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Entsagende Liebe

(1901)

 

Der December war sehr sonnig und mild. In den Gärten blühten noch Rosen, die gesunden Wintergäste stiegen fleißig in den Bergen herum bis zur Madonna della Neve und dem Gipfel des Pizzocolo, die Kranken wandelten oder saßen Stunden lang auf der Kurpromenade, dem sogenannten Viale, der, über der Landstraße erhöht, von Gardone aus bis nach Fasano hinläuft, an der einen Seite durch Gärten und terrassenförmige Olivenhalden begrenzt, auf der anderen durch ziemlich dicht gepflanzte junge Stämmchen immergrüner Gewächse. Niemand wollte noch so recht an den Winter glauben.

Regelmäßig um die elfte Vormittagsstunde verließen drei hochgewachsene Gestalten das Gartenthor des großen Hôtels und beschritten langsam die um diese Zeit warmbesonnte Promenade. Zwei Herren, zwischen denen eine reizende junge Dame auf den zierlichsten Füßen dahinwandelte, anfangs mit elastischer Lebhaftigkeit, bald genug so sichtbar ermattet, daß sie auf der nächsten Bank Rast halten mußte. Die Herren, die sie begleiteten, verhielten sich dann verschieden. Der ältere, ein stattlicher Mann, der die Vierzig nicht weit hinter sich haben konnte, ließ sich neben ihr nieder. Der jüngere, ein sehr elegant gekleideter, auffallend hübscher junger Herr, dem die Blässe des Gesichts gleichwohl nicht den Anstrich eines Kranken gab, blieb vor dem sitzenden Paare stehen, spielte mit seinem Stock, der aus einer Weinrebe mit silbernem Griff gearbeitet war, und plauderte, offenbar in der besten Laune, weiter, da er sehen konnte, daß die junge Frau sehr dankbar für die Bemühung war, mit seinen Scherzen ihr über die Empfindung der versagenden Kraft hinwegzuhelfen.

Sie erhob sich dann wieder, den Spaziergang fortzusetzen, wobei sie ihren Arm nicht unter den des älteren Herrn schob, sondern sich nur leicht mit der behandschuhten kleinen Hand auf ihn stützte, mit der anderen auf ihren zierlichen Spazierstock. Der jüngere Herr blieb an ihrer rechten Seite und fuhr fort, lebhaft in sie hineinzureden, während der ältere in ernsten Gedanken stumm vor sich hin sah.

So oft ich dieser Gruppe begegnete, was fast täglich geschah, fesselte mich immer von Neuem das Gesicht der jungen Dame, nicht sowohl durch eine ungewöhnliche Schönheit der Züge, als durch einen seltsamen Gegensatz zwischen dem Ausdruck des Mundes und den Augen. Diese waren das Schönste in dem blassen Leidensgesichtchen, groß und tief saphirblau, lang bewimpert mit braungoldenen Härchen, das Weiß noch von kinderhafter Bläue. Aber sie hatten einen so eigen starren, langen, ins Weite gerichteten Blick, als suchten sie beständig irgend etwas im Weiten, das sie nicht zu entdecken vermöchten. Über dieser vergeblichen Mühe wurden sie so traurig, daß sie in Thränen überzufließen drohten, wozu es jedoch niemals kam. Denn im vollen Widerspruch zu ihnen war der rothe Mund mit den zart geschwungenen Lippen beständig zum Lachen oder Lächeln halb geöffnet, und zwar, wie mir scheinen wollte, nicht in einer künstlich erheuchelten Grimasse, sondern so aufrichtig zur Heiterkeit aufgelegt, wie es ohne die Krankheit das gute Recht dieser dreiundzwanzig Jahre gewesen wäre.

Man war auch sonst geneigt, dem lachenden Munde Recht zu geben gegen die schwermüthigen Augen. Denn wer die reizende Gestalt, in die pelzverbrämte, eng anschließende Sammetjacke geschmiegt, auf dem reichen braunen Haar ein kokettes Pelzmützchen, darunter das vom frischen Hauch der Sonne geröthete liebliche Gesicht nur flüchtig betrachtete, konnte sich nicht vorstellen, daß dieser jungen Menschenblüte kein langer Sommer und milder Winter beschieden sein sollte. Und sie hatte einen so warmen Klang in der Stimme, ein so morgenhelles Lachen – vergebens wurde sie von ihrem älteren Begleiter daran erinnert, daß der Arzt ihr das Sprechen im Gehen verboten hatte – klang das nicht Alles nach übersprudelnder Lebenslust und Lebenskraft? Bis sie dann auf einmal nach einem kurzen, trockenen Hüsteln jäh verstummte, ihr Battisttüchlein an die Lippen drückte und still stand. Die traurig-klugen Augen behielten doch wieder Recht gegen den lachlustigen Mund.

Von einem alten, weißhaarigen Herrn, den ich zuweilen in ihrer Gesellschaft gesehen hatte, erfuhr ich, was es mit diesen drei Unzertrennlichen für eine Bewandtniß hätte. Ich hatte seine Bekanntschaft auf einem Spaziergang über einen der herrlichen Höhenwege gemacht, und unsere gemeinsame Bewunderung des Ausblicks über den schimmernden See zu den frisch bereiften Berggipfeln hinüber hatte uns die Zungen gelös't.

Er war Arzt, hatte eines leichten, aber hartnäckigen Halsleidens wegen seine Praxis aufgeben und für den Winter in ein milderes Klima flüchten müssen.

Für mich ist es milde genug, sagte er, und an mir altem Knorren ist ja auch nichts mehr zu schonen oder zu retten. Zum Blühen brächte ich's auch in den Tropen nicht mehr. Aber diese liebe junge Frau – ich war nicht eigentlich ihr Hausarzt, da nach ihrer Verheirathung ihre zärtliche Mutter darauf bestand, ihr eigener langjähriger Arzt müsse das Töchterchen behandeln. Der Mann aber, dessen Familie ich seit dreißig Jahren berathen hatte, gab mir darum nicht den Abschied. Und wenn ich auch meinem Collegen die Sorge für die junge Hausfrau überlassen mußte, ich erfuhr ja von ihm so viel ich wissen wollte, und die Diagnose war leider auch ohne eigene Auscultation und Percussion unzweifelhaft.

Sie sei zu früh in die Ehe gekommen, habe ein todtes Kind zur Welt gebracht, dann erst, nach drei, vier Jahren, ein zweites, dessen überkräftiges Leben der Mutter zu viel von ihrem eigenen entzogen habe. Da habe sich eine tiefe Erschöpfung in ihrer Natur eingenistet, seltsame hysterische Zufälle, und auch die Brust sei mit angegriffen worden. Der Mann, der sie mit einer Leidenschaft vergöttere, wie sie seiner sonst nüchternen Natur völlig fremd zu sein scheine, habe nach dem Ausspruch des Arztes darauf bestanden, sie nach Madeira zu bringen, dem einzigen Ort, wo auf eine Abwehr der drohenden Gefahr und eine vollständige Heilung zu rechnen gewesen wäre. Sie aber habe, da sie ihr Kind bei der Mutter hatte zurücklassen müssen, von einer so weiten Trennung nichts wissen wollen und sich nur zu einem Winteraufenthalt in Gardone verstanden. Das sei nun eine halbe Maßregel, für beide Gatten unheilvoll. Der Mann, Stadtrath L**, an Arbeit gewöhnt, Besitzer einer großen Fabrik am Niederrhein, sei hier nicht so weit von Hause entfernt, um nicht doch immer in Versuchung zu gerathen, durch briefliche Anordnung sich an seinem Geschäft und den städtischen Angelegenheiten zu betheiligen, was manche Unzukömmlichkeiten mit sich bringe. Die junge Frau werde beständig aufgeregt durch die Möglichkeit, in vierundzwanzig Stunden ihr Baby zu erreichen, und finde den Aufenthalt hier überdies so eintönig, daß sie trotz der großartigen Natur sich wegwünsche. Da wäre ihr eine Verbannung nach Madeira, wo so viel Fremdes und Neues sie umgeben hätte, eine ganz andere Wohlthat gewesen.

Was sie einzig noch über die Langeweile der Tage, die sie auf dem Balcon in Decken eingehüllt verdehnen müsse, hinwegbringe, sei die Gesellschaft des »Dritten im Bunde,« eines jungen Architekten, der ihnen ihre schöne, vielbeneidete Villa hoch überm Rhein gebaut habe. Ein sehr liebenswürdiger, gescheidter und heiterer Mensch, durch einen Fall vom Gerüst ziemlich schwer verletzt, so daß ihm nach der Heilung eine wunderliche Nervenschwäche zurückgeblieben sei. Man habe ihm ein ganzes Jahr der tiefsten Ruhe verordnet, um ihn wieder arbeitsfähig werden zu lassen. Und da der Villenbau ihn auch gesellig dem Ehepaar nahe gebracht, sei der Entschluß sehr natürlich gewesen, seine »Strafzeit« an demselben Ort abzubüßen, wo die junge Frau überwintern sollte.

*

So viel hatte ich von dem alten Arzt erfahren und betrachtete nun die Drei, wenn ich ihnen begegnete, mit doppeltem Interesse.

Das sollte aber nicht lange der Fall sein. Bald nach Weihnachten schlug das Wetter um. Schwere Nebel zogen über den »ewig blauen Himmel des Südens«, um den uns die Freunde im Norden beneideten, herauf, und viele Wochen lang sahen wir die Sonne höchstens ein paarmal wie ein schwaches, röthlich glimmendes, verweintes Auge durch die graue Decke des Firmaments blicken.

Der Viale war verödet, die gesunden Wintergäste pendelten mit hochgezogenem Mantelkragen, nur der Pflicht gehorchend, unter den triefenden Bäumchen auf und ab, und die Optimisten unter ihnen priesen nichtsdestoweniger das Klima von Gardone wegen seiner Windstille. Die Kranken blieben zu Hause, und wer einen guten Ofen hatte, steckte nach und nach ein kleines Vermögen an Olivenholz hinein.

Zu diesen gehörte natürlich das Ehepaar mit dem jungen Hausfreunde, eine Zeitlang sogar auch mein guter alter Doctor.

Als ich ihm endlich einmal wieder begegnete, fand ich ihn nicht in der besten Laune.

Er habe die ganze Zeit mit einer dummen Erkältung das Zimmer hüten müssen und schwer an Langerweile gelitten. Seine Augen ertrügen es nicht, den ganzen Tag zu lesen, und Gesellschaft habe er nur selten gehabt. Denn die Scatpartie mit seinem Freunde, dem Stadtrath, und dem Architekten habe aufgehört. Der Arzt der jungen Frau habe darauf bestanden, da ihr Zustand sich verschlimmerte und der Wirth in der Regel nur Reconvalescenten oder Nervenkranke bei sich aufnähme, daß sie das Hôtel verlassen und in sein Sanatorium übersiedeln müsse, jenes Haus, das unter dem Namen »Villa Primavera« oben in Gardone di sopra liegt und wo er diejenigen seiner Patienten unterbringt, die er in beständiger Aufsicht zu halten wünscht. Das sei im Hôtel nicht möglich, wo er auch die Kost und sonstige Pflege nicht so genau zu überwachen im Stande sei. Oben könne sie die vollständige Ruhe genießen, die nöthig sei, wenn sie genesen solle.

Da sei sie denn schon Mitte Januar hinaufgebracht worden. Ihr Gatte habe sein Quartier unten behalten, da der Arzt auch die Trennung von ihm wünschenswerth gefunden habe. Doch eine mitgebrachte treue alte Dienerin und eine hier gemiethete Kammerjungfer, eine Schweizerin, blieben droben der Frau zur Seite. Um ihr aber die Weltabgeschiedenheit in diesem Asyl ein wenig erträglicher zu machen, da die Besuche des Gatten nur immer auf kurze halbe Stunden beschränkt bleiben müßten, habe sich auch der Architekt zu dem Opfer entschlossen, ein Zimmerchen droben zu beziehen. Auch ihm war ja verordnet worden, die längsten Stunden des Tages müßig auf einem Ruhebett zuzubringen – wenn die Witterung es irgend zuließ, im Freien, was ja auch für die Schwerkranken gestrenge Vorschrift war.

Konnte also von heiterem Geplauder nicht viel die Rede sein, so war es für die junge Frau doch ein tröstlicher Gedanke, noch außer der alten Dienerin eine befreundete Seele in der Nähe zu wissen.

Dennoch, sagte der alte Arzt, bin ich nicht sicher, ob die Gefahr, die in dieser Leidensgenossenschaft liegt, den Vortheil derselben nicht überwiegt. Ich zweifle nicht an dem ehrlichen guten Willen der Beiden, die Temperatur ihres Verhältnisses den geziemenden Grad nicht übersteigen zu lassen. Aber gerade in Fällen hochgradiger Hysterie treten nur allzu oft seltsame Erscheinungen auf, psychische Erregungszustände, die aller psychologischen Weisheit und Voraussicht spotten. Ich selbst habe einmal eine durchaus ehrwürdige Frau nahe an den Fünfzig behandelt, die plötzlich zu ihrer eigenen tiefen Beschämung eine zärtliche Neigung zu ihrem Bedienten fühlte, einem unansehnlichen, ziemlich stupiden Menschen, dessen Gestalt sich aber ihrer Phantasie dermaßen bemächtigte, daß sie sich nur durch seine Entlassung zu retten wußte.

Ich habe, fuhr er fort, dem Manne Andeutungen gemacht; er legte aber kein Gewicht darauf, obwohl er sonst von Eifersucht nicht ganz frei ist. Und dann, sagte er, was wollen Sie, lieber Freund, daß ich thun soll? Ellen hat den Vorschlag unseres jungen Freundes so sichtlich erfreut angenommen – würden Sie den Muth haben, ihr die Freude wieder zu verderben?

Nein, den Muth hatte ich allerdings nicht. Und dann glaube ich auch den Charakter Veit's genug zu kennen, um zu wissen, daß er keiner niedrigen Handlung fähig ist gegen einen Mann, dem er so viel Dank schuldet. Er hat ja schon bei seinen Studien allerhand Unterstützung von ihm genossen. Nur eine gewisse Aufregung fürchte ich für die junge Frau, wenn sie sich da oben, vom Leben der Tageswelt abgeschieden, gleichsam in einem moralischen Zwielicht befinden wird, wo alle möglichen Phantasmen Macht über sie gewinnen können.

*

Mir selbst, mit meiner Novellistenphantasie, schien die Sache nicht ganz geheuer.

Ich bekam aber einen ganz anderen, beruhigenden Eindruck, als ich an einem der milden Sonnentage, die der Februar brachte, durch den Garten der Villa Primavera schlenderte und zwischen den schönen Palmen, Magnolien und seltenen Coniferen langsam bis zur Höhe des Hauses selbst hinaufstieg.

Hie und da auf den Wiesen fand ich schon Crocus, Veilchen und Immergrün, die Büsche waren voll dicker Knospen, die letzten Oliven wurden den hohen Bäumen von den Zweigen gestreift. Und was an Vögeln nicht der unsinnigen Jagdlust dieser Südländer zum Opfer gefallen war, sang hoffnungsvoll dem Frühling entgegen.

Ganz oben aber, auf dem Kiesplatz vor dem Hause, der jetzt von warmem Licht überflutet war, traf ich sechs oder sieben blasse, in Decken gewickelte Patienten, die, lang ausgestreckt auf ihren Ruhebetten, keiner anderen Beschäftigung oblagen, als die köstlich reine, staubfreie, mild durchsonnte Luft einzuathmen.

Unter ihnen erkannte ich sofort das junge Paar, das meine Theilnahme gewonnen hatte, das Gesicht der Frau nur noch ein wenig zarter und durchsichtiger als früher. Ein großer chinesischer Sonnenschirm war hinter ihr befestigt, dessen rothe Blumen in der Sonne leuchteten. Der zarte Schatten fiel über ihr halbes Gesicht, das eigenthümlich reizvoll erschien, Mund und Augen nur halb geöffnet, aber mit einem süßen, fast schelmischen Ausdruck, bei dem ein Grübchen auf der einen Wange hervortrat. Ein kostbarer brauner Pelz bedeckte sie von den Hüften bis über die Füße, der Oberkörper war in eine weiche türkische Decke gewickelt, über die ihr reiches braunes Haar aufgelös't herabhing, ein seidenes, golddurchwirktes Tuch um den Kopf geschlungen. So lag sie, die Hände fest unter der Pelzhülle, wie eine Prinzessin aus Tausend und Einer Nacht, regungslos. Etwa zwei Meter weit von ihr getrennt hatte sich der junge Leidensgefährte sein Lager bereitet, ebenfalls gegen die Frühlingsschauer wohl verwahrt. Er aber, da er weniger empfindlich und nicht wie sie zur äußersten Schonung verpflichtet war, hielt in den freien Händen ein Zeitungsblatt, die Nummer irgend eines illustrirten Witzblattes, aus dem er seiner Nachbarin vorzulesen schien, wenn er etwas Lustiges fand. Ich hörte, da ich langsam vorüberging, ohne daß die Beiden mich beachteten, nur einmal das wohlbekannte helle Kinderlachen der jungen Frau. Die Gruppe sah, im Gegensatz zu den Anderen, die hier ihre stillen Luftexercitien fortsetzten, so heiter und liebenswürdig aus, daß Niemand in dieser nachbarlichen Munterkeit nur einen Hauch von leidenschaftlicher Empfindung wittern konnte.

Als ich dann durch die Hofthür hinausging, sah ich auf dem schmalen Sträßchen, das von unten neben der hohen Gartenmauer heraufführt, meinen alten Doctor daherkommen, Arm in Arm mit dem Stadtrath. Ich blieb stehen, die Herren zu begrüßen, der Doctor stellte uns einander vor und sagte, sie wollten eben der jungen Frau ihren Morgenbesuch machen. Nachmittags komme der Gemahl allein, immer nur auf eine halbe Stunde.

Der Mann hatte sich stumm verneigt. Er schien nicht begierig nach einer längeren Unterhaltung. Wie ich ihn jetzt, nachdem ich ihm eine Weile nicht begegnet war, genauer betrachtete, erschien er mir selbst wie ein Kranker, das wohlgebildete, männliche Gesicht mit dem kleinen Backenbart grauer und hagerer, die ernsten Augen tiefer in ihren Höhlen. Er trug einen kleinen Strauß von Veilchen und Cyclamen, aus einem Treibhause oder dem Nizzaer Blumenmarkt stammend, in ein Seidenpapier gehüllt in der Linken. Auf meine Bemerkung, ich hätte im Vorbeigehen seine Gattin gesehen und mich ihres guten Aussehens und heiteren Lachens gefreut; sie habe mich an eine junge Frau in München erinnert, die in Davos auch durch eine solche Luft- und Sonnenkur vollständig wieder hergestellt worden sei, – zuckte er nur mit den Achseln und sagte, indem er sich zum Abschied wieder verneigte: Wir wollen's hoffen!

Dann betraten sie den Hof, und ich setzte meinen Weg auf der Höhe von Gardone fort, auf dem sogenannten Lorbeerweg, der sich an die letzten Häuser anschließt.

Ich gelangte auf ihm nach wenigen hundert Schritten zu der schmalen Cypressenallee, hinter der das Friedhofsthor sich aufthut. Durch das verschlossene Gitter blickte die Grabkapelle an der Wand gegenüber und die kahlen, von keinem Grün umschatteten weißen Denksteine und kleinen Obelisken auf den Weg herab. Und draußen war es so warm und freundlich. An allen Hecken sprossen die kleinen Frühlingsblüten hervor, in den Reben- und Olivengärten zur Linken wurde fleißig gearbeitet, und die Luft war erfüllt mit dem kräftigen, aromatisch süßen Geruch der Lorbeerbäume, deren blanke Blätter sich still in der reinen Sonnenluft wiegten.

Ich war nicht weit gegangen, so hörte ich Schritte hinter mir; mein alter Doctor holte mich ein, mit einem bekümmerten Ausdruck in dem guten, klugen Gesicht.

Ob er die Kranke beunruhigender gefunden, fragte ich ihn.

Er schüttelte den Kopf, indem er sich auf einer Bank am Wege niederließ und mit einer Handbewegung mich einlud, neben ihm Platz zu nehmen.

Über das Schicksal der armen Frau, sagte er, habe ich mich längst resignirt, obwohl der Arzt noch Hoffnung macht und den Zustand der Lunge nicht einmal für so verhängnißvoll hält, wenn keine neuen Complicationen hinzukommen. Aber seltsam, so ein alter Praktikus ich bin und an den Anblick menschlicher Hülflosigkeit in Kliniken und Lazarethen gewöhnt, – dieses Bild junger, blasser Menschen, die so hoffnungsvoll in der Sonne liegen, erschüttert mich jedesmal von Neuem. In dem Halbtraum, der sie da nach und nach überschleicht, vergessen sie, wie ernst es meistentheils mit ihnen steht, Viele werden ganz aufgeräumt, – Frau Ellen haben Sie ja selbst lachen hören über die dürftigen Späße der »Fliegenden Blätter«, die ihr Nachbar ihr vorlas. Und sie thut gut zu lachen. Il riso fa buon sangue, sagen die Italiener. Manch Einer lacht sich auch vielleicht gesund, und ich kenne selbst Einige unter ihnen, die aus dieser »Frühlingsvilla« hoffen dürfen in einen heiteren Lebenssommer zurückzukehren. Für Andere aber ist's wie ein Wartesaal auf der letzten Station ihrer Fahrt ins Jenseits. Mit solchen Gedanken kommt auch mein Freund hier herauf. Auch die Blumen, die er täglich seiner Frau auf den Schooß legt, haben so einen Abschiedsgeruch, und es kostet ihn eine ungeheure Anstrengung, sich's nicht merken zu lassen.

Ich bemerkte, wie verändert ich ihn gefunden hätte.

Kein Wunder, bei diesem Leben! Er ist an scharfe Thätigkeit gewöhnt. Eigentlich dachte er nicht daran, die Fabrik seines Vaters einmal zu übernehmen, er studirte Jus, und sein Ehrgeiz ging auf eine Docentenlaufbahn. Dann starb der Papa, die Verhältnisse erwiesen sich sehr verworren, der Fortbestand der Fabrik durch die große Schuldenlast bedroht. Da setzte er seine ganze Kraft und sein strammes Pflichtbewußtsein an die Sanirung und Hebung des väterlichen Werks und brachte es auch in zehn harten Jahren glorreich zu Stande. Er hatte bei seinen Mitbürgern so großen Einfluß und so hohe Achtung gewonnen, daß sie ihn zum Stadtrath wählten, wozu ihn auch seine juristischen Kenntnisse befähigten. Gegönnt hat er sich in der ganzen Zeit weder eine Erholung noch ein Vergnügen. Erst als er mit seinem Vorsatz durch war – jetzt kein Jüngling mehr –, fiel ihm ein, daß der Arbeiter wohl auch seines Lohnes werth sei. Da begegnete ihm das reizende junge Mädchen, die erste Leidenschaft seines Lebens, und nun ruhte er nicht, bis er sie sich errungen hatte, nicht ganz glatt und leicht. Denn er verstand nicht, den schmachtenden Liebhaber zu machen, er hatte als Student über seine Bücher nicht viel hinausgeblickt, als Fabrikherr Tag und Nacht andere Sorgen gehabt.

Und nun werden Sie begreifen, wie ihm zu Muth ist: von der Frau, über deren Verhängniß er trotz aller tröstlichen Versicherungen des Arztes und der Tage, in denen das Leiden stillsteht, sich keine Illusionen macht, bis auf die kurzen zwei Besuche getrennt, ohne Arbeit im Hôtel seine Stunden verbrütend oder auf weiten Kletterwegen seine Glieder ermüdend. Zerstreuungen, Unterhaltungen, und wär's nur durch eine obligate Kurmusik, die mir übrigens ein Greuel ist, giebt es ja nicht in diesem jungen »klimatischen Kurort«, der weder von der Commune noch von der Provinz irgendwie in seinem Aufstreben unterstützt wird; als ob man alles Weitere, was an anderen Orten für leidende Wintergäste geschieht, getrost der Mutter Natur und dem Vater Monte Baldo überlassen könnte! Dazu täglich mit anzusehen, daß sie selbst nichts zu vermissen scheint, ihn am wenigsten, aber nicht einmal ihr Kind, wenn sie nur den jungen Freund neben sich hat und über seine oft sehr billigen Witze lachen kann.

Also doch – Eifersucht?

Nein, aber Neid, brennender Neid auf die Gaben, die ihm selbst fehlen, und die Jener besitzt: leichter Sinn, Sorglosigkeit und das Talent, die Langeweile zu vertreiben. Und dabei sieht er ein, daß er mit dem besten Willen nichts daran ändern kann, und vermag sich doch nicht zu entschließen, was ich ihm so oft dringend angerathen, fortzugehen und an seiner Selbsterhaltung zu arbeiten. Die Nähe dieser Frau, die ihn peinigt, hält ihn doch fest wie mit magischen Banden. Wenn das so fortgeht, fürchte ich, zugleich mit ihrem Lebensfaden reißt auch der seine.

*

Wenige Tage nach diesem Gespräch sah ich eines Nachmittags, als ich an dem großen Hôtel vorbeiging, ein Wägelchen vor dem Eingang halten, auf das eben ein Reisekoffer und eine Plaidtasche gehoben worden war. Aus dem Portal trat der Stadtrath im Reisemantel, hinter ihm der alte Doctor, der ihm bis zum Wagen das Geleit gab, noch einige Aufträge entgegenzunehmen schien und sich dann mit einem herzlichen Händedruck verabschiedete.

Auch gegen mich lüftete der Scheidende im Davonrollen den Hut und winkte mir mit ernstem Gesicht einen höflichen Abschiedsgruß zu.

Gottlob, daß wir so weit sind! sagte der Doctor, zu dem ich herangetreten war. Zuweilen habe ich gedacht, er würde mir hier unter den Händen ersticken, an einem psychischen oder moralischen Luftmangel. Da kam gestern ein Brief von seinem Geschäftsführer; in einer der Werkstätten war Feuer ausgebrochen, kein beträchtlicher Schaden, immerhin schien es nothwendig, daß der Fabrikherr selbst nach dem Rechten sähe. Er will höchstens acht Tage wegbleiben, täglich soll ich ihm ein Telegramm schicken, wie es oben in Villa Primavera steht, – nun, wenn er sich wirklich nicht länger fernhalten läßt, so muß man schon für dieses kurze Aufathmen in der Luft, die ihm zuträglich ist, dankbar sein.

Das Schmerzlichste war für ihn, daß die Frau ihn Abschied nehmen sah, wie wenn er nur einen Ausflug von vierundzwanzig Stunden vorhätte. Und ob er ihre Mutter und das Kind grüßen solle, hat er sie erst fragen müssen. Dabei ist sie keine unzärtliche Natur. Aber man weiß ja, wie jede chronische Krankheit die Menschen egoistisch und gleichgültig macht gegen Alles, was sich nicht auf ihren Zustand bezieht. – –

*

Hierauf verging eine Woche, in der ich den Doctor nicht mehr sah.

Als er mir endlich wieder einmal begegnete, war es nahe bei meinem Hause. Er habe eben zu mir gewollt, Abschied von mir zu nehmen. Eine nahe Verwandte, die er in guter Gesundheit verlassen, sei plötzlich erkrankt, es lasse ihm keine Ruhe, sich persönlich von ihrem Zustande zu überzeugen, zumal er selbst sich ja als genesen betrachten könne.

Wie es der jungen Frau droben gehe, und ob ihr Mann schon zurückgekehrt sei?

Er wich mit einem seltsamen Ausdruck verlegener Traurigkeit meinen Blicken aus.

Das Verderben droben in der Villa Primavera geht seinen Gang. Der Mann ist gottlob noch nicht zurückgekehrt, hat ihr aber täglich geschrieben. Was ist dabei zu thun oder nur zu wünschen? Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes – und wie es dann weiter heißt. Wer lange lebt, erlebt viel und überlebt Viele. Ich wünsche Ihnen wohl zu leben. Adieu!

Dabei ging er, und ich räthselte an seinen wunderlichen Worten herum, in die ich keinen rechten Sinn bringen konnte.

Dann aber kam er mir aus den Gedanken, er und die Anderen, an deren Schicksal ich durch seine Mittheilungen Antheil genommen hatte. Bis ich viele Wochen später wieder an sie erinnert wurde.

Es war Frühling geworden, ein richtiger südlicher Frühling, der es an Wärme manchem deutschen Sommer zuvorthut. Meine Tage in Gardone waren gezählt. Ich benutzte die letzten, vorm Abschied mich noch so recht am Zauber dieser Gegenden zu weiden. Der See blaute immer fabelhafter, die Lorbeeren hatten ihr weniges abgestorbenes braunes Winterlaub abgeworfen und schienen sich von Kopf bis Fuß neu begrünt zu haben, auf den Wiesen unter den Reben und Oliven sprossen alle Blumen hervor, die bei uns erst der Mai bringt, obwohl hier erst April war.

Ich war von dem kleinen Nest Morgnaga herübergekommen, das mit seiner Kirche und den weißen Häusern so malerisch über dem tiefen, mit Ölbäumen bewaldeten Thälchen liegt, und schlenderte auf dem Lorbeerwege Gardone zu. Als ich zu der Cypressenallee gelangte, die zum Friedhof hinanführt, sah ich vom Ort her einen Leichenzug mir entgegenkommen und das Friedhofsgitter weit offen stehen, um ihn einzulassen. Nach der Sitte des Landes trugen vier rüstige Männer in ihren Alltagskleidern eine schmucklose Bahre, auf der der Sarg ruhte, mit einem schwarzen Bahrtuch überdeckt, von dem aber nur die Zipfel zu sehen waren, da eine verschwenderische Fülle von Blumen und Palmen darüber ausgebreitet war.

Ich war stehn geblieben, den Trauerzug an mir vorbeizulassen. Da sah ich, als die Träger in den Cypressenweg einbogen, zunächst hinter ihnen die wohlbekannte Gestalt des Stadtraths, barhaupt, die Stirne tief gesenkt, in der Haltung eines Schlafwandlers. Neben ihm schritt der protestantische Geistliche, der während des Winters hier für die Fremden Gottesdienst hält, hinter diesen Beiden der jüngere Freund, ebenfalls in schwankender Gebärde, beständig in sein Taschentuch hinein weinend, und neben ihm eine tiefschwarz gekleidete dicke alte Frau, offenbar jene treue Dienerin, die der kranken Herrin in ihre letzte Zufluchtsstätte gefolgt war.

An diese Trauernden schloß sich ein Häuflein Weiber und Kinder aus dem alten Bergnest, ganz ohne Theilnahme, nur von der Neugier gelockt, ein Begräbniß nach ketzerischem Brauch ohne Chorknaben mit Wedel und Weihrauchkessel mit anzusehen.

Die Herren waren an mir vorbeigegangen, ohne mich zu erkennen. Ich fühlte mich aber gedrungen, dem armen, schönen jungen Leben, das hier zu Grabe getragen wurde, die letzte Ehre zu erweisen, und überschritt als der Letzte des Zuges die Schwelle des Friedhofs.

Hier besteht nun die Sitte, daß die Särge der Wohlhabenderen nicht in die Erde versenkt, sondern in die Wände des Friedhofs eingemauert werden, in drei Reihen übereinander, jeder dieser viereckigen Schachte durch eine Marmortafel verschlossen, auf welcher Name und Taten zu lesen sind. Nur die Todten der ärmeren Klasse werden in die dürre, steinige Erde gebettet. Der Mangel an Wasser macht die Anlage von Rasen und Gesträuch unmöglich, und die Palmen in Kübeln, die an den weißen Marmorwänden vor einigen Grabstätten stehen, kommen nur dürftig fort.

Dies kalte Aufspeichern des armen Staubes hatte mich schon in dem berühmten Cimetero von Bologna und anderen italienischen Friedhöfen abgestoßen. In dieser ländlichen Umgebung, wo die Mutter Erde ihre todten Kinder so viel freundlicher wieder in ihren Schooß genommen hätte, schien es mir doppelt unfreundlich, und es überkam mich ordentlich ein Gefühl der Dankbarkeit gegen den verwittweten Mann, als ich sah, daß er sein kurzes Liebesglück den Elementen zurückgeben, den Sarg in die Erde versenken wollte.

Es ging sonst nicht allzu feierlich dabei zu. Der Geistliche, der wohl schon im Hause die Leiche eingesegnet hatte, sprach nur ein kurzes Gebet; ich beobachtete dabei das Gesicht des verwittweten Mannes, auf dem kein weicher Schmerzenszug, nur ein fast steinerner und verbissener Gram zu entdecken war, während dem jungen Architekten die Thränen unaufhaltsam über das todtenblasse Gesicht liefen und die alte Dienerin herzbrechend aufschluchzte.

Dann aber, als der Gatte die drei Schaufeln Erde auf den Sarg geworfen hatte und den Spaten nun dem jungen Freunde reichte, sah ich, wie dieser, statt nach dem hölzernen Griff, nach der Hand des Älteren haschte, sich mit dem Gesicht, um sie zu küssen, tief auf sie herabbeugte und plötzlich taumelnd in den Schutt vor ihm auf die Kniee sank.

Einen Augenblick sah der Andere auf ihn herab, mit einem Ausdruck, der fast etwas Feindliches hatte. Dann aber sah ich, wie sein Gesicht sich zum Weinen verzog. Mit einer lebhaften Gebärde hob er den Hingesunkenen auf, umschlang ihn mit beiden Armen und suchte nun das Schluchzen, das gewaltsam hervorbrach, an seinem Halse zu ersticken.

Alle, selbst die ganz gleichgültigen alten Weiber, fühlten eine seltsame Erschütterung bei diesem Anblick. Sie machten auch ehrerbietig Platz, als die beiden Männer Hand in Hand den Todtenbezirk verließen. Ich selbst hätte gern wenigstens mit einem stummen Händedruck meinen Antheil ausgesprochen. Ich fühlte aber, daß diese beiden Trauernden keinem Anderen einen Theil an ihrem Schmerz gönnen würden.

*

Keinem von Beiden begegnete ich dann wieder; sie waren wohl bald nach der letzten traurigen Scene in ihre Heimath zurückgekehrt. Von der armen Hingeschiedenen erfuhr ich, daß eine Lungenentzündung hinzugetreten war und sie von ihren Leiden erlös't hatte.

Mich selbst litt die rasch wachsende Sommerglut nicht mehr lange in meinem Winterquartier, zumal um Mitte Mai fast alle Fremden sich wieder nach Norden ziehen, die Hôtels geschlossen werden und nur die Eingeborenen zurückbleiben, die wohl auch klagen, daß die drei Hochsommermonate ein inferno seien, aber ebenso sich darein ergeben, jetzt »zur Kohle zu verglühen«, wie sie im Winter in ihren ungeheizten steinernen Höhlen alles Zähneklappern des Frostes ertragen.

Der Herbst aber führte mich wieder zu den Palmen und Agaven meines Gärtchens am Seeufer zurück. Und manche von den Kurgästen, die im vorigen Winter am hitzigsten auf das schwankende Klima dieser Winterstation geschimpft und dies und das vermißt hatten, was anderwärts den Aufenthalt behaglicher mache, fanden sich doch wieder ein und schlenderten so widerwillig-ergeben, wie gefangene Raubthiere in ihrem Käfich den Viale hinauf und hinunter, nun immer wieder von Neuem durch den herrlichen Ausblick auf die purpurne Seeflut und das Silberhaupt des Monte Baldo mit ihrem Schicksal ausgesöhnt.

Also wunderte ich mich gar nicht, an einem milden Novembertage auch meinem alten Doctor wieder zu begegnen, obwohl er sich selbst beim Scheiden für genesen erklärt hatte.

Er sei auch nicht wieder seiner Gesundheit wegen hier, sagte er, noch auch zu seinem Vergnügen, und habe auf der Weiterreise nach Rom nur einige Tage hier Station machen wollen. Die Mutter der armen jungen Frau Ellen habe ihn darum gebeten, nachzusehen, ob das einfache Grabmal, das sie der Tochter habe setzen lassen, so ausgefallen sei, wie sie angeordnet habe, und einen Kranz darauf niederzulegen. Das sei nun schon besorgt, und am nächsten Tage werde er seine Reise fortsetzen. Er habe vorgehabt, mir noch vorher guten Tag zu sagen.

Wie haben Sie es zu Hause verlassen? fragte ich. Wie geht es dem Manne und dem jungen Kinde?

So gut sich's Menschen nur wünschen können, versetzte er mit einem stillen, bitteren Ton. Den Mann hat bald nach seiner Heimkehr ein Nervenfieber hingerafft. Er war so thöricht, daß er die Wunde nicht wollte ausbluten lasten, hemmte den Schmerz gewaltsam zurück und stürzte sich kopfüber in Arbeit. Dabei war seine sonst so robuste Kraft heimlich aufgezehrt durch die lange Zeit der Angst und Sorge, – da mußte sie zusammenbrechen. Das Kind war gescheidt genug, einzusehen, daß es ohne seine Eltern sich nur kümmerlich in der Welt durchschlagen würde, und zog es vor, ihnen nachzueilen. Nun sind alle Drei wohl aufgehoben, »sicher beigepackt«, wie Hamlet sagt.

Und – der junge »Dritte im Bunde«?

Sie meinen den Herrn Baumeister? Nun, der hat von Allen die gesundesten Nerven. Ein älterer Bruder von ihm, auch ein Architekt und Ingenieur, hat drüben in Amerika große Aufträge, Brückenbauten, Millionärpaläste, – was weiß ich. Da hat er ihn als seinen Assistenten zu sich gerufen, und der junge Herr ist schon seit einigen Monaten in New York. Es heißt sogar, er sei schon halb und halb verlobt mit irgend einer Gründertochter. Gewisse Leute sind wie Kork und schwimmen, so tief das Schicksal sie auch untertaucht, immer gleich wieder oben.

O, sagt' ich, Verehrtester, Sie sind, wie ich sehe, dem jungen Manne noch immer nicht grün, immer noch wegen des alten Verdachts. Aber wenn der Gatte selbst ihn absolviert hat –

Und nun erzählte ich dem Doctor die Scene am offenen Grabe die ich miterlebt hatte.

Er hörte mir mit seinem klugen, feinen Ernst ruhig zu. Ja ja, sagte er endlich, daran erkenn' ich meinen alten Freund. Es war das nur die Fortsetzung von Allem, was er vorher schon für diese Frau gethan hatte, jetzt sogar bis über das Grab hinaus. Heute brauche ich ja kein Geheimniß mehr daraus zu machen, die Betheiligten sind todt oder jenseits des großen Wassers, und keine Indiscretion kann ihnen mehr wehe thun. Also lassen Sie sich sagen –

Nämlich in der Nacht nach dem Tage, wo mein Freund abgereis't war – Sie kamen ja selbst dazu, als ich ihn zu seinem Wagen begleitete, und vielleicht entsinnen Sie sich, er mußte wegen eines Brandes in der Fabrik nach Hause, wollte aber in acht Tagen zurück sein – länger glaubte er die Trennung von seiner angebeteten Frau nicht aushalten zu können –, nun, wie gesagt, ich war froh, daß er wenigstens eine Woche lang eine Luftveränderung genoß, und hier war er ja überflüssig. In der Villa Primavera wurde er nicht vermißt, ganz im Gegentheil.

Also ich gehe mit einer großen Erleichterung seinetwegen – ich hatte ihn wirklich lieb wie einen jüngeren Bruder – an jenem Abend zu Bett und denke noch vorm Einschlafen: jetzt ist er schon weit über Mailand hinaus. Denn er wollte die Nacht durch fahren, um keine Zeit zu verlieren.

Ich hatte aber kaum ein paar Stunden geschlafen, da fuhr ich im Bette auf, weil leise an meine Thür gepocht wird. Wer ist da? rufe ich. – Machen Sie auf, Doctor! Ich bin's. – Ich erkenne sogleich seine Stimme und denke, ich träume nur von ihm, bleibe also noch liegen. Was sollte ihn selbst hier zurückgeführt haben? Wie es aber wieder klopft, spring' ich denn doch aus dem Bette und öffne die Thür. Im Corridor brannte noch ein Lämpchen, ich sah, er war's wirklich, schob sich hastig durch die Thür und zog sie hinter sich zu. Guten Abend, Doctor! Verzeihen Sie, daß ich Sie aufwecken mußte. Ein Doctor ist's ja sonst gewohnt. Aber Sie prakticieren freilich nicht mehr.

Seine Stimme klang ganz verwandelt, heiser und wie von einem Betrunkenen. Ich drehte sogleich den elektrischen Knopf. Als es hell wurde, sah ich, daß auch sein Gesicht völlig verändert war, aschfarben, der Mund verzerrt, die Augen flackerten hin und her.

Was haben Sie? rief ich erschrocken. Sind Sie plötzlich erkrankt? Lassen Sie mich Ihren Puls fühlen.

Nein, nein, wehrte er heftig ab, ich bin gesund wie ein Fisch, nur etwas erschöpft von dem Nachtspaziergang und – etwas Anderem. Geben Sie mir ein Glas Wasser, – die Zunge steckt mir wie ein dürres Stück Holz im Munde.

Ich gab es ihm, er stürzte es auf einen Zug hinunter und ließ sich dann auf den Divan fallen, indem er tief aufathmete.

Verzeihen Sie nur die Störung, sagte er – er war immer sehr rücksichtsvoll – aber wahrhaftig, es ging nicht anders, und einen anderen Freund habe ich ja nicht in der Nähe. O Gott, Gott! Giebt es überhaupt Freunde? Nein, Sie sind mir immer aufrichtig zugethan gewesen, da müssen Sie's nun leiden. Dann schwieg er und ließ den Kopf tief auf die Brust sinken. Er sah aus, wie ein völlig gebrochener Mann.

Daß Sie auf meine Freundschaft rechnen können, brauche ich nicht zu versichern, sagte ich. Aber ich verstehe ja noch immer nicht, – was haben Sie denn erlebt? Wo kommen Sie denn eigentlich her?

Woher ich komme? sagte er und lachte bitter, ein unheimlich leises Lachen. Nun von da, wohin ich gegangen bin, von Desenzano, von wo ich die Eisenbahn benutzen wollte. Ich hatte plötzlich Grund, die Reise nicht fortzusetzen, obwohl – es ist nicht klug, den revenant zu spielen, nachdem man Abschied genommen hat. Man erfährt da allerlei von den »tieftrauernd Hinterbliebenen«, wie's in den Todesanzeigen heißt, was man lieber nicht erfahren sollte. Aber was wollen Sie? Wenn einem solch ein Wörtchen nachgerufen wird, wie das da, – das könnte sogar einen Todten noch einmal zurückrufen.

Damit griff er in die Brusttasche und zog ein Billet heraus, das so aussah, als ob es beim Empfang zerknüllt worden wäre. Es waren nur ein paar Zeilen, mit einer ungeübten oder vielleicht verstellten Hand geschrieben, ohne Unterschrift, und lautete ungefähr so: »Wenn Sie wissen wollen, wie Ihre Frau sich über die Trennung von Ihnen tröstet, besuchen Sie sie heute Abend nach Zehn, ohne sich anmelden zu lassen.«

Ich hielt das infame Blatt eine Weile in der Hand und reichte es ihm dann wieder hin. Er ließ es auf den Teppich fallen, nachdem er es langsam in kleine Stücke zerpflückt hatte.

Ob er wisse, fragte ich, wer es geschrieben?

O gewiß. Es könne nur von Einer Hand herrühren. Vor ein paar Tagen habe seine Frau die Kammerjungfer entlassen; das Mädchen sei schon sehr widerwillig mit in die Primavera hinaufgezogen, da sie mit einem der Kellner unten eine Liebschaft angefangen hatte und oben sich langweilte. Es sei eine nichtswürdige Sache.

Und daraufhin, sagte ich, sind Sie zurückgekehrt? Auf eine anonyme Denunciation?

Ja, wie Sie sehen. Ich sagte schon, es ist dumm, den revenant zu spielen. Als ich den Kutscher, der mich nach Desenzano gebracht, bezahlt hatte, gab er mir das Billet. Ein Unbekannter habe es ihm mitgegeben, doch erst in Desenzano sollt' er's abliefern. Mein erster Gedanke war auch: Es wäre schmachvoll, auf eine so niedrige anonyme Verdächtigung hin – aber dann – ein Teufel raunte mir zu: »Um so glänzender wird dir die Unschuld der armen Verleumdeten entgegen strahlen, wenn du kommst und dich selbst überzeugst« – denn wirklich, daß sie dessen fähig sein sollte, ihre heiligsten Pflichten, die gelobte Treue, Alles, was sie in den fünf Jahren unserer Ehe mir schuldig geworden war, dem Vater ihres Kindes – und das – wie hatten Sie es doch einmal genannt? – im Vorhof der Ewigkeit –? Nein! Es war undenkbar!

Sie war nie sehr zärtlich aufgelegt gewesen, etwas Sprödes, Zurückhaltendes war in ihrem ganzen Wesen – selbst bei unserem letzten Abschied – aber wenn diese Kühle während der Krankheit noch zugenommen hatte, mußte ich nicht froh darüber sein? Mit leidenschaftlicherem Gemüth würde sie sich heftiger an das Leben angeklammert haben, während sie jetzt noch zum Lachen gestimmt war, mit dem Leichtsinn eines jungen Vogels sich in der Sonne wärmte, ohne davor zu schaudern, daß der Tod wie ein schwarzer Raubvogel schon über ihr schwebte.

Das alles sagte ich mir; ich war einen Augenblick fest entschlossen, die Reise fortzusetzen, in der nächsten Minute befahl ich, mein Gepäck wieder aufzuladen, und sagte dem Kutscher, der Brief erinnere mich, daß ich etwas Wichtiges zu Hause vergessen hätte. Ich wolle aber erst in aller Ruhe zu Mittag essen; gegen Abend, wenn es kühler geworden, sei noch Zeit genug zur Rückfahrt.

Wie ich diese Wartezeit überstanden habe, weiß ich nicht. Von Essen und Trinken war keine Rede, nur die Cigarre blieb mir treu.

Und endlich war die Sonne hinunter. Wir konnten uns langsam in Bewegung setzen.

Oben in Portese ließ ich noch einmal anhalten. Es war erst neun Uhr, zu früh zu meinem »unangemeldeten« Besuch. Ich trank droben ein Glas schlechten Wein, der mir wie Galle schmeckte. Daß der Kutscher sich über den seltsamen Passagier seine Gedanken machte, konnt' ich ihm ansehen.

Endlich stieg ich gegen Zehn in Gardone aus und gab ihm ein so reiches Trinkgeld, als wenn ich ihm besonderen Dank schuldig geworden wäre. Das Gepäck vertraute ich seiner Obhut an, möglich sei's, daß ich schon nach ein paar Stunden ihn aus dem Schlaf klopfen würde, um die Straße nach Desenzano zum dritten Mal zurückzulegen.

Dann machte ich mich auf den Weg.

Es war ganz finster, eine schwere Föhnluft hatte den Himmel mit Wolken bedeckt, die spärlichen Laternen in der Gasse glommen wie beständig im Erlöschen durch den trüben Dunst. In dem kleinen Nest regte sich nichts mehr, außer in einer schmutzigen Schenke, wo ein paar Kerle beim Wein und Kartenspiel saßen. Als ich dann das schmale, steinige Sträßchen nach Morgnaga hinaufstieg, empfing mich gleich eine Todtenstille, daß ich das Laub an den Ölbäumen wispern hörte – und das Blut in meinen Schläfen hämmern.

Es war immer noch zu früh. Drüben in einem Hause des alten Nestes war noch Licht, die Uhr im Kirchthurm schlug langsam Zehn. Ich war in Schweiß gebadet, so langsam ich hinanstieg. Oben mußt' ich mich auf eine Bank setzen. Die Kniee wollten unter mir zusammenbrechen. Doch litt es mich nicht länger als fünf Minuten in der Ruhe. Ich raffte mich auf und schlich den Lorbeerweg entlang, mit einem so schlechten Gewissen wie ein Dieb, der zu einem nächtlichen Einbruch geht.

Und so kam ich endlich nach der Villa, auf der Straße an ihrer Rückseite. Ich wußte, es wurde drinnen früh Nacht gemacht, und ein Licht war auch hinter den Sprossen der Fensterläden nicht mehr zu sehen. Da stand ich wohl zehn Minuten, mühsam athmend. Endlich faßte ich mir doch ein Herz, leise anzuklopfen.

Eine Frau, die Hausmeisterin, öffnete mir, nachdem ich meinen Namen genannt. Ich stotterte ihr einen triftigen Grund für meinen späten Besuch vor, eine telegraphische Nachricht von meiner Schwiegermutter, die Genesung des Kindes von einer Kinderkrankheit, die wolle ich meiner Frau so rasch als möglich mittheilen und dann erst die Reise fortsetzen. Ich glaube, ich habe ziemlich gut gelogen. Wenigstens wurde ich ohne Weiteres eingelassen, wies auch die Begleitung die Treppe hinauf ab, da ich ja ortskundig sei und meine Frau noch wach finden würde; sie sei gewohnt, noch lange vor dem Einschlafen im Bett zu lesen.

So schwankte ich die Stufen hinauf. Alles im Hause war still, im Corridor brannte ein schläfriges Flämmchen, kein Laut drang aus den verschlossenen Thüren. Vor der meiner Frau stand ich eine Weile und horchte hinein; Alles still. Da faßte ich mit einer gewaltsamen Anstrengung den Thürgriff und stieß die Thür auf. Das Zimmer war hell vom elektrischen Licht – aber leer. Die Thür zu der Kammer nebenan stand auf, ich sah beim Schein eines trüben Nachtlichts die alte Auguste in ihrem Bett in tiefem Schlaf. Es war ihr wohl zu langweilig geworden, auf ihre Herrin zu warten, von der sie wußte, daß sie sich über die Trennung von ihrem Manne, so gut es ging, zu trösten suchte. – – –

*

Er saß dann eine Weile stumm, hatte die Augen zugedrückt; man hätte glauben können, er schlafe. Dann erhob er sich schwerfällig vom Sopha, ging langsam an das Fenster und stieß es auf. Als er ein paar Athemzüge der reinen Nachtluft gethan hatte, drehte er sich zu mir um und sagte mit ganz ruhigem Ton: Es ist nun vorbei. Ich habe auch das überstanden. Im ersten Augenblick freilich war ich so betäubt, als hätte mir Jemand mit einer Keule vor die Stirn geschlagen. Denn Sie mögen von meinem Verstande denken, was Sie wollen: noch als ich die Thür öffnete, glaubte ich's nicht.

Dann freilich – wie ich in dem leeren Zimmer stand, alle Gegenstände von dem grellen elektrischen Licht beschienen, mußte mir's wohl einleuchten, das Unbegreifliche, Entsetzliche. Aber sonderbar: es wurde immer ruhiger in mir, der Gewißheit gegenüber. Ich sah all' die Sachen, die ihr gehörten, den orientalischen Shawl, den sie um den Kopf zu wickeln pflegte, das seidene Jäckchen, das sie getragen hatte, als ich Abschied von ihr nahm, mit einer Empfindung an, wie Besitzgegenstände einer Person, die gestorben ist. Nur wie ich auf dem Tisch den schönen Strauß gelber Rosen liegen sah, den ich ihr zum Abschied noch gegeben, ganz so, wie ich ihn gebracht hatte, in dem Spitzenpapier, nicht in Wasser gestellt und schon halb verwelkt, da stieg es heiß und bitter in mir auf. So wenig war ich ihr werth gewesen – sogar die armen Rosen hatten es empfinden müssen!

Aber dann wurde es immer kälter, ruhiger, steinerner in mir. Es war ja aus zwischen uns, für immer. Ganz so überschwänglich, wie ich diese Frau geliebt hatte, so über alle Maßen haßte ich sie in diesem Augenblick. Nein, ich haßte sie nicht, ich hatte einen Abscheu vor ihr wie vor etwas Greuelhaftem, Unmenschlichem, dessen Nähe schon besudelt. Das mir anzuthun, mir, der ich sie auf Händen getragen, bereit gewesen war, mein Herzblut für sie hinzugeben, und dennoch, hier, wo selbst das leichtsinnigste Gemüth der Gedanke an die letzten Dinge zum Ernst stimmen und das Gewissen wecken müßte, wenn es einzuschlafen drohte – es war zu viel! Das konnte kein Mensch und kein Gott entschuldigen oder gar verzeihen!

Und so fühlte ich in mir eine Art Wollust bei dem Gedanken, wie mein Anblick, wenn sie nun plötzlich hereinträte, sie zerschmettern würde, daß sie kein Wort hervorbringen, in die Kniee zusammenbrechen müßte und mich halb wahnsinnig vor Scham und Reue um Gnade anflehen. Ich aber, ich würde ihr dann sagen – nein, sagen wollte ich ihr nichts. Sie war ja keines Wortes werth, und es war viel vernichtender und zugleich verächtlicher, wenn ich ihr stumm den Rücken kehrte und mit einer Gebärde sie von mir stieß.

Ja, erwarten wollte ich sie, nicht etwa sie im Zimmer ihres Mitschuldigen aufsuchen. Ich habe es nie begriffen, wie Jemand es über sich gewinnen kann, eine Frau in flagranti zu überraschen. Was sie auch gesündigt haben mag, er hat sie doch einst geliebt, sie hat ihm Kinder geboren, ihr eine so tödtliche Beschämung angesichts eines Dritten zuzufügen, müßte ihn selbst erniedrigen.

Also wartete ich – wartete – wartete – ich glaube, eine volle halbe Stunde. Dabei hörte ich immer nur die tiefen Schlaftöne der Alten in der Kammer nebenan, die den Schlaf des Gerechten schlief, obwohl sie Mitwisserin des verbrecherischen Geheimnisses war, gewiß ihrer Herrin Kupplerinnendienste geleistet hatte. Und auch sie hatte ich mit Wohlthaten überhäuft!

Aber seltsam: gerade indem ich an diese Wohlthaten dachte, war mir's, als hörte ich Jemand ganz laut neben meinem Ohre sagen: Du Narr, was bildest du dir ein? Was hast du denn deiner Frau so besonders Herrliches erwiesen, daß sie dir nun bis ans Grab dankbar sein müßte? Du hast das junge Mädchen zu deiner Frau gemacht, ohne viel zu fragen, ob ihr Herz auch mit in den Kauf ging, ob sie nur halb so sehr in dich verliebt war, wie du in sie. Blutjung war sie, kaum aus den Kinderschuhen heraus, und hat schon mit Schmerzen gebären und ein Kindchen hingeben müssen und muß nun die Geburt eines zweiten mit dem Opfer ihres jungen Lebens bezahlen. Und jetzt wacht in ihr, zehn Schritt vom Rande des Grabes, ein Glückshunger, ein Lebensdurst auf, den du mit deinem Luxus, deinen Zärtlichkeiten und gelben Rosen nicht stillen kannst, und da begegnet ihr Einer, der das alles könnte, wenn sie ihn früher gefunden hätte, und erheitert ihr Herz und erquickt ihre Sinne, und du willst es ihr als eine Todsünde anrechnen, daß sie sich ihm an den Hals wirft? Daß sie Alles vergißt, was sie Menschen schuldig ist, die ihr so kurz vor dem Scheiden keine Freude mehr machen können, ihren Mann, der sich zweimal am Tage nach ihrem Befinden erkundigt, während der Andere ihr in dieses stille Haus gefolgt ist, um ihr stündlich nahe zu sein, ihr Kind, das man ihr genommen hat, damit es von der Krankheit der Mutter nicht ergriffen würde? Und wenn sie nun vergißt, was sie am Altar gelobt hat, und den Taumeltrank an die Lippen setzt, um sich noch einmal zu berauschen, gerade hier »im Vorhof der Ewigkeit«, wo schon alle Schranken der Zeit eingerissen scheinen und das arme Herz von allen irdischen Banden gelös't, aller Zurechnung entbunden im freien Äther schwebt, – da kommst du mit einer grausam richterlichen Miene und willst ihr den halb geleerten Kelch von den Lippen ziehen, weil sie ihn nicht mit dir, sondern mit einem Anderen theilt? Und in dieser deiner Unmenschlichkeit dünkst du dich hoch erhaben über der armen Sünderin und besinnst dich nicht, ihr vielleicht die letzte Lebensfrist zu verkürzen, indem du ihr den Stab brichst? Wenn der Schrecken, dich hier zu finden, sie so gewaltsam erschüttert, daß sie auf dem Fleck todt niedersinkt, wirst du dann dein Gewissen damit beruhigen, daß du sie nicht getödtet, sondern gerecht gerichtet habest?

Er schwieg und sah still vor sich nieder.

Ich bewundere Sie, lieber Freund, sagt' ich. Zu dieser Höhe selbstloser Opferwilligkeit würden sich Wenige aufschwingen.

Nach einer Weile erst erwiderte er, wie wenn er zu sich selbst spräche: Es weiß ja auch Niemand, was diese Frau mir gewesen ist. Welchen anderen Beweis meiner Liebe könnte ich ihr jetzt noch geben, als daß ich ihr entsage? Nicht mit leichtem Herzen wahrhaftig, aber ich hätte mich verachtet, wenn ich dies Opfer nicht gebracht hätte. Und so bald mir das klar geworden war, riß es mich aus meinem starren Brüten auf. Nein, das durfte nicht geschehen! Wir waren hinfort getrennt, das Band zerrissen; aber nun gehörte sie mir auch nicht mehr an, nun hatte ich kein Recht mehr an ihr, sie keine Pflicht gegen mich; und so mußte ich auch noch das Letzte thun: jede Spur verwischen, daß ich in ihr Geheimniß eingedrungen war, von ihr gehen auf Nimmerwiedersehen.

Da bin ich denn aus dem Zimmer geschlichen mit einem so beklommenen Gefühl wie ein Kirchenräuber, der im letzten Augenblick die Hand von dem silbernen Kelch wieder zurückzieht, den er schon vom Altar hat nehmen wollen. Das Geräusch meiner Tritte muß die Alte nebenan geweckt haben. Ich hörte sie plötzlich rufen: Wer ist da? Sind Sie's, gnädige Frau? – Ich stand still und hielt den Athem an, der Angstschweiß brach mir aus; endlich kamen wieder die tiefen Athemzüge aus der Kammer, da schlich ich durch die Thür.

Der Hausmeisterin, die mir wieder öffnete, sagte ich, ich hätte meine Frau schlafend gefunden und sie nicht wecken und durch meine unerwartete Rückkehr erschrecken wollen. Nun würde ich ihr morgen ein Telegramm schicken und heute noch wieder abreisen. Ich band es ihr aufs Gewissen, von meinem Nachtbesuch nichts zu erwähnen, und gab ihr ein ansehnliches Trinkgeld. Gott weiß, ob es mir gelungen war, sie an meine Märchen glauben zu machen.

Dann, wie von einer Centnerlast befreit, bin ich den Weg nach Gardone wieder hinuntergestiegen. Es war Mitternacht geworden. Ich konnte nicht dran denken, gleich jetzt meinen Kutscher aus dem Schlaf zu trommeln. Schon mit dem Portier hier im Hôtel gelang es erst nach wiederholtem Anläuten. Ich hatte auch für ihn ein Märchen in Bereitschaft, von einer Brieftasche mit wichtigen Papieren, die ich in meinem Zimmer vergessen hätte. Er solle mich nur hinauflassen. – Das Zimmer sei schon wieder vergeben; von etwas Zurückgebliebenem wisse er nichts. – Nun, dann will ich zu meinem Freunde, dem Doctor, der hat vielleicht das Vermißte an sich genommen, da er versprochen hat, Alles, was für mich ankommen sollte, nachzuschicken.

Und so habe ich Sie in der tiefen Nacht stören müssen, bester Freund, sagte er. Nun gehen Sie wieder zu Bett. Mir erlauben Sie, mich für ein paar Stunden auf Ihre Chaiselongue zu strecken. Um Fünf empfehle ich mich auf Französisch. Dann werde ich wohl meines Kutschers schon wieder habhaft werden können.

*

Daß an Schlafen in dieser Nacht nicht zu denken war, werden Sie sich vorstellen können. Es war mir ergreifend, zu hören, wie unerschöpflich in immer neuen Argumenten er war, sie zu entschuldigen und alles Unrecht sich selber zuzuwälzen.

Und noch Eins war merkwürdig: ihres Mitschuldigen erwähnte er mit keinem Wort. Wie ich Ihnen früher einmal sagte: er fühlte nur Neid gegen ihn, nicht Groll noch Eifersucht. Und das wollte er sich selbst nicht eingestehen.

Vor Thau und Tage nahm er dann Abschied. Ich hatte darauf bestanden, daß er sich noch eine Tasse Thee von mir machen ließ; ich goß, ohne ihn zu fragen, reichlich Arrac hinein, denn er war sichtbar schwach und hinfällig, so sehr er sich auch zusammennahm. So verließ er das Hôtel.

Am Abend erhielt ich ein Telegramm aus Mailand. »Wohl angekommen. Grüße an Ellen.«

Er verpflichtete mich dadurch, am anderen Tage sie zu besuchen. Ich that es sehr widerstrebend. Denn ich – so sehr er mich zu überzeugen gesucht hatte – ich konnte ihr nicht verzeihen. Und so brachte ich's auch nicht übers Herz, wie früher täglich nach ihr zu sehen, und länger als acht Tage hielt ich's auch nicht aus, Komödie mit ihr zu spielen. Meine eilige Abreise hatte nur diesen Grund; die Erkrankung meiner Verwandten, die ich vorschützte, war nicht im Mindesten bedenklich.

Aber er – mein Freund – werden Sie glauben, daß er sich so weit bezwingen konnte, täglich an sie zu schreiben, immer in dem gleichen, herzlich besorgten Ton, immer von Neuem bedauernd, daß es ihm dringende Gründe ganz unmöglich machten, zu ihr zurückzukehren?

Es giebt ein Heldenthum, das mehr Herzblut kostet als das auf dem Schlachtfeld.

Erst als der Arzt telegraphirte, das Ende stehe nahe bevor, reis'te er hierher. Er kam nach acht Tagen zurück, ohne ein Wort über das ganze Schicksal mit mir zu sprechen. Nur in der ersten Stunde des Wiedersehens zog er einen Brief hervor, den er neben ihrem Sterbebette gefunden hatte. Darin schrieb sie ihm ungefähr so – den genauen Wortlaut habe ich nicht behalten –: »Du bist der edelste, großmüthigste Mensch, den die Erde trägt. Ich habe Alles erfahren. Du warst hier, Du hast entdeckt, was mich in Deinen Augen mit einer Schuld belasten mußte, die nie zu verzeihen, nie zu sühnen ist. Und ich muß mich anklagen, daß ich den größeren Theil der Schuld auf mich geladen habe. Denn wenn ich ihm nicht so leidenschaftlich entgegengekommen wäre, er hätte, so sehr er mein Gefühl theilte, die Kraft besessen, zu widerstehen. Laß es drum ihn nicht entgelten, Eduard, sei großmüthig auch gegen ihn, der schwer darunter gelitten hat, daß er ein so großes Unrecht an Dir thun mußte. Ich aber – ich habe nur die eine Hoffnung, noch so lange zu leben, bis ich, wenn Du mich dessen werth hältst, Deine Hand fassen und sie mit meinen Thränen benetzen kann. Nicht Thränen der Reue, Eduard! Ich bin von einer unwiderstehlichen Macht zu dem gezogen worden, was ich gethan, und ich war schwach durch die Schauer des Todes, die ich in meinem Blute fühlte. Aber Thränen der Dankbarkeit, daß ich einem solchen Manne angehört hatte, der so hoch über mir stand und mich dennoch nicht verstoßen wollte!«


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