie sagen könne. Er wußte nicht mehr, als daß Herr Windham vor etlichen Jahren gestorben sei und seine Sammlung der Stadt vermacht habe. Ob er eine Frau gehabt, könne er nicht sagen. Vielleicht wisse es der Wirth. Der sitze aber in seinem Privatzimmer mit ein paar Freunden beim Scat und liebe es nicht, dabei gestört zu werden.

Ich verbat das auch und suchte mir vorzureden, daß ich durchaus kein Interesse daran hätte, ob eine Frau Abigail Windham als Wittwe in dieser Stadt lebe, oder etwa mit ihrer Mutter wieder auf dem steirischen Landgut. Was war mir diese alte Flamme? Ein Bild und ein Name. Und vielleicht war auch das Urbild in diesen elf Jahren stark verblichen oder nachgedunkelt, und ein Wiedersehen konnte Keinem von uns erwünscht sein.

Lassen Sie mich gestehen, daß auch ein nie ganz unterdrücktes Gefühl eigener Verschuldung sich wieder in mir regte.

Im Grunde, was hatte ich ihr vorzuwerfen? Sie hatte nur nicht gehalten, was sie nie versprochen hatte, was ihrer Natur nun einmal versagt war. Wer weiß, wenn ich mich auf ihr einfaches Wort verlassen und Alles der Zukunft anheimgestellt hätte, wäre der zarte Keim einer Neigung zu mir am Ende wirklich kräftig zur Blüte gediehen und ein so langsam erschlossenes Herz hätte doch wohl keinen geringeren Werth gehabt, als eines, das über Nacht sich entscheidet. Nein, es war ein schnöder Wankelmuth gewesen, mich plötzlich von ihr abzuwenden. Freilich, ob ich mit ihr so glücklich geworden wäre, wie mit meiner armen Helene –! Aber darauf kam es nicht an. Ich hatte ihr meine Treue gelobt, und war's eine Uebereilung gewesen, als Ehrenmann war ich verpflichtet, sie nicht im Stich zu lassen.

Aehnliche Betrachtungen hatte ich im Lauf der letzten Jahre mehr als einmal angestellt und sie immer mit Sophismen zurückzudrängen gesucht. An jenem Abend gewannen sie eine solche Macht über mich, daß ich in sehr trübseliger Stimmung dasaß, einen bitteren Geschmack auf der Zunge, den selbst der edle Wein nicht wegspülen konnte.

Darüber war es spät geworden. Die Spieler hatten das Local verlassen, nur eine einzige Schachpartie zog sich hartnäckig in die Länge. Ich brach endlich auf und merkte nun erst, daß schwerer Wein und schwere Gedanken nicht gut zusammen taugen. Denn der Kopf brannte mir, und am Herzen fühlte ich einen lästigen Druck. Das besserte sich aber, als ich in die linde Nachtluft hinaustrat und meinen wohlbekannten Weg nach dem Gasthof einschlug. Keiner Menschenseele begegnete ich, als einem Nachtwächter, der in dieser alterthümlichen Stadt noch mit Spieß und Laterne die Runde machte – damals wenigstens. Die Laterne war überflüssig, denn ein zauberhafter Mondschein lag auf Dächern und Gassen und ließ die krausen Ornamente der alten Erker und selbst die Inschriften über den Hausthüren taghell hervortreten. Die Nacht war so wundervoll, daß ich noch einen weiten Umweg machte, eh' ich mich entschloß, mein Zimmer aufzusuchen, das über Tag ziemlich schwül gewesen war. Hoffentlich hatte das Zimmermädchen die Fenster offen gelassen.

So erreichte ich das Hôtel, fand die Thür noch angelehnt, den Portier aber in seiner Zelle in tiefen Schlaf gesunken. Ich gönnte ihm seine Ruhe, zumal ich den Zimmerschlüssel hatte stecken lassen. Den Weg zur Treppe hinauf konnte ich auch bei dem schläfrigen Gaslicht ohne Führer finden. Ich hoffte einen langen Schlaf zu thun, denn ich fühlte eine bleierne Müdigkeit in allen Gliedern. Als ich aber meine Thür öffnete, sah ich Etwas, das plötzlich alle träumerische Dumpfheit von mir nahm und mich mit einem jähen Ausruf der Ueberraschung an die Schwelle festbannte.

Die beiden Fenster des Zimmers gingen nach einem freien Platz hinaus und ließen das grelle Mondlicht breit hereindringen. Desto dunkler war es in der hinteren Ecke, wo das Bett stand, und gegenüber an der anderen Wand bei dem Sopha. Und doch sah ich deutlich, daß Jemand auf dem Sopha saß, eine schwarzgekleidete Frauengestalt, nichts Helles an ihr, als das Gesicht. Das sah unbeweglich aus einem schwarzen Schleier hervor, der von der einen Hand unter dem Kinn zusammengehalten wurde, während die andere einen Blumenstrauß gegen das Gesicht hielt. Sie mußte ihn aus dem Glase genommen haben, das auf dem Tisch vor dem Sopha stand, ein paar Rosen und Jasminblüten, die mir die Frau meines Freundes nach Tische in ihrem Garten gepflückt hatte.

Auch bei meinem Eintritt regte sich die verhüllte Gestalt nicht im Mindesten. Erst als ich mich ermannte und dicht an den Tisch trat – die Worte versagten mir, ich traute noch immer meinen Augen nicht – hob die Fremde den Kopf, den sie auf die Lehne des Sophas hatte zurücksinken lassen, und ich sah nun trotz der Dunkelheit ganz deutlich zwei große graue Augen auf mich gerichtet.

Abigail!

Die Gestalt blieb ruhig sitzen. Sie schien durchaus nicht verlegen, an diesem Ort, zu dieser mitternächtigen Stunde sich mir gegenüber zu befinden. Nur die Hand mit den Blumen ließ sie in den Schooß sinken. Dann, nach einer Weile, hörte ich sie sagen – die Stimme klang mir unheimlich fremd:

Kennen Sie mich wirklich noch? War alle Mühe, die Sie sich gegeben haben, mich zu vergessen, umsonst? Nun, das macht Ihnen alle Ehre. Ich sehe, daß ich Sie doch richtig taxirt habe.

Abigail! rief ich wieder. Ist es denn möglich? Sie hier? Wie kommen Sie in dieses Zimmer, zu so ungewohnter Zeit?

Ich hatte mich jetzt an das Halbdunkel gewöhnt und sah deutlich, daß ein kalter, lauernder Zug ihren Mund entstellte. Uebrigens erschien sie mir schöner, als ich sie im Gedächtniß hatte, nur blasser, und die Brauen zogen sich zuweilen schmerzlich zusammen.

Wie ich hieher gekommen bin? erwiderte sie langsam, mit einer etwas heiseren Stimme, wie Jemand, der einsam lebt und das Sprechen oft Tage lang nicht mehr übt. Das ist sehr einfach. Ich hörte, Sie seien hier, auf kurze Zeit. Daß Sie mich nicht aufsuchen würden, wußte ich. Da mußte ich mich wohl entschließen, zu Ihnen zu kommen. Den Weg hier herauf zeigte mir freilich Niemand. Der Portier schlief. Aber ich las Ihren Namen auf der schwarzen Tafel unten und dabei die Nummer Ihres Zimmers, Da war ich so frei, mich hier häuslich niederzulassen, um Sie zu erwarten. Ich möchte doch gern, da ich jetzt so einsam bin – mein Mann ist vor drei Jahren gestorben – einen alten Freund einmal wieder begrüßen. Sie wissen, on revient toujours –! Freilich, so ein armer revenant macht eine traurige Figur, aber wenn ich häßlich geworden bin, Sie dürfen mir's nicht vorwerfen, Sie sind ja Schuld daran – doch davon wollen wir jetzt nicht reden. Man muß sich das bischen hübsche Gegenwart nicht durch unliebsame Rückblicke verderben.

Noch immer fand ich kein Wort. Was ich aus dem ganzen Abenteuer machen sollte, war mir räthselhaft. Abigail, die ich so stolz und zurückhaltend gekannt hatte, jetzt hier um Mitternacht auf meinem stillen Gasthofzimmer, nur um mich wieder zu begrüßen! –

Es ist so dunkel hier, stammelte ich endlich. Erlauben Sie, daß ich Licht mache.

Nein, lassen Sie! fiel sie mir ins Wort. Es ist hell genug, daß wir unsere Augen sehen können, und weiter bedarf es nichts. Ich bin eitel, müssen Sie wissen. Sie sollen nicht auf meinem Gesicht die Spuren der vielen Jahre sehen, die seit unserm letzten Begegnen verflossen sind. Ich habe die Zeit nicht gerade sehr lustig zugebracht. Wenn Sie mich nicht hätten sitzen lassen, wäre ich vielleicht vergnügt gewesen, und wer sich glücklich fühlt, altert nicht!

Gnädige Frau –! rief ich und wollte ihr sagen, daß ich mich zwar nicht frei von Schuld wisse, sie aber, was geschehen, mitverschuldet habe. Sie ließ mich aber nicht zu Worte kommen.

Nennen Sie mich mit meinem Mädchennamen, nicht »gnädige Frau«! sagte sie. So lange mein Mann lebte, mußte ich mir diese Anrede gefallen lassen, die mir doch nicht zukam. Ich war nur die barmherzige Schwester meines guten Mannes, nicht sein Weib. Und noch etwas freilich: sein Modell, daß er vergötterte, anbetete, dessen Schönheit zu preisen er nicht müde wurde. Anfangs machte mir das Vergnügen, bald aber langweilte mich's. Und daß er mich in hundert Stellungen und Lagen zeichnete, erschien mir vollends als eine unausstehliche Frohne. Aber was sollt' ich machen? Es war seine einzige Freude, und die durfte ich ihm nicht stören, er war ein so edler, lieber Mensch, weit besser als Sie. Und doch fühlt' ich mich wie erlöst, als er endlich seinen Leiden erlegen war.

Abigail, sagte ich, es ist mir lieb, daß ich es einmal vom Herzen wälzen kann, was mich so lange bedrückt hat. – Und nun sagt' ich ihr Alles, meinen Kummer über ihre Kälte, die getäuschte Hoffnung, während des langen Feldzugs werde das Band von ihrem Herzen springen, und daß ich endlich verzweifelt sei, jemals das Eis um ihre Brust zu schmelzen.

O, sagte sie, mit einem leisen Zittern in der Stimme, Sie stellen das sehr zu Ihrem Vortheil dar, mein schöner Herr. Wenn Sie mich wirklich geliebt hätten, wäre Ihnen die Geduld nicht ausgegangen, darauf zu warten, daß ich, da ich die Liebe erst mühsam buchstabiren mußte, endlich bis zum Z gelangte, nachdem ich doch einmal A gesagt hatte. Aber sobald Sie im Felde waren, hörte ich auf, für Sie zu existiren.

Wie können Sie das sagen! Alle Briefe, die ich Ihnen schrieb –

Ich habe nicht einen einzigen bekommen.

Wir starrten einander an. Jedem von uns drängte sich derselbe Gedanke auf, daß die Mutter meine Briefe unterschlagen habe. Aber Keins brachte das über die Lippen.

Je nun, sagte sie endlich, was hilft es, sich über verlorene Dinge den Kopf oder gar das Herz zu zerbrechen! Sie haben einen hinlänglichen Ersatz gefunden, und auch ich hätte es viel schlimmer haben können. Am Ende wären wir Zwei nicht einmal glücklich mit einander geworden. Ich gestehe Ihnen ehrlich, ich weiß immer noch nicht, ob ich im Grunde gut oder schlecht bin. Vielleicht bin ich keins von beiden. Vielleicht denkt die Natur, wenn sie einen Menschen besonders schön geschaffen hat, sie habe nun genug für ihn gethan und brauche ihm weiter Nichts ins Leben mitzugeben. Mein Mann, der ein Kunstenthusiast war, verlangte auch nicht mehr. Sie aber – ich glaube, es hätte Sie bald gelangweilt, meine schönen Schultern und Arme anzugaffen.

Damit schlug sie den schwarzen Schleier zurück und lag hingegossen in der reizendsten Haltung, mit einem ernsten Blick an sich selbst hinunterschauend. Aber ohne Eitelkeit, nur wie man ein Bild betrachtet. Sie war in der That noch schöner geworden mit der größeren Reife, die blassen Arme ein wenig voller und auch jetzt nur oben an der Achsel mit einem schmalen Band umschlungen, das alle Augenblicke herabzurutschen drohte, worauf sie es ruhig wieder in die Höhe schob. Ich sah wieder die drei kleinen Narben am linken Oberarm, und wieder kam mir das Gelüst, meine Lippen darauf zu drücken und von den glatten weichen Schlangen ihrer Arme meinen Hals umstrickt zu fühlen.

Endlich, als würde sie durch meine zudringlich prüfenden Blicke belästigt, nahm sie die Falten des Schleiers über ihrer Brust wieder zusammen und stand auf.

Dieses Sträußchen nehm' ich zum Andenken mit, sagte sie. Ihr habt viel schönere Blumen, als wir, auch duften sie, was unsere nicht thun.

Sie zog eine Hand voll Immortellen hervor, die sie im tiefen Ausschnitt ihres schwarzen Sammetkleides getragen hatte. Wollen Sie sie haben? Auch zum Andenken? Wozu soll ich mich auch sonst putzen, als für einen guten Freund? So gut wird mir's nicht alle Tage.

Abigail! rief ich, jetzt vollends hingerissen, da sie in ihrer ganzen Schönheit am mondbeschienenen Fenster vor mir stand, das blonde Haar unter dem Schleier vorleuchtend, – soll dies unser letztes Begegnen gewesen sein? Sie sind wieder frei, und ich so einsam wie Sie, und daß wir nicht früher zusammenkommen konnten, – wir haben jetzt eingesehen, daß es nicht unsere Schuld war. Liebe Abigail – können Sie sich – kannst du dich jetzt noch entschließen, mein Weib zu werden?

Ich stürzte auf sie zu und wollte sie in meine Arme ziehen. Sie trat aber einen großen Schritt zurück und streckte beide Hände abwehrend gegen mich aus.

Nein, mein schöner Herr! sagte sie, und ein kühler, spöttischer Ausdruck des weißen Gesichts schlug meine Wallung nieder. Machen wir keine Dummheit. Sie haben mich darum gebracht, zu erfahren, wie das Leben an der Seite eines geliebten Menschen sein könnte. Das holt man nie wieder nach, Sie würden beständig Vergleiche anstellen zwischen mir und der guten kleinen Frau, die Sie so glücklich gemacht hat und so ganz anders war als ich – oder können Sie leugnen, daß Sie glauben, eine bessere Frau habe nie ein Mensch besessen? – Nun und ich, wenn ich auch gewünscht hätte, mein Mann möchte dreißig Jahre jünger gewesen sein, – wie er mich angebetet, wird mich Niemand mehr anbeten. Also einen Strich darunter und ohne Winseln und Wehklagen! Aber ich seh' es Ihnen an, Sie sind jetzt sehr verliebt in mich, nun, und warum sollte ich Sie verschmachten lassen? Ich bin ja jetzt ganz unabhängig und kann über meine Person nach Belieben verfügen. Wenn man's einmal verscherzt hat, sich am Glück satt zu trinken, warum soll man verschmähen, einmal davon zu nippen, um sich wenigstens eine kurze Illusion von Glück zu verschaffen, zumal in einer so schwülen Nacht, wo ein armes Menschenkind eine Erfrischung wohl brauchen kann?

Ich kann nicht beschreiben, wie wunderlich diese Worte auf mich wirkten. Dies Gemisch von Schwermuth und Leichtfertigkeit, von Resignation und Genußsucht war mir so fremd an dem einst so spröden und kühlen Wesen, daß ich mich erst eine Weile fassen mußte, eh' ich etwas gewiß sehr Einfältiges erwidern konnte.

Ich hörte sie auch leise lachen. Sie wundern sich, daß ich trotz meiner puritanischen Erziehung so wenig prüde bin. Nun, das vergeht einem mit den Jahren; der dunkle Grund dringt immer mehr herauf, vor Wuth und Gram über ein verlorenes Leben könnte selbst ein Engel von einem keuschen Weibe zu einer Teufelin werden. Aber Sie brauchen keine Angst zu haben; ich dränge mich Ihnen nicht auf. Ich sagt' es ja schon, ein armer revenant darf nicht große Ansprüche machen. Also leben Sie wohl und gute Nacht!

Sie hatte das mit so eigenthümlich gedämpfter Stimme, wie ergeben in ein trauriges Schicksal, gesprochen, daß mein ganzes Herz ihr wieder entgegenschlug. Ich streckte den Arm aus, sie an meine Brust zu ziehen, aber wieder trat sie zurück.

Nicht hier! flüsterte sie. Was würden die Leute im Hause von mir denken, wenn ich morgen früh die Treppe hinunterginge! Begleiten Sie mich in meine Wohnung, da sind wir ungestört, und kein Hahn kräht danach, wenn ich mir Gesellschaft einlade. Wollen Sie? Nun so kommen Sie und lassen Sie uns keine Zeit mehr verlieren. Die Stunden eilen, und das Glück enteilt mit ihnen.

Sie wandte sich nach der Thüre, und ich sah wieder mit Entzücken ihren leichten, schwebenden Gang, der unhörbar über den Teppich glitt. All meine Sinne fieberten, als ich ihr folgte, die Treppe hinab, wo das Gas jetzt ausgelöscht war, zu dem unverschlossenen Hause hinaus. Draußen wollte ich mich ihres Armes bemächtigen, sie schüttelte aber stumm den Kopf und ging ruhig ihres Weges, doch so dicht neben mir, daß, wenn sie sich zu mir wandte, der kühle Hauch ihres Mundes mich berührte.

Das geschah nicht oft. Meist sah ich nur ihr Profil, und wieder fiel mir der durstige, lechzende Ausdruck ihres Mundes auf, halbgeöffnet, daß die Zähne vorschimmerten, die Oberlippe ein wenig vorgestreckt. Sie hatte den Kopf in den Nacken geworfen, das Haar war aufgegangen und floß unter dem Schleier über ihren Rücken, die nackten Arme lagen übereinander geschlagen unter der entblößten Brust, die sie dem Nachtwind preisgab. Friert dich nicht? sagt' ich. Sie schüttelte nur wieder den Kopf. Dann warf sie mir plötzlich einen argwöhnisch lauernden Seitenblick zu.

Du genirst dich, so mit mir über die Straße zu gehen, sagte sie. Aber sei unbesorgt, ich compromittire dich nicht. Auch wenn uns Jemand begegnete, er würde nicht denken, ich führte dich jetzt zu einer Schäferstunde, Ich habe einen sehr guten Ruf, Niemand würde wagen, ihn anzutasten. Man weiß, daß ich ganz ehrbar und abgeschieden wohne und keinen Mann über meine Schwelle lasse, außer dem alten Gärtner, der mir meine Blumen in Ordnung hält. Auch komm' ich gar nicht an die Luft, was hätte ich auch draußen zu suchen? Heute habe ich eine Ausnahme gemacht, um deinetwillen, on revient toujours à ses premi è res amours; aber das hab' ich dir ja schon einmal gesagt. Ja siehst du, man wird eintönig, wenn man liebt, was liegt daran? Du wirst mich darum nicht verachten.

In diesem Augenblick kam uns ein verspäteter Nachtschwärmer entgegen. Er ging aber an uns vorbei, als sähe er nur mich, nicht das schöne, seltsam gekleidete Weib an meiner Seite, dessen prachtvolle Schultern unter dem schwarzen Schleier sichtbar genug hervorschimmerten. Ich hörte sie leise lachen. Hab' ich dir's nicht gesagt? Der werthe Herr war nur so discret, um mich nicht verlegen zu machen. Meinetwegen könnte er dieses Zartgefühl sparen. Was kümmert mich mein Ruf? Wen geht es was an, wenn ich einem alten Freunde, obwohl er's nicht um mich verdient hat, etwas zu Liebe thun will?

Während sie sprach, eilte sie so rasch vorwärts – immer so lautlos, als ginge sie auf nackten Füßen – daß ich kaum Schritt mit ihr halten konnte. So kamen wir vors Thor. Diese Gegend war mir unbekannt. Einige ärmliche Häuser, in denen Arbeiter wohnen mochten, standen rechts und links von der staubigen, mit Pappeln bepflanzten Chaussee, und endlich hörte jede Spur einer Ansiedlung auf. Der Mond war hinter eine helle Wolkenschicht gegangen, ein stärkerer Wind hatte sich aufgemacht und sauste durch die Wipfel über uns. Sind wir bald am Ziel? fragte ich, da ein unheimliches Gefühl mehr und mehr meine Brust beengte. Bald! flüsterte sie. Du siehst schon die Mauer meines Gartens, dort zur Linken. Meine Wohnung liegt mitten darin. Bist du aber müde? Willst du umkehren?

Statt aller Antwort suchte ich sie an mich zu ziehen. Ich fühlte ein brennendes Verlangen, sie auf den weißen Hals zu küssen. Aber wieder entwand sie sich mir und sagte: Warte nur! Was du wünschest, wird dir früh genug. Und da sind wir schon. Du wirst dich wundern, wie hübsch ich wohne.

Wir standen vor einem breiten eisernen Gitter, das den Eingang in einen weiten Garten verschloß. Von den Anlagen sah man Nichts als eine Allee, die geradeaus sich weit in den Hintergrund erstreckte, aus cypressenartigen Taxussträuchern und Tujabäumchen gebildet, zwischen denen hie und da ein Marmorbild vorleuchtete. Am äußersten Ende ragte ein einstöckiger Bau in die Höhe, mit einem halbrunden Dach; das mußte die Villa sein. Es lag aber ein so bleicher Nebelduft über Allem, daß man in solcher Entfernung Nichts genau unterscheiden konnte.

Willst du nicht aufschließen? fragte ich. Die Nacht vergeht.

O, sie ist noch lang genug, antwortete sie leise, mit einem höhnischen Ton. Und ich habe den Schlüssel vergessen. Was fangen wir nun an?

Da ist eine Klingel neben der Pforte, sagt' ich. Sie wird den Gärtner wecken, wenn der schon schlafen sollte.

Untersteh dich nicht, die Glocke zu ziehen! Niemand darf wissen, daß ich dich bei mir einlasse, der alte Mann am wenigsten. Er würde mich verachten und meine Blumen nicht mehr begießen. Aber wir brauchen auch Niemand. Wenn wir uns nur ein wenig schmiegen, geht es auch so.

Indem sie das sagte, sah ich, wie sie durch den Zwischenraum zweier Eisenstäbe hindurchglitt, so leicht, als wäre statt der üppigen Frauengestalt eine Wolke hineingeschwebt.

Nun stand sie drüben, jetzt wieder im hellen Mondschein, und nickte mir zu. Wer mich lieb hat, folge mir nach! rief sie, wieder mit ihrem schadenfrohen Lachen. Zugleich aber leuchtete mir nun ihre reife Schönheit voll entgegen, daß ich vor Sehnsucht und Ungeduld aus der Haut zu fahren dachte.

Spiele nicht so grausam mit mir! rief ich. Du siehst wohl, auf diesem Wege kann ich nicht zu dir kommen. Hast du mich so weit gelockt, so vollende nun dein gutes Werk, hole den Schlüssel und laß mich ein!

Das könnte dem Herrn wohl gefallen! höhnte sie durch das Gitter, und ihre Augen blitzten mich an. Und morgen früh, wenn die Hähne krähen, ginge er auf und davon und ließe mich einsame Wittwe ohne alle Gewissensbisse zurück. Denn ich bin nur schön bei Nacht. Wenn die Sonne scheint, darf ich mich nicht sehen lassen. Nein, schöner Herr, es war mir nur um ein sicheres Geleit zu thun, da eine tugendsame Frau um Mitternacht nicht gern allein auf der Straße betroffen wird. Und nun bedank' ich mich für den Ritterdienst und wünsche dem Herrn Major, oder was er sonst sein mag, eine glückliche Reise.

Sie machte einen tiefen Knix, wobei sich die reizende Gestalt verführerischer als je darstellte, und wandte sich dann langsam ab, um die Allee hinaufzuschreiten.

Abigail! rief ich außer mir, ist es möglich! So unmenschlich kannst du mich behandeln, mir erst alle Himmel offen zeigen und mich dann erbarmungslos in die schadenfrohe Hölle stürzen? Wenn ich es verscherzt habe, dich je die Meine zu nennen, stoß mich wenigstens nicht ohne jeden Trost von dir, gieb mir einen Tropfen Liebe zu kosten, daß ich meine durstige Seele damit beschwichtige, nur einen Kuß, Abigail, aber nicht wie damals, als dein Herz nicht auf deinen Lippen war, sondern wie man einen Freund küßt, dem man ein schweres Vergehen verziehen hat!

Sie war stehn geblieben und drehte sich ruhig wieder nach mir um. Wenn dem Herrn mit so wenig gedient ist, – Abigail ist nicht grausam, obwohl das Leben ihr selbst grausam mitgespielt hat. Und überdies hätte ich auch wohl einmal Lust zu küssen, wozu ich mein Lebtag nicht recht gekommen bin.

Sie kehrte um und trat wieder dicht an das Gitter heran. Mit den beiden glatten weißen Armen griff sie durch die Stäbe hindurch und zog meinen Kopf rasch an ihr Gesicht heran. Ganz nahe sah ich ihre großen grauen Augen, die auch jetzt ohne Liebe und ohne Haß in kaltem Glanze strahlten. Dann fühlte ich, wie ihr Mund sich auf den meinen preßte, und ein seltsamer Schauer, halb Angst halb Seligkeit, rann mir durch das Blut. Ihre Lippen waren kalt, aber ihr Athem glühte mich an, und mir war, als saugte sie mir die Seele aus dem Leibe. Vor meinen Augen wurde es schwarz, der Athem verging mir, ich suchte angstvoll mich loszumachen, aber ihr kühler, weicher Mund blieb fest auf meinen gedrückt – ich strebte danach, mich der Umstrickung ihrer Arme zu entwinden, – die weichen Schlangen umschnürten meinen Nacken wie stählerne Reifen, und wo war die Kraft meiner Arme geblieben? Wie wenn das Mark in ihnen durch jenen Kuß aufgezehrt würde, sanken sie kraftlos herab, der Todesschweiß trat mir auf die Stirn, wie ein halb ohnmächtiger armer Sünder, der die Folter erleidet, hing ich an dem Gitter, ich wollte schreien, und kein Ton durchbrach den so fest verschlossenen Mund, die Gedanken rasten mir durchs Hirn, wie bei einem ins tiefe Meer Versinkenden, noch zwei Augenblicke in dieser Qual, und es war um mich geschehen – da brach ein Schall wie das Klatschen einer Peitsche in die grauenhafte Stille hinein, sogleich löste sich der Mund drüben von dem meinigen, ein helles Gelächter erscholl zwischen den Stäben, ich verlor die Besinnung und brach zusammen.

*

Als ich wieder zu mir kam, sah ich meinen Freund, den Doctor, neben mir knieen, beschäftigt, mir mit irgend einer Essenz, die er aus seiner Handapotheke geholt, Stirn und Schläfe zu reiben. Sein Wagen stand dicht dabei in der Allee, ich begriff, daß ich seinem Kutscher die Erlösung von dem Gespenst zu verdanken hatte, da das Knallen der Peitsche es verscheuchte.

Was Teufel, alter Freund, hast du hier draußen am Friedhof in der Geisterstunde zu suchen? rief der Arzt, als ich mich ein wenig ermuntert hatte und, von ihm unterstützt, dem Wagen zuwanken konnte. Du zitterst an allen Gliedern, deine Lippe blutet – wenn du geglaubt hast, daß es eine passende Nachkur nach Wildbad sein möchte, hier im Nachtthau auf der kalten Erde zu schlafen, so bist du in einem großen Irrthum.

Nicht um die Welt hätte ich's übers Herz gebracht, ihm den wahren Zusammenhang mitzutheilen. Der feurige Wein habe mich noch so spät umgetrieben, sagte ich, und so sei ich zuletzt dort am Gitter, wo ich einen Augenblick hätte rasten wollen, von einem Schwindel überrascht und zu Boden geworfen worden.

Das klang nicht unwahrscheinlich. Auch verfiel ich, nachdem mein hülfreicher Freund mich in meinem Gasthofsbette zur Ruhe gebracht, sofort in einen tiefen gesunden Schlaf, den Niemand ängstlich zu bewachen brauchte. Als ich am späten Morgen aufstand, durch den Besuch des Doctors ermuntert, schien jede Spur des unheimlichen Nachtbesuches verschwunden.

Dennoch war ich durchaus nicht so tapfer, wie es einem Soldaten geziemte, und wie Sie, mein gnädiges Fräulein, es mir gütigst zugetraut haben. Als der Abend kam – den Tag hatte ich in beklommenem Brüten auf meinem Zimmer zugebracht – schrieb ich ein Billet an den Freund, ich müsse noch mit dem Nachtzuge abreisen. Auch jetzt gestand ich den wahren Grund nicht ein. Ein Arzt – ein Skeptiker von Beruf – wie hätte ich denken können, daß er meinem Bericht Glauben geschenkt hätte? Muß ich nicht fürchten, daß ich selbst Ihnen, verehrte Freunde, entweder als ein sonderbarer Schwärmer oder als ein fabulirender Phantast erscheine, der diese Geschichte sich aus den Fingern gesogen, um sein Pfand nicht hergeben zu müssen?

Wir waren Alle verstummt. Auch das Fräulein schwieg eine Weile und sah nach der Zimmerdecke, an der der runde Lichtschein der Lampe spielte. Endlich sagte sie:

Wenn ich ehrlich sein soll – aber ich darf Sie nicht dadurch verstimmen, lieber Herr Oberst – Ihre ganze Spukgeschichte halte ich nur für einen starken, ungewöhnlich hellen und zusammenhängenden Traum, den Sie geträumt haben. Der Portier des Hôtels kann Ihnen nicht als Zeuge dienen, da er geschlafen haben soll, als zuerst die Frau und dann Sie selbst die Treppe betraten. Uebrigens wenn wirklich der Wein dies ganze Abenteuer in Ihrem Kopfe gedichtet haben sollte, auch diesmal wäre im Weine Wahrheit gewesen – Ihr Gefühl für die verlassene Geliebte und die Nemesis, die sich Ihnen durch die entsetzliche Umarmung des Alps offenbart hätte.

Ich war auf diese Erklärung gefaßt, sagte der Oberst und sah still vor sich hin. Aber was sagen Sie zu Träumen, die in der Wirklichkeit sichtbare Spuren zurücklassen? Als ich am Morgen an meinen Tisch trat, war der Strauß von Rosen und Jasmin aus dem Glase verschwunden. Auf dem Sopha aber lag ein dürres Sträußchen verblichener Immortellen.

 

II. Mittagszauber.

Die Geschichte von der schönen Abigail klang noch eine Weile geheimnißvoll wie eine eben verhallte Glocke in dem kleinen Kreise nach.

Der Oberst blieb, nachdem er seinen letzten Trumpf ausgespielt hatte, noch immer am Ofen stehen, das Haupt zurückgebogen, den Blick unverwandt gegen die Zimmerdecke geheftet. Alle schwiegen. Auch das muntere Fräulein war verstummt und sah wie rathlos zu ihrem Schwager hinüber, der den ganzen Abend dem Geistergespräch mit überlegenem Lächeln zugehört und nur hin und wieder durch eine sarkastische Frage die Gläubigen zu neuen Expectorationen gereizt hatte.

Jetzt wandte er sich an den Oberst und sagte: Sie werden es mir, dem hartgesottenen Naturforscher, wohl nicht übelnehmen, lieber Freund, wenn ich mich auch Ihrem merkwürdigen Abenteuer gegenüber skeptisch verhalte und, was Sie als ein reales Erlebniß ansehen, nur als eine visionäre Vorspiegelung Ihrer erregten Psyche betrachte. Wie sich's freilich mit der handgreiflichen Reliquie, jenem Immortellensträußchen, verhalten habe, kann ich nicht sicher verbürgen. Doch bezweifle ich keinen Augenblick, auch diese unheimliche »Thatsache« würde sich natürlich erklärt haben, wenn Sie in der Stimmung gewesen wären, genauere Nachforschungen anzustellen. Es ließe sich z. B. denken –

Ich muß dich bitten, lieber Mann, was sich denken ließe, für dich zu behalten, unterbrach ihn seine Frau eifrig. Wir wollen Gespenstergeschichten hören, um, wie im Märchen, das Fürchten zu lernen; darin darfst du uns nicht stören. Ich glaube zwar nicht, daß Goethe mit seinem tiefsinnigen Wort »das Schaudern ist der Menschheit bestes Theil« eben dieses Gruseln gemeint habe. Doch hat ja auch er an allerlei Spuk, wie er in klassischen und romantischen Walpurgisnächten sein Wesen treibt, Gefallen gefunden, ohne mit naturwissenschaftlichen Protesten dazwischenzufahren. Also gieb, ohne zu murren, dein Pfand, und nun ist die Reihe an unserm verehrten Professor. Ich fürchte freilich, vor seiner historischen Methode wird das Zwischenreich keine Gnade finden.

Da sind Sie nun doch im Irrthum, liebe Freundin, versetzte der Aufgerufene, ein heiterer, grauköpfiger Hausfreund, Verfasser sehr gelehrter Bücher über dunkle Gebiete des deutschen Mittelalters. Meine Studien haben mich zu manchen räthselhaften Erscheinungen im Menschen- und Völkerleben geführt, die aller nüchternen historisch-kritischen Erklärung spotten und ohne Hülfe einer erleuchteten Seelenkunde und pathologischen Analyse nicht zu begreifen sind. Ich will Ihnen aber nicht eines der zahllosen Spukgeschichtchen auftischen, von denen die Chroniken und Protokolle der Hexenprozesse wimmeln, sondern ein eigenstes Erlebniß, das Ihnen allerdings keinen kalten Schauer über den Rücken jagen wird, doch aber ohne das Hereinragen einer übersinnlichen Welt in die unsere kaum zu erklären sein dürfte. Und zwar hat es sich ausnahmsweise nicht in der obligaten unheimlichen Gespensterstunde zugetragen, sondern am hellerlichten Tage.

Ich schicke nur noch die Versicherung vorauf, daß ich Ihnen das kleine Abenteuer ohne jede Ausschmückung berichten werde, genau so, wie ich es die langen Jahre, seit ich es erlebt, im Gedächtniß bewahrt habe.

Nicht nur das Jahr, sondern sogar den Tag, an dem sich's ereignet, weiß ich noch anzugeben: der 16te Juli war's des Jahres 1855. Am 10ten hatte ich in Leipzig meinen Doctor gemacht und war dann sofort zu zwei lieben alten Leuten, einem Onkel und einer Tante, gereist, um mich bei diesen Trefflichen, die nach dem frühen Tode meiner Eltern mich an Sohnes Statt angenommen hatten, von den Promotionsstrapazen zu erholen. Sie wohnten in Dresden, in einem kleinen Hause der Neustadt, und ich brauche nicht zu sagen, daß sie mich wie einen Triumphator mit allen Ehren empfingen. Ich blieb aber trotz der besten Pflege nervös, mager und blaß, so daß die Tante mir am fünften Morgen eröffnete, es müsse durchaus etwas Gründliches zur Hebung meiner gesunkenen Lebensgeister geschehen. Nichts sei ersprießlicher in solchen Fällen, als ein Aufenthalt in frischer Wald- und Bergluft, weßhalb sie mit dem Oheim übereingekommen sei, mich in die sächsische Schweiz zu schicken.

Mit einer Erholung im Freien war ich einverstanden. Nur gegen das Wo? lehnte ich mich auf. Um diese Hochsommerszeit wurden dort alle Wege und Stege schon damals von Sommerfrischlern und Touristen dermaßen unsicher gemacht, daß auf ein behagliches Ausruhen in dem Gewimmel nicht zu hoffen war.

Dagegen tauchte, sobald die Tante mit ihrem Plan herausrückte, ein näher gelegener stiller Ort in meiner Erinnerung auf, den ich als Student in früheren Dresdener Ferientagen öfters besucht hatte, ein Wirthshäuschen auf dem rechten Elbufer, etwas erhöht zwischen Gärten stehend, nicht über tausend Schritte von Loschwitz entfernt. Jetzt hat es längst einer schönen großen Villa weichen müssen, wie ich zu meinem Kummer wahrnahm, als ich unlängst einmal wieder des Weges kam. Damals aber führte ein junges Ehepaar die Wirtschaft, mit dem ich ein freundschaftliches Verhältniß hatte, da ich mich an dem wackeren Wesen des Mannes und der Anmuth seiner flinken kleinen Frau unverhohlen erfreute. Auch hatte ich ihren Wein trinkbar gefunden, vor Allem die Stille auf der über den Uferweg hinausgebauten Altane an sternhellen Nächten schätzen lernen.

Es war noch ein Gasthöfchen alten Zuschnitts, nur von soliden Bürgerfamilien, die dort den berühmten Blümchenkaffee tranken, und von gelegentlichen Spaziergängern besucht. Denn das Ehepaar war wohlhabend genug, um eine Erweiterung des schlichten Geschäfsbetriebes in dem schon damals aufkommenden eleganteren Stil verschmähen zu können.

Ob meine guten Freunde auf Logirgäste eingerichtet waren, wußte ich freilich nicht, zweifelte aber nicht, daß sie mir ein Bett in irgend einer Kammer ihres alten Hauses nicht abschlagen würden.

So wanderte ich eines heißen Nachmittags mit meinem Ränzel die Uferstraße entlang. In den zwei Jahren, seitdem ich mich zuletzt hier umgesehen, hatte sich Nichts verändert. Kaum daß eines der Landhäuser, die mir alle so wohlbekannt waren, eine frische Tünche erhalten hatten oder einen neuen Pavillon zwischen den hohen Gebüschen, die über den Gartenzaun ihre blühenden Zweige ausbreiteten. Auch war der Weg am Flusse noch immer wenig begangen, da der eigentliche Verkehr sich oben auf der Landstraße hinter den Häusern hinzuziehen pflegt, und in der großen Stille ringsum begleitete mich nur das sanfte Plätschern der Wellen, die an das kiesige Ufer heranspülten.

Auch in dem Hause, wo ich endlich anhielt, schien Alles beim Alten geblieben zu sein. Auf denselben verwitterten Steinstufen stieg ich zu dem Gitterthürchen hinan, das, wenn man den Vortheil wußte, auch von außen zu öffnen war. Der schmale Pfad, der durch den Wirthsgarten führte, war noch immer so verwildert und verwachsen, wie je. Nur die Hausgenossen und wenige Stammgäste kannten diesen Eingang. Das fremdere Publicum kam von oben herein. Da ich unter den Gästen, die dort saßen, doch auch einen Bekannten treffen konnte und mein Asyl nicht verrathen wollte, wandte ich mich vorsichtig nach der Hinterseite des Hauses. Da traf ich die alte Ursel, ein Inventarstück der Familie und meine besondere Gönnerin. Sie begrüßte mich freudig wie einen lange Vermißten, und da ich sagte, es sei mir zunächst nicht um Speise und Trank zu thun, sondern um ein paar Worte mit den Wirthen, führte sie mich in das Wohnzimmer im oberen Stock und lief dann eilig hinunter, den Herrn und die Frau herbeizurufen, die gerade in dem seitabgelegenen Oekonomiegebäude beschäftigt waren.

Ich hatte indessen Zeit, mich in dem Gemach, in das ich noch nie den Fuß gesetzt, ein wenig umzusehen. Es war mit alten Möbeln ausgestattet, aber sehr sauber gehalten, Blumen in Töpfen an den Fenstern, schöne Rosen in einer Vase auf dem Tisch vor dem mit schwarzem Roßhaartuch überzogenen Sopha, ein schmetternder Kanarienvogel in großem Bauer an dem einen offenen Fenster, vor dem das dunkle Laub der Kastanien sich leise im Abendwind wiegte. An der Wand über dem Sopha hingen in verblichenen Goldrahmen drei lebensgroße Familienbilder, links ein stattlicher Mann in der Tracht der zwanziger Jahre, ihm gegenüber im großen Putz jener Zeit eine behäbige Frau mit einem in gestickte Windeln eingeschnürten Wickelkinde auf dem Arm, zwischen ihnen das Bild eines eben aufgeblühten Jungfräuleins in der Kleidung der Empirezeit, das mich mehr als die beiden anderen anzog. Nicht durch sonderliche Schönheit. Das Gesicht, das dem Beschauer voll zugekehrt war, erschien etwas zu rund, auch das Stumpfnäschen und der leicht aufgeworfene Mund entsprachen nicht ganz meinem Begriff von einem reizenden Mädchenkopf, Die Augen aber, groß und schwarz und langbewimpert, hatten einen so rührend unschuldigen und doch schon ahnungsvoll schwermüthigen Ausdruck, daß sie mich völlig bezauberten. Sie war in ein weißes, an den Säumen mit einer blauen Stickerei verziertes Gewand gekleidet, das dicht unter der jungen Brust gegürtet war. Der schöne schlanke Hals war frei, ebenso die reizenden Arme, um die sie nur einen schmalen rothen Shawl geschlungen hatte. Um den Kopf krausten sich kurze braune Löckchen – ein sogenannter Tituskopf; in der Hand hielt sie eine vollaufgeblühte weiße Rose, und an ihrem schlanken Goldfinger steckte ein goldner Reif mit einem herzförmigen blauen Stein.

Ich hatte wohl zehn Minuten lang das liebe Wesen, das nun schon längst von der Welt entschwunden war, betrachtet, als die Thür sich öffnete und der Hausherr hereintrat, hinter ihm die kleine Frau, die ihre zierliche Figur inzwischen ansehnlich gerundet hatte und die Erklärung dieser Veränderung in Gestalt eines einjährigen Kindchens auf dem Arme trug.

Beide begrüßten mich aufs Herzlichste, schalten mich wegen meines langen Ausbleibens und wiesen mir mit Stolz die artige Puppe, die der Himmel ihnen inzwischen zur Krönung ihres ehelichen Glückes beschert hatte. Es war ihnen auch sonst in den zwei Jahren Alles nach Wunsch gediehen; ein kleiner Weinhandel, den sie betrieben, hatte sich einträglich vergrößert, der Besuch der Wirtschaft dermaßen zugenommen, daß sie einen geräumigen Gartensaal hatten bauen müssen, in welchem auch Hochzeiten und andere Familienfeste gefeiert zu werden pflegten.

So sehr ich dem wackeren Paar das Wachsthum seines irdischen Gutes gönnte, war mir's doch ein Querstrich durch meinen Plan, da ich die erhoffte Stille und Abgeschiedenheit hier nicht mehr vorfand. Und als ich trotzdem die Frage that, ob ich für einige Wochen ein ruhiges Zimmer unter ihrem Dache finden könne, erklärte die Wirthin, das sei nun leider nicht zu machen. In dem Mansardenstockwerk habe sie ihre Kinderstube eingerichtet, zwei andere Stuben bewohne ein Ehepaar aus der Stadt mit einem kränklichen Knaben, der in der Landluft sich erholen solle, aber oft in der Nacht durch Husten und Weinen auch ihren Schlaf verstöre, so daß ich in dem einzigen noch verfügbaren Zimmer bei Tag und Nacht keine Ruhe haben würde. Es sei ihr ungemein leid, und wenn sie mein Kommen geahnt hätte, würde sie die Fremden nicht aufgenommen haben. Der Mann bestätigte das Alles, schien aber nachzudenken, ob nicht doch eine Auskunft zu finden wäre, und sagte endlich, da ich schon mit einem stillen Seufzer Hut und Stock ergriff: Nein, Riekchen, wir dürfen den Herrn Doctor doch nicht wieder fortlassen, damit er es irgendwo in einem fremden Hause ungemüthlich findet. Da ist ja noch das Gartenhäuschen der Tante Blandine. Es ist zwar seit vielen Jahren nicht mehr bewohnt worden; aber wenn man den Staub hinauskehrt und frische Vorhänge aufsteckt – dem Herrn Doctor ist's ja nur um einen recht ruhigen Winkel zu thun – das Essen könnte man ihm, wenn er nicht herüberkommen will, in dem Vorderzimmer drüben auftragen, in der Kammer dahinter würde er schlafen, und den ganzen Garten hätt' er für sich. Ich sollte meinen –

Wo denkst du hin, Mann! unterbrach ihn die kleine Frau mit einer seltsamen Geberde des Vorwurfs, indem sie ihm mit den lebhaften Augen ein Zeichen machte. Das ist ja rein unmöglich! – Sie trat dicht an ihn heran und flüsterte ihm ein paar Worte zu, den Kopf dabei schüttelnd, wie über eine unerhörte Zumuthung, Der Mann aber lachte gutmüthig, gab ihr einen kleinen Schlag auf die runde Schulter und wandte sich dann zu mir.

So sind die Frauensleute alle! sagte er. Auch die vernünftigsten lassen sich von Jedwedem, der ihnen was vorfabelt, zum Narren halten. Nämlich, Herr Doctor, es soll nicht ganz geheuer sein in dem Häuschen drüben, behaupten alte Leute, und die jungen schwatzen's ihnen nach. Gesehen aber hat Keiner was, wie das immer so geht. Na, und wenn Tante Blandine spuken ginge, was wär's, Riekchen? Der Herr Doctor kann ja selbst urtheilen, ob's ihm unlieb wäre, wenn ein schmuckes Frauenzimmer ihm eine Visite machte. Da hängt sie ja überm Sopha. Sieht Die aus, als ob sie sich einen Spaß daraus machte, ruhigen Leuten einen Schrecken einzujagen? Die Tante Blandine, müssen Sie nämlich wissen, Herr Doctor –

Hier unterbrach ihn die Ursel mit der Meldung, der Maurermeister verlange nach dem Wirth wegen des neuen Waschhauses. Das ging denn auch die Hausfrau an, und so ließ mich das Ehepaar mit der Alten allein, der der Wirth wegen meines Quartiers die nöthigen Weisungen gab.

Ob sie von der Tante Blondine etwas wisse, fragte ich. Nein, sie wisse nichts, als daß die junge Mamsell in dem Häuschen drüben gewohnt habe, und die Leute behaupteten, sie zeige sich noch zuweilen. Einem aber, der sie selbst gesehen, sei sie nie begegnet, könne auch nicht wohl daran glauben; das Fräulein habe ja ein so gutes, frommes Gesicht und gewiß nichts verbrochen, was ihr die Grabesruhe stören müsse.

Nun gingen wir Beide die Treppe hinunter und durch den Garten nach einem Seitenpförtchen, das auf eine schmale, vom Uferweg sacht ansteigende Gasse hinausführte und in der Regel verschlossen war. Drüben, gerade gegenüber, öffnete derselbe Schlüssel ein gleiches Pförtchen, durch das man in einen verwilderten Blumengarten gelangte. Ich hatte ihn früher nicht beachtet, da ich nie lange hier draußen verweilte. Von der unteren Straße aus konnte man auch nicht hineinblicken. Die Hecke, die ihn am Rande einsäumte, war zu hoch emporgeschossen und der untere Eingang, eine Gitterthür über einigen Stufen, von dichtem Fliedergebüsch dermaßen überwuchert, daß man achtlos daran vorüberging.

Wie ich jetzt den stillen Bezirk betrat, der, etwa hundert Fuß im Geviert, sanft ansteigend sich zur Höhe der Landstraße emporzog, bot sich mir ein überraschender Anblick.

Wie wenn seit zehn Jahren kein Mensch den Fuß hineingesetzt hätte, so blühte hier in unglaublicher Fülle ein wilder Flor der schönsten Rosen – fast lauter Centifolien –, daneben Nelken, Goldlack, Jasmin und Heliotrop durcheinander, und dazwischen, wie weiße Inseln aus dem Blütenmeer auftauchend, kleine Gruppen ungewöhnlich hochstengliger Lilien, deren starker Duft über alle anderen mir entgegenwehte. Dieser Blumenurwald war gerade von dem Schimmer der untergehenden Sonne überglüht, und da die Bäume und Büsche, die den Garten an allen vier Seiten einfaßten, so dicht verwachsen waren, daß von den Nachbarhäusern Nichts durchblicken konnte, hatte der Eindruck, den ich von dem Gärtchen empfing, etwas märchenhaft Berauschendes und zugleich Beklemmendes.

Die Frau lasse hier Alles wachsen und wuchern, wie's Gott gefalle, berichtete die Alte, während sie die Ranken einiger hochstämmiger Rosenbäumchen bei Seite bog, um mir den Weg zu bahnen. Zu gehörigem Aufräumen und Inordnunghalten fehle es an Zeit; einen eigenen Gärtner deßhalb zu miethen, lohne sich nicht. Denn was das Grundstück so ungepflegt an Blumen aller Jahreszeiten trage, werde zweimal wöchentlich in die Stadt geschickt und dort vortheilhaft an Händler verkauft. Wüchsen die Wege gar zu dicht zu, so komme der Wirth und schaffe etwas Luft mit der Heckenscheere. Vor langen Jahren habe der Vater des jetzigen Besitzers an schönen Abenden manchmal da oben vor dem Häuschen seine Pfeife geraucht. Vielleicht sei ihm dort irgend ein Nachtspuk erschienen, der's ihm verleidet habe. Die Jungfer Blandine werd' es schwerlich gewesen sein.

Nun sah ich auch das unscheinbare Gartenhaus, in das ich einquartiert werden sollte: ein kleiner, grauer, viereckiger Holzbau unter einem weit vorspringenden spitzen Schindeldach, an der Vorderseite die Thür und ein einziges Fenster, durch einen Laden verschlossen, der vor Zeiten grün angestrichen gewesen sein mochte. Auch an den Nebenseiten je ein viereckiges Fenster, durch einen festen Holzladen verwahrt, Alles verregnet und verwittert, unterm Dach etliche Spatzennester, deren Insassen in heller Entrüstung mit lautem Schreien und Zanken fortschwirrten, als die Alte die rostige Thürangel aufriß und mit mir über die Schwelle trat.

Ein kühler Modergeruch schlug uns entgegen. Als wir aber alle drei Läden aufgestoßen hatten, sah es in dem niederen Raum gar nicht so unwohnlich aus. Eine Rococo-Kommode an der einen Wand, eine Gartenbank, etliche alte Stühle und ein Tisch, über den noch die verblichene buntgemusterte Decke lag, mitten im Zimmer zusammengestellt; ein zierliches Tischchen mit eingelegter Holzmosaik an dem einen Fenster, darauf noch ein Arbeitskörbchen mit einer angefangenen Straminstickerei, Das Hübscheste aber waren ein halb Dutzend großer, in flache braune Holzrahmen eingefaßter Blumenstücke, zumeist Rosen und Lilien, von einer mühsamen Hand etwas steif, aber mit ersichtlichem Formgefühl auf lichtgraues Papier gezeichnet und sorgfältig colorirt. Mitten unter diesem bescheidenen Bilderschmuck überraschte mich der Anblick einer großen Karte des mittleren Europas, auf welcher der Weg von Dresden nach Moskau durch einen blutrothen Strich bezeichnet war. Und unter diesem für ein Gartenhaus seltsamen Wandzierrath ein winziges Miniaturportrait in feinem Goldrähmchen, einen jungen Mann darstellend in einer verschollenen Uniform, das Gesicht aber so verblichen oder vielmehr verwaschen, daß außer den braunen Punkten, die an Stelle der Augen saßen, und einem feinen schwarzen Schnurrbärtchen Nichts von den Zügen zu erkennen war.

Die Alte öffnete die niedere Seitenthür, und ich trat in eine dunkle Kammer, in die erst etwas Licht drang, als ich den Laden des einzigen Fensterchens aufgestoßen hatte. Nun sah ich eine schmale Bettstatt in der Ecke, dann noch ein hochbeiniges Waschtischchen mit Meißener Porzellangeräth, an der Wand darüber einen Kupferstich nach einem Eccehomo Carlo Dolce's.

Hier wird der Herr Doctor schlafen müssen, sagte die Ursel, wenn's ihm nicht zu eng und unheimlich ist. Der Strohsack und die Matratze sind noch ganz brauchbar, das Uebrige schaffen wir hinauf, und was sonst noch vonnöthen ist, damit ein Christenmensch seine ordentliche Abwartung hat. Von Störungen wird der Herr Doctor hier nichts zu fürchten haben, wenn er spukfest ist, was ja auch ein dummer Aberglaube ist, obschon manch Einer, den ich kenne, nicht um alles Geld der Welt hier oben nächtigen möchte, weil das Fräulein in diesem Bett geschlafen haben soll. Aber das ist schon lange her, und unser Herrgott, zu dem sie gewiß jeden Abend gebetet hat, wird so eine arme Seele nicht auf die Wanderung schicken, um friedliche Menschen zu ängstigen, nee, das wird er gewiß nicht; denn was könnte er dabei für 'ne Absicht haben?

Die aufgeklärte Alte verließ mich, um drüben im Wirthshaus weiter für mich zu sorgen, und nach einer halben Stunde war ich vollständig eingerichtet, das Bett frisch überzogen und mit Kissen und Decken versehen, Wasser aus einem kleinen Schöpfbrunnen geholt, der nahe dem Gartenhäuschen unter einem Fliederbusch versteckt stand, und auf dem Tisch im Vorderzimmer das frugale Nachtmahl aufgetragen, um das ich gebeten hatte. Denn es gefiel mir so wohl in meinem wunderlichen Quartier, daß ich an diesem ersten Abend mich nicht entschließen konnte, in den Wirthsgarten hinüberzugehen, der noch von Gästen belebt war, wie der herüberdringende Schein der Lichter und Laternen verrieth.

Die Alte kam noch einmal, mir im Namen der Wirthsleute gute Nacht zu wünschen und sie zu entschuldigen, daß sie sich nicht in Person noch einstellten. Die Frau könne in der Küche nicht abkommen, der Herr müsse dem Kellner helfen, da so viel Zuspruch sei. Sie räumte Teller und Schüssel ab und ließ mich bei meiner Flasche Moselwein allein.

Ich durchstreifte nun zuerst das ganze kleine Revier auf den verwachsenen schmalen Pfaden zwischen den Blumenbüschen und zog mich dann zu einer Laube zurück, die oben auf gleicher Höhe mit dem Häuschen in der Ecke des Gartens stand, dicht überwuchert von Jelängerjelieber-Ranken, die jetzt freilich abgeblüht hatten, so daß drinnen tiefe Finsterniß und eine schwüle Stickluft herrschte. Ich setzte daher einen der Stühle, die ich drinnen fand, vor den Eingang, zündete meine Pfeife an und saß nun – ich weiß nicht, wie lange – in seliger Beschaulichkeit unter dem prächtig aufglänzenden Sternenhimmel, während die Nachtblumen stärker zu duften anfingen und Leuchtkäfer hie und da im Grase erglommen. Wenn ich über mein kleines Reich hinwegblickte, sah ich hinter den hohen Büschen am unteren Saum den ruhigen breiten Fluß hinströmen, auf dem dann und wann ein Schiffchen oder ein schmaler Kahn vorüberglitt, daß die dunklen Wellen flüchtig vom Schimmer einer Laterne am Bord überblitzt wurden. Auch ein Dampfschiff mit Musik zog vorbei und verschwand wie ein phantastisches Traumgebild hinter den Weidenwipfeln nach der Stadt zu. Ganz spät erst schwebte die Sichel des abnehmenden Mondes über die weite Landschaft herauf. Die Ebene drüben mit den Häusern am anderen Ufer war von Nebelduft verschleiert, und nur einzelne Lichter, die herüberblinkten, deuteten auf lebende Wesen in dieser unabsehlichen Weite.

Nun verkühlte sich auch langsam die Luft, und nach dem heißen Tage athmete ich sie mit solchem Wohlgefühl ein, daß es vom Loschwitzer Kirchthurm Elf, dann Zwölf schlug, eh' ich mich entschließen konnte, schlafen zu gehen. Von irgend welchem Schauer der Geisterstunde spürte ich aber nicht das Mindeste, und auch als ich mich auf mein jungfräuliches Bette gestreckt hatte, blieb mir jeder Gedanke an etwas Unheimliches fern. Ich hatte das Fensterchen offen gelassen, vor dem die Zweige der hohen Gebüsche leise im Nachtwind schwankten. In einem der Nachbargärten schlug eine Nachtigall, der hörte ich eine Weile zu, dann schlief ich ein. In der Nacht fuhr ich ein paarmal aus unruhigen Träumen auf, durch allerlei Geräusche geweckt, wie sie in Sommernächten im Freien sich rühren, Nachtvögel, die auf kleineres Gethier Jagd machen, über meinem Haupt das Schleichen und Huschen einer Katze oder eines Marders, der den Spatzen unterm Dach nachstellen mochte, im grauen Morgen das Knarren von Rädern und Knallen von Peitschen auf der nahen Landstraße – doch kein Laut aus einer überirdischen Welt.

So kam es aber, daß ich erst spät am Morgen erwachte, als die Alte den Kopf in meine Kammer steckte, in Besorgniß, ob mir nicht doch über Nacht etwas Menschliches begegnet wäre. Ich versicherte sie lachend, das Fräulein habe mir keinen Besuch abgestattet, und sie könne auch die Frau Wirthin deßhalb beruhigen. Nach dem Frühstück lockte es mich freilich in den von Thau schimmernden Garten hinaus, zumal er noch im Schatten lag. Ich widerstand aber der Versuchung, um erst einige Briefe von der Seele zu wälzen, an Onkel und Tante in Dresden und ein paar Freunde in Leipzig, auch an die Druckerei, der ich meine Dissertation zum Druck übergeben hatte.

Darüber verging die Morgenkühle, und über den Blumen, die jetzt in voller Sonne standen, lagerte sich eine so schwere Glut, daß es gerathen war, das Häuschen nicht zu verlassen, sondern hinter halbgeschlossenen Läden in goldenem Zwielicht die heißesten Stunden zu verdämmern.

Ich griff nach einem Buche, das ich mitgebracht hatte, Hermann Lingg's Gedichte. Sie waren erst vor kurzer Zeit erschienen und im nördlichen Deutschland trotz der Einführung durch Geibel noch wenig bekannt. Ein süddeutscher Studienfreund hatte sie mir empfohlen und mir sein Exemplar zum Abschiede geschenkt. Als Historiker, meinte er, dürfe ich nicht versäumen, die neue Gattung der historischen Lyrik kennen zu lernen, die der treffliche Poet in ganz eigener Weise behandle. Ich hatte das schon bestätigt gefunden, nachdem ich nur die ersten Romanzen und einige Bruchstücke des Völkerwanderungsepos gelesen hatte. Hier war mehr als die übliche Versificirung historischer Anekdoten im Balladenstil: ein wundersames Miterleben weit abliegender Völkerschicksale, eine visionäre Kunst, die Stimmungen und Leidenschaften verschollener Menschen heraufzubeschwören, mit einer so magischen Gegenwärtigkeit der Figuren und Charaktere, als wäre der Dichter überall in Person dabei gewesen, und nun stiegen alte Zeiten im wachen Traum wieder vor ihm auf.

Es stand mir fest, daß hier wieder einmal eines der großen lyrischen Genies erschienen sei, die nicht häufiger sind, als schwarze Diamanten, und unschätzbarer als diese.

An jenem Vormittage jedoch schlug ich das Büchlein aufs Gerathewohl auf und fand eine Reihe der innigsten Bekenntnisse persönlicher Stimmungen und ein so intimes Mitempfinden des geheimnißvollen Naturlebens, wie es nur echten Lyrikern gegeben ist.

Wieder und wieder las ich die in ihrer Einfachheit so unwiderstehlichen Lieder: »Immer leiser wird mein Schlummer« – »Kalt und schneidend weht der Wind« – »Lied der Schifferfrau« – »O Frühling, holder fahrender Schüler« – »Alte Träume kommen wieder« »An meine pompejanische Lampe« und wie diese rührend schönen und innigen Offenbarungen einer dichterisch bewegten Menschenseele sonst noch überschrieben sein mögen – und sie hafteten gleich so fest in mir, daß ich das halbe Büchlein noch heute auswendig weiß und oft auf einsamen Spaziergängen mir Lied um Lied hersage. In meiner damaligen Lage berührte mich mit besonderem Reiz das folgende Sonett, »Mittagszauber« überschrieben. Sie müssen mir erlauben, es zu recitiren, obwohl es auch Ihnen wohl bekannt ist, da es so ganz meine damalige Stimmung ausspricht:

Vor Wonne zitternd hat die Mittagsschwüle
Auf Thal und Höh' in Stille sich gebreitet.
Man hört nur, wie der Specht im Tannicht scheitet,
Und wie durchs Tobel rauscht die Sägemühle.

Und schneller fließt der Bach, als such' er Kühle;
Die Blume schaut ihm durstig nach und spreitet
Die Blätter sehnend aus, und trunken gleitet
Der Schmetterling vom seidnen Blütenpfühle.

Am Ufer sucht der Fährmann sich im Nachen
Aus Weidenlaub ein Sommerdach zu zimmern
Und sieht ins Wasser, was die Wolken machen.

Jetzt ist die Zeit, wo oft im Schilf ein Wimmern
Den Fischer weckt, der Jäger hört ein Lachen,
Und golden sieht der Hirt die Felsen schimmern.

Als ich das gelesen hatte, schloß ich die Augen und überließ mich eine Weile dem süßen Gefühl einer Art lyrischer Bezauberung, die wie ein starker Wein mir alle Adern schwellte. Dann erhob ich mich und trat auf die Schwelle meines Häuschens. Da lag die Welt, meine eigene grünumfriedete Welt, vor mir in demselben vor Wonne zitternden schwülen Glanz, der in diesen Versen webt. Die Schmetterlinge, die wie trunken an den Rosen- und Lilienkelchen hingen, die leisen Vogelstimmen ringsum, unten im Fluß die hastig hineilenden Wellen, als ob sie aus dem Bereich der Sonnenstrahlen in den Schatten zu fliehen suchten – es war in der That zauberhaft. Zuletzt, als der Kopf mich zu schmerzen anfing, ging ich langsam, immer die Verse mir wiederholend, nach der Geißblattlaube.

Ein Bänkchen stand darin, darauf ließ ich mich nieder, das Gedichtbuch noch in der Hand, doch ohne weiter darin zu lesen, was schon die Dunkelheit drinnen verwehrte.

Nun entsinne ich mich noch ganz deutlich, wie wunderlich mir geschah, als ich aus meinem dunkelgrünen Versteck in den flimmernden Mittagsglanz hinaussah: als wäre der Aether über mir ein krystallklares Meer und ich säße tief im Grunde, so daß die leichtbewegten Wellen über mir wogten und wirbelten und in hellen Perlen über die Gewächse des Meergrundes niederrieselten; ich selbst aber wäre in einer tiefen Grotte gefangen, in der zu athmen so beschwerlich war wie in einer Taucherglocke. Und doch verursachte diese Gefangenschaft keine Qual, vielmehr durchdrang mich ein heimliches Wohlgefühl, wie ich es als Kind empfunden, wenn wir Versteckens spielten und ich hatte mich in irgend einen Winkel geduckt, wo ich sicher war, nicht so bald gefunden zu werden.

Nur die Augen thaten mir weh, nachdem ich zu lange in das Gewoge der ätherischen Lichtatome hineingestarrt hatte. Ich mußte sie ein paar Minuten schließen und horchte nun in der purpurnen Finsterniß um mich her auf die summenden, schwirrenden Geräusche, die durch das Gerank der Laube an mein Ohr drangen, das Rispeln und Raunen der Blätter an den Heckensträuchern, das Knirren und Knistern der Insecten und die andern geheimnißvollen Stimmen, die nur vernehmbar werden, wenn alle Menschenlaute verstummen und der Tag auf seiner Höhe einen Augenblick still zu stehen und den Athem anzuhalten scheint.

Als ich dann aber die Augen wieder öffnete, hatte ich einen seltsamen Anblick.

Am anderen Ende des Gartens, als wäre sie eben aus dem unteren Pförtchen getreten, wandelte eine helle, schlanke Frauengestalt, langsam und ganz in sich vertieft, das Gesicht unter einem großen Strohhut von altmodischer Form verborgen. Sie mußte hier Bescheid wissen, denn sie fand die schmalen Pfade, obwohl sie von den dicht verschlungenen Blumenbüschen überwachsen waren, und durchschritt sie, leicht die Ranken zurückbiegend, ohne Müh und Eile. Zuweilen neigte sie sich nach rechts und links leise zu den Blüten hinab, als prüfe sie sorgfältig, wie es mit dem Gedeihen der verschiedenen Pflanzen stehe. War sie ans Ende eines Weges gelangt, so bog sie in den parallel laufenden nächsten ein, immer von mir abgewendet, so daß ich nur hin und wieder ein wenig von ihrem Profil sehen konnte und eine Locke ihres braunen Haars, die über den Rand des Strohhuts vorwehte. Das Bild dieser jugendlichen Gartenfreundin zwischen dem üppigen Rosen- und Lilienflor war so lieblich, daß ich mich ganz still verhielt, um nicht etwa durch mein plötzliches Hervortreten den reizenden Besuch zu verscheuchen.

Vor einem Centifolienstrauch stand die Gestalt eine Weile still. Ich sah, wie sie sich bückte und das Gesicht in die vollen Blüten tauchte. Dann hob sie den Kopf wieder und brach eine halb aufgeblühte Knospe mit einer kleinen Hand, die zur Hälfte in einem schwarzen Filethandschuh steckte. Ich konnte, da dies schon in ziemlicher Nähe von meiner Laube geschah, jetzt auch ihren übrigen Anzug genauer betrachten. Nein, ich täuschte mich nicht, es war ein ganz ähnliches, hoch unter dem Busen gegürtetes Kleid, wie ich es auf dem Bilde des jungen Mädchens gestern im Wohnzimmer meiner Wirthe gesehen hatte, am Saum unter dem weit entblößten Halse die blaue Verzierung, der nämliche schmale rothe Shawl um die Schultern gelegt, die Arme nur bis zu den Ellenbogen von den luftigen weißen Aermeln bedeckt. Und jetzt, da sie sich wandte und nach dem Gartenhause hinaufblickte – ich gestehe, daß mich einen Augenblick ein leichter Schauer überlief – das war dasselbe etwas volle Gesicht unter der runden, von braunen Locken umhangenen Stirn, jene schwarzen großen Augen, die mit demselben schwermüthig gespannten Blick umherspähten.

Die sonderbare Empfindung währte aber nicht lange. Ich weiß nicht, wie es kam, doch obwohl die Unbekannte in schönster Blüte gesunder Jugend erschien, regte sich doch in mir ein tiefes Mitleiden. Zugleich die Neugier, was es für eine Bewandtniß mit dem jungen Wesen haben möchte, das wie aus einer Maskerade weggelaufen im Kostüm der Großmütterzeit am lichten Tage herumspazierte. Und die Aehnlichkeit mit dem Bilde? Und wie war sie in den Garten eingedrungen durch die Uferpforte, zu der, wie mir die alte Ursel gesagt, der Schlüssel verloren war?

Ich hatte nicht viel Zeit, diesen Räthseln nachzusinnen, denn schon war das schlanke Fräulein auf die Höhe des Gartens gelangt und kam, immer mit zögernden Schritten, den oberen Weg daher, gerade auf meine Laube zu. Nun dacht' ich, es wäre doch schicklich, hinauszutreten und mich als den zeitigen Herrn des kleinen Gebietes ihr vorzustellen. Als ich aber eben von meinem Bänkchen aufstand, sah ich, wie sie plötzlich zusammenfuhr, einen Augenblick ins Dunkel der Laube hineinstarrte und dann mit dem halberstickten Ausruf: Eduard! bist du endlich gekommen! – mir entgegenflog.

Sie hatte die Arme ausgebreitet, ihre Locken wehten, ihre junge Brust wallte ungestüm – gleich darauf stand sie wie versteinert still, die Arme sanken herab, ein unsäglich trauriger Ausdruck erschien auf ihrem entfärbten Gesicht, und ein paar große Tropfen traten unter den langen Wimpern hervor.

Verzeihen Sie, mein Herr! hauchte sie kaum vernehmbar – ich glaubte, ein Anderer habe hier gesessen, ich habe mich durch das ungewisse Licht täuschen lassen – nochmals, ich bitte um Entschuldigung und will nicht weiter stören.

Ich war an den Eingang der Laube getreten, während sie unwillkürlich einen Schritt zurückthat.

Nicht Sie, mein Fräulein, sondern ich habe um Entschuldigung zu bitten, sagte ich. Ich bin nur als Gast seit gestern hier einquartiert, Sie aber gehören ohne Zweifel zum Hause, und wenn Sie im Garten keine Gesellschaft zu haben wünschen, werde ich mich sofort entfernen.

Sie sah mich, während ich sprach, unverwandt an. Ihre Züge waren wieder ruhig geworden, aber ein seltsam unstäter Blick ihrer Augen ließ den Verdacht in mir aufsteigen, das anmuthige Wesen möchte nicht bei vollem Verstande sein, was mir auch ihre wunderliche Verkleidung wahrscheinlich machte.

Wie dürfte ich Sie verdrängen, erwiderte sie, jetzt mit einer sehr lieblichen, nur gar zu leisen Stimme. Ich habe kein Recht mehr auf diese Stätte, ich muß zufrieden sein, wenn man mir erlaubt, dann und wann wiederzukommen und nach den Blumen zu sehen, die ich so geliebt habe. Aber ich habe mir's selbst verscherzt, sie pflegen zu dürfen. Sie brauchen meine Pflege auch nicht. Sehen Sie nur, wie sie auch ohne mich alle so üppig blühen. Der Himmel sorgt schon für sie.

Sie seufzte dabei und hielt die Rosenknospe dicht an ihr Stumpfnäschen. Dann, nach einer kleinen Pause:

Sie also wohnen jetzt hier. Nicht wahr, es ist ein hübscher Ort? Auch ich habe gern hier gelebt, bis ich nicht mehr durfte. Aber davon wollen wir nicht sprechen. Jeder hat sein Schicksal, und Jedem kommt sein Schicksal aus dem eigenen Herzen.

Wir verstummten dann ein wenig. Immer befremdlicher wurde mir der Besuch, und obwohl Alles Sinn und Verstand hatte, was sie sagte, fuhr mir's doch wieder durch den Kopf: es ist nicht richtig mit ihr.

Wollen Sie nicht in die Laube treten, mein Fräulein? sagt' ich endlich. Aber mit einer hastigen Handbewegung wehrte sie sich dagegen. Nicht, nicht! flüsterte sie. Da drinnen hausen Erinnerungen – es ist nicht gut, sie aufzuwecken. Einmal wird das anders werden, wenn ich nicht mehr allein dort sitzen muß, da werde ich lachen und weinen in der schönen Dämmerung drinnen, und es kann nicht mehr lange dauern, es hat ja schon allzu lange gewährt, und manchmal meine ich, ich hätte umsonst gewartet. Aber nicht wahr, das meinen Sie doch auch: die Treue, sie ist kein leerer Wahn, der Mensch kann sie üben im Leben – und wenn ich sie geübt habe, warum soll ein Anderer ihrer müde geworden sein? Ach ja, müde, das bin ich freilich auch oft, das wird man vom langen Schlafen und traurigen Träumen – wenn Sie erlauben, so setz' ich mich hier einen Augenblick, ich muß dann gleich wieder fort.

Der Stuhl, auf dem ich gestern Nacht vor der Laube gesessen, stand noch auf demselben Fleck. Auf dem ließ die junge Gestalt sich nieder, kreuzte die kleinen Füße, die in weißen Atlasschuhen unter dem gefältelten Saum des kurzen Batistkleides vorsahen, und athmete tief auf, als habe ihr Spaziergang sie erschöpft. Dabei schien sie meine Gegenwart völlig zu vergessen, denn sie machte sich mit ihrer Toilette zu schaffen, nahm den Hut ab, schob die Aermel bis an die Achsel zurück und roch dazwischen mit einem Ausdruck sehnsüchtigen Verlangens an ihrer Rose.

Um nur etwas zu sagen, da mich die Stille beklemmte, fragte ich, ob die Blumenstücke in dem Gartenhäuschen von ihr herrührten. Sie nickte wie zerstreut, und plötzlich sah sie mich wieder an und fragte: Waren Sie jemals in Rußland?

Ich verneinte.

Schade! sagte sie. Ich wüßte gern, ob es dort so kalt ist, wie die Leute sagen. Oh, Wärme, Wärme! Nicht wahr, in die Wärme sehnt sich Jeder zurück? Und sich nun gar an ein warmes Herz zu schmiegen – aber das sind keine Gespräche für ein junges Mädchen, die soll immer eine kühle Temperatur in ihrem Betragen an den Tag legen. Nun, es kann mir gleich sein. Ich bin alt genug, um mich von Niemand hofmeistern zu lassen. Auch Sie, mein Herr, merk' ich wohl, finden diese meine Kleidung auffallend. Was liegt daran, wie der Mensch sich kleidet, wenn er nur seine heimlichsten Gedanken verhüllt? Nein, fragen Sie mich nicht! Wenn Jemand wiederkommt, der es mir fest versprochen hat, dann werde ich vor die neidischen und kleingläubigen Menschen hintreten und sie Alle beschämen. Und nun – Dieu vous bénisse!

Sie stand ruhig auf, grüßte mich mit einem leisen Neigen des Kopfes und wollte gehen.

Darf ich Sie noch um eine Gunst bitten, mein Fräulein? rief ich. Schenken Sie mir die Blume, die Sie da in der Hand haben. Ich will sie zum Andenken an die liebenswürdige Bekanntschaft aufbewahren.

Ein rascher, argwöhnischer Blick aus den schwarzen Augen traf mich. Ich bedaure, sagte sie, ich kann Ihnen das nicht gewähren. Es ist nicht ohne Bedeutung, eine Rose zu verschenken. Kennen Sie die Blumensprache? Gleichviel, man muß sich in Acht nehmen. Denn so fängt es an, und wer weiß, wohin es führt. Erst die Blume, dann den Kranz. Und auch wenn Sie Niemand davon sagten, Er würde es doch erfahren, denn ich könnte ihm nichts verschweigen, wenn er wiederkommt. Und Sie glauben doch auch, daß er kommen wird, wie weit der Weg auch sein mag?

Gewiß, versicherte ich, nun völlig überzeugt, daß mein Verdacht das Richtige getroffen. Wieder überkam mich ein schmerzliches Mitgefühl mit dem armen jungen Geschöpf, in dessen Gesicht ich eine rührende Freude aufglühen sah, als ich meinen Glauben an die Wiederkehr eines entschwundenen Glücks so nachdrücklich betheuerte.

Ich danke Ihnen, sagte sie herzlich. Sie haben mir sehr wohlgethan. Die Anderen weichen mir aus, sie meinen, es sei hinter meiner Stirn nicht ganz richtig. Aber das ist nur das Fieber der Sehnsucht, das mich zuweilen phantasieren macht. Ich muß meinen Kopf nur kühlen, dann bin ich ganz verständig. Leben Sie wohl!

Nein! fügte sie rasch hinzu, als ich Miene machte, sie zu begleiten. Sie sollen nicht mit mir gehen. Wenn man uns beisammen sähe, möchte man Unrechtes von mir denken. Bleiben Sie noch eine Zeitlang hier? Vielleicht kann ich wiederkommen, dann wieder um diese Zeit, wenn es mir erlaubt wird. Oh, die Welt ist schön für die Glücklichen! Aber ich werd' es einmal wieder sein, darum ist mir nicht bange. Wer ausharret, wird gekrönt.

Sie nickte mir freundlich zu, setzte dann den Hut wieder auf und ging sacht von mir hinweg, wieder die geschlängelten Pfade durch die hohen Blumenbeete. Ich sah ihren weißen Nacken über den Rosenbüschen vorglänzen, wollte ihr trotz des Verbotes folgen, aber eine unerklärliche Gewalt bannte mich an die Stelle fest. Einen Augenblick zog meine Aufmerksamkeit ein Geräusch ab, das nahe bei der Laube durch die hohle Gasse zwischen meinem Garten und dem Wirthshause heraufklang. Als ich dann die Augen wieder nach der Stelle lenkte, wo sich das seltsame Fräulein zwischen den Rosen durchgewunden hatte, war nichts mehr von ihrer hellen Gestalt zu sehen. Nur die hohen Lilien schwankten, als hätte ein vorbeihuschender Vogel sie mit den Flügeln gestreift.

Ich kann nicht schildern, wie eigen mir zu Muthe war. Ich fühlte mich plötzlich so einsam, als hätte ich etwas sehr Theures verloren. Die leise Stimme klang mir noch immer im Ohr; wohin ich schaute, glaubte ich dem Blick der sanften schwarzen Augen zu begegnen, die sich schüchtern und zutraulich zugleich auf mich richteten. Ich setzte mich auf den Stuhl, auf dem sie ausgeruht hatte, und sah nach der Stelle hin, wo sie mir verschwunden war. Da vergingen mir nach und nach die Gedanken, und ich versank in einen traumhaften Zustand, der unbeschreiblich wonnevoll war. – –

Ein fester männlicher Schritt auf dem Kies des Gartenweges riß mich aus meiner Versonnenheit auf. Mein guter Freund, der Wirth, stand vor mir.

Guten Tag, Herr Doctor! rief er und streckte mir die Hand entgegen. Ich wollte nur einmal nachsehen, wie's Ihnen geht, wie Sie mit Wohnung, Kost und Bedienung zufrieden sind, ob Ihnen der viele Blumenduft nicht Kopfweh gemacht und keine Spukgeister Ihnen den Schlaf gestört haben. Meine Frau hätte Sie auch schon besucht, aber sie konnte noch nicht von der Wirtschaft und dem Kinde weg. Sie wird nach Tische sich erlauben, Ihnen ihre Aufwartung zu machen.

Ich versicherte, daß es mir vortrefflich gegangen sei und ich mir nichts Besseres wünschen könnte, als in dieser blühenden Einsiedelei ein paar Wochen zu verträumen. Von dem eben Erlebten sagte ich kein Wort.

Sehen Sie nun, daß ich Recht hatte? rief der treuherzige Mensch mit vergnügtem Lachen. Es ist Alles Altweibergewäsche, was von dem Gespenst erzählt wird. Ja, wie sie noch lebte, die arme Tante Blandine, da mochte sie schreckhaften Seelen wohl wie eine abgeschiedene Seele vorkommen, die noch eine Weile herumgeistert, ehe sie die ewige Ruhe findet. Sie hatte schon in ihren glücklichen Tagen so was Apartes, anders als wie frische junge Mädchen sonst auszusehen pflegen, obwohl sie nie krank war und auch lustig sein konnte und gern singen und tanzen mochte. Die Großmutter, die uralt geworden ist, die Frau mit dem Wickelkinde, die sie drüben gemalt gesehen haben, und die ihre rechte Tante war, ich aber bin Tante Blandinens Großcousin – nun, die hat mir oft von ihr erzählt. Sie war immer ein eigenes Kind gewesen, und als sie heranwuchs, hat sie nichts lieber gethan als gelesen oder Blumen gemalt oder zum Klavier gesungen. Und alle Menschen haben sie gern gehabt. Nun, da konnt's nicht fehlen, daß sie auch viele Bewerber hatte; aber erst als sie neunzehn Jahre alt geworden war, erhörte sie Einen von ihnen, einen jungen Offizier, und da er auch etwas Vermögen hatte und sie selbst aus einer wohlhabenden Familie war, stand nichts im Wege, daß sie sich heirathen konnten. Da kam der Krieg des Kaisers Napoleon gegen Rußland in die Quere. An einem Abend soll es gewesen sein, wo die junge Braut sich eben zu einem Ball geputzt hatte und ihren Verlobten erwartete, der sie zum Tanz führen sollte. Statt dessen kam er mit der Nachricht, morgen in aller Frühe müsse er fort mit seinem Regiment, das der französischen Armee sich anschließen sollte. Daß es nun mit Spiel und Tanz vorbei war, kann man sich denken. Das Liebespaar ist, statt auf den Ball, hier in den Garten hinübergegangen und hat da den letzten Abend vor der Trennung unter vier Augen zugebracht. Man hat sie bis an die Mitternacht, die Arme um einander geschlungen, zwischen den Beeten auf und ab spazieren sehen, und dort in der Laube hat der Bräutigam einen herzbrechenden Abschied genommen. Denn die Eltern, als sie endlich nach ihrer Tochter sahen, fanden das arme Ding wie in einer Ohnmacht auf der Bank zusammengesunken und hatten Mühe, sie wieder zu sich zu bringen.

Am andern Tage aber verlangte sie mit Gewalt, wieder in den Garten gelassen zu werden, und da sie so eine Art hatte, daß man ihr nichts abschlagen konnte, haben die Alten es auch nicht hindern können, daß sie sich in dem Gartenhäuschen zum Wohnen einrichtete, und man mochte bitten oder befehlen, sie war nicht zu bewegen, wieder unter Menschen zu gehen. Hier oben wolle sie bleiben und die Rückkehr ihres Bräutigams erwarten.

Hier hat sie auch dem Maler gesessen, zu dem Portrait, das Sie oben gesehen haben, in ihrem Ballstaat, den sie am Abend der Trennung getragen hatte. Eine Copie des Bildes in Miniatur hat er dann machen müssen; die schickte sie ihrem Liebsten nach, wie Der ihr schon vorher sein Bild verehrt hatte. Sie werden es in dem Häuschen an der Wand bemerkt haben. Und dann saß sie und las und malte und stickte und lebte nur von den wenigen Briefen, die er ihr vom Marsch aus zukommen lassen konnte. Man hatte ihr einen kleinen Ofen ins Zimmer setzen lassen, und das Essen trug man ihr hinauf; da war sie ganz still zufrieden und beklagte sich über nichts, lebte nur von einem Brief zum andern.

Der letzte kam aus Moskau, und dann keiner mehr. Aber so hart es für das einsame Bräutchen war, man merkte ihr 's doch nicht an, wie sie Tag und Nacht in Angst und Pein lebte. Vielmehr tröstete sie die Eltern, die Wege seien so weit, die Posten wahrscheinlich eingeschneit, sie wisse, daß er ihr treu geblieben sei und wiederkommen werde, sobald der Krieg zu Ende, was ja nicht lange anstehen könne, da die Hauptstadt des Feindes von den Siegern eingenommen sei.

Auch die Nachricht von dem schrecklichen Brande beunruhigte sie nicht. Sie hatte ja erfahren, daß die französische Armee mit allen Bundestruppen Moskau verlassen und den Rückmarsch angetreten habe. Und nun erwartete sie von Tag zu Tag die Heimkehr ihres Geliebten, und jeden Abend zog sie das weiße Kleid wieder an. In dem gleichen Anzug, wie er sie zuletzt gesehen, sollte er sie wiederfinden.

Und dann kamen in den Zeitungen die entsetzlichen Berichte von dem Rückzug durch das verheerte eisige Land und dem schauerlichen Uebergang über die Beresina. Davon ließ man sie nichts erfahren, und da sie so ganz abgeschieden von den Andern lebte, konnte sie auch eine lange Zeit hingehalten und im Dunkel gelassen werden. Aber eines Tages, als die Mutter zu ihr herüberkam, was sie täglich ein paar Mal that, fand sie das unselige Kind lang ausgestreckt auf dem Fußboden neben ihrem Arbeitstischchen, ein Stück Zeitung in der Hand, in das irgend etwas eingewickelt gewesen war. Und gerade die Beschreibung stand darin, wie das sächsische Regiment, bei dem der Bräutigam stand, zum größten Theil in den reißenden Strom versunken und von den Eisschollen fortgerissen worden war. Es war mit so starken Farben ausgemalt, die Noth und Verzweiflung des Untergangs nach den furchtbaren Strapazen und Hungerqualen des Marsches, daß auch einen Andern als eine zärtliche Braut ein Todesgrausen anwandeln mußte.

Sie ist hernach aus der schweren Krankheit, in die sie fiel, wieder zum Leben zurückgebracht worden, aber es war kein richtiges Leben mehr. Wie ein Schatten ist sie herumgegangen, hat kein Wort gesprochen, als Ja und Nein, und man hat sie nie mehr lachen hören. Daß ihr Liebster unter den Verunglückten war, hat man ihr natürlich verschwiegen; es scheint aber, sie hat es doch gewußt, oder nur gemuthmaßt, weil er nicht zu ihr zurückkehrte. Denn Nachts hörte die Mutter sie oft herzbrechend weinen und seinen Namen rufen. Uebrigens ließ man ihr, obwohl sie nicht ganz bei Verstande war, ihre Freiheit. Da konnte sie stundenlang hier im Garten auf und abgehen, die Blumen begießen, die welken Blüten abschneiden, oder in der Laube sitzen und auf den Fluß hinuntersehen.

So ist der Sommer vergangen. Sie schien sich etwas zu beruhigen, und die Eltern hofften schon, mit der Zeit würde sie wieder ganz gesund werden und den schweren Schlag verwinden. Aber sie hatten sich getäuscht. Im nächsten November, als ein starker Frost eingefallen war und die Elbe mit Eis trieb, kam eine sonderbare Unruhe über das arme Mädchen. Sie wohnte jetzt natürlich wieder im Hause drüben. In einer Nacht aber hörte die Mutter, die einen leisen Schlaf hatte, die Hausthür gehen und stand eilig auf, zog nur das Nothdürftigste an und rannte die Treppe hinunter. Da kam sie nun noch gerade recht, um zu sehen, wie eine weiße Gestalt das Gitterthürchen unten öffnete und die Stufen hinunterhuschte. Blandine! schrie sie, vor Schrecken fast ohnmächtig, raffte sich aber doch auf und stürzte durch den Garten nach. Es war aber zu spät. Der Fluß, über dem ein gräuliches Unwetter tobte, hatte das arme Leben schon verschlungen. Erst am anderen Mittag wurde die Leiche, unter einer Eisscholle treibend, an der Brücke in Dresden hervorgezogen, in dem weißen Kleide und sonstigen Ballstaat, wie sie ihren Geliebten hatte empfangen wollen. Sein Bild hatte sie um den Hals gehängt. Es war vom Wasser fast weggewaschen worden.

Sie können denken, Herr Doctor, wie ungeheures Aufsehen die jammervolle Geschichte machte. Und daß es seitdem nicht an abergläubischen Gemüthern gefehlt hat, die meinten, das gute Wesen hier oben herumgeistern zu sehen, ist auch kein Wunder. Verständige Menschen aber, wie wir Beide, zucken die Achseln über solche Einbildungen.

Ich hütete mich wohl, ihm zu widersprechen. Nicht um die Welt hätte ich das wundersame Erlebniß entweiht durch ein profanes Hin- und Herreden. Im Stillen war ich der Hoffnung, der Besuch würde sich wiederholen. Am Abend dieses Tages aber ging ein starkes Gewitter nieder, auf das am nächsten Morgen ein grauer, öder Landregen folgte. Und auch als die Luft sich wieder aufhellte, blieb die Witterung rauh und unbehaglich. Während der vierzehn Tage, die ich noch in meinem Gartenhäuschen zubrachte, hat der Mittagszauber sich nicht wieder blicken lassen.

 

III. 's Lisabethle.

Nun bitt' ich mir's aber aus, rief das muntere Fräulein, nachdem der Professor seine Erzählung beendet hatte, daß an dieser schönen Geschichte nicht auch herumkritisirt wird, wie mein theurer Schwager gute Lust hatte mit Frau Abigail zu thun. Es macht mich ungefähr so wild, wie wenn wir aus dem Theater kommen, noch wie berauscht von allem Gehörten und Geschauten, und einer der klugen Herren gießt uns ein kritisches Sturzbad über den Kopf, daß wir eilig wieder nüchtern werden. So will ich mir auch mit dem nüchternen Gerede von »subjectiv« und »objectiv« die Freude an Fräulein Blandine nicht verderben lassen, daß du's nur weißt, Schwager! Und der Professor soll schönen Dank haben, gleichviel ob es Wahrheit oder Dichtung war, ich meine ein Gebilde des dichtenden Traumes, wofür man es sonst halten könnte. Denn wie sollte der Spuk – aber ich merke, ich selbst fange an, an dem Schleier des Geheimnisses zu zupfen. So wird man vom Aufklärungsfieber unseres klugen Jahrhunderts angesteckt, man mag sich noch so sehr dagegen wehren. Sputen wir uns, eh' die Geisterstunde vollends verstrichen ist. Nun ist Tante Julie an der Reihe.

Die liebenswürdige alte Dame, der die Tantenwürde in diesem Hause nicht nach dem Recht der Geburt, sondern nach dem der Eroberung zu Theil geworden war, hatte sich trotz ihrer sonstigen Lebhaftigkeit während aller Debatten und Historien dieses Abends ziemlich schweigsam verhalten. Nur wenn ein Wort zu Gunsten des Hereinragens einer übersinnlichen Welt gefallen war, hatte sie durch Kopfnicken oder eine beifällige Geberde ihre Zustimmung zu erkennen gegeben.

Jetzt sagte sie, da sie ausdrücklich aufgerufen wurde: Es ist mir ganz einerlei, ob man mich für schwachsinnig oder köhlergläubig halten wird, aber ich glaub' nun einmal steif und fest, daß ein abgeschiedener Geist wieder erscheinen kann, wenn er was Wichtiges auf der Erde zu thun oder zu bestellen vergessen hat. Das läßt ja auch einen lebendigen Menschen nicht ruhen, und wie oft bin ich mitten aus dem Schlaf aufgefahren, nicht bloß als ein junges Ding, sondern noch jetzt mit weißen Haaren, wenn ich über Tag irgend eine Pflicht versäumt hatte, die nachgeholt werden mußte, sollt' nicht Aerger oder Unheil daraus entstehen.

Ich hab' aber auch was erlebt, was meinen Glauben bestätigt hat, und daß ich's nicht bloß geträumt, sondern mit meinen beiden weit offenen Augen gesehen hab', darauf lass ich mich kreuzigen.

Sie wissen, ich bin eine Pfarrerstochter, aus dem Badischen, die sechste von vierzehn Geschwistern, Büble und Mädle bunt durcheinander. Obwohl ich aber im eigenen Haus an lebendigem Spielzeug genug hätt' haben können, hatte ich mir doch ein fremd Kind zu meiner liebsten Puppe erwählt, das Töchterle von unserm Küster, ein klein winzig Ding zwischen fünf und sechs Jahren – ich aber war schon dreizehn –, das weder sehr hübsch noch sehr gescheidt war, mir aber hatt's das Geschöpfle nun einmal angethan. Tagelang, wenn ich nichts Anderes zu thun gehabt hätte, hätt' ich mich mit ihm abgeben mögen, es spazieren führen, mit ihm spielen, Puppenkleider für es schneidern und ihm alle guten Bissen zustecken, die ich mir vom eignen Mund absparen konnt'. Viele waren's nicht, denn in einem so kinderreichen Pfarrhaus ist Schmalhans Küchenmeister. Aber es kommen doch Geburts- und hohe Feiertage, und was mir irgend Guts beschert wurde, 's Lisabethle – so hieß mein Herzblatt – mußt' die größere Hälfte davon haben.

Es war freilich auch ein sonderbar Kind, anders als meine wilden Rangen von großen und kleinen Brüdern und die gutartigen, aber ruscheligen Schwestern, deren Arten und Unarten ich auswendig wußte.

Drei Jahr' war's erst alt, als mein Vater nach dem Pfarrdorf versetzt wurde, wo dem Lisabethle sein Vater Küster war. Aber gleich fiel mir's auf, weil's so große braune Augen hatt' und gar nicht lachte, auch nicht weinte, sondern nur so still und nachdenklich um sich her schaute wie ein Großes. Dabei war's frisch und flink wie ein Wiesel, wenn's in seinem dürftigen kurzen Röckle mit bloßen Füßen durch die Wiesen lief, Schmetterlinge zu haschen; wenn's aber einen gefangen hatte, hielt es ihn behutsam in dem kleinen Händle und ließ ihn nach einer Weile wieder fliegen. Es konnt' auch stundenlang auf der Schwelle der Hausthür sitzen und den Hühnern zuschauen, die um es her wuselten und die Brodkrumen aufpickten, die es ihnen hinwarf, oder den Schwalben, die um das Kirchendach schossen, daß ihre Flügel in der Sonne blitzten. Geschwister hatt's nicht, mit denen es hätt' spielen können, und anderem als lebendigem Spielzeug fragt' es nicht nach. Ich hatt' gleich einen Narren an dem lieben Närrle gefressen, wie ich nur ein paar Tag' mit ihm bekannt geworden war, und es jammerte mich, die ich mit elf und zwölf Jahren noch nicht ohne Puppen leben konnte, daß es selbst keine hatte. Ich schenkte ihm also eine von den meinen, der ich ein neues Kleid gemacht und Gesicht und Hände sauber gewaschen hatte. Ich seh's noch, wie es die hübsche Docke verwundert betrachtete, mir zunickte und ein bisle roth wurde. Mein Präsent aber legte es neben sich und gab sich gar nicht damit ab. Das kränkte mich, da ich mir auf meine Großmuth und Gönnerschaft nicht wenig zu Gute that, aber ich dachte, es sei nur Verlegenheit. Vielleicht hab' ihr auch das Kleid nicht gefallen, das nicht gerade ein großer Staat war. Aber auch mit einem andern, an das ich eine alte Goldlitze genäht hatte, ging mir's nicht besser. Ich mußt' mich schon drein finden, daß 's Lisabethle keine Puppenfreundin war, und das verleidete mir auch meine eignen. Nun wurde das Kind meine Puppe, und ich war nicht glücklich, wenn ich's nicht auf den Arm nehmen, oder am Handle fassen und mit ihm herumspringen konnte.

Es ließ sich das auch gutwillig gefallen, zumal sonst kein Mensch sich viel um es kümmerte. Seine Mutter hatte alle Hände voll zu thun, den ärmlichen Haushalt ohne Magd zu versehen, und der Vater, das Krautgärtle zu bestellen und die magere Kuh zu füttern und zu melken. Die war dem Kinde auch eine gute Freundin, aber viel wußte es nicht mit dem großen stummen Thier anzufangen und hielt sich lieber zu den kleineren im Hof und Garten und auf der Dorfgasse.

Es war merkwürdig mitanzusehen, wie vertraut es mit Allem war, ordentlich als verständ' es ihre Sprache. Ich betraf es auch zuweilen dabei, wie es die verschiedenen Thierlaute nachahmte, ganz leise, das Gurren der Tauben, Gackeln der Hühner, Summen der Bienen und die mancherlei Vogelstimmen. Wenn es aber gewahr wurde, daß ich es belauschte, verstummt' es.

Die Menschensprache lernte es später als andere Kinder und machte auch nur wenig Gebrauch davon, während meine kleinsten Schwestern den lieben langen Tag pappelten, was sie nur wußten und konnten. Keins von meinen Leuten begriff, warum ich mich mit Vorliebe zu dem Küsterskinde schlich, sobald ich ein wenig freie Zeit hatte. Aber ein kleines Anlachen des Lisabethle, wenn es mich kommen sah, oder gar einmal eine scheue Liebkosung war mir köstlicher als Zuckerwerk oder eine gute Censur in der Schule.

Als die Intimität ein paar Jahre gedauert hatte und mein Liebling fünf Jahre alt geworden war, kaufte der Vater Küster ein Kaninchenpaar, für das er am Ende des Krautgartens einen kleinen Stall zimmerte. Zu seinem Kohl- und Rübengericht wollt' er auch gern einen wohlfeilen Braten haben, jeden zweiten Sonntag einmal, denn sonst kam wenig Fleisch auf ihren Tisch.

Das war nun eine große Bescherung für das Lisabethle. Denn all die anderen Thiere erwiderten seine Zärtlichkeit ohne sonderliche Herzenswärme und suchten sich den kleinen Händen alsbald wieder zu entziehen, wenn kein Futter dabei zu erschnappen war. Katzen und Hunde, die gefräßige Kostgänger sind, dafür aber caressant und für Menschenumgang empfänglich, wurden in dem kleinen Haushalt nicht geduldet. Aber die kleinen glatten, seidenweichen Fresser, weil sie selbst einen Braten gaben und noch dazu an Kindersegen Ueberfluß hatten, erfreuten sich von Seiten der Küsterseheleute einer sorgsamen Pflege, und mit ihrer Fütterung wurde sogleich das Lisabethle betraut, das ja noch nicht in die Schule ging und sich nichts Besseres wünschen konnte. Davon zu essen aber, wenn als einmal ein Kaninchenbraten auf den Tisch kam, war's auf keine Weise zu bewegen.

Denn bald war's auch mit diesen neuen Hausgenossen auf so vertrauten Fuß gekommen wie mit allem Andern, was da kreucht und fleugt. Nichts Artigeres konnte man sehen, als wenn die kleine Person das Gitter des Ställchens öffnete und die ganze flinke Schaar – denn es hatte sich bald ein halb Dutzend Junge dazu gefunden – sich drängend und überkugelnd ihr entgegenstürzte, an ihrem Röckle zerrend, über ihre kleinen nackten Füße stolpernd, mit jenen piependen, quiekenden Tönen, die diesen Geschöpfen, wenn es sie hungert, eigen sind. Ihre kleine Pflegemutter hielt dann eine Gerte in der Hand, mit der sie die Zudringlichen abwehrte, indem sie ihnen einen sanften Klaps auf die glatten Köpfe gab. Sie ging dann voran zu einem niederen Pferch zwischen Haus und Garten, wo allerlei Küchenabfall auf einen Haufen geworfen lag, Kohlstrünke, Salatblätter und was sie sonst aus den Bauernhäusern für ihre Häsle zusammengetragen hatte. Denn die Bäuerinnen gaben ihr willig, was sie an Ueberfluß solcher Futtersachen hatten, da sie Alle das artige Kind in seinem stillen Wesen gern hatten und seine dürftigen Eltern bemitleideten.

Nun setzte sich das ernsthafte Persönchen auf einen Hauklotz, immer die Gerte in der Hand, und sah stundenlang zu, wie seine Pfleglinge sich nährten, und dann und wann, wenn eins verkürzt und von seinen keckeren Geschwistern weggedrängt wurde, stellte es durch einen leichten Schlag die Gerechtigkeit wieder her. Von diesem Geschäft war es durch nichts wegzulocken und vergaß als sein eigen Essen und Trinken darüber.

Hatten sich die knuspernden Mäuler endlich für einmal gesättigt, so griff ihre kleine Nährmutter eines aus der Schaar bei den weichen Ohren heraus, den Papa oder das Nesthäkchen, setzt' es auf seinen Schooß und fuhr ihm mit streichelnder Hand über den Rücken, oder kraute es am Hinterhaupt, und so nach der Reihe auch die andern, daß keins zu kurz kommen sollte. Worauf es dann seine Heerde mit Lockruf und Gertenschlag zusammenholte und langsam in das vergitterte Ställchen zurücktrieb. Da hinein schob es noch etliche saftige Kohlblätter pour la bonne bouche, und dann stand es und konnte sich noch eine gute Weile von dem Anblick der vergnüglich naschenden jungen Gesellschaft nicht trennen.

Ja, es war ein goldig Kind, 's Lisabethle!

Herzle, sagt' ich einmal zu ihm, was willst du denn anfangen, wenn du in die Schule mußt? Da wird man dir den Hannesle – so hieß ihr besonderer Liebling, ein schwarzes Kaninchen mit weißen Ohren – im Schultäschle mitgeben müssen, daß du ihn in den Zwischenstunden von deinem Wecken füttern kannst.

Da sah mich das Kind mit großen, ernsthaften Augen an und sagte: Lieber will ich nichts lernen, als von ihnen weggehen!

Armes Närrle! Als hätt's ihm geahnt, daß es auf keiner irdischen Schulbank was lernen sollte.

Aber ich bitte um Entschuldigung, daß ich so weitläufig von meinen Kindererinnerungen erzähle. Es soll nun um so rascher zum Ende kommen.

Eines Montags in der Früh bin ich mit dem Vater zu einem seiner Amtsbrüder gefahren, der ein Studienfreund von ihm war und eine Tochter hatte, ungefähr in meinem Alter. Mit der war ich früher gut Freund gewesen, hatt' sie aber ein paar Jahre lang nicht wiedergesehen. Da durft' ich nun wieder einmal einen ganzen Tag mit ihr zusammen sein, aber es machte mir nicht mehr so viel Vergnügen wie sonst. Meine Freundin hatte inzwischen allerlei gelesen und trug in Folge dessen das Backfischnäsle hoch, da sie sich einbildete, wunder wie gebildet zu sein, und ich selbst, mit meinem bisle Robinson und Lienhart und Gertrud, kam mir wie ein dummer Dorfteufel neben ihr vor. Auch lag mir immer das Lisabethle im Sinn, das ich zum ersten Mal einen ganzen Tag lang nicht sehen sollte; es war wie eine Ahnung und beklemmte mir das Herz, So war ich froh, als die Zeit zum Heimkutschieren kam und ich meiner gebildeten Freundin Adieu sagen durfte.

Schon dunkle Nacht war's, als wir unser Dorf wieder erreichten, und gleich fiel mir's auf, daß im Küstershause, wo sie sonst mit den Hühnern zu Bett gingen, um das Oel zu sparen, noch Licht brannte. Bei uns war's auch noch lebendiger, als sonst; die Mutter kam uns mit einem ganz verstörten Gesicht entgegen, tuschelte mit dem Vater, wobei sie einen mitleidigen Blick auf mich warf, und schickte mich gleich zu Bett.

Es half ihr aber nichts, daß sie mich schonen wollte, um mir die Nachtruhe nicht zu rauben; ich fragt' es von unsrer alten Kathrin' heraus, und da war's um den Schlaf geschehn.

Denken Sie: am Vormittag, da so schön Wetter war, hatte das Lisabethle ihre kleine Heerde auf einen Anger nah bei ihrem Hause laufen lassen, wo allerlei saftige Unkräuter wuchsen. Da saß sie mit ihrer Gerte und sah zu, wie's ihnen schmeckte. Auf einmal kommt ein fremder Metzgergesell mit einem großen Hund des Weges daher, bleibt einen Augenblick stehn, sich das Gewusel zu betrachten, und da will's das Unglück, daß eins der dummen, tappigen jungen Thierle dem Hund zwischen die Beine springt. Der grobe Tölpel aber versteht keinen Spaß, schnappt wüthend zu und kriegt das Armsünderle beim Genick.

Mein Lisabethle das sehen und hinzuspringen, schreiend und die Gerte schwingend, war Eins. Der Hund aber läßt das Kaninchen fahren, und wie er die Gerte fühlt, bellt er los und packt das Kind, beißt's in den Arm und hätt's gar todtgebissen, wenn sein Herr nicht noch zur rechten Zeit ihn am Halsband gepackt und zurückgerissen hätte.

Das Blut sei dem Kind gleich über den Aermel seines Kleidchens gelaufen, es hab's aber nicht geachtet, sondern sich nach dem Thiere gebückt – grad der Hannesle mußt' es sein – und es aufgehoben und gestreichelt und in sein Schürzle gethan und damit nach dem Haus zurückgelaufen, die kleine Heerde hinterdrein. Drinnen hab' sich's auch nicht um seine Wunde bekümmert, sondern gleich an den Brunnen mit dem Thierle, das aber keinen Tropfen Bluts verloren habe, nur betäubt sei's gewesen von dem Schrecken. Erst als die Mutter dazu kam und laut zu jammern anfing, wie sie ihr Kind so zugerichtet sah, da habe auch das Lisabethle gesagt, der Arm thu' ihm weh, und sei gleich darauf ohnmächtig umgefallen.

Dann hat man es zu Bett gebracht und den Bader gerufen; der hat die Wunde untersucht und ein bedenklich Gesicht gemacht, da man nicht wissen könne, ob der Hund nicht gar toll gewesen sei. Nein, das war er nicht, der Metzgergesell stand dafür ein. Aber der Biß war tief gegangen, und eine Ader war verletzt, und obwohl der Verband die Blutung stillte, war's doch ein schwerer Fall, hatte der Bader gesagt, und sie sollten fleißig kalte Umschläge machen, bis aus der nächsten kleinen Stadt Eis herbeigeschafft werden konnte.

Ich wollt' gleich hinüber, selbst nachschauen und bei der Kleinen wachen, aber die Mutter erlaubt' es nicht. Erst am frühen Morgen durft' ich zu ihr, fand sie im Fieber in ihrem Bettchen aufsitzend, und den Hannesle hatte sie auf der wollenen Decke vor sich und streichelte ihn zuweilen mit dem heißen Händle, kannte aber Niemand außer ihm und mir. Es war ein herzbrechender Anblick, ich mußt' mich zusammennehmen, daß ich nicht laut in Weinen ausbrach, aber weder mit Bitten noch mit Befehlen war ich aus der Kammer wegzubringen, den ganzen Tag und die nächste Nacht. Nur gegen Morgen fielen mir die Augen eine Stunde lang zu. Als ich sie wieder aufschlug, hatte mein armer Liebling die seinen für immer geschlossen.

Der Doctor, den mein Vater auf mein Bitten aus der nächsten Stadt hatte holen lassen, erklärte, der Verband sei nicht sorgsam und sauber genug angelegt gewesen, ein Fetzen von dem Rockärmel in der Wunde geblieben, das habe eine Blutvergiftung herbeigeführt.

Das war der erste Schmerz meines jungen Lebens, und er machte mich starr und steinern, daß ich wie abwesenden Geistes war und an nichts Theil nahm. Ich weiß noch, wie ich am dritten Tage der kleinen Leiche nach dem Friedhof folgte; zwei meiner Schwestern führten mich; von der Grabrede des Vaters verstand ich kein Wort, und erst als das Särgle mit den Kränzen bedeckt und die Erdschollen draufgeworfen wurden, brach ich in Thränen aus und ließ mich willenlos von der Mutter wieder nach Haus und zu Bett bringen. Da überfiel mich nach dem langen Wachen und Trauern ein bleierner Schlaf. Ich hörte nichts davon, wie meine drei jüngeren Schwestern, die mit mir in dem Mansardenzimmer schliefen, sich auskleideten und zu Bette gingen.

Nun war's mitten im Sommer, und die heiße Luft in der Stub', wo die vier Betten standen, wurde immer schwüler und dumpfer, daß sich mir endlich ein Alp centnerschwer auf die Brust legte und ich mit Stöhnen in die Höhe fuhr, ihn abzuschütteln. Da schien der Vollmond so taghell herein, daß ich die Gesichter meiner Schwestern deutlich erkennen konnte und sehn, wie auch sie schwer athmeten. Also stand ich auf und ging das Fenster zu öffnen. Wie ich mich aber umwende, thut sich die Thür, die dem Fenster gegenüber war, sacht auf, und herein tritt das Kind, das wir am Nachmittag begraben hatten, bleibt aber an der Schwelle stehn und sieht mich mit weit offenen Augen an. Es war in dem weißen Kleid, wie es im Sarg gelegen, das Kränzle ein wenig schief auf dem braunen Haar, ganz blaß, aber nicht todtenfarb, auch sonst nichts Unheimlichs an ihm. Und nur einen Augenblick erschrak ich, dann aber konnt' ich's furchtlos anschauen und nickte ihm zu und sagte: Bist du's wirklich, Lisabethle? Und wie kommst du her, und was willst du von mir?

Das arme Kind aber gab keine Antwort, sondern hob nur den einen Arm gegen mich und winkte mir.

Was meinst du? fragt' ich wieder. Willst du dich nicht wieder schlafen legen? Und soll ich dich etwa begleiten?

Es redete auch jetzt nichts, sondern machte nur eine schmerzlich bittende Miene und winkte wieder.

Nun denn, sagt' ich – denn ich hatt' ihm schon im Leben nichts abschlagen können – wart', ich komm' gleich. Und so schlupft' ich nur in mein Unterröckle und zog die Strümpf' an – die Schwestern schliefen ruhig fort –, und wie das Kind jetzt auf seinen kleinen bloßen Füßen sich umdrehte und mir voranging, seine Tritte waren unvernehmbar, schlich ich ihm nach und die Stiege hinunter, ohne daß eine Stufe knarrte. So glitten wir Zwei zur hinteren Thür hinaus, die nie verschlossen war, und durch den Pfarrgarten, wo im Mondschein jedes Laub wie Silber glänzte, und in das Sträßle hinein, das unsern Garten vom Friedhof trennte.

Ich dacht' nicht anders, als nun würde mich das Kind nach seinem frischen Grabhügel führen, und so lieb ich's hatte und ihm noch an viel gräßlichere Stätten gefolgt wär', überlief mich's doch eisig kalt, und ich wollt' schon wieder fragen, was es denn vorhabe. Da aber bog's um die Mauer des Friedhofs außen herum und huschte, so schwebend wie eine kleine weiße Wolke, vor mir her nach dem Hause seiner Eltern, das auf der anderen Seite vom Friedhof lag. Was will es nur da? wundert' ich mich im Stillen. Ob es seine arme Mutter noch einmal sehen will? Nein, es ging nicht ins Haus. Am Zaun entlang, der den Küstersgarten einfaßte, wanderte es rascher und rascher und jetzt durch die Gitterthür und geradewegs nach dem kleinen Stall im Winkel, wo seine Lieblinge eingesperrt waren. Da stand es still und sah sich zum ersten Mal nach mir um und hob die beiden Händle, wie wenn es bitten wollte, und als ich ihm zunickte, nickte es wieder und trat zwischen die Kohlbeete zurück, wie um mich vorbeizulassen. Ich verstand nicht gleich, was es wollte, ging aber aufs Gerathewohl nach dem Ställchen und schob den Riegel der Gitterthür zurück. Da sah ich's freilich, um was das todte Kind mich hatte bitten wollen. Die größten unter dem kleinen Volk lagen halb verschmachtet herum und regten nur matt die Ohren, wie sie mich erblickten. Von den kleineren lebte nur noch eins, der Hannesle, der war aber so schwach, daß er nur mit den rothen Augen mir zublinzeln konnte. Kein noch so kleiner Rest von einem Futter in allen Winkeln, der Wassertrog leer – wer hatte auch in dem Jammer um den Tod des Kindes an seine Pfleglinge denken können! Da hatte es selbst keine Ruhe im Grabe gehabt, war aufgestanden, eh' Alle verhungert waren, und hatte seine beste Freundin zu Hülfe gerufen.

Wie ich mich aber nach ihm umsah und ihm sagen wollte, es könne ruhig wieder schlafen gehen, ich würde jetzt schon sorgen, war der liebe Spuk verschwunden. Der Mond schien breit in die Beete herein, an jedem Kohlhäuptlein konnt' ich die Blätter zählen, vom Lisabethle aber war nichts mehr zu erblicken.

 

IV. Das Waldlachen.

Niemand sagte ein Wort, nachdem das Lisabethle – verschwunden war. Wir hatten bemerkt, daß Tante Juliens Augen feucht geworden waren, obwohl seit diesem Jugenderlebniß ein halbes Jahrhundert vergangen sein mochte. Der Oberst, der sich neben sie gesetzt hatte, reichte ihr still die Hand, der Professor blies tiefsinnig den Rauch seiner Cigarre in kleinen Ringen vor sich hin, der Hausherr lag zurückgelehnt in seinem Schaukelstuhl mit geschlossenen Augen. Ich hatte ihn im Verdacht, daß er sich, ungläubig wie er war, während der rührenden kleinen Geschichte in Schlaf geschaukelt habe und sich jetzt wieder ermunterte, wie der Müller, wenn die Mühle plötzlich still steht.

Endlich aber erhob sich der Hausarzt der Familie, ein feiner, noch jugendlicher Mann, dessen Gattin mit der Hausfrau intim befreundet war, und sagte lächelnd: Die Stunde, wo die Geister erscheinen, ist längst verstrichen, es ist hohe Zeit, unsern freundlichen Wirthen gute Nacht zu sagen. Das letzte Wort über diese wundersamen Phänomene wird ohnehin wohl schwerlich, so lange die Welt steht, gesprochen werden.

Wir Anderen schickten uns gleichfalls zum Aufbruch an. Die Hausfrau aber blieb sitzen und sagte? Wir lassen Sie noch nicht fort, lieber Sanitätsrath. Nach so wundersamen Geschichten ist ja doch noch nicht so bald an Schlaf zu denken, und Sie wollen uns auch nur entwischen, weil jetzt die Reihe an Ihnen wäre, uns gruseln zu machen. Da Sie aber wahrscheinlich so spukfest sind, wie mein Mann, und nie etwas mit dem Zwischenreich zu thun gehabt haben, möchten Sie nun um das Pfand herumkommen. Nein, erst Farbe bekannt, eh wir auseinandergehen!

Sie verkennen mich durchaus, versetzte der Arzt gutmüthig lachend. Es war mir wirklich um Ihre Nachtruhe zu thun, für die ich als Ihr Leibarzt verantwortlich bin. Denn zu erzählen hätt' ich wohl Etwas, an dessen Wahrheit ich nicht im Geringsten zweifle, da meine Quelle die zuverlässigste ist. Nur müßte ich Ihre Geduld noch eine halbe Stunde in Anspruch nehmen, und da es schon lange Eins geschlagen hat –

So mag es auch noch Zwei schlagen, fiel die junge Schwester der Hausfrau ein. Ich bin oft noch später von einem langweiligen Ball nach Hause gekommen, ohne Erbarmen mit meiner lieben Schwester, die die Ballmutter gespielt hatte. Erst aber will ich noch einmal die Gläser füllen, und dann hat der Herr Sanitätsrath das Wort.

Vorausgesetzt, sagte dieser, daß die Frau Sanitätsräthin ihre Erlaubniß giebt; denn es ist eigentlich ihre Geschichte.

Wir Beide gehen auf Ein Pfand, versetzte die anmuthige Frau mit einem leichten Erröthen. Wenn du nichts hinzuflunkerst, will ich dir gern das Wort lassen.

Nun denn, fuhr ihr Mann fort, so will ich die Geschichte zum Besten geben, deren Wahrheit durch zweier Zeugen Mund bestätigt wird, 's ist eigentlich nur halb eine Gespenstergeschichte, zur anderen Hälfte eine Liebesgeschichte, mit der ich mich aber möglichst kurz fassen werde, da sie nicht in das Programm gehört.

Also ich war ein eben absolvirter Doctor der Medicin, siebenundzwanzig Jahre alt, Assistent in der städtischen Klinik, nebenher unpraktischer Arzt, denn ich hatte es nur erst zu einem einzigen eigenen Patienten gebracht, einem alten Hypochonder, bei dessen eingebildeten Krankheiten es keiner meiner älteren Collegen lange ausgehalten hatte. Auch den war ich für eine Weile losgeworden, und da es ein heißer Sommer war und ich durch den anstrengenden Dienst im Krankenhause ziemlich erschöpft, drang mein guter Geheimrath selbst darauf, daß ich ein paar Tage ausspannen sollte.

Nun hatte ich, als ich mein Jahr abdiente, Freundschaft geschlossen mit einem trefflichen Kameraden, einem jungen Gutsbesitzer, mit dem ich auch hernach, wenn ihn Geschäfte in die Stadt führten, immer zusammengekommen war, da uns Beiden daran lag, einander nicht fremd zu werden. Oft genug hatte er mich dringend zu einem Besuch auf seinem Gut eingeladen, das er nach dem Tode des Vaters selbständig bewirthschaftete, noch unvermählt, da ihm, wie er sagte, die Gesellschaft seiner Mama und einer kleinen Schwester vollauf genüge.

An diesen Freund schrieb ich, ob er mich für ein paar Tage gebrauchen könne. Umgehend kam die herzlichste Einladung zurück, und an demselben Nachmittage saß ich auch schon auf der Eisenbahn, die mich bis nah ans Gebirge führte. Ein Wägelchen wartete auf mich an der Station, da ich noch eine kleine Stunde bis zu dem Gut meines Freundes zu fahren hatte.

Als ich vor der Hausthür ausstieg, kam mir nur die Mama entgegen, entschuldigte den Sohn, daß er mich nicht selbst empfing, er sei plötzlich in ein entlegenes Vorwerk abgerufen worden. In einer Stunde aber spätestens werde er zurück sein. Einstweilen solle ich mir's auf meinem Zimmer bequem machen.

Das Haus war ein ehemaliges herrschaftliches Landschlößchen und mit allen behaglichen Einrichtungen der neueren Zeit versehen, so daß ich mir schon überlegte, wie hübsch es wäre, hier einen ganzen Sommer zubringen zu dürfen. Da ich aber höchstens eine Woche Urlaub hatte, gedachte ich die Zeit bestens zu benützen und stieg, nachdem ich ein wenig Toilette gemacht, die breite Treppe hinunter, mich draußen umzusehen.

Das Gut lag in einer lachenden Hügellandschaft, am Ende eines langgestreckten Dorfes, dessen Häuser und Gehöfte weit umher zerstreut waren. An der andern Seite, nach der die Fenster der Wohnzimmer gingen, schloß sich ein Blumengarten an, durch den man in einen kleinen umzäunten Park gelangte. Trat man dann aus dem Parkgitter wieder heraus, so öffnete sich der Blick auf ein von einzelnen Felsen überragtes Waldthal, das den Eingang in das höhere Bergland bildete.

Nun überraschte mich, als ich den Weg dahin einschlug, schon aus der Ferne der Anblick zweier mächtiger Bäume, zwischen denen hindurch der Fußpfad in das Thal hineinführte. Sie standen wie riesige Wächter am Thor der geheimnißvollen Waldeinsamkeit, und da die Sonne sich schon zum Rande der gegenüberliegenden Hügel gesenkt hatte, waren nur ihre dichtbelaubten Wipfel röthlich angestrahlt.

Das war so herrlich anzuschauen, daß ich stehen blieb und die Augen daran weidete. Auf einmal aber hörte ich einen seltsamen Schall, der nirgend anders als aus eben jenen abendrothen Wipfeln herkommen konnte: ein helles, melodisches Lachen, wie aus einer übermüthigen Menschenkehle, gleich darauf ein antwortendes Gelächter in etwas tieferer Tonart und dann – fern aus dem Thalgrunde zurückhallend – die beiden Stimmen von einem rein erklingenden Echo wiederholt. Man konnte bei der tiefen Stille, die über der weiten Landschaft lag, nichts Lieblicheres sich denken, und wenn die alten Fabelzeiten nicht längst vergangen gewesen wären, hätte ich schwören mögen, zwei Dryaden säßen in den Baumkronen versteckt und forderten den Widerhall zu einer kleinen Abendunterhaltung heraus.

Nachdem das wunderliche Concert ein Weilchen mit allerlei Variationen fortgedauert hatte, ging ich endlich dicht an die beiden Bäume heran, in denen ich jetzt zwei Ahorne erkannte. Doch kurzsichtig, wie ich war, und da ich meine Brille zu Hause gelassen hatte, war mir's unmöglich, zu erspähen, ob etwa Dorfkinder droben säßen und sich auf diese Weise belustigten. Es blieb auch Alles mäuschenstill, als ich unten zwischen den Stämmen Posto gefaßt hatte. Kein Laub bewegte sich, kein Ast knickte; die Wipfel standen stumm und harmlos in der Abendsonne, und nur ein paar Vögel schwirrten durch die Zweige.

Als ich dann aber von dieser verzauberten Stelle weg in die sich zusammenschließende Waldschlucht hineinwanderte, – noch nicht fünfzig Schritte war ich gegangen, da tönte mir wieder das Lachen nach, erst die eine, dann die andere Stimme, etwas leiser, aber sie schienen mir jetzt einen spottenden Klang zu haben, und auch das Echo antwortete wie ein schadenfrohes Kichern. Wo das herkam, erkannte ich deutlich. Aus den hohen Fichten ragte eine breite, glatte Felswand empor, auf deren oberem Rande ein Kapellchen stand. Von dieser schroffen Fläche mußte der Schall zurückspringen, so rein und articulirt, daß jeder halbe Ton deutlich zu vernehmen war.

Eben sann ich darüber nach, wie ich es anstellen sollte, dem räthselhaften Spiel auf die Spur zu kommen, da fing in der Kapelle oben ein Glöckchen zu läuten an, und sofort verstummte das Lachen in den Ahornwipfeln, und auch ein Widerhall des Geläuts ließ sich nicht hören. Ich hatte mich auf einen Baumstumpf gesetzt und genoß in vollen Zügen die erquickliche Dämmerung und den frischen Waldgeruch um mich her. Als ich endlich aufbrach und den Rückweg nach dem Gutshause einschlug, war das Gold von den Gipfeln weggeschwunden; Nichts regte sich mehr als eine Waldtaube, die bei meiner Annäherung in die Zweige hinaufflog.

Mein Freund kam mir schon am Eingang des Parks entgegen, wir freuten uns des Wiedersehens und hatten hunderterlei zu fragen und zu antworten. Er führte mich sogleich in den Gartensaal, wo der Abendtisch gedeckt war und die Mama uns erwartete. Doch eh wir uns setzten, that sich eine Seitenthür auf, und ein schlankes, blondhaariges Mädchen trat herein, lief auf die alte Dame zu, sie zu umarmen, nickte meinem Freunde zu und machte mir mit einem nicht gerade freundlichen Blick einen etwas linkischen Knix.

Wie du wieder aussiehst, Fränzel! sagte ihr Bruder, Mußt du denn immer herumtollen? Ich habe nämlich die Ehre, wandte er sich zu mir, dir meine kleine Schwester Franziska, genannt Fränzel, vorzustellen, deren Erziehung hier in der Wildniß trotz der Bemühungen der Mama und des Herrn Schullehrers leider ziemlich vernachlässigt wird. Ein Fräulein, das im nächsten Monat Siebzehn wird, sollte wenigstens ein bischen Toilette machen, ehe es sich zu Tische setzt.

Das Mädchen rümpfte den rothen Mund, fuhr sich mit den Händen über das volle Haar, aus dem sich allerdings ein paar Strähnchen verzettelt hatten, und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, auf den Stuhl neben der Mutter. Zur anderen Seite nahm ihr Bruder Platz, so daß ich ihr gerade gegenüber zu sitzen kam.

Ich werde mich nicht unterstehen, dies junge Gesicht zu beschreiben. Meine Frau droht mir schon mit dem Finger. Sie kann es nicht leiden, daß ich diese Liebesgeschichte ausführlich berichte, aus einer seltsamen Eifersucht auf ein liebenswürdiges Mädchen, das damals Nichts vor ihr voraus hatte, als die Jugend. Also, um es kurz zu machen: obwohl das Fräulein während des Abendessens den Mund nur öffnete, um einen sehr gesunden ländlichen Appetit zu stillen, den fremden Gast keines Blickes würdigte, ja eher eine gewisse Abneigung gegen ihn zur Schau trug, erschien sie mir doch mit jeder Minute reizender, und als wir aufstanden, war ich nicht im Zweifel darüber, daß ich mich bis über die Ohren in das trutzige Kind verliebt hatte.

Das alte, von fischblütigen Seelen bezweifelte Wunder von Blitz und Schlag hatte sich wieder einmal ereignet.

Der frische Brand wurde nun vollends lichterloh angeschürt, als mein Freund sein Schwesterchen aufforderte, etwas zu singen, »damit unser Gast dich doch nicht für taubstumm hält.« Sie zuckte wieder mit einer unnachahmlich reizenden Trotzgeberde die Achseln, setzte sich aber gehorsam ans Klavier und sang mit einer klaren, noch etwas scharfen Stimme, die fast wie eine Knabenstimme klang, erst ein paar schöne schwermüthige Volkslieder, dann von Schubert und Schumann gerade meine Lieblingsstücke mit so echt musikalischem Verständniß, daß ich nun meinerseits vor Entzücken verstummte und kaum ein schales Compliment zu stammeln vermochte, als sie vom Flügel aufstand, die Mutter küßte, dem Bruder und mir Gute Nacht! zunickte und das Zimmer verließ.

Wir haben das Glück, in dem hiesigen Schullehrer einen ungewöhnlich begabten und gebildeten Mann zu besitzen, sagte die Mama, als ich ihr nach Fränzel's Verschwinden meine Bewunderung ausdrückte. Hier auf dem Lande wäre ich sehr in Verlegenheit gewesen, dem Mädchen zu den nothdürftigsten Schulkenntnissen zu verhelfen, ohne diesen trefflichen Mann, der sie vom neunten Jahre an zugleich mit seinem zwei Jahre jüngeren Sohn unterrichtet hat. Zu allem Anderen ist er auch ein talentvoller Musikus und hätte längst eine bessere Stellung an einer städtischen Schule gefunden, wäre ihm und vor Allem seiner kränklichen Frau die Gegend hier nicht so lieb geworden, zumal er auch seinen einzigen Sohn, der ein armer Krüppel ist, in der Stadt nicht so gut aufgehoben und vor Kränkungen durch rohe Kameraden geschützt wüßte. Was Fränzel an neueren Sprachen und weiblichen Fertigkeiten sonst noch zu lernen hat, kann ich ihr beibringen und brauche das Kind doch nicht von mir zu lassen, um sie der oberflächlichen Abrichtung in einem Pensionat auszusetzen.

Als auch die Mama sich zurückgezogen hatte und ich noch mit dem Freunde in der Nachtkühle auf der Terrasse am Hause rauchend auf und ab ging, war ich in meiner verworrenen Stimmung so einsilbig, daß es meinem Gefährten auffiel und er mich endlich fragte, ob mich ein plötzliches Unwohlsein angewandelt habe. Ein plötzliches Wohlsein! erwiderte ich und verhehlte nicht, welch tiefen Eindruck seine Schwester auf mich gemacht hatte.

Die Fränzel? lachte er. Nun, das gesteh' ich! Ich hätte nicht geglaubt, daß irgend Jemand sie schon für voll nehmen könnte. Sie ist ja noch weder Fisch noch Fleisch, kein richtiger Backfisch mehr und noch lange kein Weib. So eine Dorf-Gassenbübin, die in Wald und Feld herumstreift, auf den Ackerpferden zum Heumachen hinausreitet und, wie du heute gesehen hast, nicht einmal so viel Eitelkeit besitzt, vor einem eleganten jungen Stadtherrn sich ihres verwahrlosten Anzugs zu schämen. Du wirst diese Anwandlung morgen früh ausgeschlafen haben, oder ich müßte geradezu an Hexerei glauben.

An die glaube ich auch, sagt' ich, aber nicht an eine rasche Entzauberung. Es scheine überhaupt in dieser Gegend nicht ganz geheuer zu sein. Allerlei Geister spukten in der Luft, und hohe Bäume ließen menschliche Laute erschallen.

Und nun erzählte ich, was ich am Abend bei den Ahornbäumen belauscht hatte.

Da lachte mein Freund noch herzlicher und sagte endlich: Hast du's auch zu hören bekommen, gleich zur Bewillkommnung, unser famoses Waldlachen, das schon manchem arglosen Wanderer unheimlich gewesen ist? Ja, damit hat es eine eigene Bewandtniß, und ich glaube der Sache auf die Spur gekommen zu sein, hüte mich aber, es auszuplaudern. Mit solchen Waldgeistern ist nicht zu spaßen, sie spielen einem einen Schabernack, wenn man sie verräth. Nun, wenn du eine Zeitlang hier bleibst, kommst du vielleicht noch selbst dahinter, dann wirst du mitlachen können. Aber nicht wahr, so graulich es ist, es klingt ganz artig, wenn das Echo den beiden Geisterstimmen der Bäume antwortet? Nur sage mir Gotteswillen meiner Mama nichts davon, die würde sich am Ende doch fürchten und ließe wohl gar die schönen Bäume umhauen, um dem Unwesen ein Ende zu machen.

Ich wurde nicht klug daraus, ob der Freund das Alles ernst meinte oder mich zum Besten hatte. Es lag mir auch Nichts daran. Eine ganz andere, noch weit zauberhaftere Stimme lag mir im Ohr. Selbst mitten in der Nacht, als ich einmal aufwachte, ließ sie mich lange nicht wieder einschlafen.

Am andern Morgen bekam ich das Mädchen nicht, wie ich gehofft hatte, beim Frühstück zu Gesicht. Sie sei schon seit einer Stunde im Walde, sich Erdbeeren zu ihrer Milch zu suchen, sagte die Mama. Der Bruder nahm mich dann in Beschlag, mir seinen Hof zu zeigen, Scheunen und Ställe, Brennerei und Vorwerk, nichts wurde mir erlassen. Es interessirt dich nur mäßig, sagte er lächelnd, aber es ist eine gesunde Abwechselung und zumal gegen das Gespenstersehen und sentimentale Anwandlungen sehr wirksam.

Der gute Junge täuschte sich gründlich. Hinter jeder Hecke, Scheunenthür oder Zaunplanke hoffte ich die Gestalt des Mädchens auftauchen zu sehen und wurde immer verdrossener, je eifriger ihr Bruder, den meine Versunkenheit belustigte, in mich hineinsprach.

Als wir gegen Mittag unsere weitläufige Inspection beendet hatten, trennte ich mich von ihm. Ich wolle mir noch einmal das Dorf betrachten, sagt' ich, das ich gestern in raschem Trabe durchfahren hatte.

Eigentlich lockte mich nur der Kirchthurm am anderen Ende. Neben dem, calculirt' ich, wird die Schule liegen, in der Schule wird der Lehrer wohnen, und bei dem Lehrer steckt am Ende seine Schülerin.

Richtig! Ich hatte mich nicht verrechnet.

Auf halbem Wege nach der Kirche kam mir die lange vergebens Gesuchte entgegen, aber nicht allein. Eine wunderliche Gestalt schleppte sich neben ihr hin, ein Knabe von etwa fünfzehn Jahren, der ohne die Hülfe zweier Krücken auf seinen ungleichen, mißgestalteten Füßen sich nicht hätte forthelfen können. Sein Rücken war etwas gekrümmt, die Brust eingesunken, und auf den ersten Blick war's kläglich, wie er zwischen den hölzernen Stützen sich hin und her schwang. Wenn man aber sein Gesicht betrachtete, verlor sich der herzbeklemmende Eindruck. Es war ein sehr hübsches Gesicht mit regelmäßigen Zügen, sanften und doch feurigen Augen und einer hohen Stirn, über die das braune Haar – er trug keine Mütze – in einem dichten Büschel herabfiel. Auch lächelte er zu etwas, das seine Begleiterin zu ihm sagte; das stand ihm besonders gut, denn er hatte einen wohlgebildeten, bei aller Jugend schon energischen und charaktervollen Mund und doch wieder eine kindliche Harmlosigkeit des Ausdrucks, die sehr liebenswürdig erschien. Auch sah es nicht danach aus, als ob sein Gebrechen ihm besonders hinderlich sei. Auf seinen Krücken kam er so flink von der Stelle, daß er mit dem raschen Fräulein ohne Mühe Schritt hielt, nur daß der harte Klang der beiden hölzernen Stützen auf dem festen Steindamm der Dorfstraße beständig daran erinnerte, daß den kleinen Mann nicht zwei gesunde Füße trugen.

Als ich mich dem ungleichen Paar näherte – denn das Mädchen schritt wie eine blonde junge Diana neben dem armen Krüppel her und überragte ihn um eine volle Kopflänge –, merkte ich, daß ich Beiden ungelegen kam. Fräulein Fränzel nahm eine ernste Miene an, der Knabe runzelte die Stirn und schoß mir einen feindseligen Blick zu, und Beide wollten mit einem unwirschen Gruß an mir vorbei.

Ich ließ mich aber nicht abschrecken, schloß mich ihnen an und begann eine kleine Conversation, deren Kosten ich freilich fast allein zu tragen hatte. Von dem Mädchen, das mir heut beim hellen Sonnenschein noch weit besser gefiel, erfuhr ich nur, daß sie eben eine Klavierstunde gehabt und mit ihrem Begleiter vierhändig gespielt habe. Er spiele aber weit besser als sie, was er erröthend bestritt. Wo sie sonst seit dem frühen Morgen gesteckt hatten, konnte ich nicht erfahren, so gern ich's für ein andermal mir zu Nutz gemacht hätte.

So langten wir bei der Gartenpforte an, wo sich der Knabe – Friedel war sein Name – verabschiedete, obwohl Fränzel ihn mit einzutreten bat. Ich erhielt noch einen unfreundlichen Blick von ihm, den ich mir nicht zu deuten wußte, da ich der Meinung war, mich sehr liebenswürdig gegen ihn betragen zu haben.

Auch das Fräulein fuhr fort, mich mit schnöder Kälte zu behandeln. Vergebens zersann ich mich, wodurch ich mir ihre Ungnade zugezogen haben mochte. Fast sah es nach einer Verschwörung des jungen Paares aus, mir den Aufenthalt hier zu verleiden. Aber so leicht ist ein verliebter junger Geck, der sich einiger persönlicher Vorzüge bewußt ist, nicht einzuschüchtern.

Ich kehrte also bei Tisch meine besten Seiten heraus, war witzig, gemüthvoll, tiefsinnig und, was schon mein Beruf mit sich brachte, von reinstem Mitgefühl für die leidende Menschheit erfüllt – kurz, ein solcher Mustermensch, daß es mir nicht schwer wurde, die gute Mama zu erobern. Bei dem Töchterchen blieb Alles verlorene Liebesmüh'.

Gleich nach Tische verschwand sie wieder, Sie mache jetzt ihre Aufgabe für den Lehrer und übersetze dann ein Kapitel aus den Promessi Sposi, da sie bei der Mutter auch Italienisch angefangen habe. Länger als zwei Stunden aber halte sie's im Zimmer nicht aus, dann müsse man sie ihrer Wege gehen lassen.

Ich hätte mich gern zum Begleiter auf diesen Wegen angeboten. Als ich aber später nachfragte, wo das Fräulein geblieben, wußte es Niemand zu sagen.

So blieb mir nichts übrig, als auf gut Glück ihr nachzugehen. Ich fand aber nirgend ihre Spur und lief mich umsonst müde. Aergerlich war ich auch. Kein Wunder also, daß mir in meiner aufgeregten Stimmung, als ich gegen Sonnenuntergang wieder zu den Ahornbäumen gelangte und das geisterhafte Lachduett gerade wie gestern aus ihren Wipfeln herabtönte, dieses Waldlachen wie ein persönlicher Hohn und Spott erklang, dem ich um jeden Preis ein Ende machen müsse.

Diesmal hatte ich meine Brille nicht vergessen. Ich schritt dicht an die Stämme heran und spähte scharf zu den vielästigen Wipfeln hinauf. Da sah ich nun allerdings, daß in jedem eine menschliche Gestalt versteckt saß, aber die Zweige verschränkten sich so dicht, das Laubwerk war so üppig, an ein Erkennen der Spottvögel war nicht zu denken. Auch schwiegen sie mäuschenstill, sobald ich mich genähert hatte, natürlich um sich durch ihre Stimmen nicht zu verrathen. Ich wußte nun wenigstens, daß es bei dem Spuk mit rechten Dingen zuging. Was kümmerte mich's, welche Dorfbuben sich den Spaß machten, der ja in der That sehr lieblich klang. Als ich mich aber eben entfernen wollte, bemerkte ich etwas, das mich plötzlich über die Personen dieser Komödie aufklärte: im hohen Grase zu Füßen des einen Baumes lagen zwei Krücken, die keinem Andern als dem Lehrerssohn gehören konnten.

War's zu glauben? Saß wirklich in dem Wipfel gegenüber die Gutsherrntochter, ein bald siebzehnjähriges Fräulein, das Schumann und Schubert mit der entzückendsten Empfindung sang und die Promessi Sposi übersetzte?

Ich konnte nach Allem, was ich gesehen, nicht daran zweifeln.

Warum mir diese Entdeckung eine so fatale Empfindung erregte, darüber wurde ich mir nicht klar. Was war am Ende daran auszusetzen, daß ein sonst wohlerzogenes Fräulein die Passion hatte, auf hohe Bäume zu klettern und droben lachend den Widerhall herauszufordern? Keine Gouvernante war ja bei der Hand, ein Aergerniß daran zu nehmen, und auch die Intimität mit ihrem Schulkameraden, der die Knabenschuhe noch nicht ausgetreten hatte, konnte ihr nicht verdacht werden. Und doch, für den Humor, der darin lag, daß sich diese junge Dame wie eine wilde Katze in die Wipfel verstieg und dort ihr übermüthiges Lachduett anstimmte, fehlte mir der Sinn, vielleicht nur darum, weil ich meine Turnkünste verlernt hatte und darauf verzichten mußte, nachzusteigen und ihr droben meine Liebeserklärung zu machen.

Ich nahm mir vor, beim Abendessen sie geradezu darauf anzureden. Dazu kam es aber nicht. Ein bittender Blick, den sie mir zuwarf, als ich von dem Waldthal und den beiden Baumriesen am Eingang anfing, erinnerte mich, daß die Mama nicht eingeweiht war. Auch hernach kam es zu keiner Erklärung. Gleich nach dem Essen, unter dem Vorwand, daß sie noch etwas zu arbeiten habe, sagte das Fräulein gute Nacht und ließ sich auch durch die Bitte des Bruders, noch etwas zu singen, nicht zurückhalten.

Diesmal aber bekam ich wenigstens eine Hand und ein freundliches Kopfnicken.

Als ich dann mit meinem Freunde wieder allein war, sagte ich ihm sogleich, ich wisse jetzt, was es mit dem mysteriösen Waldlachen für eine Bewandtniß habe. Ob er aber ganz damit einverstanden sei, seine Schwester, doch schon ein erwachsenes Fräulein, mit einem halbwüchsigen Burschen so herumzigeunern zu lassen?

Der Bruder lachte. Ich glaube gar, du bist auf den armen Krüppel eifersüchtig, sagte er. Nein, sei ohne Sorge. Sie sind seit ihren Kinderjahren an einander gewöhnt, und da der Friedel auf ebener Erde mit keinem Altersgenossen in die Wette laufen kann, hat er sich früh im Klettern geübt und es bald so weit gebracht, daß er's mit jedem Eichkätzel aufnehmen kann. Das hat Fränzel's Ehrgeiz geweckt, Schleppkleider trägt sie auch jetzt noch nicht, und da es eine gesunde gymnastische Uebung ist, habe ich sie gern gewähren lassen. Die Mama aber ist ängstlich und würde es nie zugeben, daß ihre Tochter so halsbrecherische Künste treibt. Darum haben wir's vor ihr geheim gehalten. Du aber wirst wahrscheinlich jetzt begriffen haben, weßhalb ich gestern deine überschwänglichen Aeußerungen nicht ernst nahm. Ein Mädel, das noch so kindische Passionen hat, wirst du dir selbst nicht als Gegenstand einer ernstlichen Anbetung vorstellen können.

O doch, versetzt' ich. Es ist ja dafür gesorgt, daß die Bäume, auf die junge Mädchen klettern, nicht in den Himmel wachsen. Ich getraute mir, es ihr auf ebener Erde so behaglich zu machen, obwohl ich keine glänzende Partie bin, daß sie auch in der Stadt das Lachen nicht verlernen sollte. Nur unter einer Bedingung, die freilich hier nicht zutrifft: daß sie sich nur halb so viel aus mir machte, wie ich aus ihr.

Und warum wolltest du daran verzweifeln? sagte er dagegen.

Ich erzählte ihm, wie abweisend sie mich behandelt habe; ich sei gründlich überzeugt, daß ich ihr unangenehm sei, daß sie mich je eher je lieber wieder abreisen sehen möchte.

Das wollte er nicht Wort haben. Es sei eben ein wunderliches Mädel, aus dem er manchmal selbst nicht klug werden könne. Doch was mich betreffe, wolle er sie nächster Tage ausforschen. Sollte ich mit meinem Verdacht wirklich Recht haben, so sei mir freilich nicht zu helfen, wenigstens fürs Erste nicht, obwohl er für die Zukunft mir nicht alle Hoffnung nehmen wolle. Denn mich zum Schwager zu haben, sei ihm ein sehr freundlicher Gedanke.

Nun, so vergingen ein paar Tage. In meinem äußeren Verhältniß zu dem Mädchen, das sich mehr und mehr all meiner Gedanken bemächtigte, änderte sich Nichts. Sie vermied es unverhohlen, mit mir allein zu sein, lehnte meine Begleitung auf ihren Morgenspaziergängen ab, begnügte sich, wenn ich sie sonst ins Gespräch ziehen wollte, mit so kurzen Antworten, als es die gesellige Artigkeit irgend zuließ, und war besonders unhold zu mir, wenn ich ihr in Gesellschaft mit ihrem lahmen Gespielen begegnete. Schon von Weitem sah ich, wie das offene Gesicht des armen Jungen sich verfinsterte, sobald er mich erblickte. Er kniff dann die Augen ein, wie um einen verhaßten Anblick zu vermeiden, und wenn ich ihn anredete, bekam ich kaum eine Antwort. Da ich nun merkte, daß ich mir die geringe Gunst des Fräuleins vollends verscherzen würde, wenn ich mich als Dritten im Bunde aufdrängte, schlug ich gleich einen Seitenweg ein, sobald ich den klappernden Ton der Krücken auf dem Pflaster nur von fern vernahm.

Das Duett in den Ahornwipfeln war verstummt. Das Paar schien für sein Waldlachen sich eine entlegnere Stelle gesucht zu haben, selbst mit Verzicht auf das Echo, nur um mir auszuweichen. Daß ich daher statt meines früheren Mitleids zuletzt einen förmlichen Haß auf den Lehrerssohn warf, da ich meinen begünstigten Rivalen in ihm sehen mußte, war zwar nicht gerade christlich, aber gewiß sehr menschlich.

Mein Freund, der ohnehin als eifriger Landwirth gerade in dieser Jahreszeit nur bei den Mahlzeiten zu Hause war, schien sich um den Zustand meines Herzens nicht eben Sorge zu machen. Ich dachte schon, er habe sein Versprechen, das wilde Schwesterchen um meinetwillen ins Gebet zu nehmen, völlig vergessen, und war zu stolz, ihn daran zu erinnern. Da nahm er mich eines Abends in unserer gewöhnlichen Rauch- und Plauderstunde unter den Arm und führte mich zu einer entfernten Bank im Garten.

Hier fing er nun in einiger Verlegenheit an, mir über den Erfolg seiner diplomatischen Mission Bericht zu erstatten. Er habe doch leider Recht behalten, das Mädel sei noch so kindisch, daß es nicht vernünftig mit sich reden lasse. So viel zwar habe sie eingestanden: eine Abneigung gegen meine Person empfinde sie nicht; ich sei gewiß, was man sich gewöhnlich unter einem braven Menschen und angenehmen Gesellschafter vorstelle. Aber eben daß ich mich so geflissentlich um sie bemühe, sei ihr im höchsten Grade widerwärtig. Du mußt nicht denken, Hubert, habe sie gesagt, ich sei noch ein so dummes Kind, daß ich nicht gemerkt hätte, dein Freund habe Gefallen an mir, so wenig ich ihm entgegengekommen bin. Er soll sich aber nur all solche Gedanken aus dem Sinn schlagen. Denn zu einer Courmacherei, einer Flirtation, wie sie so unter müßigen Menschen auf dem Lande vorzukommen pflegt, habe ich nicht die geringste Lust, und an was Ernsthafteres ist erst recht nicht zu denken.

Warum nicht? habe er gefragt, und da sie roth geworden und ihm eine Weile ausgewichen sei, habe er endlich seine ganze brüderliche Autorität eingesetzt. Aber so hart er sie angefahren, einschüchtern habe sie sich nicht lassen, vielmehr endlich rund heraus erklärt: sie werde das dem Friedel nie und nimmer anthun, einen Mann zu heirathen, der sie von hier fortnähme. Sie wisse, daß der arme Junge dann ganz verlassen dastehn und vor Kummer und Entbehrung zu Grunde gehen würde. Denn er habe auf der Welt keine andere Lebensfreude, als den Umgang mit ihr, und sie würde sich als die gottloseste Egoistin erscheinen, wenn sie ihn allein ließe, um für sich selbst irgend ein Glück zu gewinnen.

Er habe diese Antwort Anfangs als eine überspannte Backfischlaune behandelt, dann aber, da er ihren Ernst gesehen, sie aufs Gewissen gefragt, ob sie am Ende in Friedel verliebt sei. Dann wäre es seine Pflicht, dem ärgerlichen Verhältniß ein Ende zu machen. – Nein, habe sie ganz ruhig erwidert, ein solcher Gedanke ist mir nie gekommen. Er ist mir immer wie ein jüngerer Bruder gewesen und wird es immer bleiben. Aber wenn du sein feines Gemüth kenntest, und was an schönen und klugen Gedanken in ihm lebt, würdest du begreifen, daß ich seine Gesellschaft nicht gegen die irgend eines anderen Menschen vertauschen möchte, und wäre es ein noch so verliebter und liebenswürdiger Ehemann, der einen geraden Rücken und – keine verkrüppelten Füße hätte. Und wenn dein Freund es wirklich gut mit mir meint, soll er sich weiter keine Mühe geben. Denn Friedel kann ihn nicht leiden und gönnt ihm nicht all das, was er an äußeren Gaben vor ihm voraus hat. Nun ja, er ist eifersüchtig, obwohl er keinen Grund dazu hat. Aber es steht auch zu viel für ihn auf dem Spiel.

Das war nun Alles so unzweideutig – ich mußte einsehen, das Klügste sei, die Partie sofort verloren zu geben. Ich konnte mir's freilich nicht versagen, meinen Freund auf die Gefahr hinzuweisen, die ich auch ohne selbstische Nebengedanken in dem Verhältniß des jugendlichen Paars erblickte. Man wisse, daß gerade eine körperliche Mißbildung das Heranreifen eines jungen Menschen beschleunigt. Und daß seine Gefühle für das Mädchen, das sich ihm schwesterlich zuneigte, nicht lange die mittlere Temperatur brüderlicher Liebe behalten würden, wenn sie sich überhaupt noch darauf beschränkten, war mir klar. Auch Hubert mußte das zugeben und erklärte, Fränzel's wegen werde er darauf denken, in irgend einer nicht auffälligen Weise Wandel zu schaffen, ehe es zu spät sei.

Für mich blieb freilich nichts Anderes übrig, als mich eilig zu entfernen und zu sehen, ob durch eine Luftveränderung das Fieber noch zu heilen wäre.

Also schützte ich am andern Morgen einen dringenden Nothruf meiner Patienten vor, die mich nicht länger entbehren könnten, – eine dreistere Nothlüge habe ich nie über die Lippen gebracht. Denn selbst wenn mein einziger Patient in den letzten Zügen gelegen hätte, wäre ich nicht von hier gewichen, hätte mir das geliebte Mädchen nur einen Schimmer von Hoffnung gelassen.

Die Art aber, wie sie mir mit sichtlicher Erleichterung in dankbarer Herzlichkeit beim Abschiede die Hand drückte, zerstörte die letzte Illusion, daß ich ihr je etwas Anderes sein könne, als ein Störenfried.

So kehrte ich in die Stadt zu meinem anstrengenden Beruf zurück. Ich hatte gehofft, gegenüber der traurigen Wirklichkeit, mit der ich täglich zu thun hatte, würde sich die Erinnerung an das eben Erlebte wie ein Sommernachtstraum verflüchtigen.

Die Hoffnung sollte nicht in Erfüllung gehen. Doch war dafür gesorgt, daß mir keine Zeit blieb, lyrische Allotria zu treiben. In der Klinik herrschten epidemische Krankheiten, die mir vollauf zu thun gaben, auch blieb mein Hypochonder nicht mein einziger Privatpatient. So kam ich nicht in Versuchung, den zerrissenen Faden wieder anzuknüpfen, und da auch Hubert keine Muße zu Briefen hatte, blieb es zwischen Stadt und Land den Winter über still.

Da, zu Anfang Mai des folgenden Jahres, überraschte mich eine Epistel des Freundes, der mich wegen meines Verstummens ausschalt, Grüße der Mama bestellte, an die eine neue Einladung geknüpft war, und ungefähr so schloß: Denke dir, was sich vor einer Woche hier zugetragen hat. Das Waldlachen hat ein Ende mit Schrecken genommen. Fränzel's Spiel- und Studiengefährte hat eines Abends sich dazu aufgelegt gefühlt, wieder einmal seinen Baum zu erklettern, der mit seinen maigrünen Blättern ihn anlockte. Seine Glieder waren auch während der winterlichen Ruhe nicht ungelenk geworden, so daß er den Wipfel wie sonst erreichte. Meine Schwester sah ihm von unten zu und hörte noch, wie er oben ganz munter die bekannten Lachtöne anstimmte. Auf einmal gab's einen schrillen Mißton. Einer der Zweige, der dem lahmen Vogel zum Stützpunkt diente, muß in dem harten Winter abgestorben sein, knickte plötzlich ein, und der arme Bursch taumelte von seinem hohen Sitz so unglücklich kopfüber durch die lichten Aeste, daß er nirgends einen Halt fand und am Fuß des Baumes ächzend mit verzerrtem Gesicht hinstürzte.

Er sei schon am nächsten Tage seinen innerlichen Verletzungen erlegen. Das klägliche Ereigniß aber habe auf das Gemüth seiner jungen Freundin einen so furchtbaren Eindruck gemacht, daß sie sich zuerst ganz fassungslos geberdet habe, darauf aber in einen starrsüchtigen Zustand versunken sei, der die Mutter aufs Höchste ängstige, da alles liebevolle Einwirken der Ihrigen nicht den geringsten Eindruck auf sie mache. Sie sitze halbe Tage lang wie an allen Sinnen gelähmt und raffe sich endlich nur auf, um im Felde Blumen zu pflücken und jeden Abend einen Kranz auf das Grab des unglücklichen Knaben niederzulegen.

Die Nachricht ergriff mich ganz eigen. Ich gestehe ehrlich, daß im ersten Augenblick ein selbstisches Gefühl überwog. Das Hinderniß, das zwischen mir und meinen Herzenswünschen gestanden, war aus dem Wege geräumt. Bald aber stellte sich mir das Bild des armen Verunglückten und des so entsetzlich getroffenen Mädchens in seiner jammervollen Erstarrung so lebhaft vor die Seele, daß ich noch denselben Abend einen langen Brief an sie schrieb, in welchem ich alle hier so nahe liegenden Trostgründe bei Seite ließ und nur vorbrachte, was Beraubten einzig und allein wohlthut: wie groß ihr Verlust sei, und wie ich selbst, so fremd ich gewesen, die Liebenswürdigkeit ihres jungen Freundes vollauf zu schätzen gewußt hätte.

In seinem nächsten Brief theilte mir der Bruder mit, seine Schwester sei über den Brief in Thränen ausgebrochen, da sie sonst mit heißen, trockenen Augen herumgehe. Vielleicht, wenn ich nun selbst käme –

Aber ich hütete mich wohl, dem Wink zu folgen.

Darüber schlief auch der Briefwechsel wieder ein. Der Sommer verging. Gegen den Herbst kam eine kurze Botschaft meines Freundes, die Mama habe sich entschlossen, mit Fränzel, die sich ein wenig beruhigt habe, doch immer noch allen Lebensfreuden unzugänglich sei, den nächsten Winter in der Stadt zuzubringen. Es sei für ein junges Mädchen unter allen Umständen, wie viel mehr unter diesen besonderen, nothwendig, sich in geselligen Kreisen bewegen zu lernen. In der Stadt wollten sie bei der uralten Großmutter, die zwar an ihren Lehnstuhl gebannt, aber noch völlig geistesfrisch war, ihre Wohnung nehmen und hofften, auch mich dort wiederzusehen.

Ich will mich kurz fassen. Was nun folgte, ist ja auch bekannt und ging ohne Geisterintervention mit rechten Dingen zu.

Meine heimlich Geliebte kam, eine Andere, als ich sie verlassen, ernster, schlanker, mit einer stillen, sanften Freundlichkeit gegen mich, die all meine Hoffnungen belebte. Nun, und am Ende des Winters, nachdem sie hinlänglich Gelegenheit gehabt, meine guten und schlechten Seiten gegen einander abzuwägen, entschloß sie sich denn doch, auf alle Gefahr es mit mir zu wagen, ein Entschluß, den zu bereuen sie nun zehn Jahre Zeit gehabt hat.

*

Fishing for compliments! sagte die hübsche, kluge Frau lächelnd. Aber ich werde meinem Herrn Gemahl nicht den Gefallen thun, aus der zehnjährigen Schule zu schwatzen und ihm ein Zeugniß auszustellen. Seine schlimmsten Fehler sind freilich mit seinem ärztlichen Beruf zu entschuldigen. Was hat so eine Doctorsfrau von ihrem Mann, der die ganze leidende Menschheit ans Herz drückt! Da bleibt dem einsamen Weibe Zeit genug zum Heimweh nach der glücklichen Jugend, deren Muthwillen sich in die höchsten Bäume verstieg.

Nun, sagte der Hausherr, indem er dem Arzt zunickte, wir sind Ihnen jedenfalls dankbar, werther Freund, daß Sie das liebenswürdige Waldlachen uns in die Stadt geholt haben, wo es freilich gedämpfter klingt, doch immer noch sein dankbares Echo findet. Und ich insbesondere habe Ihnen zu danken, da Sie uns mit Ihrer Erzählung aus der unheimlichen Luft des Zwischenreichs in die nüchterne Morgenkühle des wirklichen Lebens hinausgeführt haben. Meines Erachtens würde sich all und jeder optische oder akustische Spuk genau so wie jener in Wohlgefallen auflösen, wenn die kurzsichtigen Beobachter ihre Brille nicht zu Hause gelassen hätten.

Es thut mir leid, Verehrter, sagte der Arzt mit einem raschen Blick auf seine Frau, ich muß aber diese günstige Meinung von unserm unanfechtbaren Verhältniß zur Geisterwelt ablehnen. Denn die Geschichte hat noch ein gespenstiges Nachspiel, das in Kurzem folgendermaßen verlief.

Wir hielten unsere Hochzeit in der Stadt. Die Großmama mußte doch dabei sein und war zu unbehülflich mit all ihren Gebrechen, um sich zu einer Reise nach dem Gut aufraffen zu können. Gleich nach dem stillen Fest im Familienkreise traten wir die übliche Hochzeitsreise an, zu der ich mir einen Urlaub von vier Wochen erwirkt hatte.

Es litt uns aber, so schön die Welt ringsum war, nur vierzehn Tage in der Fremde. Meine liebe Frau verlangte zu ihrer Mutter zurück, nach den Tummelplätzen ihrer glücklichen Jugend, nach denen sie ja eben erst wieder ein Heimweh eingestanden hat.

Auch mich zog es dorthin. Ich war damals wie nach einer verlorenen Schlacht aus dem traulichen Hause weggegangen; nun reizte es mich, als Sieger wieder einzuziehen.

Wir kamen am Abend an, fanden die Mutter und den Schwager in bestem Wohlsein, hatten von unsern ersten zwei Flitterwochen nur das Hübscheste zu erzählen, und doch – zum ersten Mal, seit sie die Meine geworden, war das Gesicht meiner Frau Liebsten nicht so heiter wie sonst. Als wir wieder allein waren, befragte ich sie um den Grund. Sie gestand mir ehrlich, die Erinnerung an den armen Jugendgespielen habe sich ihr so übermächtig aufgedrängt, es sei ihr zu Muth, als könne sie ihres Glücks nicht mit gutem Gewissen froh werden, da er aus der Welt gegangen, ohne die besten Freuden eines gesunden Menschenkindes genossen zu haben.

Ich suchte sie mit allerlei Weisheit über diese Stimmung hinwegzubringen. Es war umsonst. Sie blieb still und beklommen, stand lange am Fenster und betrachtete den Sternenhimmel, seufzte zuweilen und fing an, mir Sorge zu machen.

Am andern Morgen aber war dies Wölkchen an unserm Ehehimmel verschwunden. Wir begleiteten Schwager Hubert durch seine Wirtschaft, an deren Wachsthum ja auch sein Landkind von Schwester lebhaftes Interesse hatte, bewunderten die neuen Kühe aus dem Algäu und die Rambouillet-Schafe, die inzwischen angeschafft worden waren, und brachten den erfreulichsten Appetit vom Vorwerk mit heim. Ein paar Flaschen Röderer, von denen auch die beiden Damen ihr bescheiden Theil in Anspruch nahmen, brachten uns in die fröhlichste Stimmung, und wir trennten uns endlich, um eine kleine Siesta zu halten.

Franzisca, da sie die Nacht unruhig zugebracht hatte, fiel in einen tiefen Schlaf, in dem ich sie nicht störte, zumal ich endlich allerlei aufgeschobene Correspondenz zu erledigen wünschte. Als ich damit fertig war und nach ihr sah, war sie nicht mehr in ihrem Zimmer. Die Mamsell sagte, die Frau Doctorin sei vor einer halben Stunde fortgegangen, in der Richtung nach dem Waldthal. Es war mir nicht ganz recht, ich fürchtete, die alten Erinnerungen möchten sie dort wieder heimsuchen. Jedenfalls wollte ich sie nicht lange allein lassen und schlug den Weg nach den Ahornbäumen ein, deren Wipfel mir wie an jenem ersten Abend entgegenleuchteten.

Aber wie erschrak ich, als ich noch nicht weit von dem Parkgitter entfernt meine Frau in athemlosem Lauf und doch wie in tiefer Erschöpfung daherkommen sah, so blaß und entgeistert, mit scheuen Augen irr um sich her spähend, daß es völlig den Anschein hatte, als flüchte sie vor irgend einem Verfolger, der ihr auf dem Fuße nachsetze. Ich rief ihren Namen und lief nun selbst so schnell ich konnte und hatte sie gerade erreicht, als ihre Kräfte sie verließen und sie in meinen Armen halb ohnmächtig zusammenbrach.

Als sie sich wieder ein wenig gefaßt hatte und nun mit meiner Hülfe sich aufrichtete, ließ sie die ängstlichen Augen erst noch herumgehen, dann aber beruhigte sie sich soweit, daß sie mir erzählen konnte, was ihr begegnet war. Und nun trete ich das Wort an sie ab. Du selbst, liebe Frau, wirst ja am besten von deinem Abenteuer Rechenschaft geben können.

Ich kann noch immer nicht ohne ein leises Grauen daran denken, sagte die Doctorin. Mein Mann hat mir ausreden wollen, daß es etwas Anderes gewesen sei, als eine innere Empfindung, die ich in meiner Erregung – wie sagtest du doch gleich? – nach außen projicirt hätte. Aber so sehr ich mir auch Mühe gab, zu beobachten, ob es von innen kam oder doch außer mir auf meine Sinne wirkte, es war zu deutlich ein Sinneseindruck wie alle andern, und mag es gewesen sein, was es wolle – der Eindruck auf mein Gemüth blieb sich gleich.

Ich war freilich voll trauriger Gedanken, als ich meinen Gang nach dem Waldthal antrat. An die alten Zeiten dacht' ich, die ich dort verlebt hatte – kaum Jahr und Tag lagen sie hinter mir und schienen doch weit, weit vom heutigen Tage entfernt – und ich begriff nicht, seitdem ich eine ehrbare Gattin geworden war, wie ich es so wild hatte treiben können. Und dann dacht' ich an meinen armen guten Kameraden, ein wie prächtiger Junge er gewesen war, dessen Werth Niemand so gut kannte wie ich, und wie sein leidenschaftliches einsames Herz an mir gehangen hatte, und daß es bei allem Unglück ein Glück für ihn gewesen, so kläglich um sich zu kommen. Denn wenn er leben geblieben wäre und mich doch eines Tags an einen Andern hätte verlieren müssen, – ich bin fest überzeugt, er wäre dann zu Grunde gegangen. Ob ich aber trotzdem das mir selbst abgelegte Gelübde, ihn nie zu verlassen, standhaft gehalten hätte? – Schon in jenen ersten Tagen hatte ich gefühlt, daß es mir ein Opfer war, und wenn ich hätte glauben müssen, ich würde den Freund meines Bruders unglücklich machen, wenn ich dabei bliebe, überhaupt nicht zu heirathen – aber das waren ja nun sehr überflüssige Selbstquälereien.

Genug, ich dachte jetzt mit ruhiger Wehmuth an meinen Spielgefährten, doch nicht im Mindesten mit irgend einer unheimlichen Ahnung. Und nun denken Sie: wie ich ziemlich nah an den Eingang des Thals herangekommen war und zu unsern zwei Bäumen hinaufsehe, höre ich auf einmal einen leisen, aber ganz deutlichen Klang aus dem Wipfel des seinigen, der der höhere war. Es war wirklich ein Lachen, wie er gelacht hatte, nur gedämpft, wie aus viel weiterer Ferne, auch nicht laut genug, um das Echo zu wecken, und nicht lange währte es, so wurde es noch leiser und klang nun wie ein Wimmern, oder richtiger, wie wenn Jemand Schmerzen hat und durch ein gezwungenes Lachen sich und Andere darüber täuschen will.

Ich blieb wie von Schrecken gelähmt stehen, wollte gern fort, mußte aber immer hinaufhorchen, auch als der jämmerliche Ton wieder in einen helleren umschlug. Jetzt aber klang's wie ein scharfes, schneidendes Hohngelächter; nicht lange, dann verstummte es auf einmal ganz.

Mir war eiskalt geworden, der Angstschweiß stand mir auf der Stirn, ich wagte nur einmal einen flüchtigen Blick hinaufzuwerfen, schon gefaßt darauf, droben die wohlbekannte Gestalt zu erblicken; es war aber nur die leere Luft, von der der Wipfel sacht hin und her schwankte. Da nahm ich mich zusammen und kehrte um; die Kniee zitterten mir, ich hatte nur Einen Gedanken: mich zu meinem Manne zu flüchten.

Kaum aber hatte ich ein paar Schritte gethan, so hörte ich dicht neben mir etwas weit Grauslicheres, ein Klappern und Aufstampfen auf der harten Erde gerade wie vor Zeiten, wenn mein lahmer Kamerad auf seinen Krücken neben mir herstapfte. Ich fuhr mir mit den Händen übers Gesicht, ich dachte, es sei nur ein Traum und wollte mich selbst aufwecken, aber nein, ich wachte, ich hatte noch meine klaren fünf Sinne, und doch, doch hörte ich das schauerliche Geräusch, und je eiliger ich lief, je rascher klapperte es neben mir her, ein entsetzlicher Wettlauf begann, sogar wie ein leises Keuchen aus einer gepreßten Brust klang es neben mir – auch das war mir so bekannt! – und so taumelte ich mit gesträubtem Haar halb besinnungslos, die Augen zudrückend, obwohl nichts zu sehen war, auf der Straße dahin, bis ich meinen Mann erblickte und mit dem dunklen Gefühl, nun sei ich gerettet, völlig erschöpft zusammenbrach.

Als ich wieder zu mir kam und durch den Nebel meines Bewußtseins seine Augen auf mich gerichtet sah und die vertraute Stimme hörte, war auch das gespenstige Geleit verschwunden. Es dauerte eine Weile, bis ich wieder so viel Kraft hatte, den Weg nach Hause vollends zurückzulegen. Ich war aber so elend von dem Erlebten, daß ich gleich zu Bette mußte. Mein Bruder wollte mich necken mit meiner vermeintlichen Geisterseherei, brachte es aber doch nicht fertig, da er sah, wie ich noch litt. Bis ich einschlief, saß dann mein Mann und die Mutter an meinem Bette. Ich war so geängstigt, daß ich um keinen Preis allein geblieben wäre.

Am andern Morgen, nach einem tiefen, gesunden Schlaf, kam ich mir selbst recht schwach und thöricht vor, daß ich gestern von einer Hallucination, wie mein Mann es nannte, mich so in Schrecken hatte versetzen lassen. Ich legte mir nun selbst das Erlebte aus, als ob es nur eine etwas ungestüme Mahnung meines Gewissens gewesen sei, das sich mit meinen aufgeregten Sinnen verschworen habe, mich wegen einer versäumten Liebespflicht zu strafen. In meinem jungen Glück hatte ich vergessen, das Grab des unglücklichen Jugendgefährten zu besuchen; das wollte ich nun eilig nachholen.

Ich ging also, sobald ich angezogen war, in den Garten hinunter und band einen Kranz aus den schönsten Blumen. Im Stillen hegte ich die abergläubische Vorstellung, wenn der abgeschiedene Geist wirklich auf mich erzürnt sei, werde er sich durch das Todtenopfer versöhnen lassen. Ich sagte Niemand, auch meinem Manne kein Wort davon und stahl mich durch die Gartenthür ins Freie, schlug aber nicht den Weg nach dem Friedhof durchs Dorf ein, sondern umging in weitem Bogen an den Feldern entlang die Häuser und Hütten und erreichte mein Ziel unangefochten.

Als ich den Kranz auf das Grab niedergelegt und eine Weile daneben gekniet hatte, in stillen herzlichen Gedanken und dem Wunsch, daß der Todte nun ruhig schlafen möge, erhob ich mich mit erleichtertem Herzen und trat aus der Kirchhofsthür, den Heimweg auf der Dorfstraße zu machen, wo ich allerlei gute Bekannte begrüßen wollte.

Kaum aber hatte ich das Pflaster des breiten Weges betreten, so klang's wieder dicht neben mir, tok – tok – tok – tok, das Aufstampfen der Krücken, das hier so viel hundertmal sich hatte hören lassen, wenn der Knabe mich nach den Lehrstunden bei seinem Vater heimbegleitete.

So war mein Todtenopfer umsonst gewesen, der arme Geist heftete sich unerbittlich an meine Fersen, auch die hellste Morgenstunde konnte ihn nicht verscheuchen.

Entsetzt blieb ich stehen – sofort schwieg auch der Ton neben mir. Sobald ich den Fuß weitersetzte – tok – tok – tok – tok. Ich flüchtete zu einer Bank vor einem Bauernhause, die gute Frau, mit der ich immer freundlich gestanden hatte, kam heraus, mich zu bewillkommnen. Als sie mich todblaß und mit flackernden Augen dasitzen sah, erschrak sie und fragte, ob ich krank sei und womit sie mir helfen könne. Ich bat sie um ein Glas Wasser und stürzte es auf einen Zug hinunter. Es belebte mich sehr, ich faßte neuen Muth, und nachdem ich mich bezwungen hatte, eine Weile mit der guten Freundin zu plaudern, stand ich auf, meinen Weg fortzusetzen. Sogleich war auch das unsichtbare Geleit wieder bei der Hand. Nun bat ich die Bäuerin, mit mir zu gehen, daß ich mich auf ihren Arm stützen könnte. Aber ihre Gesellschaft bannte den Spuk nicht. Hört Ihr nichts, Mutter Weber? fragt' ich. Sie horchte mit verwundertem Gesicht. Was sie denn hören solle? Und dabei das schauerliche Accompagnement der Krücken so hart neben uns, daß es mir das Geplauder meiner Begleiterin übertönte!

Als wir an der Thüre des Gartens ankamen, verstummte der Ton. Weiter hatte Friedel mich nie begleitet; er hatte es immer abgelehnt, zu uns ins Haus zu kommen; da gehöre er nicht hin, sagte er eigensinnig. Und so fiel der Schauder von mir, sobald ich die Grenze unseres Besitzthums erreicht hatte.

Von dem Tag an war ich durch nichts zu bewegen, mich wieder hinauszuwagen. Auch die Begleitung meines Mannes konnte meine Furcht nicht verscheuchen, ja es schien mir erst recht gefährlich, mich gerade neben ihm draußen blicken zu lassen; ich hatte eine kindische Angst, als würde sich dann der Zorn des armen, eifersüchtigen irren Geistes gegen ihn wenden und ihm irgend ein Leids anthun. Lieber verurtheilte ich mich zu freiwilliger Gefangenschaft in Haus und Garten, so lange unser Besuch noch dauerte.

Daß mir hernach auch die Erinnerung an mein Mutterhaus durch das wundersame Erlebniß getrübt war, werden Sie begreifen. Selbst mein Herr Gemahl versuchte nicht mehr, mit seiner wissenschaftlichen Erklärung mir wegzudemonstriren, was mir eine so schauerliche Wirklichkeit war. Ich hatte lange zu thun, bis ich den Eindruck verwand. Bald aber kam mir eine andere, freudigere Bangigkeit zu Hülfe und lenkte meine Gedanken von dieser Heimsuchung ab: im Februar wurde unser kleiner Hubert geboren.

Damals begann unsere liebe Mutter an den Vorwehen der Krankheit zu leiden, die sie nach einem Jahr hinraffen sollte. Da sie nun das lebhafteste Verlangen äußerte, unser Kind zu sehen, überwand ich die Abneigung, die unheimlichen Stätten wieder aufzusuchen, und reiste sogar ohne meinen Mann mit dem Kleinen nach unserm Gut. Und nun denken Sie, wie seltsam: nachdem die Großmama das Bübchen, das für seine sechs Monate schon sehr kräftig entwickelt und aufgeweckt war, ein paar Tage hinlänglich bewundert hatte, konnte ich in meiner Muttereitelkeit den Wunsch nicht unterdrücken, mich auch bei den alten Bekannten im Dorf in meiner neuen Würde sehen zu lassen.

Ich gestehe, daß ich doch einen Augenblick einen leisen Schauer der Furcht verspürte, als ich die Gartenthür öffnete und das Kinderwäglein vor mir her lenkend die Dorfstraße betrat. Ich war gefaßt darauf, sofort wieder das Geistergeleit zu erleben und das ruhelose tok – tok zu hören. Es blieb aber Alles still. Der Kleine lag im Wagen und sah mit hellwachen, großen Augen um sich her, aus den Häusern kamen Weiber und Kinder, ihn anzuschauen – nichts Unheimliches wagte sich in die Nähe des rosigen Gesichtchens; der arme irre Geist wollte das Kind nicht entgelten lassen, was die Mutter ihm angethan. Und als ich am Nachmittag mit dem Buben auf dem Arm mich sogar nach dem Waldthal wagte, blieb es ganz still in dem Ahornwipfel. Vor dem unschuldigen Lachen des Kindes war das Waldlachen für immer verstummt.

*

Wir hatten uns von unseren freundlichen Wirthen verabschiedet, in jener erregten und zugleich gedämpften Stimmung, die einzutreten pflegt, wenn man das Grübeln über unlösbare Probleme endlich aufgiebt.

Ich war aber noch nicht die Treppe hinunter, als ich noch einmal umkehren mußte, um eine Abhandlung, die mir der Hausherr am Abend geschenkt, nicht zurückzulassen und dadurch den Verdacht zu erwecken, als ob ich auf diese Freundesgabe wenig Werth legte.

Als ich in das Gesellschaftszimmer wieder eintrat, fand ich die Hausgenossen, trotz der vorgerückten Stunde, noch beisammen. Der Hausherr ging, seine Cigarre ausrauchend, auf und ab, seine Frau und Schwägerin standen am Tische, einander abgekehrt, mit aufgeregten Mienen, die auf ein lebhaftes Gespräch schließen ließen, das mein Eintritt unterbrochen hatte.

Sie kommen gerade recht, lieber Freund, rief die Hausfrau mir entgegen. Sie müssen mir beistehen gegen diese beiden Verbündeten, die sich ein für allemal gegen alle Erscheinungen aus einer übersinnlichen Welt verstockt haben. Nun, von meinem Manne wundert es mich nicht. Der ist und bleibt ein Vertreter der exacten Forschung, und was sich der Natur mit Hebeln und mit Schrauben nicht abgewinnen läßt, negirt er frischweg, weil es ihm unbequem ist. Ich glaube fast, nachträglich schämt er sich sogar, daß er sich einmal in mich verliebt hat, weil es ihm schwer geworden wäre, für diese irrationale Thatsache eine wissenschaftliche Formel mit a² + b² zu finden. Aber Nelly, meine eigene leibliche Schwester, daß die so wenig Blutsverwandtschaft mit mir hat, um sich auf seine Seite zu stellen und alles Hereinragen einer höheren Welt für Sinnestäuschung zu erklären – es ist zu arg! Und du selbst, Nelly, ließest doch vorhin ein Wort fallen, als ob du auch eine Geistergeschichte erlebt hättest, und bist dann ganz still davon geworden.

Eben darum, Schwester, sagte das Fräulein mit einer schalkhaft geheimnißvollen Miene, wobei ein leichter Seufzer ihre Brust bewegte. Ich mochte vor den Uebrigen nicht eingestehen, daß ich selbst einmal in einer Spukgeschichte mitgespielt habe, weil ich noch jetzt nicht ohne Reue daran denken kann. Es war noch in der Pension, meine Kameradinnen alle schrecklich abergläubisch, so daß sie mich ansteckten. Nun hatten wir eine Lehrerin, Mademoiselle Mercier, ein Fräulein aus Südfrankreich, trotzdem aber un esprit fort. Sie lachte uns aus mit unsern sentimentalen Ahnungen, Orakelanrufungen und Aengsten an unheimlichen Orten. Das empörte uns. Wir fanden es so weiblich, so entzückend poetisch, mit allerlei idealen Wesen ätherische Beziehungen zu haben, und da verschworen wir uns, die Geisterleugnerin durch eine recht massive Gespensterkomödie an ihrer hochmüthigen Aufklärung irre zu machen. Ich werde mich hüten, diese kindische und zugleich frevelhafte Geschichte ausführlich zu erzählen. Genug, unser heimtückischer Plan glückte nur zu sehr, Mademoiselle mußte in Folge davon drei Tage lang das Bett hüten, mit Nervenkrämpfen, und nichts kam heraus. Wir aber waren auch gestraft; denn uns selbst war's dabei vor unserer Geisterschaft so bange geworden, daß wir Gefahr liefen, vor Gruseln aus der Rolle zu fallen. Seitdem habe ich keine Gespenstergeschichte hören oder lesen können, ohne zu denken, ob nicht ein Rudel übermüthiger Backfische oder anderer frecher Spaßvögel dahinter gesteckt habe, und mit meinem Respect vor einer höheren Welt ist es für immer vorbei, da ich kleines dummes Ding selbst einmal »hereingeragt« habe. –

Du bist also der Meinung, sagte ihre Schwester, es stecke jedesmal ein Betrug dahinter? Halten Sie mich nicht für so leichtgläubig, lieber Doctor, daß ich den spiritistischen Geisterbannern von Profession blindlings trauen möchte, Sie leben davon, daß die Welt betrogen sein will und daß selbst die höher Gebildeten eine verzeihliche Neugier fühlen, den Schleier, mit welchem das Jenseits für uns verhüllt ist, wenigstens an einem Zipfelchen aufzuheben. Auch schäme ich mich immer, wenn ich höre, wie wohlfeil die Menschen sich abspeisen lassen mit Offenbarungen aus einer vermeintlichen Geisterwelt, die so geistlos sind, daß sie höchstens von ganz ungebildeten und einfältigen Seligen ausgehen könnten. Nein, mein lieber Mann würde es mit Recht als einen Scheidungsgrund betrachten können, wenn ich diese Sorte von Materialisationen ernst nähme. Aber was wir heut Abend gehört haben – unsern Oberst haben wir doch wohl nicht im Verdacht, daß er uns ein Märchen habe aufbinden wollen oder wie ein hysterisches Medium sich das Alles zusammenphantasirt habe, so wenig wie unsern Professor, der seinen Spuk sogar am hellen Mittag gesehen und gehört hat. Und doch will Ludwig diese beiden Zeugen nicht als unverdächtig gelten lassen, und Nelly rümpft ihre hochmüthige kleine Nase. Helfen Sie mir, lieber Freund, die Ungläubigen zur Vernunft zu bringen.

Zur Vernunft, verehrte Freundin? erwiderte ich und konnte mich eines Lächelns nicht erwehren. Das wird schwer halten, da Ihre beiden Gegner ja gerade die Vernunft vertheidigen gegen die Anfechtungen irrationaler Vorstellungen. So viel muß ich Ihnen freilich zugeben: ich zweifle keinen Augenblick daran, daß die beiden Herren Alles, was sie von der schönen Abigail und Fräulein Blandine sahen und hörten, wirklich erlebt haben.

Ich wußt' es ja, unterbrach mich die lebhafte Frau mit einem triumphirenden Blick auf Gemahl und Schwester, Sie sind ein Poet, Sie müssen auf meiner Seite sein. Sie selbst haben uns ja den merkwürdigen Fall erzählt von Ihrer Erkrankung in Rom und der räthselhaften Wirkung derselben bis nach Berlin. Ja, es giebt wirklich Dinge zwischen Himmel und Erde –

Wer wird daran zweifeln, fuhr ich fort. Auch kein Naturforscher, der über sein Mikroskop und seine Retorten hinausdenkt. Aber man muß doch wohl unterscheiden. Fälle, wie der meinige, sind so unzählige Male vorgekommen, so über allen Zweifel hinaus festgestellt, daß es nicht mehr lange wenigstens an einer plausiblen Hypothese zu ihrer Erklärung wird fehlen können. Warum sollte man nicht z. B. einen Seelenäther annehmen, durch welchen von Individuum zu Individuum unter gewissen Voraussetzungen unsichtbare Verbindungsfäden hin und herlaufen, deren Schwingungen wie die des Lichts – aber Freund Ludwig lächelt ironisch. Ich höre schon auf, lieber Freund, in die Psychophysik hineinzupfuschen. Nur muß ich mich noch geschwind gegen das Mißverständniß verwahren, als hielte ich die Spukgeschichten des Obersten und des Professors für das, was man reale Thatsachen nennt. Erlebt haben die Herren ihre Abenteuer freilich, so gut wie das Lisabethle und der arme hinkende Knabe von den Damen erlebt worden sind, nur eben mit ihren inneren Sinnen, deren von Hirn oder Herz oder Nervencentrum ausgehende Eindrücke durch einen Selbstbetrug der Phantasie in äußere Wahrnehmungen verwandelt worden sind. Sie sehen, verehrte Frau, daß ich, so leid es mir thut, Ihre Bundesgenossenschaft nicht antreten kann. Wenn auch meine Ueberzeugung über die Fortdauer nach dem Tode nicht aus anderen Gründen feststünde, diese Visionen unserer Freunde würden sie nicht erschüttern.

Die liebe Frau sah mich kopfschüttelnd und mißbilligend an. Dann machte sie gute Miene zum bösen Spiel und sagte lächelnd:

Ich sehe, ich bin hier wie verrathen und verkauft. Dann erklären Sie mir wenigstens, wie zwei verständige, nüchterne Männer zu einem so groben Selbstbetrug kommen konnten.

Nüchtern? fiel ihr Gatte achselzuckend ein. Hast du nicht gehört, daß unser Oberst erst eine Flasche leichten Weins, dann einen besonders schweren und feurigen getrunken hatte? Und war der junge Doctor in dem bezauberten Garten etwa nicht halb benebelt von Hochsommerglut, Rosen- und Liliendüften und lyrischer Poesie, und das Alles ihm so zu Kopf gestiegen, daß er am hellen Mittag in seiner Jelängerjelieber-Laube einnickte? Als ob man immer so viel Stimulantien brauchte, um die schönsten Visionen oder Hallucinationen zu haben!

Mag sein, erwiderte die Frau. Aber wann ist es erhört, daß Träumende oder Visionäre so ausführliche, zusammenhängende Gesichte haben und sogar Dinge dabei erfahren, die sie von sich selbst nicht wissen konnten, und die sich hernach als wahr erweisen? Wie konnte unser Professor, wenn ihm auch das Gesicht und Costüm der Tante Blandine von dem Bilde her vorschweben mochte, aus ihrem Munde die Reden über ihr Schicksal vernehmen, die mit den ihm unbekannten Thatsachen übereinstimmten?

Verzeihen Sie, sagte ich, das klingt sehr triftig. Aber wer bürgt uns dafür, daß der Träumer dies Alles nicht hinterher, nachdem er erst davon erfahren, in seinen Traum eingefügt hat, als er ihn Anderen erzählte? Wenn wir uns selbst streng beobachten, finden wir nicht, daß wir bei jeder Wiedererzählung eines Traumes die gewöhnlich dürftigen Züge vermehren und selbst daran glauben, all diese schmückenden Zuthaten unserer Phantasie seien von vornherein darin enthalten gewesen? Mit der Zeit wächst dann ein ganz unscheinbares, oft ziemlich albernes Nachtgesicht zu einer phantastischen Dichtung an, die der Träumer selbst als ein völlig objectives Erlebniß betrachtet. Ich bin überzeugt, der Oberst hat sich, nachdem er das letzte Glas geleert, mit etwas schwerem Kopf erhoben, um in sein Hôtel zurückzukehren. Er hat dann den Weg verfehlt und sich zur Stadt hinaus bis nach dem Friedhof verirrt, dort eine Weile durch das Gitter in den mondbeschienenen Garten gestarrt, bis er endlich in Folge eines Ohnmachts- oder Schwindelanfalls hinsank und sich im Fallen die Lippe an den Eisenstäben verletzte. Vielleicht hat er nicht länger als zehn Minuten dort gelegen, lange genug, um den Nachtbesuch der schönen einstigen Geliebten zu träumen, deren Bild vor seiner Seele wieder aufgetaucht war. Als er dann wieder zum Bewußtsein kam und sich auf seinen Traum besann, krystallisirten sich ganz ohne sein Zuthun die einzelnen Momente dieses leidenschaftlichen inneren Erlebnisses zu einem kleinen novellistischen Ganzen, von dem er jetzt jede Einzelheit unbedenklich beschwören würde. Ist diese Erklärung nicht einfacher und denkbarer, als daß eine Todte sich aus ihrem Grabe erhebt, um einem ungetreuen Liebhaber eine Lection zu geben, dessen zufälligen Aufenthalt in ihrer Nähe sie doch höchstens erfahren haben könnte, wenn die abgeschiedene Gesellschaft auf jenem Friedhof den Localanzeiger läse und daraus erfahren könnte, welche Fremden in der Stadt angekommen seien?

Sie vergessen nur, sagte die Hausfrau, das Zeugniß des Immortellensträußchens, das auch die Zweifelsucht meiner vorwitzigen Schwester beschämte.

Und du glaubst wirklich, ein körperloser Geist, der höchstens einen sogenannten Astralleib angelegt hat, könne mit zwei Astralfingern einen leibhaftigen Blumenstrauß halten? sagte das Fräulein achselzuckend. Hättest du Ludwig damals ausreden lassen – er war auf dem Wege, auch diesen Beweis zu entkräften.

Das sollte ich billig unserm Doctor überlassen, sagte der Hausherr. Er muß ja wissen, wie man solche Lustspielverwicklungen auflöst. Na, ich bin nicht vom Métier. Aber ich denke mir, das Mädchen, das das Zimmer aufräumte, hat sich von den Rosen im Wasserglase zu einem kleinen Raube verführen lassen, die Immortellen aber sind von irgend Jemandem auf dem Sopha vergessen, von unserm Obersten schon vorher dort gesehen worden, ohne daß er gleich damals darauf geachtet hätte. Erst in seinem Traum tauchten sie wieder auf, nachdem sie früher unter der Schwelle des Bewußtseins, wie die heutige Psychologie es nennt, geruht hatten. Wie er nun nach Hause kam, die Rosen nicht mehr fand, dagegen das Strohblumensträußchen, combinirte seine Phantasie Beides mit unbewußter künstlerischer Folgerichtigkeit, und jetzt sollen wir daran glauben als an eine reale Thatsache! Ich wenigstens – selbst wenn einmal meine eigenen Sinne sich gegen mich verschwören sollten – ich werde Blumen, die mir angeblich aus dem Zwischenreich zum Präsent gemacht werden, nur dann für Geistergaben halten, wenn mich ein Botaniker versichert, ihresgleichen in keinem irdischen Herbarium angetroffen zu haben.

Ich strecke die Waffen, sagte die Hausfrau heiter, indem sie ihrem Gatten mit der Hand über die erhitzte Stirne strich, aber nur, weil wir endlich zu Bett müssen, wenn du morgen – will sagen heute früh nicht ganz entgeistert in dein Colleg gehen sollst. Uebrigens hast du mich höchstens überredet, aber lange nicht überzeugt. Wir wollen uns das Wort geben, über hundert Jahre wieder zusammenzukommen, geistweis oder mittelst der Seelenwanderung. Dann wissen wir hoffentlich etwas mehr von diesen Dingen. Sind Sie auch von der Partie, lieber Freund?

Ich versprach es lachend, und bin nun selbst begierig, ob ich im Stande sein werde, Wort zu halten.


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