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Die Macht der Stunde

(1899)

 

Man hatte an der Wirthstafel im Hôtel Salò schon eine Weile beisammen gesessen, die ersten beiden Gänge waren vorüber, und eben wurde der landesübliche Risotto aufgetragen, als durch eine der Seitenthüren noch ein verspäteter Gast eintrat, dessen Erscheinung die lebhaften Tischgespräche für etliche Minuten ins Stocken brachte.

Eine schöne, schlanke junge Frau in einem dunklen Reisemäntelchen, auf dessen seidene Kapuze ein schweres Nest aschblonder Flechten tief herabhing. Das zartgerundete Gesicht, sehr blaß, doch nicht von krankhafter Farbe, hatte einen seltsamen Ausdruck von Trübsinn oder Trotz, die schwarzen Augen sahen unter halbgesenkten Lidern regungslos hervor, und das schön geschwungene Lippenpaar war fest geschlossen. Ohne auf den Oberkellner zu achten, der ihr einen Platz anweisen wollte, ging sie auf das untere Ende eines der beiden langen Tische zu und setzte sich auf einen Stuhl zwischen zwei leer gebliebenen, ließ das Mäntelchen auf die Lehne zurückfallen und begann langsam die Handschuhe auszuziehen.

Auch jetzt sah sie weder rechts noch links, sondern heftete die Augen so beharrlich auf einen vor ihr stehenden kleinen Aufsatz mit Orangen, getrockneten Feigen und Mandeln, als ob sie das Häuflein der Früchte darin zählen wolle. Es schien sie zu frieren; freilich war es erst Mitte März, doch das helle, behagliche Speisesälchen durchwehte eine weiche südliche Frühlingsluft; – sie aber zog ihr Mäntelchen wieder um die Schultern und wickelte sich mit einem leichten Schauer fest hinein. Auf die Frage des Kellners, ob man ihr die Suppe nachserviren solle, schüttelte sie den Kopf, aß ein wenig vom Risotto und nahm hernach einen Kapaunenschenkel, den sie langsam und zerstreut in kleine Bissen zerlegte. Nur vom rothen Wein goß sie sich das Wasserglas voll und trank es in langen Zügen aus.

Das Plaudern, Flüstern und Lachen der Tischgesellschaft war wieder in Fluß gekommen, aus dem Vorsaal, wo zwei grüne Papageien mit dünnen Kettchen an einer Kletterstange befestigt saßen, drang von Zeit zu Zeit ihr scharfes Kreischen oder heiseres Schwatzen herein, die schöne Fremde saß wie im Traum und überhörte die höfliche Frage der Dame ihr gegenüber, ob sie zu Schiff oder zu Lande gekommen sei. Ohne von ihrem Teller aufzublicken, machte sie sich eben daran, mit ihren schlanken weißen Händen eine Blutorange zu schälen, mit so feierlicher Langsamkeit, als verrichte sie eine sehr wichtige Handlung, da hörte sie eine Männerstimme zu ihrer Rechten in gedämpftem Tone sagen: Ich meine, gnädige Frau, wir sollten einander nicht ganz unbekannt sein.

Sie richtete sich mit einer leichten Gebärde des Erschreckens auf und warf einen raschen Blick auf den Sprecher, der am Ende des Tisches seinen Sitz hatte, nur durch einen leeren Stuhl von ihr getrennt. Da er dem hellen Fenster den Rücken zukehrte, waren die Züge seines Gesichts nicht so klar beleuchtet, um sich sogleich darin zurechtzufinden. Nur die glänzenden grauen Augen und die weißen Zähne unter einem ungepflegten Bart blitzten daraus hervor und gaben dem Gesicht einen munteren jugendlichen Ausdruck, obwohl das aufgesträubte dichte Haupthaar schon etwas angegraut war.

Ich verdenke es Ihnen nicht, daß Sie mich nicht erkennen, fuhr er mit einem gutmüthigen Lachen fort. Wir sind einander ja auch nur photographisch vorgestellt worden, und seitdem habe ich mir den Bart wachsen lassen, so daß meine ältesten Freunde an mir irre werden könnten. Ich sehe wohl, ich muß Ihnen meinen Namen ins Gedächtniß zurückrufen: Doctor Hans Hartwig, oder, wie Ihr Gemahl, mein lieber junger Freund, mich zu nennen pflegte, der treue Johannes, weil ich ihn einmal aus einem bösen Nervenfieber herausgerissen habe. Seit er ein glücklicher Ehemann geworden ist, hat der leichtsinnige Mensch mich zu den Todten geworfen. Glück macht vergeßlich, und ich bin ihm nicht feind darum geworden. Das Letzte, was ich von ihm hörte, war vor zwei Jahren die Einladung zu seiner Hochzeit, begleitet von der Photographie seiner Braut, die ich jetzt in schönster Leibhaftigkeit als junge Frau vor mir sehe. Wie kommt es aber, Frau Malwine, daß ich Sie hier allein begrüße, ohne Ihren – unseren Ludwig, dem es doch auch am Herzen liegen sollte, den alten Freund jenseits der Alpen einmal heimzusuchen?

Die Blutwelle, die der jungen Frau bei den ersten Worten ihres Nachbarn ins Gesicht geschossen war, hatte sich wieder nach dem Herzen zurückgezogen. Ihre Wangen erschienen jetzt noch bleicher, als sie, die Augen wieder vor sich hin gerichtet, erwiderte: Ludwig ist noch durch seine Kapellmeisterpflichten zurückgehalten und mußte mich allein reisen lassen. Ich komme aus einem Sanatorium, wo ich sechs Wochen zugebracht habe. Meine Nerven waren zerrüttet. Ich weiß nicht, ob Sie erfahren haben –

Kein Wort von Ihnen seit zwei Jahren, wie ich schon gesagt habe.

Nun, ich habe eine schwere Niederkunft durchgemacht, das Kind war todt. Ich verfiel in eine so düstere Schwermuth, daß ich mich zu Hause nicht erholen konnte. Der Arzt schickte mich in eine Nervenheilanstalt. Aus der bin ich vor kurzem, wie sie sagten, geheilt entlassen worden. Ich weiß am besten, daß ich unheilbar bin. Und so – wenn man sich fühlt, wie ich mich fühle, thut man gut, sich von allen Menschen wegzuflüchten. Es liegt ja auch nichts daran. Es giebt noch genug gesunde und vergnügte Menschen auf der Welt.

Das hatte sie mit einem so bitteren Ton hervorgestoßen, die feinen dunklen Augenbrauen so feindselig zusammenziehend, wobei die blassen Flügel des geraden Näschens leise zitterten, daß ihr Nachbar sie mit wachsender Theilnahme betrachtete.

Liebe gnädige Frau, sagte er, gestatten Sie einem alten ehrlichen Freunde, dessen Metier das Studium der Krankheiten des Leibes und der Seele ist, die unhöfliche Bemerkung, daß Sie nicht wissen, was Sie sagen. Unheilbar? In so jungen Jahren? Nach einem traurigen Schicksal, das Sie mit Tausenden gemein haben? Da kennen Sie die Kraft und Weisheit der größten Heilkünstlerin noch nicht, der allmächtigen Zeit, der noch weit größere Wunderkuren gelingen, als eine junge Mutter, die ihr erstes Kind beweint, wiederherzustellen. Ich selbst, als ich vor fünf Jahren mich nach Italien verpflanzte, da ich das Brennen einer Lebenswunde in der alten heimathlichen Luft unerträglich fand – nun, ganz vernarbt ist sie auch hier noch nicht. Aber ich athme doch wieder, ohne allstündlich den schneidenden Schmerz zu empfinden, ich bringe meine Tage ganz menschlich hin, sogar nicht unnütz für meine Nebenmenschen. Hundert Schritt von diesem Hôtel habe ich mir in einem sauberen Häuschen ein paar Zimmer gemiethet, aus denen ich den hübschen Garten und den wundervollen See bis hinüber zum Monte Baldo überschaue. Da treibe ich allerlei wissenschaftliche und sonstige Allotria. Zu Mittag finde ich mich an diesem Tische ein. Die Wirthe sind meine sehr guten Freunde, der alte weißköpfige Herr dort unten ist der Padrone, er hat seine Nichte geheirathet, die viel jünger ist, eine liebenswürdige Frau und eine treffliche Sängerin. Der Compagnon des alten Signor Triaca ist ein gebildeter junger Mann aus guter Mailändischer Familie; so ist auch im Winter, wenn das Haus leer geworden, für eine Ansprache gesorgt. Und dann, die hülfreiche Assistentin jener großen Ärztin Zeit, die gute, stille, unerschöpflich herrliche Natur an diesem gesegneten See, dem schönsten von allen südlichen, die ich kenne – seien Sie überzeugt, verehrte Frau daß ein paar Wochen in diesem Sanatorium Ihnen an Leib und Seele gedeihlicher sein werden, als Jahr und Tag unter dem grauen nordischen Himmel, wo armselige Pfuscher meiner löblichen Zunft an Ihnen herumexperimentiren.

Sie hatte ihn angehört, ohne eine Miene zu verziehen. Als er schwieg, griff sie nach ihren Handschuhen, die sie neben ihr Gedeck gelegt hatte. Es war, als ob sie entschlossen sei, nichts zu erwidern. Dann brach es plötzlich aus ihren scharf gepreßten Lippen hervor: Es giebt Wunden, über die weder die Zeit noch Ihre gepriesene Natur Macht hat. Ich wünsche Ihnen Glück, daß Ihnen diese Erfahrung erspart geblieben ist.

Damit stand sie rasch auf, neigte leise den Kopf gegen ihn und schritt, das Mäntelchen fest um ihre Schultern ziehend, aus dem jetzt schon menschenleeren Gemach.

*

Er war sitzen geblieben und hatte ihr mit stillem Wiegen des Kopfes und einem leise gebrummten Hm! Hm! nachgeblickt. Dann trank er langsam seinen Wein aus, zündete eine Cigarre an und stand auf.

An den leeren Stühlen vorbei, um die jetzt nur die Kellner mit dem Abräumen der Tische beschäftigt waren, schritt er, immer nachdenklich vor sich hin summend, in das Vorgemach hinaus, wo jetzt die Wirthe beim Kaffee saßen. Er begrüßte sie auf Italienisch und fragte sogleich, wann die schöne Fremde angekommen sei, und wo man ihr ein Zimmer angewiesen habe.

Eine Stunde vor Tisch sei sie mit einem Kutscher von Gardone angelangt, da sie dort in dem überfüllten großen Hôtel nicht untergekommen sei. Sie habe dann ein Wägelchen gemiethet, das sie an irgend einen anderen Ort bringen sollte. Salò sei eben der nächste gewesen, auch scheine es ihr gleichgültig zu sein, wo sie bleibe, denn sie habe mit dem sehr bescheidenen letzten Zimmer, das noch frei gewesen, vorlieb genommen. Sie scheine sehr krank zu sein oder einen großen Kummer zu haben, fügte die Frau Wirthin hinzu. So schön und so traurig, die arme junge Dame! Er habe ja mit ihr gesprochen. Ob er wisse, was ihr fehle?

Er hoffe, es bald zu ergründen. Es liege ihm aber, da er ein guter Freund ihres Mannes sei, vor allem daran, sie gut aufgehoben zu wissen. In dem Anbau, wo gewöhnlich die Passanten untergebracht würden, werde ihre Nachtruhe gestört werden.

Signor Guastalla, der jüngere der beiden Wirthe, entsann sich, daß noch vor Nacht der Herr abzureisen gedenke, der das stille Balconzimmer im Hauptgebäude am Ende des Corridors inne habe. Dahin könne die Dame sofort übersiedeln.

Er ging, sie davon zu benachrichtigen. Der Doctor verabschiedete sich und trat dann auf die Altane hinaus, von der eine Steintreppe in den breiten sonnigen Garten hinabführte. Dahinter blaute der See, eine Barke mit viereckigem braunrothem Segel glitt langsam hinter der niedrigen weißen Brüstungsmauer vorbei, dem Hafen des Städtchens zu. Drüben lagen die Berge im zarten, flimmernden Sonnenduft.

Die zauberhafte Nachmittagsstille hatte viele der Gäste hinausgelockt, sich's unter den Magnolienbüschen und Feigenbäumen und in der schattigen Bambuslaube zu ihrer Siesta bequem zu machen. Am äußersten Rande aber vor den jetzt noch geschlossenen hohen Fenstern des Citronenwinterhauses ging eine weibliche Gestalt mit unruhigen Schritten in der hellen Sonne auf und ab, das Gesicht nicht einmal mit einem Hut oder Schleier gegen das blendende Licht geschützt, die Arme über der vollen Brust gekreuzt, die Augen beharrlich auf den Kies des Gartenweges geheftet.

Der Späher auf der Altane droben hatte sie gleich erkannt. Seine erste Regung war, die Treppe hinabzusteigen. Doch hielt er wieder inne. Langsam wandte er sich ab und kehrte in das Haus zurück.

Die Sache sei schon in Ordnung, sagte ihm Signor Guastalla, der ihm im Flur begegnete. Jener Herr habe sich gern bereit erklärt, sein Zimmer schon jetzt zu räumen. Das Gepäck der Dame – es bestehe nur aus einem Pelzmantel und einem Handköfferchen – werde eben hinübergebracht, er selbst suche die Dame, ihr mitzutheilen, wie man hinter ihrem Rücken für sie gesorgt habe.

Va bene! nickte der Doctor. Sie ist unten im Garten. Auf Wiedersehn heut Abend!

*

Er pflegte sonst am Abend seine einsame Wohnung nicht zu verlassen. Heute lockte ihn ein Gefühl, das wärmer als bloße Neugier war, zur Stunde des Abendessens wieder in das Hôtel.

Der Platz aber, den die junge Frau Mittags eingenommen hatte, blieb leer. Auch die Wirthe wußten nicht mehr von ihr, als daß sie sich ein frugales Nachtmahl aufs Zimmer hatte bringen lassen, nachdem sie mehrere Stunden am einsamsten Platz im Garten auf einer Bank gesessen und auf den See hinausgestarrt hatte.

Am nächsten Mittag, wo der Doctor ihr sicher zu begegnen gedacht hatte, ließ sie sich ebensowenig an der Wirthstafel blicken. Nach dem Essen schickte er einen Kellner zu ihr ins Zimmer, um anzufragen, ob er sie besuchen dürfe. Das Zimmer war leer gewesen, von dem Mahl, das man ihr dort aufgetragen, hatte sie nur das Wenigste genossen.

Sie war offenbar entschlossen, jeden weiteren Verkehr mit dem einzigen Menschen, der sie hier kannte, abzuschneiden.

Verdrossen darüber nachsinnend, ob er dem wunderlichen Wesen den Willen thun oder sich bemühen solle, ihr seine Theilnahme aufzudrängen, schritt er auf der hellen, breiten Landstraße dahin, auf der man in einer halben Stunde nach Gardone gelangt. Er hatte dort einen Bekannten, mit dem er dann und wann, um ihn über seine beständigen Todesgedanken hinwegzubringen, ein Stündchen verplauderte. Als er die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, sah er auf einer Bank eine weibliche Gestalt sitzen, in der er, obwohl ein breiter schwarzer Hut ihr auf die Brust gesenktes Gesicht verdeckte, die Gesuchte erkannte. Die Bank stand im Schatten einer hohen Mauerschlucht, durch die man zu einem Kirchlein hinanstieg. Oben aus den Olivenpflanzungen aufragend, erhoben sich alte, hochwipflige Cypressen, die eine beschauliche Friedhofsstimmung um sich verbreiteten. Die Luft war still, das weite Firmament von einem leichten Dunst verschleiert, der ein Frühlingsgewitter anzukündigen schien.

Die Einsame auf der Bank fuhr leicht zusammen, als plötzlich die hohe Männergestalt vor ihr stand. Als sie aufblickend den Doctor erkannte, stieg ihr eine dunkle Röthe in die Wangen, die dann rasch wieder erblassten. Sie regte sich aber nicht und brachte keinen Gruß über die Lippen.

Guten Tag, Frau Malwine! sagte er, ohne ihr die Hand zu bieten, als sei er nicht sicher, daß die ihre ihm entgegengereicht werden würde. Und dann: Sie haben sich hier ein anmuthiges Schmollwinkelchen ausgesucht und denken in diesem Augenblick: warum muß der unangenehme Mensch mich in meinen Meditationen stören! Aber wenn Sie mich auch zu allen Teufeln wünschen – hier bin ich, und hier bleib' ich und treibe die Zudringlichkeit sogar so weit, daß ich mir ein bescheidenes Plätzchen auf der Bank neben Ihnen ausbitte. Sie werden mir diese kleine Gunst doch nicht abschlagen?

Noch immer schwieg sie, neigte nur unmerklich den Kopf und rückte, ihr Mäntelchen an sich ziehend, auf das äußerste Ende der Bank.

Ja, sagte er lächelnd, indem er sich neben ihr niederließ, Niemand entgeht seinem Schicksal. Sie haben es so klug angefangen, mir auszuweichen, und nun müssen Sie doch meine Gesellschaft dulden; denn es wäre doch gar zu unfreundschaftlich, wenn Sie jetzt sofort aufstünden und mich hier sitzen ließen. Das hätte ich wahrlich nicht um Sie verdient, da ich, schon vor unserer persönlichen Bekanntschaft, für die Frau meines Freundes das wärmste Interesse gehegt habe.

Sie sah beharrlich an ihm vorbei, mit einem müden, gleichgültigen Ausdruck, wie man etwas Lästiges, das nicht abzuwehren ist, über sich ergehen läßt.

Ich bedaure, sagte sie jetzt, daß ich dieses Interesse wohl rasch verscherzen werde. Meine Stimmung ist nicht derart, daß ich irgend einem Menschen liebenswürdig erscheinen könnte.

O, sagte er, Sie vergessen, daß Sie es mit einem Arzt zu thun haben, der, auch wenn gar kein persönliches Verhältniß besteht, schon von Berufs wegen an einem leidenden Menschen lebhaften Antheil nimmt. Und daß Sie leidend sind, haben Sie mir ja selbst zugestanden.

Gewiß. Nur daß ich mich in keine ärztliche Behandlung zu geben wünsche.

So wenig, wie ich gewohnt bin, auf den Patientenfang auszugehen, am wenigsten, seitdem ich meine regelmäßige Praxis aufgegeben habe und nur noch für das arme Landvolk zu sprechen bin, das, Gott weiß warum, mir sein besonderes Vertrauen schenkt und zu gewissen Stunden mich in meiner Klause überläuft. Aber Sie werden begreifen, wenn es sich nicht um die erste beste Kranke handelt, sondern um ein Wesen, das einem mir sehr lieben Menschen das Theuerste ist, was er besitzt, da ist's denn doch ein ander Ding, da wird Indiscretion eine Art heiliger Pflicht, und ich erkläre Ihnen geradezu, verehrte Frau, daß ich entschlossen bin, Sie nicht sich selbst zu überlassen und nicht zu ruhen, bis ich mich von der Unheilbarkeit, die Sie sich nachsagen, überzeugt habe, oder auf irgend ein zweckmäßiges Heilverfahren verfallen bin.

Sie wandte sich zum erstenmal nach ihm um und sah ihm mit einem festen, herausfordernden Blick gerade ins Gesicht.

Und wenn ich mich dieser aufgedrungenen Freundessorge entziehe und heute noch abreise?

So würde ich Ihnen in derselben Stunde nachreisen, da Kranke unzurechnungsfähig sind und sich eine Überwachung gefallen lassen müssen. Es wäre denn, fügte er langsamer hinzu, sie scharf ins Auge fassend, Sie kehrten auf dem geraden Wege, der auch diesmal der beste wäre, zu Ihrem Manne zurück.

Zu meinem Manne? Niemals!

Das Wort war ihr kaum entfahren, als sie es zu bereuen schien. Ihre Brust athmete heftig, die feinen Nasenflügel bebten, sie stand rasch auf und trat von der Bank weg, wie um jedes weitere Gespräch abzuschneiden. Da hörte sie den Doctor sagen: Setzen Sie sich doch wieder, liebe Frau! Sie sind mir Aufklärung schuldig über das große Wort, das Sie so gelassen ausgesprochen haben, nein, nicht gelassen, in einer Aufregung, die mich überzeugt, daß es nicht Ihr letztes Wort gewesen sein kann. Sie wollen sich von Ihrem Manne trennen, von diesem Manne, nachdem Sie erst zwei Jahre mit ihm verbunden waren? Das ist ja unglaublich.

Und als sie mit einem verächtlichen Achselzucken sich in ihr Mäntelchen hüllte und finster schweigend an ihm vorbeisah: Sie müssen doch begreifen, fuhr er fort, daß ich Sie nicht loslasse, ehe Sie mir gesagt haben, was zwischen Sie und Ludwig getreten ist, daß Sie diesen geliebten und liebenswürdigen Menschen plötzlich als Ihren Todfeind betrachten. Wenn Sie mich damit abfertigen wollen, daß dies Ihre Privatangelegenheit sei, in die sich kein Dritter zu mischen habe, so wird Ihnen das nichts helfen. Was Sie mir heute nicht sagen wollen, werden Sie mir morgen oder übermorgen anvertrauen müssen. Denn ich bin es nicht nur meinem Freunde schuldig, sondern auch Ihnen selbst, nicht nachzulassen, bis ich mich überzeugt habe, ob der Riß zwischen Ihnen wirklich unheilbar sei. Wir Ärzte haben die Pflicht, zudringlich zu sein und zu Patienten, die uns die Thüre weisen, zum Fenster hineinzusteigen, um sie, solange noch Hoffnung ist, auch wider ihren Willen zu kuriren. Nun also, kleine Frau, was ist vorgefallen? Es hat einen Sturm gegeben, einen Ehezwist, und da Sie heißblütig und übermäßig nervös sind, obwohl aus dem Sanatorium als geheilt entlassen, sind Sie auf und davon gegangen. Aber ein Mensch wie Ludwig, einer von der besten Sorte dieser großen, mit so vielen Schwächen und Gebrechen behafteten Gattung von Erdengeschöpfen – was kann der gegen Sie verbrochen haben, was eine gute Frau ihm nicht verzeihen müßte, wenn er sich reuig an ihr liebevolles Herz wendet?

Sie antwortete noch immer nicht. Auch er schwieg und schien, mit seinem Stock im Sande vor seinen Füßen Figuren zeichnend, ruhig abwarten zu wollen, bis sie sich zur Beichte entschließen würde. Auf der Straße draußen schlenderten Lustwandelnde hin, rasche Wägelchen rollten im Fluge vorüber, und ein Mädchen, das einen Korb voll Orangen trug, blieb einen Augenblick am Eingang der kleinen Gasse stehen, ihre Früchte zum Verkauf zu bieten. Ein Kopfschütteln des Doctors scheuchte sie fort.

Doch obwohl es unter dem Cypressenschatten still war, wie in einem Beichtstuhl, kam noch immer kein Wort von den festgeschlossenen Lippen der jungen Frau.

Nun wohl, sagte der Doctor endlich und stand langsam auf, ich sehe jetzt klar, wie es steht. Die Hauptschuld an dem Zerwürfniß tragen Sie selbst und scheuen sich, das einzugestehen. Sie finden es natürlich ungalant, daß ich Ihnen das ins Gesicht sage. Aber da ich Sie nur seit gestern zu kennen die Ehre habe, mit Ihrem Manne aber mehrere Jahre aufs Vertrauteste verkehren durfte, bin ich zu dem Glauben berechtigt, daß Sie der schuldigere Theil sind. Was er Ihnen auch angethan haben mag, ich kenne seinen Charakter und weiß, wie er Sie liebt, und wenn sein leicht bewegliches Künstlertemperament einmal mit ihm durchgegangen ist und er etwas gesagt hat, was Ihnen kränkend erschien – mein Gott! Sie haben ja gewußt, daß Sie keinen Pfarramtscandidaten heiratheten, sondern einen lustigen Musikanten, der aber nichts Besseres verlangte, als sich durch den Taktstock seiner lieben Kapellmeisterin regieren zu lassen.

Er drückte sich mit einer unwirschen Gebärde den Hut in die Stirn, machte eine kurze Verbeugung und wandte sich zum Gehen. In der klugen Berechnung aber, daß er nur auf diese Weise ihr hartnäckiges Schweigen brechen könne, sollte er sich nicht getäuscht haben.

Ja wohl, sagte sie, wie wenn sie nur zu sich selbst spräche, darauf mußte ich ja gefaßt sein. Vor dem Richterstuhl der Männer bin ich, auch ohne daß man mich verhört, der schuldige Theil. Denn den Herren der Schöpfung ist ja Alles erlaubt, was ihnen Vergnügen macht, und wenn sich eine Frau noch so sehr dadurch beleidigt und entehrt fühlt, sie hat kein Recht, sich zu beklagen, sie muß noch himmelhoch jauchzen, wenn er sie zu Tode betrübt, denn sie kann das Glück, daß er sie seiner Wahl gewürdigt hat, nicht zu theuer bezahlen. Damit Sie mich aber doch nicht für gar zu kindisch halten, sollen Sie hören, daß es am Ende auch in den Augen der Welt keine so ganz alltägliche und geringfügige Sache war, die es mir unmöglich macht, ferner noch neben ihm fortzuleben, sondern ein schweres, selbst in seinen eigenen Augen strafwürdiges Verbrechen. So! Nun wissen Sie's, und nun habe ich Ihnen nichts mehr zu sagen.

Er sah auf sie herab, mit einem plötzlich verwandelten Ausdruck innigster Theilnahme. Liebe Frau Malwine, sagte er, den Stock tief in den Grund bohrend, wie zum Zeichen, daß er nun nicht gesonnen sei, von der Stelle zu weichen, Sie irren sich. Sie haben mir noch viel zu sagen, nun erst recht. Ein Verbrechen, sagten Sie? Es giebt nur eins zwischen Mann und Weib, das einen schwer, oft sogar nie zu überbrückenden Abgrund zwischen ihnen aufreißt, und dieses Verbrechens halte ich unseren Freund nicht fähig, Ihnen gegenüber, die ich in vollem Jugendreiz vor mir sehe und deren Besitz ihn so glücklich gemacht hat, daß für alle anderen Menschen, auch seine besten Freunde, kaum noch ein Pflichttheil Liebe in seinem Herzen blieb. Nein, es muß ein Irrwahn Sie verblendet haben, ein falscher Verdacht, von dem er sich nicht sogleich reinigen konnte. Untreue? Ludwig hätte Ihnen untreu werden können?

Er sah, daß ihr plötzlich große, schwere Tropfen aus den Augen brachen, Thränen, wie sie einem beleidigten Herzen mehr das Gefühl der Kränkung als eines weichen Schmerzes entlockt. Sie schien es nicht einmal zu wissen, daß sie einen Zeugen ihres fassungslosen Kummers sich gegenüber hatte. Die Tropfen rollten langsam über ihre blassen Wangen, während sie die Augen leise zudrückte. Erst als er ihr das Tüchlein, das sie im Schooß gehalten, sacht aus der Hand nahm und ihr mit zutraulicher Sorgfalt, wie einem weinenden Kinde, die schweren Wimpern damit trocknete, war es, als kehre ihr das Bewußtsein dieser ganzen Scene zurück.

Was wollen Sie noch mehr von mir hören? sagte sie dumpf. Die näheren Umstände sind ja gleichgültig, wenn ich Ihnen sage, daß er selbst nicht den Muth gehabt hat, das Verbrechen abzuleugnen. Mögen Sie's ihm immerhin nicht zutrauen, die Thatsache ist da, und was geschehen, nicht ungeschehen zu machen. Wenn Sie es gut mit mir meinen, so überlassen Sie mich jetzt mir selbst. Ich werde schon ohne fremde Hülfe mit mir fertig werden, denn was mich allein noch aufrecht erhält, ist das Gefühl meiner Freiheit von jedem Zwange, auch dem freundschaftlichsten. Wenn Sie ein seelenkundiger Arzt sind, werden Sie das verstehen.

Gewiß, sagte er und setzte sich ruhig wieder neben sie, das kleine, ganz durchnäßte Taschentuch wie zum Trocknen über den Griff seines Stockes breitend. Ich weiß, daß alles Dreinreden in solch einer Stimmung nicht wirksamer ist, als ein Senfpflaster auf einem Beinbruch. Nichts liegt mir ferner, als Ihnen den geringsten Zwang anthun zu wollen. Aber auch Sie werden begreifen: so wie ich Ihren Mann bisher geliebt und geachtet habe, wobei ich ihm freilich allerlei Menschlichkeiten zutraute – das, dessen Sie ihn angeklagt haben und er sich schuldig bekannt hat, ist so ungeheuerlich, daß ich es mit meiner alten Vorstellung von ihm nicht reimen kann. Nach zweijähriger glücklicher Ehe – denn Sie waren doch glücklich in diesen zwei Jahren?

Ein Nicken, bei dem der Thränenstrom nur heftiger vorbrach, antwortete ihm.

Nun also, wie soll ich es fassen, daß eine Andere ihm ernstlich gefährlich werden, ihn zu einem so völligen Vergessen seiner Liebe und Pflicht verleiten konnte? Ich weiß, daß er, auch bevor er Ihnen begegnete, ein innerlich reinlicher Mensch war, leicht entzündlich von allem Schönen, aber durch den angeborenen Ekel vor allem Gemeinen gegen die Verirrungen leichtlebiger junger Männer geschützt. Und nun soll ich glauben, er habe sich so schwer vergangen an einem leidenschaftlich geliebten Wesen, das er als seine erste wirkliche Liebe vergötterte? Wenn ich Sie die Briefe lesen ließe, die er als Bräutigam an mich schrieb – nein, liebe Frau, ich würde an all meiner psychologischen Erfahrung verzweifeln, wenn ich die »Thatsache«, die ich ja hinnehmen muß, ohne alle »mildernden Umstände« glaubhaft finden sollte.

Es macht Ihrem Zartgefühl Ehre, fuhr er fort, seine breite, warme Hand auf ihre zitternde und feuchte legend, daß Sie über das Geschehene einen Schleier breiten wollen. Aber Sie thun ihm damit Unrecht. Und er selbst, wenn er jetzt statt Ihrer neben mir säße – er hatte nie ein Geheimniß vor mir – ich weiß, daß er mir auch jetzt nichts vorenthalten würde, was noch so belastend, vielleicht aber auch für einen alten Menschenkenner entschuldigend klänge.

Sie hatte, während er sprach, ihre Fassung wiedergewonnen und sagte jetzt, aus ihren Thränen aufblickend: Sie haben Recht. Ich habe schon zu viel gesagt, um vor Ihnen, seinem treuesten Freunde, noch etwas zurückzuhalten. Auf mildernde Umstände, die Sie zu entdecken hoffen, werden Sie freilich verzichten müssen. Hat er selbst doch nicht einmal von fern versucht, seine Schuld zu beschönigen. Er erkannte wohl, daß die Trennung um so unversöhnlicher war, je größer das Glück, das sein Verbrechen vernichtet hat.

Denn ja, ich war glücklich diese zwei Jahre, bis das Kind mir genommen wurde. Auch dieser Schmerz hätte sich endlich verblutet. Ich wußte ja, daß ich in meinem Mann einen der liebenswürdigsten Menschen besaß, wie Sie ihn genannt haben. Auch daß er seine Schwächen hatte, nicht unfehlbar war, als Mensch, und vollends als eine leichtblütige, enthusiastische Künstlernatur, verleugnete ich mir nicht. Ich war sogar darauf gefaßt, daß ich nicht immer die Einzige sein würde, die seine Phantasie, seine Sinne beschäftigte. Ich sagte mir: wenn du alt geworden und nicht mehr hübsch sein wirst, er aber, obwohl er zehn Jahre älter ist, steht dann noch in voller männlicher Kraft, seine Compositionen haben ihn berühmt gemacht, die Welt, zumal die Frauen huldigen ihm – wirst du es ihm nicht verzeihen können, wenn irgend eine reizende Gestalt ihn dir auf eine Weile abtrünnig macht? Ist es nicht Glücks genug, daß du ihn viele Jahre besessen hast, daß das Beste in ihm, sein Herz, sein Vertrauen, seine Freundschaft dir auch dann und bis zum Ende gehören wird?

Ich hatte den Muth, wenn auch vielleicht mit etwas Herzweh, diese Frage zu bejahen. Und fürs Erste war ich ja auch sicher davor, auf eine so bedenkliche Probe gestellt zu werden.

Wir waren so glücklich zusammen, er so ausgefüllt von seinen beiden »Schicksalen«, wie er es nannte, seiner Liebe und seiner Kunst. Das Theater ließ ihm Zeit genug zu eigenen Arbeiten, seine Quartette konnte er durch die besten Spieler seines Orchesters gleich zu Hause probieren lassen, wenn er ein Lied componirt hatte, brachte er es, noch eh die Tinte ganz trocken war, zu mir, daß ich es ihm vorsingen mußte –

Ich weiß, warf der Doctor ein, wie begeistert er mir von Ihrem Gesange schrieb.

Nein, meine Stimme und mein Talent sind unbedeutend, aber ich habe ein intimes Gefühl gerade für seine Lieder, und ich lernte noch allerlei durch seine Unterweisung. Aber das gehört ja nicht hierher. Was wollt' ich doch sagen? Ja, daß ich auch sonst mich bemühte, seine Geliebte nicht nur, sondern auch sein guter Kamerad zu sein. Es kam wohl vor, daß er einen Abend lang für eine schöne Frau, neben der er bei Tische saß, schwärmte, oder einem reizenden Mädchen die Cour machte. Ich fand das immer sehr natürlich und ging, obwohl ich zuweilen anderer Ansicht war, ganz unbefangen auf solche Schwärmereien ein. Ich wußte ja, es war keine Gefahr dabei. Wäre er der Künstler gewesen, den ich liebte und bewunderte, wenn irgend etwas Schönes keinen Eindruck auf ihn gemacht hätte?

Was ich anfangs ein wenig ernstlicher gefürchtet hatte, daß eine der Damen vom Theater ihm gefährlich werden könnte, redete er mir bald mit Lachen aus. Ein Kapellmeister, sagte er, sieht diese Sirenen nicht wie die Leute im Parkett nur in der magischen Lampenbeleuchtung, sondern bei den Proben, wenn sie mit überwachten Augen im Straßenanzug ohne Schminke sich an die Rampe stellen und bei jedem falschen Ton oder Takt, den man corrigirt, ein sehr verdrießliches Gesicht machen. Auch wissen sie ja, was für eine Frau ich habe, und daß es verlorene Liebesmüh' wäre, mich erobern zu wollen. Zumal der unbedeutendste Baron oder Graf sie mehr in Flammen setzt, als wenn statt deines noch unberühmten Gemahls Mozart oder Mendelssohn den Taktstock schwänge.

Vor allem ergoß er seinen Spott über die Primadonna, eine große, schöne Person, die auffallend unmusikalisch war und ohne den beharrlichsten Fleiß mit ihrer ungelenken mächtigen Stimme keine große Rolle bezwungen haben würde. Er kam oft übermüdet und verstimmt nach Hause, wenn er in einer Klavierprobe stundenlang sich abgequält hatte, dem armen Geschöpf etwas musikalische Disciplin beizubringen, da sie selbst genug gethan zu haben glaubte, wenn sie ihre schönen Augen schmachtend aufschlug und in ein schleppendes Tempo verfiel, das sie für seelenvoll hielt.

Sie war, halb aus Dankbarkeit, da sie ohne ihn mit nichts zu Stande gekommen wäre, in Ludwig verliebt. Ich konnte es schon aus dem unverhohlen feindseligen Ausdruck ihres sonst sehr apathischen Gesichts erkennen, wenn wir uns auf der Straße begegneten. Das hinderte sie nicht, allerlei Verehrern unter den Offizieren und der jeunesse dorée einen ziemlich freien Zutritt zu gewähren, was sie in meinen Augen vollends verächtlich machte. Sie allein ließ ich die Schwelle unseres Hauses nicht überschreiten, so gern ich es sah, wenn andere weibliche Mitglieder der Oper, auch die jüngsten und hübschesten, dann und wann sich zu zwanglosen Abendgesellschaften bei uns einfanden.

*

Sie schwieg einen Augenblick, wie schmerzlich versunken in die Erinnerung an jene ungetrübte heitere Zeit vor ihrem Unglück.

Er saß ganz still neben ihr, den Blick auf das schwarzgrüne Cypressenlaub zu ihren Häupten geheftet. Vor den Bergen drüben, die sich violett zu färben begannen, erschien dann und wann der weiße Rauch eines Dampfers oder das flatternde Segel einer Fischerbarke, während kreischende Möwen durch die sonnige Luft schossen.

An dem Paar auf der Bank ging all die Schönheit und Heiterkeit des Frühlingsabends ungenossen vorüber.

Dann kam die Katastrophe, hob sie wieder an, von der ich Ihnen schon gesagt habe. Er war fast noch tiefer dadurch getroffen als ich selbst, oder schien es wenigstens. Er hatte sich so auf den Knaben gefreut. Als er feine Hoffnung zerstört sah, verfiel er mehrere Tage lang in einen Trübsinn, der ihm sogar die Ausübung seines Berufs unmöglich machte. Nur für eins hatte er noch Sinn: mich zu trösten, um für mein Wiederaufleben nach der tödtlichen Erschütterung Sorge zu tragen.

Als der Arzt mich dann in das Sanatorium schickte, konnte er sich kaum darein finden, mich nicht zu begleiten. Das Theater aber hielt ihn fest. Es war Ende Januar, eine neue Oper sollte einstudirt werden. Niemand konnte ihn vertreten. Aber obwohl er alle Hände voll zu thun hatte, schrieb er mir täglich Briefe, wie in seiner Bräutigamszeit. Ich war aber noch so zerstört in meiner ganzen Natur, daß diese zärtlichen Worte mich nicht anders berührten, als wie eine weiche Luft einen Fieberkranken.

Dann, vor drei Wochen, fing es an; die Briefe wurden kürzer, nur Berichte über seine Arbeit, die durch ein Gastspiel d'Andrade's erheblich vermehrt wurde. Sie wissen, unsere Bühne kann sich mit denen der Großstädte nicht messen. Wenn ein berühmter Gast uns beehrt, müssen wir alle Kräfte anspannen, uns keine Schande zu machen. Diesmal half uns der Gast selbst, der ja die Gabe hat, selbst mittelmäßige Talente mit sich fortzureißen, daß sie ihr Bestes thun. Ludwig schrieb in hellem Entzücken, wie gut sich Alle hielten. Selbst jenes »Bild ohne Gnade«, die schöne Puppe, mit der er immer seine liebe Noth gehabt, jetzt auf einmal, schrieb er, habe sie ihr musikalisches Herz entdeckt. Es sei jammerschade, daß ich das nicht alles miterleben könne. Der Doctor aber wolle von meiner übereilten Rückkehr nichts hören, und meine Genesung sei denn doch noch wichtiger, als ein paar geglückte Aufführungen des Barbier und Don Juan.

Ich gestehe Ihnen, auch mir waren sie zuerst sehr gleichgültig. Nur als Ludwig sich immer begeisterter über den großen Künstler ausließ, regte sich allmählich ein leiser Wunsch, der endlich zu einem unwiderstehlichen Verlangen anwuchs. Ich beschwor den guten, strengen Director, mich wenigstens auf zwei Tage zu entlassen, ich würde dann gehorsam zu ihm zurückkehren. Endlich – da die letzte Gastrolle, eine Wiederholung des Don Juan, bevorstand – gab er meinen Bitten nach. Um jeden Einspruch meines Mannes abzuschneiden, fragte ich nicht erst bei Ludwig an, ob auch er mir dies Intermezzo zwischen der langen Kur erlaube. Nur ehe ich in den Abendzug stieg, der mich nach Hause bringen sollte, schickte ich ein Telegramm mit der Ankündigung meiner Ankunft an ihn ab. Ich war so voll ungestümer Vorfreude auf das Wiedersehen, daß ich nicht daran dachte, ob die frohe Botschaft ihn nicht vielleicht aus dem ersten Schlaf wecken würde.

Erst als ich am Ziele angekommen war, fiel mir aufs Herz, wie thöricht ich gewesen war. Es war vier Uhr Morgens, ein kalter Nebelwind strich durch die Stadt, nichts Lebendiges regte sich, kein Wagen war am Bahnhof, ich fand nur einen Packträger, der mein Handkofferchen mir nachtrug. Als ich an mein verschlossenes Haus kam – einen Hausschlüssel hatte ich nicht mitgenommen –, mußte ich eine gute Weile, vor Kälte schaudernd, an der Klingel ziehen, bis eines unserer Mädchen verschlafen herunterkam und mir öffnete. Sie erschrak, als sie mich erkannte, wie wenn ich aus dem Grabe gestiegen wäre. – Wann mein Telegramm angekommen sei? – Es sei überhaupt keins gekommen. – Ob der Herr schon lange zu Bett gegangen? – Vielleicht. Sie wisse es nicht. Er habe ihnen gesagt, sie sollten nicht auf ihn warten, sondern schlafen gehen. Er werde nach der Vorstellung mit den Theaterleuten im Hôtel zu Nacht essen, es sei eine Feier für den fremden Sänger. Er habe den Hausschlüssel mitgenommen.

Mir war plötzlich alle Freude an der Überraschung vergangen. Das Herz lag mir schwer in der Brust, als ich die Treppe hinaufstieg, doch dämmerte noch keine Ahnung eines Unheils in mir auf. Ich schickte das Mädchen sogleich wieder zu Bett und nahm ihr nur das Licht aus der Hand. Leise auf den Zehen ging ich in das Wohnzimmer und horchte an der Thür nebenan, die in unser Schlafzimmer führte. Als ich auch von da heraus keinen Laut, keinen Athemzug vernahm, trat ich mit zitternden Knieen sacht hinein – das Bett war leer! – –

*

Sie hielt einen Augenblick inne. Die Erinnerung an jene schwere nächtliche Stunde versetzte ihr den Athem. Dann, sich bezwingend, warf sie den Kopf zurück, und ihre Stimme klang rauh und mühsam, als sie fortfuhr: Sie werden sich wundern, nicht wahr, daß ich das gleich so tragisch nahm. Was war auch dabei? Warum sollte selbst der tugendhafteste Ehemann nicht einmal eine Nacht durchzechen, ohne zu ahnen, daß seine junge Frau ungeduldig und sehnsüchtig in seine Arme geeilt ist? Der fremde Sänger war vielleicht an nächtliche Orgien gewöhnt. »Treibt der Champagner das Blut erst im Kreise« – wer denkt da an frühe oder späte Stunden!

Aber nein, wie durch eine hellseherische Erleuchtung wußte ich, daß es anders zusammenhing. Ich kannte ihn ja auch, ich wußte, daß er kein Freund von langen Trinkgelagen war und sich in der lustigsten Gesellschaft nicht über Mitternacht festhalten ließ. Ein unsäglich bitteres Gefühl, halb Empörung, halb Ekel, überkam mich, daß ich auf einen Stuhl neben der Thür niedersank und regungslos in die Nacht hinaus und in mein jammervolles Herz hineinhorchte. Der wahre Grund seiner Nachtschwärmerei trat mir nicht von fern vor die Seele. Ich war nur überzeugt, daß es irgend etwas Niedriges, Gemeines war, was sich seiner bemächtigt hatte, was ihn mir plötzlich entfremdete. Diese oder jene kokette Frau, die ihm nicht ganz ungefährlich gewesen, fiel mir ein. Sie hatte vielleicht an der Ovation für den Sänger theilgenommen, die Gelegenheit benutzt, da sie ihn ohne die Nähe seiner jungen Frau wehrloser als sonst sich gegenüber sah – die abenteuerlichsten Romangedanken fuhren mir durch den Kopf, und immer schwächer wurden dazwischen die Bemühungen, sein Ausbleiben eine ganze Nacht hindurch einfach und unschuldig damit zu erklären, daß er vorgezogen habe, einen ungewohnten Rausch im Hôtel auszuschlafen.

So saß ich, eine ganze endlose Stunde lang. Da endlich hörte ich unten die Hausthür aufschließen und darauf seinen Schritt die Treppe herauf und so vorsichtig, wie ein Dieb sich einschleicht, den Schlüssel in der Thür zur Wohnung umdrehen. Noch ein paar qualvolle Secunden – da trat er über die Schwelle des Schlafzimmers. Er sah mich nicht gleich, er starrte nur verwundert die brennende Kerze an, die ich auf den Tisch mitten im Zimmer gestellt hatte, dann mit der Miene eines Schlafwandlers, ganz bleich im Gesicht, drehte er sich langsam um, und jetzt, mit einem Ausruf des tödtlichsten Erschreckens: Du hier! Um Gottes willen, wie kommst du – wie lange bist du – so sprich doch – ist es denn möglich –

Und während er das stammelte, näherte er sich mir langsam, und als ich keine Silbe hervorbrachte, beugte er sich zu mir herab und hob die Arme, wie um mich an sich zu ziehen, wie ein zärtlicher Ehemann seine Frau begrüßt nach langer Trennung – immer: Malwine – bist du's denn wirklich? flüsternd. Aber wie er mir so nahe kam, spürte ich einen Duft, der von seinem Gesicht, seinen Händen ausströmte, keinen Wein- oder Cigarrenduft – das Parfüm einer Frau!

Ich stieß ihn mit beiden Händen zurück und schnellte vom Stuhle in die Höhe. Geh! sagt' ich, rühre mich nicht an! Ich weiß, von wem du kommst, ich habe nichts mehr mit dir gemein, von dieser Stunde an sind wir geschieden!

Er fuhr zurück und strich sich mit der Hand über die Stirn und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Als er meinem eisigen Blick begegnete, fiel ihm der Kopf auf die Brust wie einem auf der That ertappten armen Sünder. So standen wir wohl fünf Minuten einander gegenüber.

Der Abgrund zwischen uns war nur zwei Schritt breit. Aber kein Steg führte hinüber, und uns Beiden wollten keine Flügel wachsen.

Malwine! sagte er endlich, höre mich an, du mußt mich anhören – ich will nichts entschuldigen, nichts beschönigen, aber wenn du bedenkst, wie Alles kam –

Nichts will ich hören! unterbrach ich ihn. Ich habe kein Recht mehr auf dich, noch du auf mich. Wir sind für einander zwei Fremde. Wenn du noch einen Rest von Ritterlichkeit in dir hast, so verlässest du mich jetzt ohne noch ein Wort zu sagen, oder du erlebst, daß der ekelhafte Patschouliduft, der dich umgiebt und den ich nur zu gut kenne, mich wahnsinnig macht!

Er hob wieder die Augen und sah mich mit einer solchen Jammermiene an, daß er mir vollends verächtlich erschien. Diesen Mann, der nicht einmal den Muth seines Verbrechens besaß, diesen armen Schwächling hatte ich geliebt! Ich kehrte mich ab und trat ans Fenster.

Als ich nach einer Weile mich ins Zimmer zurückwandte, war es leer, er hatte sich hinausgeschlichen, denn er fühlte, es war alles aus zwischen uns.

Sofort schloß ich die Thür hinter ihm und sank dann wieder auf den Stuhl; meine letzte Kraft war erschöpft. O nur schlafen, nur eine Stunde lang nichts von mir wissen! Was hätt' ich darum gegeben!

Aber auch wenn mein gefoltertes, zertretenes Herz mich hätte ruhen lassen, er mißgönnte mir diese Wohlthat.

Ich hörte, daß er dicht an der Thür stehen geblieben war und zu mir hereinhorchte. Nach einer Weile fing er zu sprechen an. Er hatte sich vom ersten Schrecken erholt. Was er mir ins Gesicht sich nicht zu sagen getraut, was ich nicht hatte hören wollen, jetzt zwang er mich, Alles noch einmal mit ihm durchzuleben. Wie der glänzend verlaufene Abend ihn schon vor dem nachfolgenden Fest in eine Art Rausch versetzt habe, das unsterbliche Werk ihn wie zum ersten Male bezaubert habe, dann das gesellige Nachspiel im Gasthof, wo der herrliche Sänger sie Alle durch den Vortrag spanischer und italienischer Romanzen in Entzücken versetzt habe – und beständig habe ihm vorgeschwebt, wie ich das würde genossen haben, darüber sei er endlich ganz traurig geworden, so daß Donna Anna – eben jene Schlange, deren Namen ich nicht nennen will – ihn geneckt und gescholten habe, wie er nur so ein kalter Fisch sein und selbst heute, wo sie sich selbst übertroffen, kein Wort der Bewunderung an sie wenden könne. Und um Mitternacht sei sie aufgebrochen und in große, natürlich nur gespielte Bestürzung gerathen, da ihr Mädchen sie im Stich gelassen. Was habe er thun können, als ihr seine Begleitung anbieten? Und dann, da er sie halb wie im Traum an seinem Arm geführt und sie sich in der rauhen Nacht immer dichter an ihn geschmiegt habe, dabei ihr Geplauder von ihrem verfehlten Leben und wie schwer sie es empfinde, daß er sie mit so offenbarer Kälte und Geringschätzung behandle – kurz, ihr Zustand habe ihn endlich wirklich gerührt, und als sie vor ihrem Hause ihm ein thränenüberströmtes Gesicht gezeigt, habe er's nicht übers Herz gebracht, sie ohne jeden Trost zu verlassen und – noch immer nur wie ein guter Freund – ihren Mund geküßt. Da habe sie plötzlich ihre Arme so leidenschaftlich um ihn geschlungen, daß ihm das Blut zum Herzen geströmt und alle Besinnung vergangen sei.

Er sprach noch weiter. Ich brachte es aber nicht übers Herz, noch mehr zu hören. Ich war von meinem Stuhl aufgesprungen, hatte mich zum Bett hingeschleppt und lag darauf hingestreckt, den Kopf ins Kissen vergraben. Als ich nach einer Weile mich wieder aufrichtete, kam kein Laut mehr von nebenan. In dieser Grabesstille war mir zu Muth, als wäre alles Leben aus mir gewichen, oder als wäre ich nur noch ein armes Gespenst, das an den Ort zurückgekehrt sei, wo es einmal glücklich gewesen. Ich fühlte nicht einmal einen Schmerz, meine Augen waren trocken, meine Hände eiskalt. So, auf dem Bette sitzend, erwartete ich den Morgen.

Er schlich langsam heran. Die Kerze war herabgebrannt und erlosch. Auf der Straße draußen hörte ich den ersten Wagen rollen. Da überfiel mich eine so tiefe Erschöpfung, daß ich auf das Kissen zurücksank und fest einschlief.

Als ich erwachte, war's heller Tag. Ich sah nach der Uhr – Elf! Um diese Zeit mußte er im Theater sein, bei der Probe. Aber wenn er heute nicht hingegangen wäre? – Ich zitterte vor dem Gedanken. Ich war entschlossen, nie mehr ein Wort mit ihm zu sprechen.

Auf mein Klingeln kam das Mädchen herein. Der Herr sei fortgegangen und habe befohlen, mich nicht zu stören. Ich sei von der Reise ermüdet und werde hoffentlich bis an den Mittag schlafen. – Der Herr habe vergessen, sagt' ich, daß ich noch vor Zwölf weiterreisen müsse. Ich solle ja eine Nachkur im Süden durchmachen und mich zu Hause um keinen Preis aufhalten. Daran solle sie den Herrn erinnern, wenn er von der Probe zu Tisch nach Hause komme.

Sie sah mich groß an, doch ließ ich mich auf nichts weiter ein, warf noch ein paar nöthige Sachen in meinen Handkoffer und ließ eine Droschke holen. Erst als ich im Coupé der Eisenbahn saß und der Zug sich in Bewegung setzte, lös'te sich der Starrkrampf in meiner Seele. Ich brach in Thränen aus. Ich hatte ihn doch einmal geliebt, und wie sehr!

So bin ich ohne Aufenthalt hierher gereis't. Eine Dame meiner Bekanntschaft hatte einen Winter in Gardone zugebracht und mir viel davon erzählt. Dahin wollte ich zunächst. Das große Haus und die vielen eleganten Menschen schreckten mich aber zurück. Da habe ich mich nach Salò geflüchtet, und nun mußte ich hier Ihnen begegnen und an Alles erinnert werden, was ich so leidenschaftlich gern vergessen möchte!

*

Er legte seine Hand wieder leise auf die ihre und sagte: Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, liebe Freundin. Ich werde mich bemühen, es zu verdienen. Und glauben Sie nicht, wenn ich die Partei meines unglücklichen Freundes nehme, ich begriffe nicht vollkommen Ihr Gefühl, die Berechtigung Ihrer Stimmung gegen ihn. Nur müssen Sie auch ihm gerecht zu werden suchen. Denn daß er, was Sie sein Verbrechen nennen – auch ich nenne es so – daß er selbst das ganz so schwer nimmt wie Sie, sollte Ihnen schon als Milderungsgrund gelten. Ein anderer, nicht so edler Mensch hätte überhaupt eine so rückhaltlose Beichte nicht abgelegt, hätte irgend eine Ausflucht gebraucht, sein spätes Heimkommen zu erklären – es lag ja so nah – er konnte vom Wein eingeschläfert worden sein und ein paar Stunden im Hôtel geschlafen haben, oder sonst etwas. Ludwig aber – ich kenne ihn so genau –, ich weiß, was für eine anima candida er ist, zumal den Frauen gegenüber, die ihn doch so sehr verwöhnt haben. Und Sie wissen, daß die Männer über gewisse Vergehungen anders denken als Ihr Geschlecht, ich meine die Guten Ihres Geschlechts. Denn die Schlimmen sind ärger als wir. Einer gemeinen Liebschaft ist er nie fähig gewesen.

Sie blitzte ihn mit ihren schwarzen Augen herausfordernd an. Wie? sagte sie, und dieses Abenteuer mit einer Person, die er so gering schätzte, deren Charakter er so richtig beurtheilte? O wenn es eine Andere gewesen wäre, keine seiner so ganz Unwürdige, wenn eine dämonische Leidenschaft ihn erfaßt hätte, es giebt ja so etwas wie Bezauberung – freilich, in den Folgen wäre es dasselbe gewesen, mich aber hätte es nicht so tief erniedrigt, wie jetzt, wo ich einer – einer Dirne geopfert worden bin!

Sie zog ihr Mäntelchen um die Schultern und machte Miene, das Gespräch abzubrechen. Er hielt sie am Arm zurück.

Auch dann, sagte er, hätte er sich durch diesen einen Fehltritt nicht für alle Zeiten aus der Liste der Ehrenmänner gestrichen. Eine gute Frau wird das freilich nie ganz verstehen, daß für viele Männer, die sich ohne Liebe zu einem gefälligen Weibe herablassen, das nicht mehr bedeutet, als wenn sie vom Durst geplagt einen Trunk thun aus einem nicht ganz reinen Glase. Es entadelt sie das nicht in gleicher Weise, wie eine Frau, die sich bloß durch ihre Sinne dazu fortreißen ließe, sich einem Unwürdigen hinzugeben. Das hängt eben mit geheimnißvollen Naturgesetzen und sehr weisen Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft zusammen. In Ludwig's Fall aber – davon bin ich fest überzeugt – war's nicht einmal der brutale Zwang des Blutes, der ihn in das Netz jener Dame lockte. Nein, wie ich ihn kenne, kam vieles ganz Andere zusammen, ihn seiner Treuepflicht vergessen zu machen: die Erregung durch so viel Kunstgenüsse, der Wein, der ihn stets in eine Art Traumstimmung bringt, und endlich das Gefühl der Ritterlichkeit, das schon manchen guten Gesellen fast wider Willen einer Verführerin preisgegeben hat.

Ritterlichkeit? Sie wollen meiner spotten!

In allem Ernst, liebe Frau: es giebt für einen loyalen, nicht sehr erfahrenen Menschen kein peinlicheres Gefühl, als einem Weibe, das sich ihm in die Arme wirft, sagen zu sollen, daß man für ihre Zärtlichkeit danke, da man sie nicht erwidere. Man weiß, das ist das Kränkendste, was man einem schwachen Wesen zufügen kann, da man zugleich das hingebende Herz und die Eitelkeit der Zurückgewiesenen tödtlich verwundet, und das Beispiel der Frau Potiphar lehrt ja auch, daß in solchem Falle Weiber zu Hyänen zu werden pflegen. Stellen Sie sich Ludwig vor in jener Nacht, wie er das Weib, das er immer schlecht behandelt hatte, in Thränen sich gegenüber sah und dazu alles Übrige, was seine Sinne in Aufruhr gebracht hatte, und Sie werden zugeben, daß ein so weicher Mensch, wie er, dem erliegen mußte, was ich die Macht der Stunde nenne, einer Stunde, in der sich Himmel und Hölle verschwören, einen armen, am Abgrunde hinschwankenden Menschen zu Fall zu bringen.

Sie sah düster vor sich hin. Mit einem bitteren Rümpfen der Lippe sagte sie nach einer Weile: So gäbe es denn eine Entschuldigung für jede Missethat? Keinen Schutz für die Heiligkeit der Ehe gegen »die Macht der Stunde«, und einer listigen Teufelin dürfte es ohne weiteres gelingen, durch eine rührende Komödienscene jeden weichherzigen Mann seiner Pflicht abtrünnig zu machen? Sie selbst, der Sie ihn so warm vertheidigen, Sie wären gleich ihm – nein, nach Allem, was er mir von Ihrer Ehe erzählt hat, traue ich Ihnen nicht die gleiche sittliche Schwäche zu. Sie würden es wohl verstanden haben, sich der vermeintlichen Ritterpflicht zu entziehen und Ihrer geliebten Frau die Treue zu wahren.

Ich danke Ihnen für Ihre gute Meinung, versetzte er mit einem eigenthümlich schwermüthigen Lächeln. Aber ich vermag von mir selbst nicht so gut zu denken. Daß ich nicht in eine ähnliche Versuchung geführt wurde, kann ich mir nicht zum Verdienst anrechnen. Im Übrigen habe ich leider, obwohl ich mir nichts zu Schulden kommen ließ, was ein Ehegericht verdammen müßte, an meiner armen Frau mich schwerer versündigt, als Ihr Mann an Ihnen.

Ja, fuhr er fort, da sie ihn betroffen ansah, diese Frau, die eine der edelsten und liebevollsten ihres Geschlechts war, hatte Ursache, sich ganz anders über mich zu beklagen, als wenn mich eine flüchtige Verirrung der Sinne ein einziges Mal ihr entfremdet hätte. Durch all die neun Jahre, die ich sie besessen habe, bin ich neben ihr hingegangen, als wäre ich ihr für die grenzenlose Hingebung, die sie mir widmete, nicht eine entsprechende Gegengabe schuldig gewesen. Sie war dreizehn Jahre jünger als ich, im Hause ihrer Eltern, deren Arzt ich war, hatte ich sie als ganz jungen Backfisch kennen gelernt, und da sie hübsch und verständig und wohlerzogen war, fiel mir eines Tages ein, sie wäre wohl die rechte Frau für mich, da ich wußte, wie sehr sie mich verehrte, ein wie gutes, aufopferndes Kind sie ihrer kranken Mutter gewesen war. Und ich brauchte eine Frau, die keine großen Ansprüche an mich machte, nicht vergnügungssüchtig oder kokett war, zufrieden mit dem Pflichttheil an Zärtlichkeit, das ein vielbeschäftigter Arzt für seine Lebensgefährtin übrig hat. So heirathete ich sie ohne die Illusion einer besonderen Liebe oder gar Leidenschaft, und wir lebten so gut miteinander, wie man von einer sogenannten Vernunftehe nur verlangen kann. Da sie nie klagte und immer ein holdes, liebenswürdiges Gesicht zeigte, dachte ich, auch sie fasse unser Verhältniß als ein behaglich vernünftiges auf, und bei ihrer, wie ich meinte, kühlen Natur sei sie auch gegen alle leidenschaftlichen Ansprüche auf Liebesglück gesichert.

Ich selbst hatte ein heißeres Naturell, und nur mein Beruf schützte mich vor Verletzungen der ehelichen Treue. Das wird Ihnen sonderbar scheinen, da die meisten meiner Collegen nur allzu geneigt sind, der Macht der Stunde zu gehorchen und den vielfachen Versuchungen, denen sie schwachen oder koketten Patientinnen gegenüber ausgesetzt sind, zu erliegen. Ich aber, sobald ich eine ärztliche Pflicht auszuüben hatte, war der Sklave meines Berufs, und wie jene Römerin sagte: ein Sclave ist kein Mann. Wissenschaft und Liebe vertrugen sich in mir nicht miteinander. Ich bedurfte gar keines Aufwandes von tugendhaften Grundsätzen, um den mancherlei Schlingen, die mir gelegt wurden, unversehrt zu entgehen.

Dann – Ludwig wird Ihnen wohl erzählt haben, daß meine arme Frau schwer erkrankte, an einem inneren Leiden, das in der Regel durch einen operativen Eingriff gehoben wird. Der eigene Gatte pflegt in solchen Fällen seiner Einsicht zu mißtrauen, auch ich zog ein paar meiner älteren Collegen zu Rathe, die mir an Erfahrung überlegen waren, Sie widerriethen die Operation, die vielleicht das Leben in Gefahr gebracht hätte. Auch eine dritte Autorität, die ich consultirte, gab ihnen recht, und ich, obwohl ich fast überzeugt war, meine Frau sei nur so zu retten, war feige und kleinmüthig genug, das Richtige zu unterlassen. Und so habe ich sie sterben lassen, und erst nach ihrem Tode erkannt, daß sie durch ein ungefährliches Wagniß mir hätte können erhalten bleiben.

Ihre Standhaftigkeit, ihr sanfter Heldenmuth in der letzten Zeit hatte sie mir theurer gemacht als je zuvor. Und wie erschütterte mich vollends der Einblick in ihr Gemüth, den ich durch ihr Tagebuch gewann, das die rührendsten Klagen über meinen Kaltsinn und dazwischen Äußerungen der leidenschaftlichsten Liebe enthielt, bei aller Demuth und Ergebenheit ihres Wesens durch ihren weiblichen Stolz zurückgehalten, der sie nicht betteln ließ um etwas, was ihr freiwillig nicht geboten wurde!

O liebe Frau, wie ich mir da als ein Verbrecher erschien, der nie auf Begnadigung hoffen darf! Ich will Sie mit der Schilderung meines zerstörten, verzweifelten Zustandes verschonen. Zugleich war mir mein Beruf verleidet, ich war ein Mörder geworden an dem theuersten Wesen durch eine unselige Verblendung, wie sollte ich in Zukunft meiner Kraft und meinem Wissen vertrauen! Und dazu fortleben in den Räumen, in denen mein verkanntes, hingeopfertes Glück geathmet hatte – das ging über Menschenkraft.

Ich lös'te Alles auf und flüchtete hierher, wo ich nun seit fünf Jahren die langsame, aber sichere Heilkraft der Zeit an mir erfahren habe. Selbst meine ärztliche Praxis habe ich wieder aufgenommen, sehr bescheiden, ohne ein Schild an meiner Thür, und nur weil ich mir zutraue, der leidenden Menschheit doch vielleicht nützlicher sein zu können, als so viele Pfuscher meiner Zunft mit großen Namen und noch größeren Honoraren. Wenn ich irre, irre ich wenigstens gratis. Und so habe ich nach und nach das verlorene Gleichgewicht wiedergewonnen, und selbst die unauslöschlichen Erinnerungen können es nicht mehr von Grund aus erschüttern.

*

Er stand auf, lüftete den breiten schwarzen Filzhut und strich sich über das Haar. Es ist schwül geworden, und wir haben uns noch dazu heiß geplaudert. Sehen Sie die dunkle Wolke dort über dem Höhenrand? Wir haben ein temporaletto zu erwarten, hoffentlich einen ausgiebigen Regen. Dann werden Sie staunen, wie über Nacht die noch dünnen Kastanienzweige sich dicht belauben. Ja, über Nacht kommt hier Manches zur Entfaltung, was droben in der kühleren Zone lange Zeit gebraucht hätte. Ich begleite Sie nicht nach Hause, da ich noch in Gardone einen Besuch zu machen habe. Aber wir trennen uns als gute Freunde, nicht wahr? Und Sie denken nicht mehr daran, vor mir die Flucht zu ergreifen?

Wenn Sie mir versprechen, auf das, was ich Ihnen anvertraut habe, nicht zurückzukommen und keine Heilversuche mit mir anzustellen –

Meine Hand darauf! sagte er und bot sie ihr, die sie mit leichtem Druck ergriff. Sie wissen, welchen Respect ich vor jener größten Heilkünstlerin habe, der unsereins nicht ins Handwerk pfuschen soll. Nur Ihrer Nerven werde ich mich doch wohl ein wenig annehmen dürfen.

Er nickte ihr freundlich zu und schlug, das Gäßchen verlassend, den Weg nach Gardone ein. Als sie ein paar Augenblicke später sich ebenfalls erhob und auf die offene Straße hinaustrat, sah sie die hohe, breitschulterige Gestalt mit jugendlicher Raschheit dahinschreiten, den Hut in der Hand, und plötzlich sich umwenden, und da er sie stehen und ihm nachblicken sah, sich leicht verneigen und ihr mit der Hand einen Gruß zuwinken. Sie erröthete ein wenig und kehrte sich ab, um nach Salò zurückzukehren. Zum ersten Male aber seit jener Nacht fühlte sie wieder etwas Wärme an ihrem Herzen, das ihr bis dahin wie ein Eisklumpen in der Brust gelegen hatte. –

Noch am Abend ging das Gewitter nieder, und die Nacht brachte einen Stromregen, der die zögernden Frühlingsblüten auf einen Schlag hervorlockte. Der Garten des Hôtel Salò stand am Morgen im schönsten Flor, eine sanfte, balsamische Luft spielte um die Palmen und Agaven und bewegte die Wimpel der kleinen Barken, die sich leise an ihren Ketten schaukelten. Als der Doctor um die Mittagsstunde kam, fand er die junge Frau in einem Amerikaner liegen, wo nach ein paar verträumten, versonnenen Stunden ein leichter Schlaf sie übermannt hatte. Er betrachtete sie eine Weile mit herzlichem Wohlgefallen an den schönen, kraftvollen Zügen, den breiten Augenlidern und dem weichgeschwellten, nur etwas zu blassen Munde. Das rothe Sonnenschirmchen, das halb über die hohe Lehne zurückgesunken war, übergoß das Gesicht mit einem warmen Schimmer, eine Strähne ihres leichtgewellten Haars hing ihr über Stirn und Schläfe herab, die feinen dunklen Brauen zogen sich zusammen wie in einem ängstlichen Traum, und die Brust athmete schwer. Er konnte sich nicht entschließen, sie zu wecken. Da klang oben auf der Terrasse die Tischglocke, und die Schläferin fuhr verwirrt in die Höhe. Sie habe die Nacht schlaflos zugebracht und sei nun von der stillen, milden Sonne eingelullt worden. – Um so besser! sagte er. Wir haben kein wirksameres Medicament in unseren Apotheken, als solch einen Sonnenschlaf, und brauchen die Dosen nicht ängstlich abzumessen. Den Nachtschlaf macht dies Mittel freilich nicht entbehrlich.

Bei Tische saßen sie nebeneinander, kein leerer Stuhl mehr zwischen ihnen. Er plauderte heiter von gleichgültigen Dingen, sie freilich schien zuweilen kaum darauf zu hören. Als er sie dann nach der Behandlung in ihrem Sanatorium fragte, mußte sie wohl Rede stehen. Doch geschah es einsilbig und ohne jedes Interesse an dem, was sie sagte. Er sah wohl, daß sie noch ganz im Bann ihres Schicksals stand.

Eine Stunde nach dem Essen klopfte das Mädchen an ihre Thür. Der Herr Doctor halte mit einem Wägelchen am Hause und lasse die Signora fragen, ob sie eine Spazierfahrt mit ihm machen wolle.

Im ersten Augenblick wollte sie Nein sagen, sie überlegte aber, daß sie keine triftige Entschuldigung hätte, denn den Wunsch, sich in ihren hoffnungslosen Gram zu versenken, hätte er nicht gelten lassen. So nickte sie nur, setzte rasch ihr schwarzes Hütchen mit den kleinen grauen Straußenfedern auf und folgte dem Mädchen durch den Corridor nach der hinteren Thür des Hauses, an der die Landstraße vorbeiführt.

Ich muß Ihnen doch ein wenig die Honneurs meines Sees machen, rief ihr der Freund entgegen, der sie neben dem leichten Einspänner erwartete. Er präsentirt sich gerade heute, nachdem den Ufern aller Staub abgewaschen worden ist, im höchsten Glanz, und man hat nicht Augen genug, all die Herrlichkeit zu genießen. Aber Sie scheinen noch unschlüssig, ob Sie sich diesem etwas schwanken Gestell anvertrauen sollen. Oder macht Sie meine Gesellschaft bedenklich? Fürchten Sie, daß darüber geschwatzt werden möchte, wenn wir uns zusammen ein schönes Stück Erde besehen? Sie wissen ja, ein Doctor ist kein Mann, und vollends einer mit grauen Haaren –

O, sagte sie ruhig, ich fühle mich dem Urtheil der Welt gegenüber vollkommen frei und Niemand mehr Rechenschaft schuldig über mein Thun und Lassen. Es ist sehr gütig von Ihnen, daß Sie meinen Cicerone machen wollen, obgleich ich keine heitere Gesellschaft bin.

Er hob sie in den Wagen, rief dem Kutscher ein paar italienische Worte zu, und das leichte Gefährt saus'te von dannen.

Sie sind noch zu angegriffen, um weite Fußwanderungen machen zu dürfen, sagte er. Im Garten auf und ab schlendern, im Amerikaner sich strecken und ein paar Stunden in dieser stärkenden Lust herumkutschieren – ich stehe Ihnen dafür, daß Sie schon nach acht Tagen, wenn Sie sich im Spiegel sehen, sich wundern werden, wie viel röther Ihre Lippen und wie viel glänzender Ihre Augen geworden sind. Und lassen Sie uns den Pact machen, daß wir nur miteinander sprechen wollen, wenn wir uns wirklich etwas zu sagen haben. Nichts ermüdet mehr, als eine leere Unterhaltung, bloß um nicht zu schweigen. Und vollends diesen paradiesischen Gefilden gegenüber thut der geistreichste Mensch gut daran, sich auf dann und wann hervorbrechende Naturlaute zu beschränken.

Sie fuhren die breite Straße nach Tormini hinauf, wo bei jeder Windung ein neuer Blick auf den See hinab sich öffnet. Rechts und links um die kleinen verwitterten Häuser mit schwarzen Dächern standen die Rebengärten im ersten Aufgrünen, hie und da ein Mandelbäumchen in zarter Blüthe, dahinter die grauen Olivenhalden. Je höher sie kamen, desto herrlicher breitete sich das schluchtenreiche Chiesethal um sie her, desto erhabener ragte in der Ferne der noch weißschimmernde breite Gipfel des Monte Baldo über der leuchtend blauen Tiefe des Sees. Ihren Pact hielten sie getreulich. Nur die Namen der kleinen Dörfer, durch die sie fuhren, nannte er ihr, und oben, als sie die Stelle erreichten, wo die Dampftrambahn nach Brescia die Fahrstraße kreuzt, fragte er, ob sie durstig sei. Man könne in dem Stationshause von Tormini ein trinkbares Glas Wein erhalten.

Sie schüttelte den Kopf. Sie sei schon berauscht von der starken Märzluft, der Sonne und allem Zauber dieser südlichen Welt. Er selbst aber trank etwas rothen Wein und gab dem Kutscher, einem treuherzigen Menschen, der seinen Gaul zuweilen mit drolligen Reden antrieb, den Rest der Flasche. Dann fuhren sie zum Kirchlein von San Pietro hinüber und durch zwei, drei kleine schwärzliche Nester langsam in weitem Umkreise wieder hinab, als die Berge am östlichen Ufer sich schon violett zu färben begannen. Denn in und vor der Kirche droben hatten sie über eine Stunde gerastet. Es war schwer gewesen, sich von der ätherklaren, weithin die Thäler und Höhen beherrschenden Stätte zu trennen.

So! sagte er, als er sie vor der Thür des Gasthofs wieder aus dem Wagen hob, nun werden Sie die nächste Nacht besser schlafen als die vorige. Morgen, anderthalb Stunden vor Tische, komme ich mit einem anderen Hausmittel für verstörte Nerven, das auch in freier Luft angewendet werden kann. Davon verrath' ich aber heute noch nichts. Felice notte!

Er schüttelte ihr kräftig die Hand und ging seiner einsamen Wohnung zu.

*

Wieder traf er sie am anderen Tag im Garten, in der halbrunden Laube aus Bambusrohr, die ein leichtes Sonnengeflimmer hereinließ. Denn auf den vollbesonnten Gartenwegen war es schon zu warm.

Er hatte ein Schachbrett unterm Arm, das stellte er auf den steinernen Tisch in der Mitte und rückte einen Sessel heran.

Sie brauchen mir kein Bulletin über Ihre Nachtruhe zu geben, rief er. Ich sehe schon an Ihren Augen, daß Sie ganze acht Stunden geschlafen haben. Bravo! Aber werfen Sie Ihr kunstreiches Gestichel beiseite, das kurwidrig ist. Ich bringe Ihnen einen viel zweckmäßigeren Zeitvertreib, der vielleicht den Kopf etwas mehr angreift, aber Blut und Nerven beruhigt. Kennen Sie das Spiel? Nun, so muß ich Sie eben in die Lehre nehmen. Wer weiß, welches Talent in Ihnen schlummert, daß Sie dem Lehrmeister bald über den Kopf wachsen. Übrigens kein großes Kunststück. Denn mit einem der wirklichen Meister könnt' ich mich nicht messen.

Sie vertieften sich in die Lection dergestalt, daß sie das Spiel nur widerwillig aufgaben, als zum Essen geläutet wurde. Nachmittags hielt der kleine Wagen wieder am Hause, doch war das alte geflickte Schirmleder durch ein neues ersetzt und die Räder blank gewaschen. Francesco erklärte mit einer Verbeugung gegen die junge Frau, er habe seinem Herrn gesagt, für eine so schöne Dame sei das Wägelchen doch zu schäbig. Das übersetzte der Doctor lachend seiner Begleiterin, als sie wieder auf der Landstraße dahinrollten. Sie haben eine Eroberung gemacht, sagte er. Der gute Bursch – sehen Sie nur, er hat nicht nur den Wagen herausgeputzt, sondern auch seine eigene werthe Person. Das Volk hier hat einen lebhaften Sinn für alles Schöne.

Sie hörte das ohne das geringste Lächeln oder Erröthen und sah zerstreut auf den See hinaus. Noch fand nichts Heiteres, was von Menschen kam, Eingang in ihr verstörtes Gemüth.

Die Magie dieser einzig schönen Ufer wirkte aber auch auf ihre Seele, als sie, heute nach der anderen Seite, hoch über der Fläche des Sees an einem der kleinen Orte nach dem anderen hinfuhren, Gardone, Fasano, Maderno, Toscolano erreichten, endlich Gargnano, wo der Doctor halten ließ. Er geleitete seine Gefährtin in das Gärtchen des sauberen Gasthofs am See, wo er sie unter Lorbeer- und Granatbäumen bei ihrem Thee zurückließ. Ich beurlaube mich für eine kurze Stunde, liebe Freundin. In einem der alten Höfe habe ich genau heute vorm Jahr eine kleine Aquarellstudie angefangen, an der ich nun, da wieder dieselbe Beleuchtung ist, noch ein paar Pinselstriche machen möchte. Sie werden sich nicht langweilen indessen. Die Wirthin ist eine kluge, muntere Frau, und eben kommt sie zu Ihnen heraus.

Als er nach weniger als einer Stunde zurückkehrte, fand er Frau Malwine allein, das Kinn in die Hand gestützt, die Augen auf die blaue Seefläche geheftet. Er sah sogleich, daß sie geweint hatte; das Gespräch mit der Wirthin schien sie aufgeregt zu haben, doch hütete er sich, davon Notiz zu nehmen, und da sie sich faßte und nach seiner Studie fragte, öffnete er das Farbenkästchen, in dessen Deckel das kleine Bild eingefügt war, und freute sich sichtbar, daß sie die noch immer skizzenhafte, aber sehr talentvolle Arbeit höchlich bewunderte.

Das bischen Pfuscherei, sagte er, macht mir unendliches Vergnügen. Sie glauben nicht, wie anders man so ein Stück Wirklichkeit genießt, wenn man ihm seine intimen Reize abzustehlen sucht. Ich habe das von früh an getrieben und während meiner angestrengten Praxis mich oft danach gesehnt. Nun, was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle. Doch jetzt, wo ich mich nach Herzenslust den lieben langen Tag damit »dilettiren« könnte, merke ich freilich, daß ich zu wenig gelernt habe und ein zu geringes Talent besitze, um es noch auf eigene Hand zu einem richtigen Künstler zu bringen.

Er ging dann ins Haus, die kleine Zeche zu berichtigen. Das hatte sie selbst schon gethan. Von der Wirthin erfuhr er aber, daß die schöne junge Dame, als sie mit ihr von Ehesachen zu reden angefangen, im Glauben, sie sei eine heimliche Verlobte des Doctors, plötzlich sehr traurige Augen bekommen und das Gespräch abgebrochen habe.

Sie ist nicht glücklich, sagte der Arzt, dazu von zarter Gesundheit. Ich hoffe aber, sie zu kurieren.

Sie sollten sie heirathen, Herr Doctor. Das wäre die beste Kur, und Sie selbst könnten eine so liebe Frau brauchen.

Wo denken Sie hin! Sie ist nicht mehr frei. Und auch wenn sie's wäre – ich alter Knabe –

Chè chè! machte sie. Das bischen Staub auf Ihrem dicken Haar! Sie könnten Ihre Augen noch auf die Jüngste werfen.

Er zuckte die Achseln und ging, Frau Malwine zur Rückkehr abzurufen. In dem raschen Wägelchen dicht neben ihr mußte er beständig an die Worte der Wirthin denken. Jawohl, jetzt an der Seite einer geliebten Frau, dieser Frau – das Leben finge noch einmal für ihn an. Aber »weg du Traum, so Gold du bist!« Er that sich Gewalt an, wieder heiter zu werden, und die herrliche Scenerie, die schönste und mannichfaltigste an dem ganzen See, brachte ihn bald über die melancholische Anwandlung hinaus. Ja, er wurde gesprächiger als gestern und ließ es nicht bei bloßen »Naturlauten« des Entzückens bewenden.

Zuweilen mußte der Kutscher halten, wenn das scharfe Auge des Doctors am Wegrande eine seltene frühe Blume entdeckt hatte, die er nothwendig pflücken mußte, um sie feiner Begleiterin auf den Schooß zu legen. Als sie vor ihrem Hôtel anlangten, hatte sie einen großen bunten Strauß in Händen und wußte von jeder Blüte den Namen.

*

So vergingen den Beiden auch die folgenden Tage.

Wenn am Nachmittag Francesco's Wägelchen nicht am Hôtel vorfuhr, war's nur, weil der Doctor den Schiffer des Hauses bestellt hatte, mit der Barke unten an der Wassertreppe auf ihn und die junge Frau zu warten. Sie ruderten dann entweder die Bucht hinunter, wo die Stadt mit ihren zwei Kirchen und den blühenden Gärtchen vor den alten Häusern sich besonders malerisch ausnahm, zum Friedhof hinüber an der langen, ernsthaften Cypressenreihe hin, die den Frieden der Todten wie feierliche Schildwachen behüten, oder weit hinaus zum Cap Manerba und der Garda-Insel mit ihrem hoch aufgebauten Schloß und den Grotten am Strande, in die der See mit kristallklaren Wellen eindringt. Bei diesen Fahrten war der Doctor besonders gesprächig aufgelegt, erzählte von dem genügsam-dürftigen Leben der Fischer, das er als ärztlicher Nothhelfer gründlich kennen gelernt, und versank dazwischen in ein tiefsinniges Studium des wechselnden Farbenspiels, zuweilen in drollige Klagen ausbrechend, daß einem Aquarellstümper dergleichen nachzubilden versagt sei.

Die junge Frau ließ dies alles geschehen, als berühre, was sie sah und hörte, nur ihre äußeren Sinne. Nur selten richtete sie eine Frage an ihren Begleiter, aber ihr Händedruck, wenn er sich nach einer solchen Excursion von ihr verabschiedete, sagte ihm, daß er seine treue Bemühung nicht an eine Undankbare verschwendete. Auch blühte wieder ein leichtes Roth in ihren Wangen auf, und ihr Mund verlernte jenes böse Zucken, das auf eine bittere Regung der Seele deutete.

Allen im Hause fiel die Veränderung auf. Signora Triaca, die Frau des alten Hausherrn, beglückwünschte den Doctor zu den Erfolgen seiner Behandlung. Er zuckte die Achseln. Lasciar tempo al tempo! sagte er. Wir sind noch nicht über den Berg.

Er hatte ihnen nur gesagt, daß es sich um eine schwere Nervenkrankheit handle, von der die junge Frau eines seiner Freunde sich hier in der Stille dieses südlichen Frühlings erholen solle.

Etwa am zehnten Tage nach ihrer Ankunft, als Frau Malwine zu der gewohnten Schachpartie in die Bambuslaube kam, sah sie auf dem Steintisch, neben dem der Freund schon Platz genommen, um die Figuren aufzustellen, einen Brief liegen. Eine tiefe Röthe schoß ihr ins Gesicht. Sie brachte kaum den Morgengruß über die Lippen und blieb regungslos neben dem Sessel stehen, die Augen auf den Kies des Gartenweges geheftet.

Da ist ein Brief von Ludwig, sagte er gleichmüthig, indem er fortfuhr, das Spiel zu ordnen. Er hat ihn in einen an mich eingeschlossen, wohl um sicher zu sein, daß er auch wirklich in Ihre Hände gelangt. Wollen Sie ihn nicht erst lesen?

Sie blieb noch eine Weile sprachlos. Was hat er Ihnen geschrieben? brachte sie endlich mühsam hervor.

O, nichts von dem, was zwischen Ihnen vorgefallen. Nur, daß er froh sei, Sie in meiner Obhut zu wissen, da Sie ärztlichen Raths noch sehr bedürftig seien. Er könne ja leider noch nicht abkommen, um selbst für Sie zu sorgen. Was mich nur wundert, ist, wie er Ihren Aufenthalt erfahren hat? Sie waren ja entschlossen, kein Wort an ihn zu richten.

Sie erröthete noch tiefer.

Ich habe eine Unbesonnenheit begangen. Da ich auf ein so warmes Klima nicht eingerichtet war und in besinnungsloser Eile abreis'te, bin ich mit Kleidern, wie ich sie hier brauche, nicht versehen. Ich habe daher an mein Mädchen geschrieben und sie angewiesen, was mir nöthig ist, in einen Koffer zu packen und mir nachzuschicken. Ich konnte, ohne daß es ihr aufgefallen wäre, sie nicht dazu verpflichten, gegen den Herrn nichts davon zu erwähnen. So hat er meine Adresse erfahren. Aber es ist gleichgültig. Das Theater wird erst in acht Wochen geschlossen, und Niemand kann ihn ersetzen. Wenn er endlich frei ist, werde ich längst einen anderen Zufluchtsort gefunden haben.

Hm! Nun, wie Sie wollen. Ich habe Ihnen gelobt, von dieser Sache mit Ihnen nicht mehr zu reden. Hoffentlich sind Sie dann auch physisch so weit wiederhergestellt, daß Sie Flügel der Morgenröthe nehmen und ans äußerste Meer flüchten können, ohne daß es Ihrer Gesundheit schadet. Wollen wir nun unsere gestern unterbrochene Partie zu Ende spielen oder eine neue anfangen?

Sie überhörte die Frage. Werden Sie ihm antworten? sagte sie und ihre Stimme verrieth ihre heftige Bewegung. Was werden Sie ihm sagen?

Natürlich kein Wort von dem bewußten Abgrund zwischen Ihnen, in den ja auch er mich nicht hat hineinblicken lassen. Nur daß Sie sich zu meiner Freude sichtbar erholen, denn das thun Sie ja gottlob! und daß ich glücklich bin, seiner liebenswürdigen Frau meine geringen Dienste als Fremdenführer widmen zu können. – Aber wollen Sie Ihren Brief nicht lesen?

Er reichte ihn ihr hin, sie nahm ihn mit zwei zitternden Fingern, hielt ihn ein paar Augenblicke in der Hand und riß ihn dann uneröffnet mitten durch. Ihr Gesicht war wieder todtenblaß geworden, die Augen flackerten mit einem irren Glanz, als sie den Brief langsam in kleine Fetzen zerpflückte, die sie zu Boden fallen ließ. Dann sagte sie nur: Ich kann heute nicht spielen und möchte auch Nachmittags allein bleiben. Morgen wird mir hoffentlich besser sein.

Sie grüßte ihn mit einem zerstreuten Blick und verließ ihn. Er sah ihr nach, bis sie droben im Hause verschwand. O, o! machte er. Sind wir noch nicht weiter? Das wird noch ein hartes Stück Arbeit sein! Armes Weib!

*

Am anderen Tage kam sie ihm mit einer Befangenheit entgegen, zugleich mit einem herzlicheren Blick und Ton, die deutlich erkennen ließen, daß sie den Eindruck jener heftigen Scene zu verwischen wünschte. Sie brachte ihm ein Tüchlein von weißer Seide, in dessen Ecken sie kleine Arabesken gestickt hatte. Er sollte es auf windigen Fahrten um den Hals schlingen, da er ihr gesagt hatte, daß er in der rauhen Jahreszeit sich leicht zu erkälten pflege. Er hatte eine große Freude an dem Geschenk und küßte ihr zum ersten Male die schöne weiche Hand, die sich für ihn bemüht hatte. Dann saßen sie einsilbiger als sonst bei Tische nebeneinander.

Es war ein Regentag, dem noch mehrere folgten. Der April mit seinen Wetterlaunen machte sich auch hier unten fühlbar. Da an Spazierfahrten zu Wasser oder zu Lande nicht zu denken war, verbrachten sie die langen grauen Nachmittagsstunden am Schachbrett, und die junge Frau zeigte sich als eine so gelehrige Schülerin, daß ihr Lehrmeister sich bald sehr zusammennehmen mußte, um ihr Stand zu halten. Als sie zum ersten Male die Partie gewann und er sie lobte, leuchteten ihr die Augen von einem kindlich frohen Stolz. Sie schüttelte aber den Kopf. Sie haben mich gewinnen lassen. – Gewiß nicht mit Absicht, versetzte er. Aber ich habe zerstreut gespielt. Ich sah beständig auf die feinen blauen Adern Ihrer Hand. Zum ersten Male fiel mir die Ähnlichkeit dieser Hand mit einer anderen auf, die nun längst im Grabe ruht. Sie war etwas schmächtiger als die Ihre, aber genau so bewegten sich die schlanken Finger, wenn sie eine Figur vom Brett nahm. Wir haben leider in den acht Jahren nicht viel öfter miteinander gespielt, als ich mit Ihnen.

Denselben Abend kam er gegen seine Gewohnheit wieder in das Hôtel. Die Wirthin hatte versprochen, einem kleinen Kreise der vertrauteren Hausgenossen etwas vorzusingen. Man versammelte sich in dem Salon neben dem Hausflur, der nur selten betreten wurde, da er dunkel und kühl war. Jetzt in dem gedämpften Lampenlicht sah er behaglich aus, und obwohl er mit Polstermöbeln und Teppichen allzu reich ausgestattet war, klang die Stimme der Sängerin, die einer der Gäste am Klavier begleitete, mächtig genug. Ein starker Mezzosopran, der in der Zeit seiner vollen Blüthe wohl auch ein Opernhaus gefüllt haben würde, und dem man sofort die gute italienische Schule anhörte. Die Sängerin begann mit Volksliedern, neapolitanischen, venetianischen, dann ließ sie ein bekanntes Gounod'sches Lied hören und zuletzt eine Bravourarie aus irgend einer unbekannten Didone abbandonata, in welcher die verrathene Königin dem ungetreuen trojanischen Helden all ihren Zorn und Schmerz nachschleudert.

Der Doctor, der neben Malwine saß, zuckte bei den ersten Tönen dieser ihm wohlbekannten Musik zusammen und warf einen spähenden Blick nach seiner Nachbarin. Er erkannte nur an ihrem tiefen Erblassen, wie schwer es ihr wurde, ihre Bewegung zu beherrschen. Als die Arie zu Ende war und die kleine Zuhörerschaft lebhaft Beifall klatschte, erhob sie sich rasch, trat zu der Sängerin hin und flüsterte ihr etwas zu, worauf sie hastig das Zimmer verließ. Poveretta! sagte die Frau, ihr theilnahmvoll nachblickend, sie ist von ihrer Migräne so heftig befallen worden, daß jeder Ton ihr eine Marter war. Haben Sie kein Mittel dagegen, Herr Doctor?

Er zuckte die Achseln. Schlaf und Zeit! sagte er. Ein Schlummerlied war Ihre Arie nun eben nicht, liebe Frau. – – –

Am anderen Tag gestand ihm die Freundin, daß sie in einen Weinkrampf ausgebrochen sei und erst nach Mitternacht Schlaf gefunden habe.

Dann aber hörte die Regenzeit auf, und am ersten Morgen, als die Sonne die letzten Nebelflocken von den Bergen scheuchte, schien ein voller Sommer über dem See zu glänzen, der sogar an dem Feigenbaum im Garten zugleich mit den Blättern die kleinen Fruchtknollen hervorlockte. Für morgen machen Sie sich schon früh zu einer Seefahrt bereit, Frau Malwine, sagte der Doctor, als sie in der Bambuslaube zu ihm trat. Wir fahren nach Sermione, der Halbinsel am südlichen Ufer, die der alte römische Dichter, der dort eine Villa besaß, berühmt gemacht hat. Ohne die zärtlichen Verse, in denen er sie besang, wäre sie wohl zwei Jahrtausende lang nicht so fleißig besucht worden, denn ihre Reize sind nicht von der koketten oder prahlerischen Art, die so einen stillen Weltwinkel berühmt macht. Von mir aber ist sie von jeher, wie von Catull, geliebt worden, diese Perle aller Inseln und Halbinseln, und sie erscheint mir weit reizvoller als die Isola di Garda oder die berühmten beiden Inseln im Lago Maggiore. Um Zehn kommt das Dampfschiff von Riva aus nach Salò und nimmt Die mit, die nach Sermione oder daran vorbei nach Desenzano wollen.

Sie wissen, daß ich nie warten lasse, versetzte sie. Ich freue mich darauf, Ihren Liebling kennen zu lernen.

*

Pünktlich zur festgesetzten Stunde erschien sie am anderen Morgen unten im Garten und sah ihn schon am Landungssteg ihrer warten. Er begrüßte sie mit zutraulichem Winken seines großen grauleinenen Sonnenschirms. Wir haben wahres Götterwetter, rief er. Aber cospetto! wie schön Sie heute sind! Der arme Catull, daß er Sie nicht in seinem Landhaus empfangen und herumführen kann!

Es war das erste Mal, daß er ihr ein Compliment machte. Sie sah aber auch in dem hellen Sommerkleide mit dem breitrandigen Hut aus silbergrauem Stroh, über dem ein dichter Strauß rother Mohnblüthen lag, so jugendlich reizend aus, daß ihm wohl das Herz über die Lippen springen mußte. Ein Lächeln flog über ihr stilles Gesicht, als sie ihm antwortete: Auch Ihr Sommeranzug steht Ihnen gut und macht Sie um mindestens zehn Jahre jünger. Diese wunderbare Sonne verschönert Alles. Sehen Sie nur, wie der Garten blüht. Und draußen der See – ich kann nicht glauben, daß das Meer bei Neapel und Messina eine tiefere Leuchtkraft haben sollte.

Gewiß nicht. Aber Sie werden noch ganz andere Wunder an dem alten Benacus erleben.

Das Dampfschiff rauschte heran, es war leider von Fremden überfüllt, die den herrlichen Tag sich ebenfalls zu Nutze machen wollten. Auch von den Gästen des Hôtel Salò stiegen mehrere über die Schiffstreppe und nahmen unter der weitausgespannten Schutzdecke des ersten Platzes ihre Sitze ein. Kommen Sie nach vorn, sagte der Doctor. Wir können unter meinem Schirm da neben den biederen Landleuten des zweiten Platzes dem Gewimmel entrinnen.

Nun fuhr das schöne Schiff zunächst an der Kirche vorbei nach dem Hafen, wo noch etliche Passagiere ein- und ausstiegen, durchschnitt sodann in weitem Bogen die Bucht von Salò und wandte sich darauf südwärts. Die beiden unter dem Leinwandschirm saßen stumm nebeneinander und enthielten sich sogar aller bewundernden Ausrufe, ganz versunken in die Farbenglut, mit der die strahlende Sonne Gestade und Berghöhen übergoß. Nur einmal sagte er, nachdem er ihr sanftgeröthetes junges Gesicht lange angeblickt hatte: Ihnen ist wohl, liebe Frau! – Sie nickte nur. – Ja, setzte er hinzu, es giebt so Momente, wo einem das eigene Leben gleichsam versinkt und man sich ins All aufzulösen glaubt. Ich habe das nirgends so gefühlt, wie auf diesem See, freilich sonst nur, wenn ich mich allein im Kahn weit hinausgerudert hatte. Heut zum ersten Male zu Zweien. –

Als der Dampfer nach einer raschen Fahrt von fünf Viertelstunden in die Nähe der Halbinsel kam, an deren flachem Ufer er selbst nicht anlegen konnte, ruderten ihm kleine Fischerbarken entgegen, die Reisenden aufzunehmen, die zu landen wünschten. Ein paar Dutzend Touristen ließen sich übersetzen, die sich dann sogleich aufmachten, die Grotten des Catull und die übrigen im Reisehandbuch angemerkten Sehenswürdigkeiten zu besuchen.

Wir werden nicht so thöricht sein, in so großer Gesellschaft zu den geheiligten Stätten zu wallfahrten, sagte der Doctor. Lassen wir den profanen Schwarm seiner Wege gehen und frühstücken wir inzwischen in dem Gasthof dort, der den anmuthigen Namen der Promessi sposi auf fein Schild geschrieben hat. Sind wir mit unserer Colazione zu Ende, so kehrt die Horde zurück, und wir haben das Reich für uns allein.

Sie wandelten durch die Gassen des kleinen Nestes nach dem Wirthshause, wo Wirth und Wirthin den Doctor wie einen werthen Hausfreund empfingen. Er bestellte ihr Mahl und führte dann seine Gefährtin durch das Haus in einen sauber gehaltenen Hof an der Seeseite, wo unter hohen Feigen- und Oleanderbäumen ein paar gedeckte Tische standen. Dazwischen öffnete sich in der Mauer ein Durchblick nach einer Art Hafen, in welchem Fischerboote lagen, von unruhigen Seewellen geschaukelt.

Hier ist's nun besonders schön im Herbst, sagte er, als sie Platz genommen hatten. Sehen Sie das Netz von Drähten, das sich von dem Pfahl in der Mitte aus über den ganzen Hof spannt? Das ist dann mit dichtem Weinlaub bekleidet, unter dem man den sanftesten Schatten genießt, während man sich die Trauben zum Nachtisch selber pflücken kann. Aber da kommen unsere Fische. Sie werden dem trefflichen Aal, den man hier auftischt, weit und breit an diesen Ufern nicht wieder begegnen.

Während sie nun in heiterster Stimmung tafelten und auch dem rothen Wein alle Ehre anthaten, kam ein junges Mädchen, das zwei leere Wassereimer trug, aus dem Hause und ging quer über den Hof der Wassertreppe zu. Die zarte junge Gestalt – sie konnte kaum siebzehn sein – war sehr dürftig gekleidet, ein dünnes braunes Röckchen hing um die schmalen Hüften nur bis zu den Knöcheln hinab, ein verblichenes gelbes Tuch deckte nothdürftig die mageren Schultern, und die Füße steckten nackt in kleinen Schuhen mit hölzernen Sohlen.

Auf dem unansehnlichen Figürchen aber saß ein zierlicher Kopf vom reinsten Adel, ein Profil, das einer jungen Römerin wohl angestanden hätte, die Haut sanft gebräunt, so daß die blitzenden grauen Augen und der rothe Mund hell daraus hervorschimmerten. Eine Strähne ihres tiefschwarzen Haares fiel ihr über die Stirn, die Fülle des übrigen war hinten in einem dichten Knoten zusammengenommen.

Sie hatte den Doctor gleich beim Heraustreten erkannt, ging aber bescheiden, ihn nur mit einem lächelnden Nicken grüßend, an dem tafelnden Paar vorüber, unten an der Wassertreppe ihre Eimer zu füllen. Wie geht's, Rosina? rief Jener auf Italienisch ihr zu. – Danke, nicht schlecht. Und Ihr? erwiderte sie, warf einen Blick auf die junge Frau und verschwand, ohne die Antwort abzuwarten, zwischen den Pfeilern der Wassermauer.

Das gute Kind! sagte der Arzt. Das hübscheste und zugleich ärmste Geschöpf der ganzen Insel. Ihr Vater ist in einem Sturm auf dem See ertrunken, die Mutter bald darauf gestorben, seit ihrem zwölften Jahre dient das Waisenkind hier im Hôtel, wo sie ihr alle widerwärtigste Arbeit zuwälzen und ihr nur wenig zu essen geben. Aber so ein armes Unkräutchen gedeiht oft besser als jede Treibhausblume. Sie ist nie eine Stunde krank gewesen und hat sich nie über ihr Schicksal beklagt, und wenn sie Sonntags in die Messe darf, betet sie gewiß nicht um einen Haufen Geld, mit dem sie auch nicht viel anzufangen wüßte, nur vielleicht schon, da sie noch ein unreifes Dingelchen war, um einen hübschen Liebsten, wie alle Mädchen hier unter der heißeren Sonne, und dies Gebet hat der Himmel auch erhört. Sie ist verlobt seit Jahr und Tag mit einem jungen Fischer, der aber erst noch so viel zusammensparen muß, um eine eigene Barke anzuschaffen. Seitdem hat sie keine Wünsche mehr. Werden Sie glauben, daß sie noch nie über den Umkreis von Sermione hinausgekommen ist? Ob sie nicht danach Verlangen trüge? hab' ich sie einmal gefragt. Sie hat den Kopf geschüttelt und erwidert: Was soll ich da draußen? Tonio ist ja hier. – Sie hat Recht. Wo man liebt, hat man seine Welt für sich. Da kommt sie wieder. Ich will sie einmal zu uns rufen. Ich bin sehr bei ihr in Gnaden, seit ich ihr einmal ein dünnes Korallenkettchen geschenkt habe, das sie nur an hohen Feiertagen trägt. Nun, Rosina, rief er ihr entgegen, wann wird die Hochzeit sein?

Sie stellte die beiden schweren Eimer einen Augenblick nieder. Wann Gott will! sagte sie mit ihrer hellen, etwas scharfen Stimme.

Wird dir die Zeit nicht lang?

Wir sind arm, und ich muß arbeiten. Ich habe nicht Zeit, mich zu langweilen.

Nun, du wirst nicht alt und grau werden, eh du ein Kindchen wiegst. Aber komm ein wenig zu uns und trink ein Glas Wein. Du gefällst der guten Dame.

Sie hob rasch die Eimer wieder auf und schüttelte den Kopf. Sie gefällt mir auch, o sehr! Aber ich muß ins Haus. Gott behüt' Euch, Herr Doctor, und gebe Euch alle Glückseligkeit. Mit so einer schönen Frau kann's ja nicht daran fehlen.

Damit eilte sie davon, und ihre klappernden Schuhe verschwanden in dem schwarzen Flur des Hauses.

*

Von diesem munteren Zwiegespräch war der jungen Frau nicht ein Wort entgangen. Sie hatte das Italienisch, das sie bei ihren Gesangsstudien gelernt, während ihrer Strohwittwenschaft in Salò noch vervollkommnet, da sie gesonnen war, fürs Erste sich hier unten verborgen zu halten. Gleichwohl sagte sie, als sie mit ihrem Freunde wieder allein war, in möglichst unbefangenem Ton: Ihr Schützling ist nicht nur sehr hübsch, sondern scheint auch aufgeweckten Geistes zu sein. Schade, daß der Dialekt, den man hier spricht, mir unverständlich bleibt.

Er erwiderte nichts darauf, sondern sah still vor sich hin. Erst als jetzt Einige von der Schiffsgesellschaft den Hof betraten, richtete er sich langsam auf.

Es wird Zeit, unsere Wanderung anzutreten, sagte er. Da kommt die große Heerde zurück, und nun gehört die Insel uns. Ich erlasse Ihnen das Besteigen des Thurms und die Besichtigung der alten historischen Bauwerke. Dafür wird wohl einmal ein Regentag kommen. Heute wollen wir nur in Sonne baden und Farbenwunder genießen.

Er griff nach seinem Schirm und Malkästchen, und sie stand auf. Als sie durch die Touristengesellschaft hindurchgingen, merkten sie wohl, daß man die Köpfe zusammensteckte und allerlei flüsterte. Sie ließen sich's aber nicht anfechten, ja sobald sie die dunklen Gassen erreichten und er ihr seinen Arm bot, legte sie den ihren ohne Zögern hinein. So kamen sie aus den Häuserschatten heraus und betraten die Oliveta, die sich weit und breit über das flache Inselland ausdehnt, hie und da von einem dunklen Lorbeergebüsch überragt.

So heiß aber regnete die Sonnenglut herab, daß er es doch gerathen fand, den Schirm aufzuspannen, unter dem sie nun Beide auf der nicht gar breiten Fahrstraße hinschritten. Zuweilen bückte er sich, aus dem Grase am Wegrand ein Cyclamen oder eine weißblütige wilde Hyacinthe zu pflücken, so daß seine Begleiterin bald ein zierliches, süß duftendes Sträußchen am Busen stecken hatte. Sie sprachen Beide nicht viel, sondern horchten auf das Schwirren der Grillen in den Olivenzweigen und sahen den Eidechsen nach, die ihr Schritt in Steinritzen oder unter die dichte Moosdecke scheuchte.

Ein Rudel zerlumpter, barfüßiger Knaben, das sich draußen an ihre Fersen hatte heften wollen, war zurückgeblieben, da der Doctor ihnen ein paar Silbermünzen hingeworfen hatte. Sie machen sich ein Gewerbe daraus, sagte er lachend, den Fremden zu einem alten römischen Bade das Geleit zu geben, dessen Souterrains sie mit Streichhölzern erleuchten, um zu zeigen, daß dort nichts zu sehen ist. Auf unserem Rückweg können Sie sich davon überzeugen. Zunächst gehen wir daran vorbei. Denn daß ich's nur gestehe: ich habe früher einmal droben in der sogenannten Villa des Catull eine Skizze angefangen, an der ich heute gern ein bischen fortpinselte, da die Beleuchtung wieder so günstig ist. Sie sollen inzwischen Siesta halten, denn ich merke, Sie sind müde; die plötzlich so gewaltige Sonne greift Sie an, und Sie haben versäumt, den Wein, den Sie tranken, mit Wasser zu mischen.

Sie antwortete nicht. Wie im Traum hing sie an seinem Arm und drückte zuweilen die Augen ein, die weiche Luft sich über das Gesicht spielen zu lassen. Den Strohhut hatte sie abgenommen und an den anderen Arm gehängt, der Duft des Sträußchens wehte sanft zu ihr hinauf, ihr war so wohl wie lange nicht, und sie empfand, was er vorhin gesagt hatte, wie es Augenblicke gebe, in denen die Welt um uns her versinkt und uns zu Muth ist, als sollten wir unser kleines Ich in das All auflösen.

So langten sie endlich bei den Ruinen der Prachtvilla an, die ein römischer Großer sich am Nordrande der Halbinsel erbaut hat und die, da sein Name verschollen, jetzt auf den des unsterblichen Poeten getauft ist. Nur große massive Mauerbögen ragen aus der grünen Wildniß auf, durch die in der Tiefe die Seeflut heraufglänzt und der Blick weit hinausschweift bis zu den Bergen, die Riva beherrschen. Der Pfad verliert sich in Gestrüpp und wucherndem hohem Graswuchs. Allerlei Trümmer deuten den Grundriß des Wohnhauses an, dazwischen sinkt der Boden ein, wo es ehemals in Kellerräume hinabging, uralter Epheu klammert sich an das Gestein und klimmt bis zum obersten Sims der Bogentrümmer hinan. Kleine Bäume aber haben im Grunde Wurzel geschlagen und heben die leichten Wipfel in das ätherische Sonnenlicht hinauf, und unten um die grauen Klippen brandet die Seeflut in eintönigem Spiel, dessen leise Musik nur wie ein hörbares Athmen des Elements heraufklingt.

Hier, Frau Malwine, war mein Sitz das letzte Mal, sagte er, vor einer Bogenöffnung Halt machend. Ist es nicht ein herrlicher Punkt – die rothgelben Ziegelmauern, das Saphirblau dazwischen und über der Küste mit den kleinen schneeweißen Häuschen die violette Bergwand? Ich zeige Ihnen gar nicht, was ich damals angefangen. Vielleicht krieg' ich's heute einigermaßen heraus. Im besten Fall ist so eine Aquarelle ja nur wie ein zweihändiger Klavierauszug einer vollstimmigen Symphonie, selbst wenn ein Meister, der ich leider nicht bin, seine ganze Kunst daran gewendet hat. Ist es nun vollends nur ein Dilettant und das Instrument, auf dem er spielt, nicht das beste und reingestimmteste, so hat nur der Spieler selbst Vergnügen an seiner Stümperei. Die entzückenden Grundmotive kommen indessen doch heraus.

Er legte das Malkästchen in das hohe Gras und sah sich um. Für Sie ist da oben eine wundervolle Schlummerstätte bereit. Sie können im Schatten ruhen und doch ganz trocken, denn noch vor einer Viertelstunde hat die Sonne das Plätzchen beschienen, während ich hier unten meinen Schirm noch brauche. Kommen Sie, liebe Frau!

Er führte sie zehn Schritte die Halde hinauf, wo in dichtem, weichem Gras ein Ruhebett sich darbot, das, nach den geknickten Halmen zu schließen, schon anderen Müden zum Lager gedient hatte. Ein hoch mit Moos überwachsener flacher Stein konnte das Kopfkissen vorstellen, und ein Ebereschenbäumchen hob seinen Wipfel wie einen Baldachin in die blaue Luft.

So, nun machen Sie sich's bequem, sagte er. Daß eine Schlange Sie hier beschleichen möchte, haben Sie nicht zu fürchten, und die Lacerten werden Ihren Schlaf respectiren. Ich selbst freilich habe die Untugend, beim Malen dann und wann zu pfeifen. Es ist aber so leise, daß es Sie nicht stören wird. Wünsche wohl zu ruhen und schön zu träumen.

Er nickte ihr lächelnd zu und ging wieder hinab, sich unten seine Werkstatt einzurichten. Den Schirm stieß er hinter seinem Rücken tief in die Erde und saß mit ausgestreckten Beinen, das Malkästchen vor sich an die Kniee gestützt, sogleich eifrig bei der Arbeit. Indessen hatte sie sich gelagert, den Kopf aber noch nicht auf das Mooskissen gebettet. Sie sah ihm zu, wie er den Pinsel in das Wasserfläschchen tauchte und dann in die Farben auf der kleinen Palette. Nur sein verlorenes Profil war ihr sichtbar, das unter dem Hutrand hervorkam, die feste, gerade Nase, die blonde Wimper über dem ruhigen blauen Auge, das so warm und redlich in die Welt blickte. Alles kam ihr zum Bewußtsein, was sie ihm in diesen traurigen Wochen schuldig geworden war, und es fiel ihr aufs Herz, daß sie ihm nur etwa mit einem Händedruck, aber noch mit keinem Wort für so viel treue, hingebende Freundessorge gedankt hatte. Sie nahm sich vor, die Insel nicht zu verlassen, ohne das Versäumte nachzuholen. So ein herrlicher Mensch, der jetzt einsam dahinlebte, von keiner liebevollen Gefährtin getröstet über das, was er verloren hatte!

Über solchen Gedanken schloß sie endlich die Augen, doch, wie sie meinte, nicht um zu schlafen, da das Bild ihr gegenüber zu schön war, um es nicht immer von Neuem zu betrachten. Auch stand er noch einmal auf und kam zu ihr hinauf, um nachzuschauen, ob sie auch bequem gebettet sei. Nein, sagte er, Ihr Kopfkissen ist doch noch zu hart. Erlauben Sie, daß ich meinen Rock darüber breite. Mir wird ohnedieß beim Malen zu heiß. Sie wollen nicht? Nun, wie Sie wünschen. Also buona notte!

Sie sah freundlich lächelnd zu ihm auf und reichte ihm die Hand. Sie sind so gut, lieber Freund. Ich danke Ihnen von Herzen, für Alles.

Chè chè! machte er. So ein liebes Kind muß man ein bischen verziehen.

Er ergriff die Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und hielt sie ein paar Secunden lang in der seinigen. Dann kehrte er, ihr freundlich zunickend, zu seinem Platz zurück.

Wie sie nun wieder allein in dem weichen Grase lag, umsummt von dem leisen Schwirren des Insectenvolks, umduftet von dem starken Würzgeruch des wilden Thymians und des Sträußchens an ihrer Brust, verfiel sie bald in eine wonnige Bewußtlosigkeit, die in allerlei gaukelnde Träume überging.

Eine bunte Flucht von schwankenden Bildern zog an ihrer Seele vorbei, ohne daß irgend eines sie tiefer berührte. Nur ein allgemeines Wohlgefühl durchdrang sie, da sie sonst seit ihrer Flucht von Hause auch in den Nächten nur von unglücklichen, quälenden Träumen heimgesucht worden war. Das Blut floß in warmem Strom durch ihre jungen Glieder, ihr feines Näschen athmete die süßeste Luft, und sie dehnte sich schlummernd auf ihrem weichen Lager wie in einem warmen Bade. Ja, sie träumte nun wirklich, daß sie in eine sonnige Seebucht hinabgestiegen sei, so wie sie ging und stand in ihrem leichten Sommerkleide. Sie schwamm ganz sicher, obwohl sie es nicht gelernt hatte, eine Strecke weit hinaus, bis sie den schneebekrönten Monte Baldo erblickte, aus dem plötzlich ein Greisenhaupt aufragte, das sie mit drohendem Blick unter den weißen Wimpern hervor zurückscheuchte. Einen Augenblick glaubte sie unterzugehen, aber ihr Kleid trug sie wie eine Taucherglocke, und schon sah sie das Ufer ganz nah vor sich, als zwischen den Klippen eine verhaßte Gestalt erschien, jenes Weib, das ihr ihren Mann verführt hatte. Die stand hohnlachend auf einem Felsvorsprung, ein langes Ruder in Händen, mit dem sie die Heranschwimmende vom Ufer abwehrte. Und jetzt zeigte sich hinter ihr die schlanke Figur des Treulosen. Doch statt der verzweifelt im tiefen Wasser Kämpfenden beizustehen, kreuzte er die Arme über der Brust und sah gleichmüthig über sie hinweg, obwohl sie laut seinen Namen rief. Da rauschte es hinter ihrem Rücken heran. In einem langen, flachen Kahn kam ein wohlbekannter Freund herangerudert, hob sie aus dem Wasser und zog sie zu sich herein. Er flüsterte ihr leise beruhigende Worte zu, sie verstand sie aber nicht, denn die Sirene auf der Felsklippe brach in ein schallendes Gelächter aus, umfaßte den Mann neben sich und riß ihn ins Meer hinab, wo Beide spurlos verschwanden. Nun sind wir allein auf der Welt, hörte sie ihren Retter sagen. Kennst du mich nicht? Ich bin nur ein armer Fischer, aber diese Barke ist mein, ich kann dich und mich ernähren. Aber du mußt mich lieb haben, wie ich dich schon lange geliebt. Willst du? – O, hauchte sie, ich habe Niemand lieber als dich, ich wollte dir's längst sagen, wie viel Dank ich dir schuldig bin. Nun gehöre ich dir ganz, und du darfst mich auch küssen.

Wie lange habe ich danach geschmachtet! flüsterte er und berührte ihren Mund mit seinen weichen Lippen. Ein seliges Gefühl überschauerte sie, sie erwiderte seinen Kuß in voller Hingebung und schlang die Arme um seinen Hals. Lieber, Geliebter! hauchte sie – da drang ein scharfer Schimmer des Tageslichts in ihre Augen, sie schlug sie voll auf und blieb noch einen Augenblick im dumpfen Zwielicht des Bewußtseins, ungewiß, ob sie noch träume. Denn ihre Arme hingen um den Hals eines Mannes, ihre Lippen –

Im nächsten Moment schrak sie in die Höhe, ihre Hände stießen den vor ihr Knieenden zurück, eine tiefe Glut stieg ihr in die Schläfen hinauf – was war geschehen? Wie weit hatte der tückische Traum sie fortgerissen?

Er erhob sich von den Knieen und stand ein paar Minuten sprachlos vor ihr.

Frau Malwine, stammelte er, habe ich Sie beleidigt? Können Sie mir verzeihen? O wenn Sie Alles bedenken – den Zauber dieser Stille, die den Sinn verwirrt – und meine Trunkenheit von so viel Schönheit rings umher – und von Ihrer Schönheit – Sie ahnen ja nicht, wie überirdisch der Schlummer Sie verklärte – dies Lächeln an Ihrem halbgeöffneten Munde, der sonst sich so streng zu verschließen pflegt, – spricht kein milder Geist in Ihrem Herzen für den armen Sünder, der sich tief zerknirscht fühlt, da er nun auch der Macht der Stunde erlegen ist?

Sie hatte sich langsam aufgerichtet. Ohne ihn anzusehen, als ob seine Worte ungehört an ihrem Ohr vorübergeglitten wären, setzte sie ihren Hut auf und ergriff ihr Sonnenschirmchen. Sie war wieder tief erblaßt, ihre Brust hob sich in schweren Athemzügen, das Sträußchen hatte sie aus dem Kleide gezogen und ließ es wie spielend und zerstreut ins Gras fallen.

Lassen Sie sich nicht stören, sagte sie jetzt, wenn Sie noch eine Weile weitermalen wollen. Ich gehe indessen langsam den Weg zurück und sehe mir die Insel noch genauer an. Ihnen ist ja das Alles bekannt. Um Fünf kommt das Dampfschiff, das uns abholt. Da treffen wir uns.

So verließ sie ihn.

*

Er war nicht im Zweifel über ihre Stimmung. Zu lebhaft hatte er gefühlt, daß sie den Kuß erwiderte, zu dem ihn in einem Augenblick selbstvergessener Verwirrung die reizenden, so selig im Traum lächelnden Lippen fortgerissen hatten. Es ist schmählich, murrte er vor sich hin, indem er der langsam Fortwandelnden nachblickte, wie schwach unser Fleisch ist! Diese arme, einsame junge Frau, die sich arglos im tiefsten Vertrauen auf meine Freundestreue und Biederkeit hier einem Mittagsschläfchen überläßt, und ich alter Kerl – aber freilich, altes Holz brennt am besten, und jetzt könnte ich mir –

Und doch – nein! Ich wäre ein Narr, was geschehen ist, zu bereuen. Wenn ich sie ernstlich beleidigt hätte durch meine Kühnheit, wäre sie nicht gegangen, ohne mich für immer von ihrem Angesicht zu verbannen. Aber sie fühlt sich mitschuldig, da darf sie mich nicht zu hart verurtheilen. Wer weiß, was ihr geträumt haben mag, daß nun auch sie die Macht der Stunde an sich erleben mußte! Denn flüsterte sie nicht meinen Namen, ehe ich ihr die Lippen schloß? Wie wird's nun weiter zwischen uns werden?

In Sinnen verloren kehrte er zu seinem Sitz zurück. Aber die Lust zur Arbeit war verflogen. Er packte sein Malgeräth zusammen, ergriff den Schirm und stieg langsam aus der Trümmerwildniß ins Freie hinaus.

Kaum aber fand er sich wieder auf dem Pfade im Olivenhain, den er vor einer Stunde mit ihr durchwandelt hatte, das reizende junge Weib unter dem Schirm an seinen Arm gehängt, so überkam ihn eine leidenschaftliche Sehnsucht, sie wiederzufinden. Das Nachgefühl jenes einen, so zärtlich erwiderten Kusses brannte ihm auf den Lippen, er fühlte, wenn er jetzt wieder vor ihr kniete, würde er seinen Mund nicht so rasch von ihrem trennen, das Glück der Stunde kühner benutzen als in jenem ersten, selbstvergessenen Augenblick. So lange hatte er ohne Frauenliebe hingelebt und seine Tage mit allerlei Thun und Treiben ausgefüllt, das ihm nicht an die Seele ging. War er nicht jung genug, noch einmal aus dem Vollen zu leben? Wer konnte ihm verdenken, wenn er festhielt, was als ein herrenloses Gut ihm in den Weg gekommen war? Diese schwer gekränkte Frau, die zu ihrem Manne nie wieder zurückkehren wollte, warum sollte er sie sich nicht aneignen, um an einem vor der Welt verborgenen Ort, warum nicht auf dieser Insel? ein Glück mit ihr zu genießen, das über alle Träume ging? Sie war ihm schon länger geneigt, das hatte er an manchen Zeichen sehen können. Wenn sie ihn dann freilich zurückgedrängt hatte, sobald sie aus dem Traum wieder zu sich gekommen war, so hatte sie nur gehandelt, wie es einer züchtigen Frau geziemte. Aber wenn sie sich erst vollkommen frei fühlen, das äußere Band, das sie an den Treulosen knüpfte, zerschnitten sein würde – und sie dann seinen Ernst, seine unbedingte Hingebung sähe –

Ihm schwindelte bei dem Gedanken, sie sein zu nennen, Rosina's Wunsch, der ihm »alle Glückseligkeit« verheißen hatte, in Erfüllung gehen zu sehen. In einer Art ekstatischem Taumel schritt er dahin, spähte rechts und links in die Ölbaumschatten hinaus und rief sogar ein paarmal den Namen der Ersehnten. Nirgends war eine Spur von ihr zu entdecken.

Auch nicht in der alten Kirche auf dem Hügel droben, die er bis in alle Winkel durchsuchte. Es war klar, sie wollte sich vor ihm verstecken, ihm ihre Reue und Beschämung verbergen. Es kam ihm das ganz erwünscht. Wenn er ihr gleichgültig gewesen wäre, hätte sie kalt an ihm vorbeigesehen und sein Wagniß wie ein Vergehen betrachtet, das am besten bestraft wird, wenn man es keiner ernsteren Beachtung würdigt.

Vielleicht aber würde sie sich auf der Flucht vor ihm so tief in die abgelegenen Theile der Insel verirren, daß sie die Rückkehr des Dampfers versäumte. Dann wäre sie gezwungen, die Nacht auf der Insel zuzubringen, und er hätte die beste Gelegenheit, ihr künftiges Geschick ins Reine zu bringen.

In solchen Gedanken langte er endlich bei dem Hôtel »Zu den zwei Verlobten« wieder an. Die Signora habe sich nicht wieder blicken lassen, sagte ihm die Rosina, die ihm in der Küche begegnete. Er bezahlte die Rechnung und schenkte in seiner freudigen Stimmung der jungen Seherin ein goldenes Zehnfrancsstück. Dann ging er nach dem offenen Platz zurück, wo die Barken den Dampfer erwarteten.

Auch hier, unter dem Häuflein der anderen Fahrgäste, war die Vermißte nicht zu erblicken. Als aber drüben auf dein See der »Mocenigo« herandampfte und die Schiffer am Strande die Passagiere aufforderten, einzusteigen, kam sie ruhigen Ganges, ohne sich irgend zu beeilen, aus einem engen Seitengäßchen herangeschritten, mit einem Gesicht, auf dem nicht die geringste Miene eine sonderliche Bewegung ihres Innern verrieth. An ihrem Ritter vorbei, auf dessen dargebotenen Arm sich zu stützen sie verschmähte, sprang sie ins Boot und erstieg drüben am Dampfer ebenso selbständig die schwanke Schiffstreppe.

An Bord setzte sie sich diesmal auf eine Bank des ersten Platzes, spannte ihr Sonnenschirmchen hinter sich auf und blickte unverwandt zu den Bergen hinüber. Er hatte ein Feldstühlchen neben sie hingerückt und eine etwas befangene Conversation begonnen. Sie ging höflich darauf ein, wie wenn ein fremder Mitreisender sie angeredet hätte. Nach und nach ließ er das Gespräch fallen. Ein stiller Zorn stieg in ihm auf, daß sie nach Allem, was geschehen war, ihn so mißhandeln konnte. Doch schätzte er sie zu hoch, um ihr Betragen für ein kokettes Manöver zu halten, das ihn nur tiefer ins Netz ziehen sollte. Er fühlte nur mit Kummer, wie das Ziel, nach dem er strebte, zu hoch gesteckt sei, um so im Spazierengehen mit der Hand danach greifen zu können.

So vollendete das Paar, das in heiterster Laune am Morgen ausgeflogen war, einsilbig und beklommen die Rückfahrt. Aller Zauber des herrlichsten Nachmittags war an ihren Augen und Herzen verschwendet. Als der Dampfer wieder in weitem Bogen die Bucht von Salò durchschnitten hatte und jetzt am Hafen landete, erhob sich die junge Frau rasch und mischte sich unter den Schwarm der Passagiere, die dem hinübergeschobenen Steg zudrängten. Er hatte Mühe, ihr nahe zu bleiben, ging dann aber dicht hinter ihr über die schmale Brücke und hatte eben die Arcade unter dem Haus am Landungsplatz betreten, als er sie plötzlich wie von einem Schreckbild entgeistert stehen bleiben und zusammenzucken sah. Zugleich erblickte er einen jungen Mann, der sich durch das Spalier der wartenden Zuschauer drängte und mit ausgestreckter Hand und dem Ausruf: Guten Tag, Malwine! dicht an sie herantrat.

Die Erstarrung der so Begrüßten währte nur ein paar Secunden. Dann legte sie ihre Hand in die seine und sagte: Wie bist du hergekommen? Ich hatte dich nicht erwartet.

Über das hübsche, von dunklem Haar umflogene Gesicht des jungen Mannes, das mit einem Ausdruck ängstlicher Spannung ihr entgegengeblickt hatte, ging ein heller Strahl, als würde ihm eine Last von der Seele gewälzt. O Malwine, sagte er, du konntest doch denken, ich hätte es nicht ausgehalten, auch wenn die Umstände nicht – aber da ist ja auch unser Freund, mein treuer Johannes. Seien Sie mir tausendmal gegrüßt, bester Freund! Aber nun laßt uns erst aus dem Gewühl herauskommen. Ich muß euch doch erklären –

Er wollte sich des Arms seiner Frau bemächtigen, sie ging aber, ohne ihn gerade unfreundlich abzuweisen, frei in der Mitte der beiden Männer durch die Arcaden und bog dann in die dunkle Gasse ein, die nach dem Thor der Stadt und dem Hôtel führt.

Wir haben Sie nicht erwartet, sagte der Doctor, der große Mühe hatte, eine erfreute Miene zu erheucheln. Haben Sie denn Ihren Taktstock anderen Händen anvertrauen können, ehe die Spielzeit zu Ende war?

O, erwiderte der Andere, sich zu einer möglichst unbefangenen Miene zwingend, ein glücklicher Zufall hat mir plötzlich zu Ferien verholfen. Unsere Primadonna, eine sehr launenhafte Dame, ließ sich zu einer stürmischen Scene mit dem Director fortreißen. Das erfolgreiche Gastspiel d'Andrade's, der ihr ein paar Complimente gesagt, hatte sie zum größten Theil sich selbst zugeschrieben und machte nun allerlei Ansprüche, die ganz unsinnig waren und ihr nicht zugestanden werden konnten. Da ist sie denn ohne Weiteres durchgebrannt, um uns ihre Macht und Bedeutung fühlen zu lassen, und dem Director blieb nichts übrig, als herumzureisen und einen Ersatz zu suchen. Jedenfalls eine Woche lang kann von größeren Opern nicht die Rede sein, und für kleinere Operetten und Singspiele vertritt mich ohnehin in Krankheitsfällen unser Concertmeister, der erste Geiger. Da habe ich ohne Mühe Urlaub bekommen. Ich hätte ihn sonst aber auch erzwungen, um endlich mich selbst zu überzeugen, wie es unserer Patientin hier ergeht, da sie mich selbst mit Nachrichten so kurz hält. Ich sehe mit Freuden, Doctor, daß Sie einmal wieder Ihre Kunst und Wissenschaft bewährt haben. Seit wie lange hat Malwine nicht so hell aus den Augen gesehen und so frische Farben gehabt!

Er bemächtigte sich einer der Hände seiner Frau und drückte rasch einen Kuß darauf, was sie mit tiefem Erröthen litt. Alles, was er sagte und wie er sich betrug, verrieth ein liebenswürdiges, leicht bewegliches Temperament, das zuweilen durch einen Zug von Schüchternheit, wenn er seiner Frau voll ins Gesicht zu sehen wagte, nur noch anziehender wurde.

Er trug, bis sie das Hôtel vor dem Thore erreichten, die Kosten der Unterhaltung fast allein. Dann verabschiedete sich der Doctor, der nicht zu bewegen war, mit einzutreten.

Ich bin nicht so taktlos, bei dem Wiedersehen eines jungen Ehepaars den Dritten im Bunde zu machen, bemühte er sich zu scherzen. Wir werden ja noch oft genug Gelegenheit haben, bei einer Flasche Asti spumante von alten Zeiten zu plaudern. Für heute addio und a rivederci!

*

Als er dann allein den Weg nach seinem Hause fortsetzte, war ihm sehr übel zu Muth. Nicht sowohl der Verzicht auf alle wonnigen Zukunftsträume, die er gesponnen, machte ihm zu schaffen, als daß er sich sagen mußte, er habe weder als guter Christ noch als Galantuomo gehandelt, da er sich habe gelüsten lassen nach seines Nächsten Weib. Mußte dieser Nächste, mochte er sich noch so schwer vergangen haben, nicht immerhin gerade von einem Freunde Nachsicht und Beistand erwarten? Nun dankte er seinem Stern, daß es nicht gekommen war, wie er in seiner verwegenen Phantasie sich's ausgemalt hatte, daß sie nicht Beide auf Sermione zurückgehalten worden waren. Er konnte den Blick des Freundes jetzt wenigstens aushalten, ohne die Augen niederschlagen zu müssen.

So erreichte er seine Wohnung, zündete eine Cigarre an und setzte sich in die Loggia, mit der Absicht, sich in eine medizinische Broschüre zu vertiefen. In dem Gärtchen, das sich von seinem Hause aus nach dem See hinabzog, war es ganz still, draußen auf dem Wasser kaum ein Nachen zu erblicken. Gleichwohl vermochte der einsame Mann seine Gedanken nicht auf das, was er lesen wollte, zu heften. Immer kehrten sie zu jener sonnigen Wildniß zwischen den Trümmern der Römervilla zurück, so oft er mit einem tiefen Seufzer sie gewaltsam auf die nächste Umgebung lenken wollte.

Da ging die Thüre hinter ihm auf, und der junge Freund trat hastig ein.

Verzeihen Sie, Bester, wenn ich Sie in Ihrer Lectüre störe, sagte er, dem Doctor in einer nervösen Aufregung die Hand schüttelnd. Aber mir blieb nur diese Stunde, wenn ich noch etwas von Ihnen haben will. Und nun lassen Sie sich vor Allem danken für die treue Sorge und Pflege, die Sie meiner Frau gewidmet haben. Keinem Anderen wäre es in so kurzer Zeit gelungen, eine so erfreuliche Wendung in ihrem Befinden herbeizuführen, nicht nur in ihrem Nervenzustand. Ich kann es Ihnen jetzt ja gestehen, was Sie vielleicht schon errathen haben: es war eine Verstimmung zwischen uns entstanden, an der ich allein die Schuld trug. Sie fühlte das Bedürfniß, mir eine Weile fern zu bleiben. Aber man weiß, oft steigert die Entfernung eine solche unglückselige Gemüthsentfremdung, und daß es hier nicht der Fall war, habe ich, davon bin ich überzeugt, und sie hat es mir bestätigt, nur Ihrer freundschaftlichen Vermittlung zu danken. Sie haben mir zum zweiten Male das Leben wiedergegeben. Zwar ist noch ein Rest der Krankheit – auch der seelischen – in ihr zurückgeblieben. Ganz so herzlich wie vorher begegnet sie mir noch nicht wieder, aber daß sie mir beim Wiedersehen ihre Hand nicht verweigert hat und mit mir zurückkehren will – ja, denken Sie, und zwar schon morgen in aller Frühe mit dem Dampfer, der nach Riva fährt. Ich wagte nicht ihr vorzustellen, wie hübsch es wäre, wenn wir meine Ferienwoche hier verlebten, hier die volle Versöhnung in der Gesellschaft unseres treuesten Freundes feierten. Aber sie hat sich so fest vorgesetzt, jetzt ohne Verzug ihr Haus wiederzusehen – sie ist gleich darangegangen, ihren Koffer zu packen, und dann hat sie mich gebeten, sie allein zu lassen, sie sei todmüde von ihrem Ausflug und wolle früh zu Bett gehen, um morgen das Schiff nicht zu versäumen. Ich mußte ihr wohl den Willen thun. Und jetzt bin ich hier, um zu fragen, ob Sie nicht mit mir ins Hôtel zurückkehren wollen, daß wir die bewußte Flasche Asti auf die Gesundheit Malwine's miteinander ausstechen.

Der Andere hatte ihn reden lassen, ohne ein Wort dazuzugeben. Jetzt sagte er ruhig: Sie müssen mich entschuldigen, lieber Maestro. Ich habe hier eine kleine, ganz bescheidene Praxis unter dem Landvolk und muß noch heut Abend eine ziemlich schwere Patientin in Fasano besuchen. Da kann ich nicht daran denken, den Abschiedstrunk mit Ihnen zu thun, außer in sehr später Stunde, und Sie selbst müssen morgen früh auf den Beinen sein. Ich komme natürlich morgen noch, mich von Ihrer lieben Frau zu verabschieden – vorausgesetzt, daß ich selbst die Zeit nicht verschlafe. Wegen Malwinens Genesung können Sie ganz außer Sorge sein, die wird jetzt ohne weitere Störung fortschreiten, und das bischen, was ich dazu beigetragen habe, bedarf keines Danks, es hat sich mir schon überreich belohnt durch die Behandlung selbst.

Sie umarmten sich, und der Doctor blieb allein. Er stieg in seinen Keller hinab und holte eine Flasche seines ältesten und schwersten Weines. Der Schlaftrunk wollte aber seine Kraft nicht bewähren. Noch lange nach Mitternacht warf die kleine Studierlampe ihren dünnen rothen Strahl über die Granatbüsche an den Pfeilern seiner Loggia.

Kein Wunder daher, daß er am anderen Morgen die Abfahrt des Dampfers vom Landungssteg des Hôtel Salò versäumte. Nur als das Schiff nahe an der Wassertreppe seines eigenen Gärtchens vorbeirauschte, stand er auf der obersten Stufe und schwenkte seinen Hut. Vom Bord des Schiffes wurde der Gruß lebhaft erwidert. Ein schlanker junger Mann, der den Arm um eine still neben ihm stehende weibliche Gestalt gelegt hatte, wehte mit seinem Taschentuch. Die junge Frau bewegte nur langsam die Hand zum Gruß. Ihre Augen waren von dem Strohhut so tief verschattet, daß er nicht erkennen konnte, mit welchem Ausdruck sie auf ihn gerichtet waren.


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