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San Vigilio

(1900)

 

Es war erst Ende April. Aber in den Gärten am westlichen Ufer des Gardasees von Salò bis Gargnano standen die Rosen schon in voller Blüte. Der Monat, der nördlich der Alpen als wetterwendisch verrufen ist, bewährt in diesem windstillen Winkel unter dem Schutz der hohen Berge Pizzocolo und Monte Baldo seinen Ruhm als der Mai Italiens. Veilchen, Anemonen und Gentianen waren längst an den sonnigen Stellen der Reben- und Olivenhalden aufgeblüht, und neben den hier heimischen lachsfarbenen Gardonerosen mit der röthlichen Glut in der Tiefe des Kelchs dufteten an den Spalieren längs der Häuser die Marschall Niel in üppiger Fülle, während die kleinen gelben Bangsia-Röschen schon bis an die Dachsimse hinaufkletterten.

Auch im Speisesaal einer deutschen Pension, die ziemlich in der Mitte zwischen Gardone und Fasano am schönsten Punkte des sanft ansteigenden Ufers stand, konnte man an dem reichen Blumenschmuck den frühen südlichen Frühling spüren.

Hier war in vielen Vasen und Kelchgläsern eine solche Fülle von Rosen und Veilchen verbreitet, eine lange Guirlande von der hier an allen Hecken wachsenden Heidelbeermyrte – myrica – an der Wand angebracht und ein Paar Kränze desselben edlen Unkrauts um zwei Stühle geschlungen, so daß man auf den ersten Blick errathen mußte, das Sälchen sei aus einem besonders festlichen Anlaß so ausgesucht geziert worden.

In der That hatten die Gäste, die an dem runden Tische saßen, nichts Geringeres als eine Verlobung gefeiert, die gestern erst geschlossen worden war. Die deutsche Wirthin hatte ihr Bestes gethan, sich der Ehre, die ihrem bescheidenen Hause widerfahren war, würdig zu zeigen. Bis um Mitternacht hatte sie mit ihrem deutschen Zimmermädchen und der italienischen Köchin eigenhändig an der Decorirung des Festraums gearbeitet, der für diesen Mittag den übrigen Gästen der Pension verschlossen blieb. Diese hatten heute ihr Mahl in einem Gartenhäuschen einnehmen müssen, eine Stunde früher als sonst, während sich's die Wirthin nicht nehmen ließ, das Verlobungsmenu mit verschiedenen deutschen Gerichten zu bereichern, von deren Zubereitung die kleine schwarzäugige Gardonerin keine Ahnung hatte. Die Krone ihrer Leistungen war eine mit Orangenschnitten verzierte große Mandeltorte, auf deren Mittelschild die verschlungenen Initialen K und S in Zuckerperlen zu lesen waren, zugleich der Hauptschmuck der zierlich gedeckten Tafel, zu der von einer Nachbarin zwei große silberne Armleuchter geliefert worden waren. Die Kerzen derselben konnten freilich erst in Function treten, wenn das Mahl beendet war und die Cigarren angezündet werden sollten.

Alles schien dazu angethan, an diesem Tische die heiterste Stimmung zu erzeugen, und die beiden großen Öldruckporträts des Königs und der Königin von Italien, an der Wand gegenüber Lithographieen der deutschen Kaiser Wilhelm und Friedrich, blickten offenbar erwartungsvoll herab, ob es nun nicht bald zu den üblichen Festreden, Umarmungen und Freudenthränen kommen wollte.

Seltsamerweise aber erwärmte sich die Stimmung selbst nicht, als von den beiden Flaschen italienischen Champagners, die in einem Eiskübel standen, die eine bereits geleert worden war. Der grauhaarige Senior der kleinen Gesellschaft, ein würdiger Pastor, hatte zwar in einer feierlichen Rede die Gesundheit des jungen Paares ausgebracht, dieses selbst aber die günstige Gelegenheit, sich herzlich zu küssen, nicht benutzt, da der Bräutigam nur die Hand seiner Braut mit einer galanten Gebärde an seine Lippen zog. Darauf hatte sich Alles wieder gesetzt, und das gleichmüthig hinplätschernde Tischgespräch, das ein paar Minuten gestockt hatte, war wieder in den früheren seichten Fluß gerathen. Der geistliche Herr, ein eifriger Verfechter der reinen lutherischen Lehre, hatte fortgefahren, seine Nachbarin, die Mutter des Bräutigams, von seinen Erfahrungen über allerlei heidnischen Unfug in diesem katholischen Lande zu unterhalten, der Vater des jungen Mannes plauderte mit der Brautmutter, einem blassen kleinen Frauchen in schwarzem Seidenkleide, von dem verlotterten Zustand der Landwirthschaft an diesem See gegenüber der rationellen Bodencultur in ihrer holsteinischen Heimath. So hätte das junge Paar die schönste Freiheit gehabt, in einer unbelauschten Zwiesprach die zärtlichsten Gefühle auszutauschen. Doch schien ihm durchaus nichts daran gelegen, sich diese Freiheit zu Nutze zu machen. Die Braut, ein schönes, dunkeläugiges Mädchen von auffallend blasser Farbe, sah unverwandt auf ihren Teller, auf dem sie ein Stückchen der Festtorte mit dem Messer in winzige Brosämchen zerschnitt, und gab nur mit einem kaum hörbaren Ja oder Nein Antwort, wenn der Bräutigam eine halblaute Frage an sie richtete.

Dieser, ein schlank aufgeschossener junger Mann von etwa vierundzwanzig Jahren, trug eine gewisse Gleichgültigkeit und lächelnde Müdigkeit zur Schau, die allerdings einer so lieblichen jungen Verlobten gegenüber befremden mußte. Nur zuweilen, wenn er einen der ernsten, unmuthigen Blicke auffing, die seine Mutter ihm zwischen den beiden silbernen Leuchtern über die Torte hinüber zusandte, gab er sich gleichsam einen moralischen Ruck und sprach eine Weile lebhafter in seine stumme Nachbarin hinein. Bald aber, mit einem entschuldigenden Achselzucken, das den Blick der Mutter erwiderte, gab er die fruchtlose Mühe wieder auf und widmete sich andächtig dem Kelchglase vor ihm, in dessen aufsteigende Perlenflut er langsam und wie nach einer Apothekervorschrift aus der strohumflochtenen Chiantiflasche tropfenweise den dunklen rothen Landwein träufelte.

Man hatte nun auch den Käse und die Schale mit Früchten, darunter noch goldgelbe Weintrauben prangten, herumgehen lassen, als die Wirthin erschien, ihren Gästen auf gut Norddeutsch »Gesegnete Mahlzeit« zu wünschen und anzukündigen, daß der Kaffee, wenn es den Herrschaften gefällig wäre, in der Laube draußen servirt sei. Ihre geheime Absicht, das wohlverdiente Lob für ihre Kochkunst einzuernten, wurde nicht getäuscht. Die beiden Damen versicherten, es sei Alles vorzüglich gewesen, besonders erging sich der Papa des Bräutigams in einem begeisterten Vergleich zwischen dem Putenbraten dieses kleinen Hauses und den langweiligen Hühnern der gewöhnlichen Hôtelküche, zumal er eine feine Hausmannskost selbst der trefflichen Table d'hôte, wie sie ja im Hôtel Gardone zu finden sei, weit vorziehe.

Damit bot er der Brautmutter den Arm, der Herr Pastor führte die Mutter des Bräutigams, und dieser bemächtigte sich des Armes seiner Braut, so daß man in richtiger bunter Reihe die kleine Treppe hinab in den Garten zog.

Es war das ehemals ein Olivenwäldchen gewesen, in dem man nur die frischesten der alten, wunderlich gekrümmten und geborstenen Stämme hatte stehen lassen, um dazwischen Rosenbeete, Lorbeerbüsche und einige schöne Fächerpalmen zu pflanzen. Ziemlich in der Mitte war aus dünnen, grün angestrichenen Stäben eine geräumige Laube errichtet worden, mit einem runden Kuppeldach geschlossen, das jetzt mit gelben Röschen wie überschneit aus dem silbernen Grün der Ölbäume vorleuchtete. Hier war der Kaffeetisch gedeckt, mit dem besten, nur hie und da ein wenig abgestoßenen Geschirr des Hauses, und die deutsche Dienerin trug eben die dampfende Kanne von blankpolirtem Metall aus der Küche daher. Die vier älteren Herrschaften, etwas schwer vom genossenen Wein, hatten sich bereits auf den bequemen Rohr- und Schaukelstühlen in der Laube niedergelassen. Das junge Paar aber schien keine Neigung zu haben, schon wieder seßhaft zu werden. Sie hatten sich losgelassen, gingen aber dicht nebeneinander nach dem Ufer hinab und blieben an der gemauerten Brüstung stehen, an welcher der heut ungewöhnlich unruhige See mit regelmäßig wiederkehrendem rauschendem Anprall hoch aufspritzte. Ob sie dort in ihrer Schweigsamkeit verharrten oder, wie die übrigen Bewohner der Pension muthmaßten, jetzt erst sich in zärtlichen Liebesreden ergingen, war an ihrer Haltung nicht zu erkennen. Wer aber Bescheid darum wußte, wie diese Verlobung zu Stande gekommen war, konnte nicht glauben, daß angesichts des wundervollen Ausblicks über Land und See die beiden jungen Herzen wärmer werden würden, als in dem blumengeschmückten Gemach unter den Augen der italienischen und deutschen Majestäten.

*

Sie waren Kinder derselben Stadt, hatten sich von klein auf gekannt, und wer sie so nebeneinander stehen sah, mochte denken, daß zwei Menschenkinder nicht glücklicher für einander geschaffen sein könnten als dieses Paar: er ein blonder, keck in die Welt blickender junger Herr, der in seinem eleganten Civilanzug den flotten Leutnant nicht verleugnen konnte, das Fräulein neben ihm gerade um so viel kleiner, als es sich für eine richtige Lebensgefährtin ziemt, und trotz der einfacheren, völlig schmucklosen Kleidung durch eine gewisse stille Vornehmheit ihrer Haltung ihm durchaus ebenbürtig. Und doch war eine Kühle und Fremdheit zwischen ihnen, als hätten sie sich eben erst zufällig getroffen und wären in Verlegenheit, wie sie einander anreden sollten. Der Bräutigam zog ein silbernes Etui aus der Tasche und nahm eine Cigarette heraus, die er anzündete, nachdem seine Braut auf die Frage, ob der Rauch sie nicht belästige, nur mit einem Kopfschütteln geantwortet hatte. Sie sah auf die niedere, mit breiten Steinplatten belegte Brüstungsmauer hinab, die mit den hellgrünen Ausläufern der Epheuranken zierlich übersponnen war. Hin und wieder schlüpfte eine geschmeidige kleine Eidechse aus einer Mauerritze, äugelte vorsichtig umher und huschte dann, sobald sie der großen Menschen ansichtig wurde, blitzschnell über die Steinplatten hin nach dem nächsten Versteck. Auch dessen achtete das schöne Fräulein nicht. Sie hob tiefversonnen die Augen und blickte über den See hinaus nach der langgestreckten Gardainsel, die seltsam geisterhaft auf dem bleifarbenen Wasserspiegel zu schwimmen schien. Die strahlende Helle des Vormittags war einem schweren Wolkendunkel gewichen, die Farbe des Sees fast schwarz geworden, und ein unheimlich schwüler Wind vom Süden her wühlte leise in der unruhigen Flut, die mit kleinen, silbergekrönten Schaumwellen über die Weite des Sees herangetrieben wurde.

Das schöne Mädchen drückte die Augen halb ein; ein Seufzer, den sie vergebens niederzuhalten suchte, bewegte die weiße Rose, die sie als einzigen Schmuck vorn in ihr Kleid gesteckt hatte. Sie zog die Blume langsam heraus, betrachtete sie einen Augenblick und ließ sie dann über die Brustwehr in die Brandung hinabfallen.

Schade um die schöne Blume! sagte der junge Herr mit einem mühsamen Lächeln und versuchte den Arm um ihre Hüfte zu legen. O, erwiderte sie mit einem Achselzucken, indem sie sich sacht seinem Arm entwand, was liegt an einer Blume! Sie kann noch dankbar sein, daß sie nicht zertreten und nur von den Wellen fortgespült wird. Aber ich bin müde! Setzen wir uns dort auf die Bank!

Er ging neben ihr nach einem Bänkchen, das unter einem hohen Lorbeerbusch stand. Es liegt Sturm in der Luft, sagte er, indem er sich neben ihr niederließ und mit der aristokratisch wohlgepflegten Hand über die vom Wein erhitzte Stirne strich. Du solltest hineingehen, Stina, dich ein wenig niederlegen. Wir saßen zu lange bei Tisch; es hat dich angegriffen.

Ich fände dieselbe Luft auch drinnen im Haus – und dieselben Gedanken! sagte sie wie für sich hin. Hier draußen sieht man wenigstens den Aufruhr des Sees; das thut wohl.

Er wollte etwas erwidern, hielt es aber zurück und blies den Rauch der Cigarette durch die Nase. Dann schwiegen sie wieder.

Unsere Liebenden haben sich unsern Blicken entzogen, sagte der geistliche Herr in der Rosenlaube, während er die Wolken aus einer kurzen Pfeife blies. Die italienischen Cigarren hatte er für unrauchbar erklärt.

Ja, sagte die Mutter des Bräutigams, es scheint, daß sie jetzt erst dazu gekommen sind, sich intimer auszusprechen. Gott gebe, daß sie die rechten Worte finden, ihre Herzen gegeneinander aufzuschließen!

Niemand erwiderte etwas. Auch in der Rosenlaube war die Stimmung sehr gedämpft, der Papa lag in seinem Schaukelstuhl lang ausgestreckt und hielt die ausgegangene Cigarre schlaff in der Rechten, während er mit dem Schlummer, der zu seiner Siesta gehörte, hoffnungslos kämpfte, die Brautmutter hatte kein Auge von ihrer Tochter verwandt, bis diese hinter dem Lorbeer unsichtbar wurde. Nur der geistliche Herr schien in seinem salbungsvollen Gleichmuth unerschütterlich. Sein Glaube, auch dieser Herzensbund sei im Himmel geschlossen, wurde auch durch das Bewußtsein nicht wankend gemacht, wie großen Antheil er selbst aus sehr irdischen Rücksichten am Zustandekommen der Verlobung gehabt hatte.

*

Pastor Elias Brodersen, der seit dreißig Jahren Pfarrer an der Hauptkirche des kleinen holsteinischen Städtchens, des Geburtsorts unseres Brautpaars, war, hatte Beide getauft und eingesegnet und glaubte daher am besten wissen zu müssen, was dem Heil dieser jungen Seelen frommen sollte. Als ein redlicher Diener am Wort voll rechter Gottes- und Menschenliebe, wie er sich hundertfach bewährt hatte, genoß er des höchsten Ansehens und vollsten Vertrauens bei seiner Gemeinde, die ihm einen gelegentlichen Übereifer und die wenigen Menschlichkeiten, die auch ihm nicht fehlten, gern nachsah. Da er seine Frau früh verloren und zwei Töchter in benachbarten Städten verheirathet hatte, blieb ihm neben seinen Amts- und Seelsorgergeschäften freie Zeit genug, um seiner Schwäche für den Segelsport und die Fischerei zu fröhnen, die ihn in Wind und Wetter auf die offene See hinaustrieb. Dieser Kampf mit den Elementen hatte ihn bis in sein Alter rüstig erhalten, sein Gesicht unter dem grauen Haar gesund geröthet und seiner Haushälterin oft eine nicht unwillkommene Ergänzung der einfachen Tafelfreuden beschert. Leider nur hatte er die Gewohnheit, so bald er sich auf hoher See befand, einen Choral oder auch zwei anzustimmen, mit um so lauterer Stimme, je heftiger der Wind gegen sein Boot anstürmte. Solches that er nicht allein zur Ehre seines Gottes, sondern auch zur Stärkung seines Halses, was ihm für seine Kanzel zu Gute kam, bis er eines Novembertages aus einem rauhen Schneesturm eine so heftige Halsentzündung heimbrachte, daß er infolge derselben seine Stimme überhaupt verloren zu haben glaubte.

Es hatte keine Schwierigkeit gehabt, ihm vom Consistorium einen Urlaub zu erwirken, den er sofort antrat, um in Gardone zunächst durch vollständiges Schweigen seine Stimmbänder aus ihrem Verfall wieder aufzurichten. Und schon im Januar konnte er nach Hause melden, daß er täglich eine entschiedene Besserung spüre und mit Gottes Hülfe zu Ostern als ein vollständig Genesener wieder nach Hause zu kommen hoffe.

Dies hatte er auch einem befreundeten adligen Ehepaar geschrieben, das nahe bei dem Städtchen ein schönes altes Schloß bewohnte, in einem großen Park, der sich bis an das Seeufer erstreckte. Es war dies seit undenklichen Zeiten ein Familienbesitz der Freiherren von Guntram, den der jetzige Schloßherr, nachdem er aus dem französischen Kriege als Husarenrittmeister zurückgekehrt war und seinen Abschied genommen hatte, gründlich zu restauriren und vielfach zu verschönern versucht hatte. Denn er hatte sich in eine schöne junge Gräfin verliebt und sie heimgeführt, für die ihm das alte Gebäude viel zu verwittert und unwohnlich schien.

Die junge Schloßfrau war freilich nicht sehr verwöhnt. Sie hatte in so drückenden häuslichen Verhältnissen gelebt, daß sie das Herabsteigen zu einer einfachen Baronin, die jedoch über reiche Mittel gebot, als eine wahre Erlösung empfand. Nicht nur äußerlich überragte sie ihren Gatten um einen halben Kopf, sondern auch an Bildung und sicherem Takt war sie ihm beträchtlich überlegen, während der ehemalige Reiteroffizier leicht um thörichten Anlaß aufbraus'te, dann wieder sehr zerknirscht sich demüthigen konnte und nur, wo Geburtsvorrechte in Frage kamen, eigensinnig auf seiner Meinung beharrte.

Er verehrte seine Frau jedoch nicht allein um der Grafenkrone willen, die sie in den freiherrlichen Stammbaum verpflanzt hatte, sondern wegen ihrer geistigen und Charaktereigenschaften. Und als sie ihm vollends einen Stammhalter geboren hatte, wußte er sich an ritterlicher Hingebung nicht genug zu thun, so daß sein geistlicher Freund, Pastor Brodersen, zu dieser übertriebenen Verhimmelung manchmal den Kopf schütteln mußte.

Als nun die enthusiastischen Berichte über Gardone, die Milde des Klimas, das Behagen in dem großen Hôtel in das Schlößchen gelangten, kam dem Baron eines Tages, da seine Frau mit bleichen Wangen und gerötheten Augen nach einer schlaflosen Nacht am Frühstückstische erschien, der Gedanke, daß es dringend nöthig sei, für die Gesundheit dieses seltenen Weibes ein Übriges zu thun und sich für den Rest des Winters ebenfalls an das zauberkräftige Ufer des berühmten Sees zu verpflanzen.

Die Baronin, die wohl wußte, daß die Ursache ihres üblen Nervenzustandes durch noch so wohlthätige klimatische Einflüsse nicht zu heben sei, hatte doch keinen Grund, dem liebevollen Vorschlage ihres Gatten zu widerstreben. Und in der That, als sie gegen Ende Januar in ihrem Winterasyl eintrafen, war der Eindruck der zugleich anmuthigen und erhabenen Scenerie mit dem Schmuck einer immergrünen Vegetation, die keinen winterlichen Gedanken aufkommen ließ, so überwältigend für die beiden nordländischen Gäste, daß für den Augenblick und die nächsten Wochen aller Trübsinn aus dem Gemüth der edlen Dame schwand und auf ihrem etwas schmal gewordenen Gesicht Fülle und Farbe zurückkehrte. Man sah ihre hohe Gestalt zu allen Tagesstunden auf der heiteren Straße bis nach Maderno dahinschreiten, ihr zur Rechten den geistlichen Freund, der sich des Schweigens befleißen sollte, aber unaufhörlich plauderte, auf ihrer anderen Seite den Gemahl in einem grauen Anzug mit Kniehosen und dicken Wadenstrümpfen, die zu seinem ansehnlichen Bäuchlein sich wunderlich genug ausnahmen, das Gesicht aber mit dem grauen martialischen Schnurr- und Backenbart jugendlich frisch und von dem eifrigen Marschieren geröthet. So stiegen sie zu den alten Bergnestern hinauf, durchwanderten die schönen lorbeerduftenden Wege von Morgnaga an über Gardone di sopra, Gargnano, Fasano und Bezzuglio, so daß sie oft zu den Mahlzeiten im Hôtel zu spät heimkehrten.

Jeden Tag dankte der Baron seinem Freunde, daß er ihn auf diese glückliche Idee gebracht. Und da der Pastor nun schon wieder so weit erholt war, daß er es wagen konnte, in einem der Säle des Hôtels die protestantischen Gäste mit sonntäglichen Andachten zu erbauen, schien dem Glück und Frieden dieser drei Menschen nichts zu fehlen, bis eines bösen Tages ein Brief anlangte, der, wie ein Erdstoß ein ahnungsloses Haus, dies paradiesische Stillleben erschütterte.

*

An diesem Vormittag hatten sie einen weiten sonnigen Spaziergang gemacht, von dem sie erst gegen Mittag zurückkehrten. Die beiden Herren begaben sich sogleich in den großen Glassalon im Erdgeschoß, um eine Schachpartie zu Ende zu spielen, die sie stehen gelassen hatten, als die Baronin sie zu ihrer Morgenpromenade abholte. Diese stieg nun die Treppen zu ihren Zimmern hinauf, zwei der bescheidneren im zweiten Stock, mit denen sie hatten vorlieb nehmen müssen, da sie sich erst so spät um Wohnung in dem überfüllten Hôtel bemüht hatten.

Es fehlte aber in ihrem kleinen Wohnzimmer nicht an einer bequemen Chaiselongue, auf der sie sich auszustrecken gedachte, um vor der Table d'hôte noch ein wenig auszuruhen. Als sie aber eintrat, sah sie auf dem Tisch zwei Briefe liegen, die mit der Zehnuhrpost für sie gebracht worden waren. Ohne erst Hut und Mäntelchen abzulegen, griff sie hastig nach dem einen, öffnete mit einem leichten nervösen Beben das Couvert und las die folgenden flüchtig hingeworfenen Zeilen:

»Liebste Mama!

Aus tiefer Noth schrei' ich zu Dir! Ich habe mich gestern nach einem flotten Souper, das Vetter Fritz zur Feier seines Avancements gegeben hat, verleiten lassen, an einem Bänkchen theilzunehmen, das Itzenplitz auslegte – trotz meines Versprechens an Papa, mich des Jeus zu enthalten – und – erschrick nicht! – die Kleinigkeit von achttausend verloren. Bahlen, gegen den ich sie schuldig geblieben, hat generös in eine Frist von vierzehn Tagen gewilligt. Wenn ich dann aber nicht zahlen kann – geliebte Mama, ich brauche Dir nicht das traurige Entweder-Oder, das mir dann bevorsteht, zu schildern. Wenn es Dir nicht gelingt, Papa noch einmal gnädig gegen den verlorenen Sohn zu stimmen – na, ich habe mich ja in meinem kurzen Leben gut genug amüsiert, um nun ohne großen Kummer Schluß machen zu können. Nur um Dich thäte mir's leid, liebes altes Mutting. Du hast den großen Schlingel immer zu lieb gehabt, um nicht zu hoffen, daß er sich noch einmal gründlich bessern würde.

Der allmächtige Gott, der in die Herzen schaut, und vor dem ich in tiefer Zerknirschung als ein der Gnade Unwürdiger stehe, er weiß, wie ernst es mir damit sein würde, wenn ich nur diesmal noch den Hals aus der Schlinge ziehen kann. Mich einem Seelenverkäufer von Juden anzuvertrauen, habe ich Papa gegenüber ein für allemal verschworen, und dies Ehrenwort werde ich nicht brechen; lieber mir selbst den Hals.

Ach, geliebtes Mutterherz, obwohl Du auch einmal jung gewesen bist, – wie es einem jungen Gardeleutnant sauer gemacht wird, keinen Fingerbreit von Gottes Wegen abzuweichen, davon hast Du gar keine Vorstellung. Es wäre überflüssig, Dir das klar machen zu wollen. An meine schmerzliche Reue und den festen Vorsatz, einen neuen Menschen anzuziehen, mußt Du glauben, Mutting, oder Du hast Deinen Kurt nie geliebt.

Ich lege mein Schicksal vertrauensvoll in Deine treuen Hände. Wenn Du mir etwas Günstiges sagen kannst, so bitte ich um Drahtnachricht. Bleibt sie in den nächsten acht Tagen aus, so sage ich Dir und Papa hiermit Lebewohl und tausend Dank für all Eure unverdiente Liebe und Güte.

Dein unglücklicher
Kurt.«

Die Mutter war auf einen Stuhl neben dem Tische gesunken, der Brief glitt ihr aus der zitternden Hand auf den Teppich, so saß sie lange in die dunkelsten Gedanken vertieft. Wieviel Kummer hatte dieser ihr Einziger ihr gemacht, seit er von seinem Vater als Stammhalter des alten Geschlechts mit überschwänglicher Freude begrüßt worden war. Schon als Knabe hatte sein zügelloser Eigenwille selbst durch die strenge väterliche Zucht sich nicht bändigen lassen. Die Mutter hatte sich seufzend darein finden müssen, ihn in die Kadettenanstalt zu geben, aus der er nur immer für kurze Ferienzeiten zu ihr zurückkam. Auch dann war es für ihr zärtliches Herz kein reines Glück gewesen, da sie einen zu hellen Verstand hatte, um sich über die gefährlichen Anlagen in seinem Charakter zu täuschen. Und da auch der Vater, so gründlich er selbst in seinen jungen Jahren sich hatte die Zügel schießen lassen, zu den wilden Manieren des Sohnes den Kopf schüttelte und kein rechtes Herz zu ihm fassen konnte, waren beide Eltern jedesmal froh, wenn das Söhnchen wieder zu seinen Zuchtmeistern zurückkehrte.

Daß diese freilich auf die Erziehung seines Gemüths keinen Einfluß hatten und sich's auch nicht angelegen sein ließen, war das Bitterste an dem Kummer, mit dem die Baronin an ihren Kurt dachte. Sie bildete sich immer noch ein, wenn sie ihn nur hätte bei sich behalten können, würde die Kälte und Härte, die Selbstsucht und Eitelkeit, die er nicht einmal zu verbergen sich bemühte, nicht so tief in ihm eingenistet sein. Und da der Vater sich das Herz des Sohnes durch seinen Jähzorn vollends entfremdete, sah sie es als ihre Mutterpflicht an, mit seinen Schwächen und tollen Streichen desto unermüdlichere Nachsicht zu üben. Zweimal schon hatte sie in einem ähnlichen Falle die Fürsprecherin bei ihrem Manne gemacht und es das letzte Mal erst durch einen Fußfall erreicht, daß der Baron eine Spielschuld, noch größer als die jetzige, bezahlt hatte. Es war nicht das Geld, das herzugeben ihm das Schwerste war. Im Grunde war er bei all seiner Husarenderbheit ein weichherziger Mann, dem es am wehesten that, daß sein Sohn keinen Funken wahrhafter Liebe und Pietät in sich trug. Und so war er auch nicht sonderlich erbaut, ihn bei seinem letzten Besuch auffallend verändert zu finden, zahmer und scheinbar lenksamer; obwohl er diesmal nicht einmal darauf ausging, durch besondere Liebenswürdigkeit dem strengen Papa einen neuen Zuschuß zu seiner Apanage abzuschmeicheln.

Auch die Mutter freute sich dieser Wandlung nicht, zumal Kurt, in einer einsilbigen, zerstreuten Haltung neben ihr hinlebend, keine Miene machte, ihr seine Herzensangelegenheit zu beichten. Sie war aber von anderer Seite darüber unterrichtet worden. Eine Freundin in Berlin hatte ihr geschrieben, daß der junge Herr, der jetzt das Leutnantsexamen bestanden hatte, in eine bedenkliche Liebschaft mit einer Dame aus der Halbwelt verstrickt sei, die neben ihm noch Andere begünstigen sollte. Das habe ihn zu unsinnigem Aufwand verleitet, um die Nebenbuhler auszustechen, und um die Mittel dazu sich zu schaffen, sei er ständiger Besucher von verschiedenen Spielergesellschaften geworden.

Er hatte zwar all diese Beschuldigungen geleugnet, als die Mama in gütigster, eindringlichster Weise ihn darüber auszuforschen suchte. Der heute eingetroffene Brief aber bestätigte nur zu offen die Wahrheit jener Berichte. Und wenn es nur die Spielschuld gewesen wäre! Aber das Andere, was ihr selbst weit entsetzlicher war, was sie vor ihrem Gemahl sorgfältig geheim halten mußte, da der Baron seltsamerweise über dergleichen Sünden jetzt gerade so strenge dachte, wie er in Kurt's Alter sie leicht genommen hatte! Und doch war sie überzeugt, daß vielleicht nur der kleinere Theil der vergeudeten Summe dem Spielteufel geopfert worden war, der größere jener unseligen Leidenschaft.

Mochte es aber nun sein, wie es wollte, es mußte noch einmal Rath geschafft werden.

Die unglückliche Frau griff nach dem ihr entfallenen Brief, zugleich nach dem anderen, den sie noch nicht geöffnet hatte, und erhob sich mühsam von ihrem Sitz. Zum Glück lehnte der feste Stock von hellem Citronenholz, den sie auf ihren Wanderungen mitzunehmen pflegte, noch am Tische. Nun stützte sie sich darauf und verließ mit langsamen Schritten, den Kopf auf die Brust gesenkt, das Zimmer.

Der Baron und der Pastor blickten erstaunt und erschrocken von ihrer Schachpartie auf, als die Baronin mit verstörter Miene an ihr Schachtischchen trat.

Was ist, Elisabeth? Schlechte Nachrichten? fragte der Baron.

Ich muß mit dir sprechen, Georg, erwiderte sie hastig und leise. Verzeihen Sie, verehrter Freund, daß ich Ihr Spiel störe –

Wir sind ohnehin fertig, theure Freundin, sagte der Pastor und stand auf. Gegen den Ansturm eines so schneidigen Husarenrittmeisters hat meine Truppe sich wieder einmal nicht halten können. Aber Sie sehen so erschüttert aus. Diese Briefe – auf dem einen erkenne ich die Handschrift unserer guten Majorin. Aber der kann es nicht sein, Sie haben ihn ja noch nicht einmal geöffnet. Der andere – verzeihen Sie, ich dränge mich nicht ein in Ihre Privatangelegenheiten. Auf Wiedersehen bei Tische!

Bleiben Sie, lieber Pastor, sagte die Baronin. Vor Ihnen haben wir keine Geheimnisse, und was ich meinem Manne mitzutheilen habe – Ihre Gegenwart dabei wird mir vielleicht sehr erwünscht sein – nur hier nicht – auch nicht in unseren Zimmern oben, die Wände sind zu dünn. Wir wollen in die Anlage hinaufgehen – um diese Stunde treffen wir keinen Menschen dort.

Sie ging den Männern voran, die in lebhafter Spannung ihre Hüte nahmen und ihr zum Hause hinaus folgten. Sie brauchten nur die Straße zu kreuzen, die an der Rückseite des langgestreckten Hôtels vorbeiläuft, um in ein sanft ansteigendes Gartenland zu treten, wo die Anpflanzung immergrüner Gewächse und Büsche erst seit kurzem begonnen hatte. Auf der Höhe dieser Anlagen, die den Hôtelgästen eine Ergänzung des schmalen grünen Landstriches zwischen Haus und See bieten sollten, waren bereits ein paar Bänke aufgestellt, auf denen sich jetzt in der warmen Mittagssonne des Februar behaglich rasten ließ. Dahinter, durch einen lichten Weißdornzaun getrennt, lief ein kleiner Pfad, der gleichfalls um diese Zeit nicht betreten zu werden pflegte.

Die Baronin hatte sich, wie erschöpft von dem kleinen Anstieg, auf eine der Bänke gesetzt; die beiden Herren waren vor ihr stehen geblieben.

Der Brief ist natürlich von Kurt! stieß der Baron jetzt heftig zwischen den Zähnen hervor. Aller schlimmste Ärger pflegt von dem nichtsnutzigen Jungen zu kommen. Was für saubere Neuigkeiten hat er diesmal seinen theuren Eltern zu berichten? Lies ihn vor, Elisabeth! Mir dringt immer das Blut gegen die Augen, wenn ich von den Suiten des Herrn Sohnes zu lesen bekomme.

Nein, Georg, erwiderte die Frau mit einem Seufzer, das kann ich nicht. Diesen verzweifelten Brief meines armen Jungen laut vorlesen – die Stimme würde mir versagen. Nimm den Brief, lies ihn ganz still für dich und bedenke, daß ein so junger Mensch, in einer Gesellschaft, die für einen noch unfertigen Charakter so viele Gefahren hat – o Gott, wie sind unsere menschlichen Gedanken so kurzsichtig! Du dachtest es so gut zu machen, als du ihn in das Berliner Regiment eintreten ließest, und jetzt ach, mein verehrter Freund, es giebt kein schwereres Leid, als den Kummer einer Mutter um ihr einziges Kind!

Sie drückte ihr Taschentuch gegen die Augen und lehnte sich in der Bank zurück. Der Baron, dessen breites Gesicht sich dunkel geröthet hatte, wie immer, wenn er einen Zornesausbruch mit Mühe zurückhielt, nahm ihr den Brief schweigend aus der Hand und ging langsam nach der anderen Bank, fünfzig Schritte zur Seite. Da setzte er sich, zog sein Augenglas hervor und begann zu lesen.

Der Pastor hatte sich neben der weinenden Baronin niedergelassen. Fassen Sie sich, verehrte Freundin! sagte er mit seinem weichsten Kanzelton. Der Herr schickt uns keine Prüfung, er füge denn die Kraft hinzu, sie als ergebene Kinder unseres himmlischen Vaters zu ertragen. Sagen Sie mir, was in dem Briefe steht. Ihr Kurt ist noch so jung und bei all seinen Jugendthorheiten – eines schlechten Streiches halte ich ihn nicht für fähig, dagegen schützt ihn das Blut seiner Väter, das in seinen Adern rinnt.

Sie trocknete die Augen, richtete sich auf und berichtete ihrem geistlichen Freunde, was der Sohn ihr geschrieben hatte.

Daß mehr noch, als die betrübende Thatsache, der Ton, in dem sie gebeichtet wurde, halb blasirt weltmännisch, halb frömmelnd demüthig, weil der Schreiber auf diese Art das Herz der Mutter zu rühren gehofft, dies fein empfindende Mutterherz verletzt hatte, verschwieg sie dem geistlichen Freunde. Dann aber: Ich muß Ihnen alles sagen, fügte sie etwas zögernd hinzu. Es ist auch eine Frau mit im Spiel, eine jener gefährlichen Schlangen, die in der großen Stadt das Herz und die Sinne unerfahrener guter Jünglinge umstricken und ihnen das Blut vergiften. Sie wissen, wie mein Mann über dergleichen Verhältnisse denkt. Er würde, wenn er davon hörte, unserem armen verführten Kinde unerbittlicher zürnen, als wenn er in der Fremde die Schweine gehütet und sich von Trebern genährt hätte. O theurer Freund, meine einzige Hoffnung ist die Macht, die Sie über meinen Mann haben, und ich sehe es als eine Fügung Gottes an, daß dies Schreckliche über uns kommt, während Sie in unserer Nähe sind.

Der Pastor erwiderte nichts, er wiegte nur mit einer tiefnachdenklichen Miene den grauen Kopf und horchte dann nach der anderen Bank hinüber, von wo hin und wieder ein dumpfer, unarticulirter Laut, wie das drohende Knurren eines großen Hundes, ehe er sich auf einen Feind stürzt, vernommen wurde.

Sie haben Recht, liebe Freundin, sagte endlich der alte Herr, Kinder sind uns zu unserer höchsten Lust und tiefsten Qual vom Herrn gegeben. Auch wenn sie in der Zucht des Herrn aufwachsen – wieviel Sorgen bereiten sie unseren Herzen! Ich will von mir selbst nicht reden, aber auch Ihre wackere Freundin, die Majorin, deren Tochter ich meiner eigenen immer als Vorbild hingestellt habe – wie oft hat mir die gute Frau ihr Herz über dieses Sorgenkind ausgeschüttet. Und was hat sie Ihnen jetzt geschrieben? Lesen Sie doch auch ihren Brief, es liegt mir daran zu hören, ob die Lebensgefahr, in der das liebe Kind zu schweben schien, vom Herrn noch einmal in Gnaden abgewendet worden ist.

Ohne den warmen Antheil des ehrwürdigen Mannes am Wohl und Weh seiner Beichtkinder in Zweifel zu ziehen, muß doch gesagt werden, daß es eine seiner Schwächen war, sich um die geringsten Vorgänge in den Familien seines Sprengels zu bekümmern, und daß er seine Haushälterin angewiesen hatte, ihm über alle Stadtneuigkeiten Bericht nach Gardone zu erstatten, da er nur dann im Stande sei, seiner Pflicht als Seelsorger auch aus der Ferne zu genügen.

Von der Schreiberin des Briefes, der so lange uneröffnet auf dem Schooß der Baronin gelegen hatte, war ihm den ganzen Winter keine Nachricht zugekommen.

Sie war die Wittwe eines Offiziers, der in den Jahren 1870 und 1871 mit dem Baron im Felde gestanden, als Hauptmann das Eiserne Kreuz erworben hatte, dann aber im Frieden um einer nichtigen Ursache willen im Avancement übergangen worden war. Er hatte tiefgekränkt seinen Abschied genommen, den er als charakterisirter Major erhalten, und sich in die kleine holsteinische Stadt zurückgezogen, wo er sehr einsam den Rest seines Lebens verbrachte, mit mathematischen und kriegswissenschaftlichen Studien den fressenden Groll über seine Zurücksetzung betäubend.

Auch die Liebe eines anmuthigen jungen Wesens, die er hauptsächlich dem Mitgefühl mit seiner düsteren, schwermüthigen Miene verdankte, hatte ihn nicht wieder zu einer heitreren Lebensanschauung stimmen können. Man sah ihn, auch nachdem er geheirathet hatte, wenig in der Stadt, da er ein Häuschen mit einem kleinen Garten am Rande derselben gekauft hatte, nur einen Büchsenschuß von der See entfernt. Das Gärtchen, in dem er mit viel Eifer und wenig Verständniß arbeitete, schien seine ganze Welt zu umfassen. Auch als ihm eine Tochter geboren wurde, hellte sich seine verdüsterte Seele nur wenig auf, obwohl er das schöne und sehr begabte Kind leidenschaftlich liebte. Dann und wann empfing er den Besuch des Barons, seines ehemaligen Kriegsgefährten. Sie stritten dann, da der Major in einem Infanterieregiment gestanden hatte, über den Vorzug ihrer beiden Waffengattungen, oder kritisirten die strategischen Äußerungen Moltke's in dem großen Generalstabswerk. So kam es auch zwischen den Frauen zu gelegentlichen Besuchen, ja trotz der großen Verschiedenheit der Charaktere und Lebensgewohnheiten zu einer herzlichen Freundschaft, die von seiten der Baronin einen Zug von Mitleid mit der allzu passiven und eingeschüchterten Natur der kleinen Frau annahm. Früh waren auch die Kinder zu einander gekommen, ohne sonderliche Neigung. Denn die kleine Stina war bei all ihrer scheinbaren Ruhe und Bescheidenheit ebenso fest in ihrem Willen und Meinen, wie Junker Kurt herrisch und übermüthig, so daß seine Besuche oft zu hellem Zwist und Zank führten und damit endeten, daß er drohte, gewiß nie wiederzukommen.

Es war dabei auch die Eifersucht im Spiel auf einen dritten jungen Kameraden, einen entfernten Verwandten des Majors, der als ein blutarmer verwais'ter Junge bei einem Professor des Gymnasiums in Kost und Pflege gegeben war und mit einem mageren Stipendium sich kümmerlich behelfen mußte. Er aß alle Sonntagmittag bei Stina's Eltern und durfte dann mit der Kleinen sich im Garten tummeln, oder sie und ihre Mutter, die er Tante Marie nannte, auf einen Spaziergang im Buchenwald am Strande begleiten.

Dieser Wilm Lornsen war dem jungen Baron gegenüber noch wilder und trotziger, als sonst schon die Art des stolzen Burschen war, und da ihn das kleine Mädchen offenbar begünstigte, konnte es nicht fehlen, daß zwischen den beiden Knaben von früh an ein eifersüchtiger Haß sich einnistete.

So vermied es denn auch Stina mehr und mehr, als sie heranwuchs, Kurt zu begegnen, und war, während er in seinen Urlaubszeiten sich bei den Eltern aufhielt, zu einem Besuch im »Schlößchen« nicht zu bewegen. An Einladungen dazu ließ es die Baronin nicht fehlen. Sie hatte das holde Kind ihrer bürgerlichen Freundin von früh an ins Herz geschlossen, und als vollends Stina, nun schon sechzehn Jahre alt, bei einer langwierigen Erkrankung der Baronin sich aufs Liebevollste ihrer Pflege angenommen und Tag und Nacht sich nicht aus ihrer Nähe entfernt hatte, war sie der Genesenen so theuer geworden, wie ein eigenes Kind.

In den letzten Jahren aber war der Verkehr zwischen beiden Familien etwas ins Stocken gerathen. Der Major war gestorben. Da seine Wittwe nur eine karge Pension bezog, hatte die Tochter noch eifriger als zuvor ihre Vorbereitungen zum Lehrerinnenexamen betrieben und kaum an den Sonntagen einmal zu einem kurzen Besuch im Schlößchen Zeit gefunden. Da sie viele Stunden des Tages der Mutter im Hause an die Hand ging, mußte sie für ihre Studien die Nächte zu Hülfe nehmen. Und so war es kein Wunder, daß ihre schöne, zarte Jugendblüte ihre Frische verlor und sie endlich in einen so erbärmlichen Zustand gerieth, daß der alte Pastor, der mit väterlicher Zuneigung ihr Heranblühen beobachtet hatte, sich nun über ihr sichtbares Hinwelken Sorge machte und auf den neuesten Bericht über ihr Befinden wohl begierig sein konnte.

Die Baronin, immer dazwischen zu ihrem Manne hinüberspähend, hatte den Brief der Freundin, ohne ein Wort zu sagen, zu Ende gelesen und reichte ihn jetzt mit einem schweren Seufzer ihrem geistlichen Freunde. Überall Kummer und Noth! sagte sie. Je älter man wird, je mehr erlebt man, daß diese so schöne Erde doch nur ein Jammerthal ist. Meine arme Marie! Wie wird der zu helfen fein? Und daß ihre Bedrängniß uns gerade heute bekannt wird, wo unser eigenes Geschick uns zu schaffen macht!

Sie starrte rathlos auf den eben wieder aufgrünenden Rasen vor sich hin, während Pastor Brodersen eine große Hornbrille aufsetzte und Frau Mariens Brief langsam zu studieren begann. Ringsum war eine tiefe Stille, am Himmel sah man leichte weiße Wölkchen, die regungslos im Blau standen, da nicht der leiseste Wind sich rührte, und die Straße unten, da es Mittagszeit war, wurde nur durch den vorüberschleichenden Karren des schwarzbärtigen Gemüsehändlers belebt, dessen Tochter oben zwischen den jetzt leeren Körben hockte und mit ruhig nickendem Kopf ihre Siesta hielt.

Nun aber rührte sich's auf der zweiten Bank. Der Baron hatte den Unglücksbrief längst zu Ende gelesen, war dann aber in ein gereiztes, düsteres Nachsinnen versunken, aus dem er erst jetzt auffuhr. Er lüftete den Hut und trocknete sich die Stirn. Dann kam er mit schweren, langsamen Schritten wie ein gebrochener Mann auf die andere Bank zugeschritten und pflanzte sich mit plötzlich entschlossener Miene vor seine erschrockene Gattin hin.

Ich bin jetzt mit mir ins Reine gekommen, Frau, und mit ihm fertig geworden! stieß er heftig hervor. Er hat sein feierliches Versprechen, nicht mehr zu spielen, gebrochen, sein Herz ist ebenso schlecht, wie sein Charakter haltlos, ich erkenne ihn als meinen Sohn nicht mehr an! Was? Ein Sohn, der für seine Eltern weder wahre kindliche Liebe noch auch nur die äußerlichste Rücksicht beweis't? Denn all das Gerede und Gethue von Reue und Besserung in seinem Briefe ist doch nur bloßer Heuchelkram. Wenn ich noch einmal Gnade vor Recht ergehen lasse – in sechs Monaten kommt wieder ein solcher Brief. Darum will ich heute schon thun, was ich dann thun würde. Ich erkenne ihn als meinen Sohn nicht mehr an, wiederholte er, stark jede Silbe betonend. Du magst ihm schreiben, Elisabeth, daß ich ohne auf weiteres Bitten und Winseln nur ein Wort zu antworten, ihn jetzt sich selbst überlasse. Ob er einen Juden finden wird, der auf den Pflichttheil nach meinem Tode ihm nur hundert Mark borgen möchte, mag er selbst überlegen. Ich – das kannst du ihm sagen – verzeihe ihm den Kummer und die Schande, die er mir bisher gemacht hat. Von heute an aber wird mir sein Leichtsinn und seine Liederlichkeit nicht mehr zu Herzen gehen. Ich habe keinen Sohn mehr, und damit basta!

Er stieß die geballten Fäuste heftig in die Taschen seines kurzen Röckchens und stapfte mit dicht zusammengezogenen Brauen und wildem Blick auf dem schmalen Wege vor der Bank hin und her, daß der Kies unter seinen Bergschuhen knirschte.

Auf der Bank blieb es ganz still. Die Baronin war gewöhnt, den ersten Zornesausbrüchen ihres Gatten nicht eine Silbe entgegenzusetzen, da nach einer solchen Entladung eine Stille einzutreten pflegte, in der später auch ein leises Wort von ihr Gehör fand. Sie warf nur einen scheuen Seitenblick auf den geistlichen Freund an ihrer Seite, mehr um auch ihn zu beschwören, den Sturm erst verbrausen zu lassen, als um seinen Beistand zu erbitten.

Der Pastor bemerkte es nicht. Er hatte den langen Brief von Stina's Mutter jetzt zu Ende gelesen, faltete ihn bedächtig zusammen und nahm die Brille von der Nase. Dann räusperte er sich, wie zum Beginn einer längeren Rede, und sagte mit feierlichem Ton: Mein werther Freund –

Der Baron stand plötzlich still und wandte sich nach ihm um.

Ich bitte Sie, verehrter Freund, kein Wort mehr über die Sache zu reden. Ich weiß Alles, was Sie mir sagen wollen, aber ich versichere Sie, es ist verlorene Mühe. Daß man einem Sünder siebenmal siebzigmal verzeihen solle – so sagten Sie, als ich vor anderthalb Jahren zum zweiten Male die Schulden dieses Taugenichts bezahlte, eine kolossale Summe. Wo sind die guten Vorsätze, die er damals von sich gab? Haha! mit denen war nur der Weg zur Hölle gepflastert, wieder zu einer Spielhölle natürlich! Jetzt aber – wenn Sie mir wieder mit einem Bibelwort kommen wollen – o! auch ich habe ein sehr nachdrückliches Gebot der Schrift in Bereitschaft: »Wenn dich dein Auge ärgert, so reiß es aus! Es ist besser –« und so weiter. Ich bin entschlossen, dieses kranke Glied von meinem Leibe zu trennen, eh' es mir das Leben vollends vergiftet! Die Folgen nehm' ich über mich. Von seiner Drohung, mit der er die weichherzige Mama zu schrecken gesucht hat, glaub' ich kein Wort. Ein so herzloser Egoist, der eben dieser nur zu zärtlichen Mutter allen erdenklichen Kummer zu machen im Stande ist, hat sein elendes Ich zu lieb, um es nicht um jeden Preis zu conserviren, und wäre es um den der Verachtung aller Ehrenmänner!

Mit diesen Worten zog er den unseligen Brief aus der Tasche, riß ihn mitten durch, zerpflückte ihn in winzige Stücke und warf das leichte Häuflein über den Zaun.

Diese symbolische Handlung schien ihn etwas erleichtert zu haben; er athmete tief auf, trocknete sich die Stirn und sagte mit ganz gelassenem Ton: Ich glaube, es wird nachgerade Zeit sein, zum Diner Toilette zu machen.

Die beiden Anderen regten sich nicht. Nach einer Weile sagte der alte Herr: Eh' wir zu Tische gehen, muß dies doch noch ins Reine gebracht werden. Sie brauchen nicht zu fürchten, mein werther Freund, daß ich Ihnen das Recht zu Ihrer sehr begreiflichen Entrüstung bestreiten möchte. Am wenigsten sind Sie jetzt in der geistigen und seelischen Verfassung, um vom theologischen Standpunkt aus mit Ihnen zu rechten. Auch die Anwendung des von Ihnen citirten Spruches, so controvers sie ist, gebe ich Ihnen bereitwillig zu. Nur, da ich der Ältere und kraft meines Amtes der Leidenschaftslosere bin, darf ich Sie daran erinnern, daß ein besonnener Mensch, wenn sein Auge ihn ärgert, ehe er es ausreißt, sich fragt, ob nicht eine sanftere Kur Aussicht auf Erfolg hätte. Ein Auge ist immerhin ein Auge, und der Sohn, der Ihr Augapfel war, Ihr einziges. Und darum –

Nein, nein! fuhr der kleine Herr dazwischen, reden Sie mir von keiner Kurpfuscherei. Ich bin überzeugt, wie von meinem Leben, daß alle milden Medicamente kraftlos sind. Nur eine Radicalkur –

Und wenn ich nun eine solche Ihnen vorzuschlagen hätte? unterbrach ihn der Pastor, indem er aufstand und ihm einen Schritt näher trat. Dann, als der Baron ihn ungläubig anstarrte und auch die edle Frau in höchster Spannung zu ihm aufsah, sagte er: Meine theuren Freunde, wieder einmal bewährt sich das Wort, daß Gottes Wege unerforschlich sind und seine Hülfe am nächsten, wenn die Noth am größten scheint. Zugleich mit dem tiefbetrübenden Brief, der Ihre Elternherzen verwundete, hat der Herr Sie diesen anderen erhalten lassen, der nach menschlichem Ermessen Heilung und fröhliche Genesung zu bringen verspricht. Es ist scheinbar ein neuer Kummer, was Ihnen, theure Freundin, hier berichtet worden ist, aber eine plötzliche Erleuchtung hat mich erkennen lassen, daß darin der Weg zum Frieden gewiesen wird. Und nun hören Sie erst, was unsere gemeinsame Freundin, die gute Frau Marie, in diesem Briefe sich vom Herzen geschrieben hat.

Was Stina's Mutter an ihre Freundin berichtet hatte, war wie immer ein Klagelied. Denn die gute Frau hatte die unglückliche Gabe, Alles im Leben schwer zu nehmen und selbst das Erfreuliche durch die Sorge, daß es doch vielleicht nur eine Illusion oder bestenfalls ein kurzer Sonnenblick in ihrem helldunklen Leben sein möchte, sich zu verbittern. So erzählte sie auch jetzt von dem glücklich mit erster Note bestandenen Examen ihres Kindes ohne den freudigen Mutterstolz, der so natürlich gewesen wäre, sondern mit dem bangen Zusatz, das arme Kind werde dies ehrenvolle Ziel wohl nur erreicht haben, um daneben zusammenzubrechen. Stina's Kräfte seien so tief erschöpft, daß sie nie werde hoffen dürfen, den so schwer erkämpften Beruf anzutreten. Sie esse und schlafe nicht mehr, es sei ein Jammer, zu sehen, wie sie sich kaum aufrecht erhalte, ihr einziger Trost sei, daß ihr armer, geliebter Mann nicht mehr erleben könne, wie sein Herzblatt vor der Zeit ins Grab welke.

Zugleich sei ein anderes Unglück über sie gekommen, das freilich zu anderer Zeit, wo jene Hauptsorge ihr noch fern gewesen, sie schwerer getroffen haben würde.

Die Hypothek von zwölftausend Mark, die auf ihrem Häuschen ruhe, sei ihr plötzlich gekündigt worden. Da der Gläubiger wisse, daß sie nicht im Stande sei, das Capital zurückzuzahlen, sei seine Absicht klar, sie zum Verkauf zu drängen, um auf diesem schmalen Grundstück, zu dessen beiden Seiten jetzt hohe Miethhäuser aus dem Boden gewachsen seien, gleichfalls ein solches zu errichten. Wohin sie sich um Hülfe gewendet, überall habe sie hören müssen, daß es Sünde und Schande sei, den Grund und Boden nicht besser auszunutzen, zumal das »Hüttchen« zwischen den himmelhohen Wänden eine fast lächerliche Figur mache und auch die frühere Aussicht nach der See ihm verbaut worden sei. Sie selbst habe dies alles um sich herum mit Herzweh sich so verändern sehen. Das Herz aber werde ihr vollends brechen, wenn sie auf ihre alten Tage gezwungen würde, irgendwo anders einen Unterstand zu suchen und die Räume zu verlassen, in denen aus jedem Winkel eine Erinnerung an ihre glückliche Zeit und ihren geliebten Mann sie anblicke.

Dies alles war in so trauriger, gottergebener Schlichtheit vorgetragen, daß das freiherrliche Paar zunächst sich nur durch das Mitgefühl mit der guten Frau bewegt fühlte und einen Augenblick nicht daran dachte, in welcher Beziehung diese Nothlage der Freundin zu ihrer eigenen und der Abhülfe für dieselbe stehen könne.

Pastor Brodersen aber nahm jetzt wieder die Brille ab, steckte den Brief ins Couvert und sagte, während auf seinem sonst so feierlichen Gesicht eine Miene triumphierender Überlegenheit erschien: Ich denke, was mir nach Kenntnißnahme dieses Briefes als der Finger Gottes erschien, wird auch Ihnen, meine Freunde, einleuchten. Ihr Sohn muß vor Allem dem verderblichen Einfluß jener leichtfertigen, üppigen Berliner Kreise entzogen werden. Zu dem Ende wäre er sofort hierher zu berufen, um einen letzten Versuch zu machen, ob sein Herz wirklich gegen den ernsten Zuspruch der Vernunft und Liebe verhärtet ist. Aber als eine Bundesgenossin dabei würde Niemand wirksamer Ihnen zur Seite stehen, als das liebe Mädchen, das ja schon in den Kinderjahren es dem wilden jungen Herrn sichtbar angethan hat. Sie bedarf dringend eines Luftwechsels, der Erholung an einem Ort, wo der Winter sie nicht ins Zimmer bannt. Was liegt näher und ist unauffälliger, als daß Sie Mutter und Tochter nach Gardone einladen? Kann nicht auch mündlich am besten berathen werden, wie der guten Frau in ihrer finanziellen Bedrängniß zu helfen wäre? Und nun stellen Sie sich die Lage der Dinge vor, Ihren Sohn und unsere Stina an diesem paradiesischen Orte täglich miteinander verkehrend, beide nach Erschütterungen sehr verschiedener Art sich wieder beruhigend und zu neuem Lebensmuth genesend – und wenn es dann endlich Gottes Wille wäre, daß die jungen Herzen sich finden sollten, welche bessere Bürgschaft, werther Freund, könnten Sie erhalten für den Ernst, mit dem Ihr Kurt wirklich ein neues Leben beginnen und darin verharren werde, als wenn ihm eine so treffliche, edle und liebevolle Gefährtin zur Seite stände, wie unsere Stina?

Er schwieg, und seine Augen gingen von einem seiner Zuhörer zum andern, zu erforschen, welchen Eindruck diese Lösung aller Wirrnisse gemacht habe. Da er sich auf seine oft schon erprobte Klugheit auch in weltlichen Dingen heimlich viel zu Gute that, machte es ihn betroffen, daß beide Gatten seinen Vorschlag nicht mit dem erwarteten Dankesjubel aufnahmen: der Vater, weil er trotz seines Respects vor dem jungen Mädchen und der Anerkennung aller ihrer sonstigen Vorzüge in einer Verbindung seines Sohnes mit ihr doch eine Mißheirath sah; die Mutter, deren tiefster Herzenswunsch dadurch erfüllt worden wäre, da sie zweifelte, ob ihr Kurt sich würde gefügig zeigen und um eines Mädchens willen, das ihm stets schroff und kalt begegnet war, seinen noblen Passionen entsagen möchte, ja, was noch schwerer ins Gewicht fiel, ob Stina selbst die alte Jugendneigung zu jenem Vetter – die, wie es hieß, sogar zu einer heimlichen Verlobung geführt hatte – aufopfern würde, um die Erziehung eines jungen Wüstlings zu einem gesitteten und achtungswerthen Hausvater zu übernehmen.

In diesem Augenblick hörte man unten vom Hôtel herauf die Glocke, die zu Tische rief. Der Baron machte eine Bewegung, wie wenn ihm eine Last abgenommen würde.

Ihr Gedanke, lieber Herr Pastor, sagte er, verdient reiflich erwogen zu werden. Allerdings ist das liebe Mädel tausendmal zu gut für den verwünschten Schlingel, und auch sonst – ich hatte andere Absichten mit ihm. Aber Sie haben Recht: vielleicht ist das der einzige Weg zur Rettung, und wenn er ans Ziel führt, sollen Sie gepriesen und bedankt werden als ein genialer Seelen- und Augenarzt. Vorläufig meine Hand, bester Freund, und nun deinen Arm, Elisabeth! Der Schreck und Zorn ist mir in den Magen gefahren. Ich habe einen Hunger wie ein Wolf.

*

Gleichwohl schob der hitzige Herr, nachdem er ein paar Löffel Suppe zu sich genommen, den Teller zurück und ließ auch alle weiteren Gerichte vorübergehen, während er die ganze Flasche des schweren Barolo, die vor ihm stand, in hastigen Zügen nach und nach austrank. Auch die Baronin genoß nur ein paar Bissen. Der Pastor dagegen, der ein starker Esser war, obwohl es seiner hageren Figur nicht anzuschlagen schien, verschlang mit dem ruhigen Behagen eines Mannes, der sich für eine menschenfreundliche That selbst belohnen will, unglaubliche Portionen, wozu er nur Wasser trank, da er alle erhitzenden geistigen Getränke zum Besten seines empfindlichen Halses mied.

Gesprochen wurde zwischen den Dreien kein Wort. Der geistliche Herr war auch sonst ein schweigsamer Tischgast, da er nicht zweierlei Geschäfte zu gleicher Zeit zu besorgen liebte. Über das Verstummen des sonst gesprächigen Ehepaars aber machten sich ihre Nachbarn an der langen Tafel Gedanken. Man war überzeugt, es sei, da man das aufbrausende Temperament des Freiherrn kannte, zwischen ihm und seiner Gattin zu einer heftigen Scene gekommen.

Wie weit diese Vermuthung von der Wahrheit entfernt war, zeigte sich, als nach aufgehobener Tafel das Ehepaar in seine Zimmer hinaufstieg und der Baron, nachdem er die Thüre sacht hinter sich geschlossen hatte, mit dem ruhigsten Tone sagte: Ich überlasse nun alles Weitere deiner Klugheit, liebe Frau. Wollte ich mich selbst einmischen, so würde mein Gaul vielleicht mit mir durchgehen, da er leicht den Koller kriegt. Der Pastor hat ja vielleicht mit Allem Recht, was er sagt. Mich hat die Sache so furchtbar emotionirt, daß mir roth vor den Augen wird, wenn ich nur daran denke. Um mein Nachmittagsschläfchen ist's nun einmal geschehen. Aber wenn die verdammte Geschichte wenigstens leidlich reparirt wird, soll mir dies Opfer mit all den anderen nicht zu theuer sein.

Damit ging er seufzend in sein Zimmer, aus dem schon nach wenigen Minuten friedlich auf- und absteigende Töne anzeigten, daß durch die starke Gemüthsbewegung die Siesta nicht beeinträchtigt worden war. Es war das wohl nicht das Verdienst des Barolo, sondern der heimlichen tiefen Befriedigung darüber, daß es mit der angedrohten Verstoßung und Enterbung des entarteten Söhnchens nun doch nicht Ernst zu werden brauchte, sondern trotz jenes Gebots der Schrift der zärtlich behütete Augapfel an seiner Stelle bleiben konnte.

Die Mutter aber, da sie kaum sich selbst überlassen war, gab sich noch eine Weile ihrem Schmerz über das neue »Ärgerniß« hin, das ihr mißrathener Liebling ihr angethan hatte, dann aber fuhr sie mit der Hand über die Augen und beeilte sich, zwei Schriftstücke aufzusetzen, ein Telegramm an den Sohn, das ihm befahl, unverzüglich Urlaub zu nehmen und spornstreichs zu den Eltern nach Gardone zu kommen, und einen Brief an die gute Frau Marie, in dem sie natürlich weder von ihrem mütterlichen Kummer noch von dem fein gesponnenen Project zu seiner Heilung nur ein Wort verlauten ließ.

Die Nachricht von dem Befinden der lieben Stina, schrieb sie, habe sowohl sie und ihren Mann als den verehrten geistlichen Freund aufs Tiefste erschreckt. Sie seien der Meinung, nur durch eine gründliche Ruhe und Erholung werde die Gefahr für das theure Kind abzuwenden sein. Und so lade sie, zugleich im Namen ihres Mannes, das liebe Paar zu sich nach Gardone ein, wo man jetzt schon zuweilen Frühlingslüfte athme, und die Freundin dürfe sich nicht dagegen wehren, das beifolgende Reisegeld anzunehmen, sowie während der zwei, drei nächsten Monate ihre Gastfreundschaft zu genießen. Alle erwarteten sie ungeduldig, da jeder Aufschub verhängnißvoll sein könne.

Erst in einer Nachschrift erwähnte die Schreiberin der fatalen Hypothekgeschichte. Sie hoffe, daß sich auch dafür ein praktischer Ausweg finden werde. Das aber möge der mündlichen Berathung überlassen bleiben.

Am vierten Tage nach diesem langte der verlorene Sohn mit dem Nachmittagsdampfer von Riva her in Gardone an. Unter den Wintergästen, die sich am Landungssteg regelmäßig einzufinden pflegen, um neue Gesichter zu sehen und die winterliche Einförmigkeit ihres Lebens für zehn Minuten zu unterbrechen, befand sich nur die Mutter, die mit sorgenvollem Blick dem Sohn entgegenspähte. Der Papa hatte es entschieden abgelehnt, seinen »Taugenichts« wiederzusehen, ehe dieser die bündigsten Bürgschaften gegeben, daß es ihm diesmal mit seinem Entschluß, einen neuen Menschen anzuziehen, Ernst sei und er sich auf Gnade und Ungnade in die Bedingungen füge, welche die Mutter im Namen des Vaters ihm stellen sollte: Austritt aus dem Regiment und Werbung um die Jugendgespielin. Erst dann sollten die Schulden bezahlt und die väterliche Verzeihung ihm bewilligt werden.

Der junge Sünder stieg mit der Miene tiefen Ernstes ans Land und umarmte die Mutter, deren Thränen von den umstehenden Bekannten als Freudenthränen gedeutet wurden. Es fehlte auch nicht an Complimenten über einen so schmucken, stattlichen Sohn, die man ihr halblaut zuflüsterte, während Kurt nach seinem Gepäck sich umsah. Dann führte er, nachdem er dem aufdringlichen Drehorgelspieler eine blanke Lira zugeworfen hatte, »zur Feier feiner Ankunft«, die Mama durch das Gewühl, ohne nach dem Papa zu fragen, dessen Fernbleiben er sich, wie er ihn kannte, leicht erklären konnte. Die zerknirschte Miene aber behielt er nicht lange bei, sondern fing an, von drolligen Reiseabenteuern zu erzählen und die Schönheit der Gegend zu preisen, wie jeder andere zu seinem Vergnügen reisende junge Mensch, der nichts auf dem Gewissen gehabt hätte.

Die Mutter aber war nicht geneigt, auf diesen leichten Plauderton einzugehen. Sie ließ dem Sohn nicht einmal die Zeit, in dem Stübchen der Dependance, das sie ihm gemiethet hatte, den Reisestaub abzuschütteln, sondern führte ihn sofort zu jener Bank in den Anlagen, wo der entscheidende Familienrath stattgefunden hatte. Hier hielt sie ihm in sehr ernsten Worten und ohne den zärtlichen Ton, den er an ihr gewohnt war, sein unerhörtes Betragen vor und den festen Entschluß des Papas, seine Hand für immer von ihm abzuziehen, wenn er sich jenen beiden Bedingungen nicht ohne jeden Widerstand unterwerfe.

Liebe Mama, erwiderte der in der That jetzt bußfertige arme Sünder, ich brauche nicht zu versichern, daß von einem Widerstand gegen das, was ihr mir vorschreibt, keine Rede sein kann, von meiner Seite wenigstens. Ich bin nie mit Passion Soldat gewesen. Ob ich freilich dazu gemacht bin, als ein müßiger Landedelmann mein vielleicht noch ziemlich langes Leben mit ein bischen Forstcultur, Pferdezucht, Segelsport und Kindererziehung auszufüllen, muß ich abwarten. So wie bisher kann es nicht fortgehen, das seh' ich ein. Aber ob es in meiner Macht steht, auch den zweiten Punkt nach eurem Wunsch zu erledigen, überlege selbst. Zum Heirathen gehören bekanntlich Zwei. Stina ist ein reizendes, gescheites und wohlerzogenes Mädchen, und das bischen Lehrerinnenpedanterie wird sich, wenn sie Gutsfrau geworden ist, an ihren eigenen Kindern unschädlich austoben. Aber du weißt, Mama, sie hat mich nie leiden können und mit dem rothen Demokraten, dem Wilm, ein sentimentales Verhältniß gehabt. Ich zweifle, daß sie mir jetzt geneigter geworden sein möchte, wenn sie merkt, daß ich auf höheren Befehl ihr die Cour mache und ihr sie als ein Allheilmittel für meine moralischen Gebrechen mir eingeben möchtet.

Gewöhne dir diese frivolen Redensarten ab, unterbrach ihn die Mutter mit strenger Miene. Der Papa weiß so gut wie ich, daß die Erfüllung unseres Wunsches, dich mit diesem vortrefflichen Mädchen vermählt zu sehen, nicht allein von deinem guten Willen abhängt. Er verlangt nur, daß du mit allem Ernst das Deinige dazu thust, dir das Herz Stina's geneigt zu machen. Von Wilm Lornsen hat man Jahr und Tag nichts mehr gehört. Er studiert in Kiel Medicin. Wenn er aber auch nächstens seinen Doctor macht – bei seiner vollständigen Armuth und Stina's Vermögenslosigkeit ist kaum eine Gefahr, daß die kindische Liebelei zu einem ernstlichen Ergebniß führe. Du hast gewiß Gelegenheit gehabt – mehr als gut für dich war, – dich in den Künsten zu üben, mit denen man unerfahrene junge Herzen erobert. Jetzt kannst du zu einem guten und ehrbaren Zweck davon Gebrauch machen.

Sie erzählte ihm nun, daß sie Mutter und Tochter nach Gardone eingeladen und diese ihr Kommen gern in Aussicht gestellt hatten. Nur einige sehr nöthige Vorbereitungen in Betreff ihrer Toilette seien noch zu machen; in acht Tagen aber hofften sie damit zu Stande zu kommen.

Kurt hörte das mit an, ohne ein Wort zu erwidern. Daß er sein flottes Offiziersleben und die kostspielige Liebschaft aufgeben sollte, war ihm nicht einmal so unlieb, wie die Mutter dachte. Das tolle Treiben hatte ihn ein wenig ermüdet und gegen seine Reize abgestumpft. Die ihm zugedachte Braut trug er mit gemischten Gefühlen in seiner Erinnerung, halb mit Ärger und Ingrimm, daß er keine Gnade vor ihren Augen gefunden hatte, halb mit Respect vor ihrer sittlichen Überlegenheit. Nun schien es ihm doch verlockend, ihre stolze Kälte zu besiegen und sie in seine Gewalt zu bekommen. An den Unterschied des Standes dachte er weniger als sein Papa. Und da er nun fürs Erste sich aller Sorge um die Rettung aus seinen Bedrängnissen entschlagen konnte, athmete er auf, fühlte sich voll Danks gegen die gütigen Eltern und nahm sich vor, äußerst liebenswürdig und vor Gott und Menschen angenehm zu werden.

Mit den Menschen, vor allen seiner eigenen Mutter, glückte ihm das auch aufs Beste. Der Papa ließ nicht erkennen, ob auch er den eleganten jungen Herrn, der so äußerst solide schien, obwohl er im Gespräch Alte und Junge mit seinem Witz und naiven Lachen bezauberte, für einen ganz zuverlässigen, musterhaften Kameraden hielt. Er begegnete ihm mit eisiger Kälte, reichte ihm nur zwei Finger der Hand zum Willkommen und thaute auch nicht auf, nachdem ihm die Frau berichtet hatte, daß Kurt sich unbedingt unterworfen und sich mit seinem Ehrenwort verpflichtet habe, nichts zu unterlassen, was dazu angethan sei, Stina's Neigung zu gewinnen.

*

Es war ihm auch wirklich Ernst damit, zumal nachdem er sie wiedergesehen hatte. Bei dem ersten Empfang am Dampfschiff war er nicht zugegen gewesen. Die kluge Mama hatte das verboten, um nicht von vornherein, wenn eine Absicht zu Tage käme, Stina die Unbefangenheit im Verkehr mit ihrem Jugendgefährten zu rauben. Kurt habe hinter dem Rücken der Eltern Urlaub genommen, um sie hier zu besuchen. Es habe ihm zu lange gewährt, sie einmal wiederzusehen. Er sei gar nicht mehr der frühere leichtsinnige Junge, jetzt hänge er an der alten Heimath, die er früher so öde und langweilig gefunden habe. Wie werde er sich freuen, auch die lieben alten Freundinnen wiederzusehen, mit deren Besuch ihn die Eltern überraschen gewollt. Vielleicht aber könne er nur wenige Wochen bleiben. Ihre theure Stina aber ließen sie nicht fort, ehe die lieben blassen Wangen voll wieder aufgeblüht und alle Examensstrapazen überwunden seien.

Damit das Sorgenkind in möglichster Ruhe das abwarten könnte, hatte die Baronin nicht in dem großen Hôtel, wo es lebhaft zuging, Wohnung für sie zu bestellen gesucht, sondern in einer der deutschen Pensionen, die nicht viel über ein Dutzend Gäste beherbergen konnte. Hier war auch Frau Marie in ihrer bescheidenen Kleidung keinen mitleidigen Blicken eleganter Tischnachbarinnen oder hochnasiger Kellner ausgesetzt und konnte in dem Garten am Hause Morgens frühstücken in demselben unmodernen Schlafrock, den sie in ihrer eigenen Fliederlaube trug.

Der Baron und die Baronin hatten es sich nicht nehmen lassen, ihre Gäste selbst nach ihrem Quartier zu begleiten. Die beiden Mütter gingen langsam voran auf dem etwas erhöhten Wege neben der Chaussee, an dem junge immergrüne Bäumchen angepflanzt waren. Die Baronin führte ihre Freundin, die aus dem großen Kragen eines altmodischen seidenen Mantels schüchtern um sich hersah, mit zärtlicher Sorgfalt wie eine ältere Schwester, die der jüngeren bei den ersten Schritten in die große Welt zur Stütze dient. Die kleine Frau war nur einmal in ihren Mädchenjahren bis Lübeck gekommen, dann auf der Hochzeitsreise nach Hamburg. Seither hatte sie sich von ihrem Häuschen nicht weiter entfernt, als zu einem Besuch auf dem Schloß. Nun war es ihr wie ein Traum, daß sie diese weite, weite Reise gemacht, einen Tag in Berlin, einen in München gerastet hatte. Und dann die schauerliche Brennerfahrt und die drei Stunden auf dem See – alles war märchenhaft, und sie plauderte davon, während sie sonst selbst unter vier Augen nicht eben beredt war, unaufhörlich wie in einem Rausch, der ihr die Zunge gelös't hätte. Und dazwischen drückte sie immer wieder den Arm ihrer großherzigen, liebreichen Freundin, die umsonst die stammelnden Versicherungen ihrer Dankbarkeit zurückzudrängen suchte.

Hinter ihnen schritt der Baron, der der Tochter den Arm geboten hatte.

Hier war er der Gesprächige, der sich bemühte, die Honneurs der Gegend zu machen, während Stina, die Augen sinnend in die Ferne gerichtet, nur zuweilen ein leises Wörtchen der Bewunderung dazwischen warf. Sie war offenbar von der langen Reise mehr erschöpft als die Mutter; die Hand, die auf dem Arm ihres Begleiters lag, zitterte leise, und ihre schlanken Glieder schwankten ein wenig, so daß er, der es merkte, ein paarmal anhielt, um sie ausruhen zu lassen. Sie trug einen einfachen dunklen Anzug, der ihrer schönen, schmiegsamen Gestalt reizend stand, und ein graues Hütchen mit einer kleinen Feder, die immer über ihre weiße Stirn hereinnickte. Der Baron konnte im Gehen die Augen nicht von ihr abwenden, so gut gefiel sie ihm, ja er wunderte sich, daß er nicht früher bemerkt hatte, wie vornehm ihre Züge waren, zumal die Augen und das feingeschnittene Näschen. Jetzt hatte auch der Mund, der sonst einen Zug von derber Frische und sogar trotziger Kraft gehabt hatte, durch das Leiden und die bleichsüchtige Erschöpfung einen elegischen Ausdruck bekommen, das ganze holde Gesicht war reifer geworden, und auch wenn ein Lächeln darüberhin flog, verging der schwermüthige Schatten nicht, der diese schöne Jugend überflorte.

In seinem Herzen war der kleine Freiherr, der vor Zeiten im Ruf eines vollendeten Frauenkenners gestanden hatte, zu dem Schlusse gelangt, daß dieses blasse junge Fräulein jedem fürstlichen Thron zur Zierde gereichen würde, und daß sein Schlingel von Sohn eigentlich sieben Jahre für seine Sünden Buße thun müßte, ehe er verdiene, dieser holden Braut auch nur die Fingerspitzen zu küssen.

In der Pension angelangt, führten die aufmerksamen Gastfreunde Mutter und Tochter erst in die ihnen bestimmten Zimmer, wo der Duft von einer Menge frischer Blumensträuße sie umfing, und ließen sie dann allein. Stina bestand darauf, daß die Mutter sich gleich in dem schmalen einfenstrigen Cabinett ein wenig niederlegte, das zum Schlafgemach bestimmt war. Sie selbst nahm sich kaum Zeit, Gesicht und Hände mit frischem Wasser zu kühlen; dann trat sie im Wohnzimmer auf den Balcon hinaus und ließ sich auf einem bequemen Sessel nieder, Herz und Augen an dem weiten Rundbilde, das sich vor ihr ausbreitete, zu weiden.

Der Tag neigte sich schon, der See hatte seine tiefe Purpurbläue, die sie während der Fahrt entzückt hatte, verloren, lag aber jetzt spiegelklar, und über seiner gediegenen Fläche schimmerte der Abglanz der Röthe, die das Schneehaupt des Monte Baldo weit zur Linken mit den letzten Abendgluten umwob. Gerade gegenüber lag die Gardainsel, zur Rechten senkte sich der lange Höhenrücken, der die kleinen Nester Portese und San Felice trägt, zur Flut hinab, darüber die scharfe Silhouette des Cap Manerba, schon im violetten Duft, auf der anderen Seite, aus dem östlichen Seegestade leicht hervorspringend, die Punta di San Vigilio, auf der jetzt nur ein paar kleine blitzende Punkte sichtbar waren, Fenster, die das Abendroth spiegelten, dahinter, den Abhang hinauf, kleine schwarze Striche, die Cypressen, an denen da drüben die Fülle ist.

Aus der hier unsichtbaren Bucht von Salò schwamm langsam eine große Barke daher, deren mächtiges gelbrothes Segel den letzten Windhauch sich zu Nutze machte, um noch eine Strecke weit gegen Riva hin zu gelangen. Näher am Ufer ruderten zwei Fischer ihren schmalen Kahn durch die glatten Wellen, während ein dritter das weite Netz auswarf. In der krystallklaren Luft war das regelmäßige Einfallen der Ruder zu hören, sonst kein Laut, bis vom Kirchthurm droben in Gardone di sopra die dröhnenden Schläge erklangen, welche die sechste Stunde anzeigten.

Der Zauber dieses Orts und der abendlichen Einsamkeit überwältigten das Gemüth des jungen Mädchens so sehr, daß ihre Augen sich mit schweren Thränen füllten. Sie suchte sie nicht zurückzuhalten. Es war ihr eine Wohlthat, die ihr die Brust befreite. Sie schloß aber die Augen, um sich in ihrem Innern wieder zu sammeln. Was dachte sie nicht alles in diesem Halbtraum! Vor vier Tagen hatte sie schon um diese Zeit zu Hause zu Bett gelegen, da der Arzt darauf bestand, daß sie zu der weiten Reise sich möglichst stärken müsse. An Schlaf hatte es ihr ja so lange gefehlt. Ihr junges Gehirn war so überhäuft worden mit Wissenskram, daß es selbst zur Nachtzeit nicht mehr zur Ruhe kam. Und nun war sie hier, in diesem irdischen Paradiese, wohin ihr keine Grammatiken und historischen Compendien, keine Examengespenster gefolgt waren, wo sie wieder ganz gesund und jung und – wenn die Zeit erfüllet wäre! – glücklich werden sollte.

In die Gedanken an dies letztere, das ihr zärtlich behütetes Geheimniß war, hatte sie sich so tief verloren, daß sie ein bescheidenes Klopfen an der Thür überhörte. Sie sah erst auf, als sie sich sanft an der Schulter berührt fühlte. Hinter ihr stand Kurt.

Sie begrüßte ihn mit unverstellter Freundlichkeit. In diesem Augenblick war ihr Herz so von Freude und Dank gegen ihr Schicksal erfüllt, daß sie selbst einem Feinde ohne Groll die Hand geboten hätte. Und gehaßt hatte sie den herrischen, hochmüthigen Jugendgespielen nie, sich nur nicht seinen Launen gebeugt. Nun schien er vollends ein ganz Verwandelter, fast demüthig und ehrerbietig ihr gegenüber, so daß es ihr nur angenehm war, einem guten Bekannten ihr Herz ausschütten zu können über alle Herrlichkeit, die sie umgab. Er äußerte sich sehr entzückt von der Überraschung, die ihm die Eltern bereitet hätten, fragte, ob er sie wirklich noch mit »Du« anreden dürfe, obwohl sie inzwischen sich so fremd geworden, aber das »Gnädigstes Fräulein!« wolle ihm nicht über die Lippen, und wie sehr er sich darauf freue, die alte Jugendfreundschaft fortzusetzen, jetzt, da er selbst sich seiner jungen Unarten schäme und ihr zu beweisen hoffe, daß er besser sei als sein Ruf und die Vorstellung, die sie sich von ihm bewahrt haben möchte.

Sie hörte ihm mit freundlicher Miene zu und zeigte sich so entgegenkommend, wie er kaum gehofft hatte. Und wie schön war sie geworden! Der Papa hatte nicht zu viel gesagt. Es war durchaus nicht die Art von sinnlichem Reiz, die er bisher bei den »Weibern« vor Allem geschätzt hatte. Aber der Adel dieser etwas allzu geistigen Züge und durchsichtig zarten Wangen, dazu das stille Feuer der dunklen Augen nahmen ihn doch völlig gefangen. Der Geliebte dieses seltenen Wesens zu sein, schien ihm eine Buße, der sich noch weit verhärtetere Sünder mit Freuden unterzogen haben würden.

Das Zimmermädchen brachte den Thee, den die Baronin vorsorglich bestellt hatte, Stina holte die Mutter herein, die ebenfalls Kurt arglos begrüßte und ihn einlud, an ihrem Vesperbrod theilzunehmen. Auch ihr gegenüber betrug der junge Herr sich so klug und wußte so treuherzig den guten Jungen zu spielen, daß Frau Marie, als er gegangen war, ihn gegen die Tochter nicht genug zu loben wußte.

Kurt aber fand, als er bei seinen Eltern wieder eintrat, für den Eindruck, den Stina ihm gemacht hatte, so begeisterte Ausdrücke, daß die Mutter ihn mit feuchten Augen umarmte und der Papa, ohne ein Wort zu sagen, ins Nebenzimmer ging, aus dem er gleich darauf zurückkehrte, einen Check auf sein Hamburger Bankhaus in der Hand, in den er die Summe, die Kurt im Spiel verloren haben wollte, eingezeichnet hatte. Er gab dem Sohn, der ihm gerührt die Hand küßte, einen leichten Schlag auf die Backe und sagte: Versuche dein Heil, Taugenichts! Wenn du aber mehr Glück hast, als du verdienst, und deine junge Frau nicht auch noch auf Händen trägst, wenn sie so graue Haare hat wie deine Mutter, bist du nicht bloß der schlechteste, sondern auch der dümmste Kerl, den die Erde trägt!

*

Nun begann eine liebliche idyllische Zeit, durch keinen Mißklang getrübt. Nur daß es mit Stina's Genesung langsamer ging, als Alle gehofft hatten. Zwar ihre Lippen und Wangen fingen wieder an sich zu röthen, aber ihre Kräfte reichten noch immer nicht weit, obwohl sie täglich am Vormittag mit der Mutter in die »Latteria« von Gardone wandelte, eine Milchwirthschaft, hinter der eine anmuthige Olivenhalde sich weit den Abhang hinaufzog und wo man an kleinen runden Tischen in der Frühlingssonne sich's wohl sein lassen konnte. Zuweilen fand sich auch der Baron hier ein, von Kurt begleitet, und die Rollen schienen vertauscht zu sein, da der Papa dem schönen Fräulein geflissentlich den Hof machte, während der Sohn eine ernste Miene zur Schau trug und sich jeder noch so unschuldigen Galanterie enthielt.

In ihrer Stimmung war Stina von einer höchst liebenswürdigen, gleichmäßigen Heiterkeit, und auch wenn sie zuweilen lange verstummte und träumerisch vor sich hin blickte, umspielte ein glückliches Lächeln ihren Mund, als ob ihre Seele weit in der Ferne Dinge sehe, die noch reizender waren, als was sie hier umgab.

Erst nach drei Wochen dieses einförmig gedeihlichen Lebens stellte sich auch der verlorene Schlaf wieder ein, und nun konnte der Baron mit Recht scherzen, daß er das Gras ihrer Genesung wachsen höre. Man war in den März hineingelangt, die Vegetation wurde immer frühlingshafter, da auch die kahlen Bäume leise zu knospen begannen, und eines Tages hatte das Freundeshäuflein den Nachmittagsgang sogar bis nach Maderno auszudehnen gewagt, ohne daß Stina sich über Ermüdung beklagt hätte. Die Lüfte waren so lau geworden, daß man auch kleine Fahrten unternehmen und die Schluchten, die in den mächtigen Grundstock des Pizzocolo eindringen, besuchen konnte. Nur auf die Bergpfade mußte man Stina's wegen verzichten, zu ihrem großen Kummer, da sie darauf brannte, den geliebten See einmal von der Cypressenhöhe über Toscolano, zu der das Kirchlein von Gaino hinaufwinkte, zu überschauen und sich ihrer wiedergewonnenen Kräfte nach Herzenslust zu erfreuen.

Es braucht nicht gesagt zu werden, daß Pastor Brodersen an diesen Streifzügen sich eifrig betheiligte. Der Zustand seines Halses hätte ihn längst nicht mehr gehindert, heimzukehren und seine Kanzel wieder zu besteigen. Er sah sich aber mit stiller Genugthuung als die Vorsehung der kleinen fünfköpfigen Gesellschaft an, über die ein wachsames Auge zu halten, damit alles zum guten Ende gelange, seine Pflicht sei. Am liebsten hätte er das Werk, das er begonnen, noch hier gekrönt und das junge Paar zusammengegeben.

*

Das schien sich aber immer noch hinausziehen zu wollen.

Die Gäste im Hôtel Gardone hatten den jungen Baron und das schlanke dunkeläugige Fräulein längst als Brautleute angesehen. Die Mütter erwachsener Töchter, die etwa anfangs, als Kurt erschien, ihn mit schwiegermütterlichen Zukunftsblicken betrachtet hatten, waren bald zu der Erkenntniß gelangt, daß all ihre Beflissenheit gegen Mutter und Sohn verlorene Mühe sei. Man sah das junge Paar täglich im traulichsten Gespräch auf den nahen Wegen und in der Latteria miteinander verkehren und schob das Verdienst an den aufblühenden Wangen des Mädchens mehr ihrem Begleiter zu, als der Frühlingsluft von Gardone. Warum dennoch keine offene Erklärung erfolgte, war Allen ein Räthsel, auch der priesterlichen Vorsehung selbst und den Eltern des Jünglings, der es kein Hehl hatte, daß er täglich mit leidenschaftlicheren Augen das schöne Wesen betrachtete. Er konnte sich auch nicht damit entschuldigen, daß »eine Würde, eine Höhe die Vertraulichkeit entfernte«. Denn je mehr Tage in diesem heiteren Verkehr vergingen, je munterer leuchteten Stina's Augen, und je mehr war sie, soweit es ihre leiblichen Kräfte erlaubten, zu allen Übermüthen und Kinderpossen aufgelegt. Ganz gegen ihre Natur, wie man sie früher gekannt hatte. Auch wenn sie zwischen allerlei Scherzen auf einmal still und ernst wurde, war es nur, als besänne sie sich auf etwas Heimliches, das Niemand wisse, das aber noch viel freudiger und glückseliger sei, als all die armen Thorheiten, die hier getrieben wurden.

Der Baron begriff am wenigsten, warum sein Sohn, der doch sonst nicht den blöden Schäfer zu spielen pflegte, hier diesem einfachen Mädchen gegenüber die günstigsten Gelegenheiten, sich zu erklären, unbenutzt ließ. Er konnte den Augenblick nicht erwarten, das erröthende holde Wesen an sein väterliches Herz zu drücken und diesen lieblichen Mund zu küssen. Endlich nahm er den Sohn selbst ins Gebet und suchte ihn bei der Ehre eines jungen Gardeleutnants zu fassen, für den es schimpflich sei, sich von ein paar dunklen Augen einschüchtern zu lassen. Denn das hatte Kurt ihm gestanden, daß immer, wenn er von seiner Herzensangelegenheit habe reden wollen, ein Blick Stina's ihn wieder habe verstummen machen.

Nun aber versprach er dem Papa, die nächste gelegene Stunde nicht wieder ohne das entscheidende Wort vorübergehen zu lassen.

Sie fand sich auch bald genug.

In die ersten Tage des April fiel Stina's Geburtstag. Die Baronin kannte das Datum, an das Frau Marie zu erinnern sich streng gehütet hatte, und hoffte, am Tage vorher bei einem längeren Spaziergang nach Salò ihrem Sohn Zeit genug zu schaffen, um endlich sein Herz über die Lippen springen zu lassen. Auch war Stina heute besonders heiter und sah in ihrer hellen Frühlingstoilette so reizend aus, daß jeder Vorübergehende stillstand, ihr nachzublicken.

Die Chaussee war aber doch wohl zu belebt, um so wichtige heimliche Dinge zu verhandeln. Auch in der langen, dunklen und kellerkühlen Straße von Salò die der kleine Trupp langsam durchwandelte, konnte es nicht zu einer Liebeserklärung kommen. Schon gab die Mutter, die das Paar verstohlen im Auge behielt, ihre Hoffnung für heut verloren, als sie auf die kleine Piazza Napoleone zurückkehrten und erfuhren, das Schiff, auf dem sie nach Gardone zurückzufahren gedachten, sei vor fünf Minuten weitergedampft.

Ein leichter Seufzer, den Stina ausstieß, verrieth, daß sie sich kaum die Kraft zutraute, die kleine Stunde bis zu ihrem Hause zu Fuß zurückzulegen. Der Baron, der es bemerkt hatte, erklärte auch sofort, es müsse ein Wagen aufgetrieben werden, um die Damen nach Gardone zu bringen. Kurt aber schlug vor, wenn Stina sich ihm anvertrauen wolle, sie in einem der kleinen Boote zurückzurudern, die an der Landungsstelle angepflockt lagen. Ohne Zaudern eilte er zu einem der am Ufer herumstehenden Schiffer und miethete von ihm die Barke, für deren sichere Rückkehr er sich verbürgte.

Der Baron hatte mit seiner Frau einen raschen verstehenden Blick gewechselt, so daß sie erklärte, sie selbst sei noch nicht ermüdet, und die ganze Gesellschaft in sein Boot aufzunehmen, würde für Kurt schwerlich ein Vergnügen sein. So führte der Papa das liebe Kind hinunter und half ihr beim Einsteigen, während der Schiffer noch ein rothkattunenes Kissen auf das Bänkchen legte und Kurt nach den beiden Rudern griff. Dann sahen sie noch ein paar Minuten der Barke nach, die rasch aus dem kleinen Hafen hinausschoß und dann nach Norden steuerte, an den lustig grünenden Gärten entlang, die sich in der hellen Flut spiegelten.

Sie sprachen Beide kein Wort, obwohl sie einander nahe genug gegenübersaßen, daß die Spitzen ihrer Schuhe sich berühren konnten. Stina sah unverwandt nach dem Schneegipfel des Monte Baldo hinüber, Kurt in das reizende junge Gesicht, das von einer stillen inneren Glut durchleuchtet schien. Er ruderte kräftig und eine Weile auch in geradem Strich, wie um möglichst rasch zum Ziele zu kommen. Bald aber glitt der Kiel sacht ins Weite hinaus, und Stina hätte wohl gemerkt, daß sie vom rechten Curs abgelenkt hatten, wenn ihre Aufmerksamkeit nicht von einem Möwenschwarm gefesselt worden wäre, der auf einmal über ihnen schreiend und taumelnd durch die helle Luft fuhr.

Erst als die zudringlichen Vögel, da sie aus dem kleinen Boot kein Futter bekamen, sich wieder nach der Bucht von Salò zurückwandten, ward das Mädchen inne, daß sie sich vom Ufer entfernten.

Wohin fährst du, Kurt? fragte sie, noch ahnungslos. Es wird besser sein, ich nehme das dritte Ruder und steure.

Statt der Antwort zog Kurt beide Ruder ein und sah nach dem Ufer zurück. Sie waren so weit in den See hinausgerathen, daß kein Laut vom Ufer drüben zu ihnen hindrang.

Ist es nicht schön hier draußen? fragte er nach einer Weile mit etwas unsicherem Ton. Ich gestehe, es würde mich reizen, einmal eine ganze Nacht hier draußen zuzubringen. Dich nicht auch, Stina?

Was für ein Einfall! lachte sie, noch immer ganz arglos. Statt solche tollen Phantasieen auszuhecken, solltest du lieber wieder in unseren alten Curs einlenken. Du weißt, der Doctor hat mir vorgeschrieben, immer vor Sonnenuntergang zu Hause zu sein, obwohl ich jetzt ja wieder gesund bin.

Stina, sagte er, als hätte er keins von ihren Worten verstanden, ich muß es endlich vom Herzen haben. Du hast es freilich lange gemerkt, wie es um mich steht, aber eben darum, da du trotzdem so freundlich zu mir geblieben bist – ich weiß ja, daß ich dir früher sehr unsympathisch gewesen bin, du hattest auch ganz Recht, ich war ein unausstehlicher Bursche – nun, ich bin seitdem älter geworden, habe allerlei erlebt, schäme mich jetzt, wie ich mich gegen dich aufgeführt habe, aber du kannst glauben –

O, sagte sie mit einem lieblichen Erröthen, davon brauchst du nicht zu sprechen, das sind Jugendthorheiten gewesen, an die ich gar nicht mehr denke. Jetzt, wo wir Beide erst so recht ins ernsthafte Leben eintreten – nein, Kurt, ich habe mich wirklich von Herzen gefreut, zu sehen, wie sehr du dich zu deinem Vortheil verändert hast, und auch ich, wenn ich dir früher manchmal schroff und unliebenswürdig begegnet bin –

Er stand plötzlich auf, so hastig, daß die schmale Barke bedenklich ins Schwanken kam.

Stina, sagte er, du bist ein Engel, daß du mir das sagst. Wahrhaftig, obwohl ich es ja sehen und fühlen konnte, daß du mir alle meine alten Sünden verziehen hast, ohne deine Versicherung hätte ich wohl auch heute noch nicht den Muth gehabt, dich zu fragen, ob du mir zutraust, es werde nun so fortgehen mit mir, ich würde ein solider, respectabler Mensch bleiben, dem sich die beste, schönste, liebenswürdigste Frau, dem du selbst dich fürs Leben anvertrauen könntest – und nun hast du's gesagt und darfst es nicht mehr zurücknehmen, und nichts soll je wieder zwischen uns kommen!

Er war vor ihr niedergesunken und hatte die beiden Arme ausgestreckt, ihre schlanke Figur zu umfassen und an sich zu ziehen. Aber mit einem leichten Schreckensausruf bog sie sich zurück und wehrte seine Hände ab.

Um Gottes willen, Kurt, was thust du? was sprichst du? Nein, nein, so war's nicht gemeint, so kann es ja nicht gemeint sein! Weißt du denn nicht – hast du ganz vergessen – ich bin ja nicht mehr frei – ich gehöre ja einem Andern, den du ja auch gut genug kennst – und wenn es bis heute noch ein Geheimniß gewesen ist – in Kurzem, vielleicht morgen schon – o mein Gott, wie weh hast du mir gethan – wie schmerzt mich's, daß ich dir dies sagen muß, aber wirklich, nicht die leiseste Ahnung hatte ich, daß du es so meintest, daß du andere als freundschaftliche Gefühle

Sie brach in Thränen aus, die ihr die Stimme erstickten. Er hatte sich aufgerichtet und wieder auf die Bank ihr gegenüber gesetzt, sein Gesicht war todtenbleich, er nagte an der Unterlippe und stierte an ihr vorbei ins Wasser. Verzeih! knirschte er endlich dumpf hervor, ich war ein Wahnsinniger. Mir einzubilden, du könntest – eine solche Heilige, wie du bist – dich zu einem armen Sterblichen herablassen, über dessen recht irdischen Wandel du vielleicht allerlei gehört hast – dem könntest du den Vorzug geben vor einem so idealen Musterknaben wie mein intimer alter Feind – o ich schäme mir die Augen aus dem Kopf, daß ich vierundzwanzig Jahre die Welt und die Weiber studirt habe und doch einer so kolossalen Blamage fähig war!

Er hatte in loderndem Ingrimm die Ruder ergriffen und schickte sich an, den Kahn mit mächtigen Stößen dem Ufer zuzutreiben.

Stina trocknete rasch die Augen und legte die Hand auf seinen Arm.

Sei vernünftig, lieber Kurt, sagte sie, sei gut und höre mich erst an, und wenn du erfahren hast, wie Alles kam, wirst du begreifen, daß ich, obwohl ich jetzt eine so gute Meinung von dir gefaßt habe, dich nicht früher ins Vertrauen ziehen konnte. Und darum laß uns hier noch ein Weilchen still liegen, und dann, wenn wir wieder ans Land kommen, – versprich mir's, lieber Kurt, daß du deiner Jugendfreundin nicht grollen, vielmehr die alte herzliche Gesinnung ihr bewahren willst, auch wenn sie dir das Glück, das du von ihr gehofft hast, nicht gewähren kann.

Sie nahm ihm mit sanftem Drängen die Ruder aus den Händen und legte sie seitwärts nieder. Dann setzte sie sich wieder und fing an, ihm zu erzählen, was mehrere Jahre zurück sich mit ihr und jenem Anderen, den er haßte, ereignet hatte.

*

Es war genau vor zwei Jahren gewesen, gerade auch an ihrem Geburtstage. Da war sie mit Wilm Lornsen zu ihrem Vater gekommen und hatte ihm gesagt, daß sie sich verlobt hätten und um seine Einwilligung und seinen Segen bäten.

Der alte Major hatte sie sehr ernst, aber nicht unfreundlich angehört und dann erwidert: Wilm wisse, daß er ihn schätze und liebe, und daß sein Kind ihm zugethan sei, verdenke er ihr nicht. Stina sei aber noch sehr jung und habe noch zu wenig von Welt und Menschen gesehen, um zu wissen, ob das Gefühl für ihren Jugendgespielen das tiefste und stärkste sei, das sie je für einen Mann empfinden würde. Und auch er, Wilm, sei vom Leben noch nicht sonderlich geprüft worden, dazu nicht in einer Lage, um so bald daran denken zu können, einen eigenen Herd zu gründen. Von einer bindenden Verlobung also könne nicht die Rede sein, höchstens über zwei Jahre, wenn Wilm sein Doctorexamen glücklich bestanden hätte. Darum verlange er von ihnen Beiden, daß sie sich bis dahin wieder völlig frei gäben, auch während der ganzen zwei Jahre weder mündlich noch schriftlich miteinander verkehrten, um auf diese Art sich selbst zu prüfen, ob ihre Neigung auf einem festeren Grund ruhe als auf dem vielleicht trüglichen ihrer Spielgenossenschaft.

Sie Beide hätten sich traurig, aber doch zuversichtlich der Forderung des strengen Vaters gefügt, und Wilm sei noch desselben Tags nach Kiel zurückgereis't, wo er als Studiosus der Medizin sich ziemlich kümmerlich mit Stundengeben durchschlug. Als ein gewissenhafter Mensch habe er sich auch streng an sein Wort gehalten und auf keine Weise mit ihr, als deren Verlobten er sich nach wie vor betrachtet, das zärtliche Verhältniß heimlich fortzuspinnen gesucht, nicht einmal, wenn er einer Freundin von ihr auf der Straße begegnet sei, ihr Grüße an Stina aufgetragen, und selbst als der Vater ein halb Jahr darauf gestorben sei, nichts Anderes sich erlaubt, als einen florumwundenen Grabkranz zur Beerdigung zu schicken. Auch sie sei ihrem Versprechen treu geblieben, so hart es sie zuweilen angekommen. Habe sie doch gewußt, daß sie seines Herzens sicher sein könne, und nur die Tage gezählt bis zu dem glückseligen, wo sie endlich vom Bann des Schweigens erlös't werden würde.

Und dieser Tag ist nun gekommen, fuhr sie mit strahlenden Augen fort, während ein klares Roth ihr in die Wangen stieg. Morgen darf er sprechen, mir Glück wünschen, und wenn ich ihn recht kenne, nicht nur mit einem beschriebenen Blatt, sondern in Lebensgröße, Auge in Auge. Durch meine Kieler Freundin habe ich erfahren, daß er gerade in dieser Zeit, da die Osterferien begonnen haben, promovieren wollte. Er ist dann immer noch ein armer Doctor der Medizin, und wer weiß, wie lange wir noch warten müssen. Aber wir können uns doch sehen und sprechen, vielleicht läßt die Mutter mich einmal auf ein paar Wochen zum Besuch nach Kiel, und dann –

Sie hielt plötzlich inne. Kurt hatte die Ruder wieder ergriffen und den Kahn nach dem Ufer gelenkt. Sein Gesicht war starr zur Seite gekehrt, seine Lippen fest aufeinander gepreßt. Es kam ihr jetzt erst zum Bewußtsein, wie sehr es ihn verletzen mußte, sie von ihren frohen Zukunftshoffnungen sprechen zu hören.

Bist du mir böse, Kurt? sagte sie. Ich ahnte ja nicht, gewiß nicht, daß du selbst – und wie hätt' ich auch denken sollen – selbst wenn du dich viel dringender um mich bemüht hättest – du ein vornehmer junger Herr, der einmal eine Ebenbürtige in sein väterliches Schloß einführen wird, und ich, ein armes Soldatenkind, eine Lehramtscandidatin – nein, Kurt, nicht von fern konnte mir's einfallen – ich hätte es ja sonst für meine Pflicht gehalten, dir anzuvertrauen, wie es mit mir stand.

Auch jetzt antwortete er keine Silbe, sondern ruderte immer heftiger, um nur bald ans Land zu kommen. Sie gab es endlich auf, ein gutes Wort ihm abzugewinnen. So saßen sie die letzte Viertelstunde der Fahrt in beklommenem Schweigen einander gegenüber.

Als der Kiel der Barke auf dem steinigen Ufer am Landungssteg der Pension auffuhr, kam gerade ein langer junger Bursch durch den Garten daher, der im Hause alle erdenklichen Ämter, das des Gärtners, Schiffers, Hausknechts und Ausgehers verwaltete. Kurt rief ihn heran, und Francesco half den Kahn so weit ans Land ziehen, daß Stina die Stufen zum Steg hinauf erreichen konnte. Erlaube, daß ich mich gleich hier und heute von dir verabschiede, sagte Kurt, ohne sie anzusehen. Ich werde dir meine Gratulation morgen nicht bringen können, da ich schon mit dem ersten Dampfer abreise. Mög' es dir wohl ergehen und das große Glück, das du erhoffst, dir auch wirklich beschieden sein!

Der ironische Ton, mit dem er diese letzten Worte sprach, hätte sie vielleicht beleidigt, wenn das Mitleid nicht überwogen hätte.

Sollen wir wirklich so voneinander gehen, Kurt? fragte sie mit ihrem wärmsten Ton. War Alles nur eine Täuschung, was in diesen letzten Wochen mich an ein edleres Gefühl in dir glauben ließ?

Gefühle sind sterblich, versetzte er dumpf. Ich liebe keine langen Leichenreden. Meinen Gruß an deine Mutter und – addio per sempre!

Damit lüftete er den Hut, winkte mit der Hand und sprang ins Boot zurück, das er rasch mit kräftigen Ruderschlägen in den offenen See hinaustrieb.

Langsam erstieg Stina die kleine Wassertreppe. Sie wollte im Garten sich erst von der aufregenden Scene mit Kurt erholen, ehe sie der Mutter gegenübertreten konnte. Der arme Kurt! Nun mußte sie ihm dies Herzweh machen, da er eben begonnen hatte, sich zu einem rechtschaffenen Leben zu bekehren! Wenn diese Enttäuschung ihn verbitterte, ihn in seine Thorheiten und Tollheiten, von denen sie ja auch gehört hatte, zurückschleuderte! Sie hatte ja wohl in Romanen gelesen, daß seinesgleichen nach einer unglücklichen Liebe sich in schlechter Gesellschaft zu »betäuben« suche. Und daran trug sie dann die Schuld, so wenig es in ihrer Macht gestanden, es zu verhüten!

In solchen trübsinnigen Gedanken trat sie oben in das Zimmer, wo die Mutter sie erwartete. Nun? sagte die gute Frau, gespannt in Stina's blasses Gesicht blickend. Die Tochter nickte mit einem schweren Seufzer. Ich weiß, was du erwartet hast, Mutter – so überraschend es für mich selbst war. Ich ahnte nicht von fern, daß er jemals mich fragen würde, ob ich seine Frau werden wolle.

Gott sei Lob und Dank! So hat er endlich den Muth gehabt zu sprechen. O mein geliebtes Kind, nun wird ja Alles gut!

Sie war rasch aufgestanden und näherte sich Stina, sie an ihr mütterliches Herz zu schließen. Die Tochter aber trat erstaunt einen Schritt zurück.

Ich begreife dich nicht, Mutter. Was soll denn gut werden? Warum bist du froh, daß er gesprochen hat? Du weißt doch, daß ich nur eine Antwort darauf hatte, die ihm weh thun mußte.

Sie sah die Augen der kleinen Frau mit dem Ausdruck eines verständnißlosen Erschreckens auf sich gerichtet. Mutter, sagte sie, ihre zitternde, eiskalte Hand fassend, hast du denn vergessen, daß morgen die beiden Prüfungsjahre um sind, daß ich einen Brief von Wilm oder hoffentlich ihn selbst erwarten kann?

Unglückliches Kind, rief die Mutter und wankte nach dem Sopha zurück, auf das sie wie von einem Schlage getroffen hinsank, so ist Alles aus, all meine Hoffnung ist hin, wir werden von Haus und Hof vertrieben werden, meine alten Tage werde ich fern von Allem, was mir theuer war, in einer Dachkammer – o mein Gott! Ich wollte, ich stürbe in dieser Stunde, statt daß ich mir von einem so großen Unglück das Herz stückweis brechen lassen muß!

Sie drückte das welke kleine Gesicht, das von Thränen überströmt war, gegen das Sophakissen und blieb eine Weile taub und stumm gegenüber den dringendsten Bitten ihres Kindes, doch endlich zu sagen, was die Ursache dieses fassungslosen Jammers sei.

Erst nachdem sie sich hinlänglich ausgeweint hatte, setzte die kleine Frau sich auf und sagte, die Augen trocknend: Vergieb mir, Kind, daß es mich so überwältigt hat. Aber du weißt nicht – mit meiner lieben, großherzigen Freundin, Kurt's Mutter, habe ich bald, nachdem wir hergekommen waren und gesehen hatten, wie sehr er dich verehrte, und wie er im Umgang mit dir wie verwandelt war – er ist ja überhaupt auf einen besseren Weg gekommen – kurz, wir Beide freuten uns daran und sprachen es gegeneinander aus, welch ein Glück es für euch Beide wäre, wenn eure Herzen sich fänden. Und nun mußt du noch etwas Anderes bedenken, womit ich dir bisher nicht kommen wollte. Du warst leidend, ich mußte dir jede Sorge und Aufregung fern halten. Denk nur, die Hypothek auf unserem Hause –

Nun erzählte sie, was sie der Baronin geschrieben hatte, damals schon in dem stillen Gedanken, ob ihr nicht von dieser Seite Hülfe kommen möchte.

Frau Elisabeth hatte ein paar Wochen vergehen lassen, ohne die peinliche Angelegenheit zu berühren. Erst als es zwischen den jungen Leuten richtig zu werden schien, hatte sie dieser Geschäftssache erwähnt. Es sei gegen die Grundsätze ihres Mannes, sich auf dergleichen Darlehen einzulassen. In Häusern zu speculiren scheine ihm eines Edelmannes unwürdig. Auch habe er nicht eine so ansehnliche Summe bereit liegen, müsse daher entweder Papiere verkaufen oder selbst eine Anleihe machen. Dazu würde er sich nur entschließen, wenn die Sache »in der Familie bliebe«. Für die Schwiegermutter seines einzigen Sohnes und Erben ein solches Opfer zu bringen, werde er nicht als ein Geschäft betrachten, sondern als eine Art väterlicher Pflicht. Wenn Stina die Werbung ihres Kurt annähme, sei der Papa bereit, das Häuschen, in welchem seine liebe Schwiegertochter geboren und herangewachsen sei, käuflich zu erwerben. Die Mutter könne dann bis an ihr Lebensende in den gewohnten, durch Erinnerungen geweihten Räumen bleiben, da er, der Papa, diesen Besitz als Morgengabe der jungen Frau verschreiben würde.

Diese Eröffnungen, von denen Frau Marie nicht argwöhnte, daß sie nur darauf berechnet waren, Kurt's Aussichten auf Erhörung zu unterstützen, hatten ihr alle Sorgen verscheucht, und der Gedanke, daß von Stina's Seite ein Hinderniß kommen könne, war ihr nicht im Traum nahe getreten. Denn sie hatte in den zwei Jahren der stummen Trennung die Erinnerung an den jungen Studenten mehr und mehr verloren, da auch Stina seinen Namen nie über die Lippen brachte. Jetzt so aus dem blauen Himmel mit ihm geschreckt zu werden und mit einem Schlage dadurch all ihre Hoffnungen zertrümmert zu sehen, mußte ihre ängstliche Seele freilich in rathlose Verstörung versetzen.

Mutter, sagte die Tochter endlich, nachdem sie Alles erfahren hatte, ich beklage es sehr, daß dieser schöne Plan, an dem du so freudig gehangen hast, durch meine Schuld nicht verwirklicht werden kann. Aber ich kann nicht glauben, daß der Baron nur unter dieser Bedingung dir werde helfen wollen. Du schüttelst den Kopf. Du kennst ihn vielleicht besser als ich, und überhaupt, von Geldgeschäften, wie du weißt, verstehe ich noch weniger als du. Aber sage mir, meine liebe, arme, einzige Mutter, wenn du in eine ähnliche Lage gekommen wärst damals, als du mit dem Vater versprochen warst, würdest du aus irgend einer äußeren Rücksicht auf ihn verzichtet haben, auch wenn du dadurch deiner eigenen Mutter ein Opfer zugemuthet hättest, das doch nicht so groß war, wie das Aufgeben deiner Liebe und Treue und des Wortes, das du deinem Bräutigam gegeben hattest?

Die kleine Frau schwieg eine Weile. Dann drückte sie Stina's Hand, in der noch immer die ihre lag, und sagte: Ich bin so verwirrt und benommen, mein Kopf ist zu schwach, um mit diesen schrecklichen Gedanken sogleich ins Reine zu kommen. Laß uns heute nicht mehr davon reden. Vielleicht kommt guter Rath über Nacht, oder doch die Kraft, mich in die unerforschlichen Rathschlüsse Gottes ohne Murren zu fügen.

*

Die Nacht aber brachte weder Schlaf noch guten Rath.

Vor Frau Mariens überwachten Augen stand beständig das Schreckgespenst der zerstörten Freundschaft mit den Herrschaften vom Schlößchen und der drohenden Heimathlosigkeit. Auch Stina schloß erst gegen Morgen die Augen. Was sie aber wach hielt, war mehr als das Mitgefühl mit dem Kummer der Mutter und Kurt's Liebesschmerz, der Gedanke an das Glück, das ihr endlich an ihrem Geburtstage beschert werden sollte.

Ihr erster Blick, als sie in das Wohnzimmer trat, fiel auf einen großen Strauß von Schwertlilien und Tuberosen, der in einer prachtvollen Vase stand. Eine Karte steckte darin: »Freiherr und Freifrau von Guntram«, in einer Ecke mit Bleistift geschrieben ein p. f. Daneben lag ein in schwarzes Leder gebundenes Buch, die Predigten Pastor Elias Brodersen's, die er während seines winterlichen Schweigens aufgeschrieben und als ein Ostergeschenk für seine Gemeinde zu Hause hatte drucken lassen. Der alte Herr hatte vorn einen Spruch hineingeschrieben; als er aber hörte, daß sein Mittlerwerk in die Brüche gegangen war und diese Ehe von ihm nicht eingesegnet werden sollte, wollte das Schriftwort, das einen Glückwunsch enthielt, nicht mehr passen, und so hatte es mit einem Streifchen Papier überklebt werden müssen.

Stina sah es mit einem schmerzlichen Lächeln, wandte sich dann aber rasch nach dem Frühstückstisch, wo neben ihrer Tasse mehrere Briefe lagen. Die waren schon am Abend vorher gekommen, die Mutter aber hatte sie für den Geburtstagsmorgen aufgehoben. Hastig nahm sie einen nach dem anderen in die Hand, lauter Gratulationsbriefchen von guten Freundinnen – von Wilm keine Zeile.

Sie faßte sich aber rasch. Er hat bis zuletzt mit peinlicher Gewissenhaftigkeit sein Wort halten wollen, erst heute ist der letzte Tag der zwei Jahre verstrichen, die Morgenpost wird seinen Brief bringen.

Von den anderen war ihr nur einer wichtig, der von der Kieler Freundin, und nur die eine Stelle darin, wo sie erzählte, vor etlichen Tagen sei ihr der Doctor Lornsen auf der Straße begegnet, er sei's ja nun wirklich geworden und summa cum laude, und sie habe ihn angehalten und ihm gratulirt, und er sei in seiner Bescheidenheit ordentlich roth geworden und habe gesagt, Promoviren sei doch keine Hexerei! Und dann habe sie eben fragen wollen, ob er nichts nach Gardone zu bestellen habe, da sei die widerwärtige alte Geheimräthin N. dazugekommen und habe sie angeredet, und Wilm habe sich eilig empfohlen.

Auch hier also nichts, was ihre ungeduldige Erwartung ein wenig hätte beschwichtigen können.

Die Mutter kam jetzt herein, die sich verschlafen hatte. Sie umarmte und küßte ihre Tochter stumm, die Augen gingen ihr schon wieder über. Sie sah den Strauß der Baronin und konnte einen Seufzer nicht zurückhalten. Frau Elisabeth hatte ihr ja die kostbaren Geschenke, das Armband und den Ring, gezeigt, die für das Geburtstagskind bestimmt waren, wenn man es töchterlich in die Arme schloß. Davon sollte nun nicht die Rede sein.

Und dann brachte die Morgenpost wieder Briefe aus der Heimath, nur den einen, ersehnten nicht. Er wird die Entfernung nicht richtig berechnet haben; ich muß bis zum Abend warten, sagte sich Stina. Es wurde ihr aber schwer. Sie saß die langen Stunden unten am See auf der Bank vor dem Lorbeerbusch und fühlte ihr Herz so laut und ungestüm auf und ab stürmen, wie dort die Brandung. Sie hatte sich vor jedem Besucher verleugnen lassen wollen, eine unnöthige Vorsicht. Die Freunde aus dem Hôtel Gardone ließen sich nicht blicken. Einmal sah sie die lange Figur und das graue Haupt des Pastors über dem Mäuerchen erscheinen, das den Garten gegen die Straße abschloß. Er sah aber steif und streng gerade vor sich hin und hielt am Hause nicht still, um seinem verirrten Schäflein wie sonst zutraulich das Haar zu streicheln und es auf den rechten Weg zurückzuführen.

Nun, das alles mußte sie hinnehmen. Daß aber auch die Abendpost seinen Brief nicht brachte – das Herz wollte ihr zerspringen. Da der postino feine Tasche vergebens noch einmal durchsucht hatte, ging sie selbst nach dem Postbureau und fragte dringend und bittend, ob wirklich nichts mehr für sie da sei.

Niente, Signorina. Niente affatto!

Da mußte sie mit gesenktem Kopf nach Hause gehen.

Immer noch hielt sie sich an der Hoffnung fest, der nächste Tag werde ihr sicherlich die Erlösung von der Qual des Wartens bringen. Auch der und der folgende und der vierte verstrich – es blieb bei dem niente, niente affatto!

Sie ging an diesen Tagen herum wie schlafwandelnd, ihre Augen sahen an Allem vorüber, wie wenn sie in einen dichten Nebel blickten, ihr Ohr schien von all dem Geräusch des Lebens draußen und den Stimmen in ihrer Nähe nichts zu hören, sondern in weite Ferne hinauszuhorchen, ob nicht von dort ein bekannter Ton zu ihr dringe und sie bei Namen rufe. Nachts lag sie fast immer schlaflos und zermarterte Kopf und Herz mit Zweifeln und Sinnen. Sollte sie ihm schreiben und fragen, ob ein Brief von ihm verloren gegangen wäre? Aber warum hatte er's überhaupt auf einen Brief ankommen lassen? Warum war er nicht selbst erschienen, »in Lebensgröße«, wie sie es Kurt triumphirend angekündigt hatte? Hatte er nicht das Examen hinter sich? Und war der Kieler Freundin ohne ein Zeichen einer Krankheit, die seine Reise verhindert hätte, auf der Straße erschienen? Nein, wenn er sich Zeit ließ, sie endlich wiederzusehen, verbot es ihr Mädchenstolz, ihm entgegenzugehen. Nicht einmal ein Sträußchen, wie bei ihrem vorigen Geburtstag die Veilchen, die anonym bei ihr abgegeben wurden, hatte er ihr diesmal geschickt, da er es ihr doch schuldig gewesen wäre, ihr seine ganze geliebte Person zu Füßen zu legen.

Jeder weitere Tag, der in solchen Seelenstürmen verstrich, rüttelte stärker an ihrer kaum erst wieder nothdürftig befestigten Gesundheit, zumal sie so gut wie nichts genoß und nun auch sich ins Zimmer einschloß, um allen Menschengesichtern auszuweichen. Die Mutter, die mit schwerem Kummer ihr Kind sich in Herzweh verzehren sah, vermochte nichts über sie. Sie hatte ihrer Freundin, der Baronin, der sie auf dem Wege draußen begegnete, ihr Leid geklagt, aber nicht mehr die alte freundschaftliche Theilnahme gefunden. Man war sehr verstimmt, die Zukunft des reuigen verlorenen Söhnchens nun wieder in Frage gestellt zu sehen. Daß er sofort abreise, hatte der Papa ihm untersagt. Er müsse sich ja schämen, vor diesem Rivalen gleichsam die Flucht zu ergreifen, wie es ohne Zweifel ausgelegt werden würde, wenn man statt seiner nun einen Anderen Stina's Ritter machen sähe. Und Kurt hatte sich fügen müssen, so gern er zu seinen Berliner Kameraden zurückgekehrt wäre, um den Korb, den das jetzt fast gehaßte schöne Mädchen ihm gegeben hatte, zu verschmerzen. Denn seine Liebe war freilich nur ein Flackerfeuer gewesen; desto heftiger brannten Ingrimm über die Enttäuschung und Haß gegen den glücklicheren Jugendfeind in seinem Innern. So strich er düster und ruhelos in der Gegend umher, und nur der eine tröstliche Gedanke tauchte aus all dem Dunkel auf, daß wenigstens der väterliche Check nicht auch eine Täuschung gewesen war.

*

Eines Morgens aber – etwa eine Woche nach ihrem Geburtstage – fand Stina, als sie ohne eine Spur von Eßlust an den Frühstückstisch trat, neben ihrer Tasse eine Nummer ihres heimischen Localblattes, das ihnen auch jetzt noch nach dem unheilbaren Bruch von der Baronin täglich hinübergeschickt wurde.

Nur so verloren glitt ihr Blick über die enggedruckten Spalten hin, wie sie jetzt überhaupt kaum wußte, was sie las. Da sah sie eine kleine Notiz, die mit einem Strichlein am Rande angemerkt war, und las erst mechanisch, ohne den Sinn zu begreifen, so wie man im Traum zu lesen pflegt:

Martha Liebetraut
Dr. Wilhelm Lornsen
Verlobte.

Diese beiden Namen – der des Mädchens war ihr doch auch bekannt, sie galt ja für die Schönheit von Kiel – Wilm hatte selbst einmal von ihr gesprochen, schon damals war etwas wie Eifersucht in ihr aufgestiegen – und jetzt dieser Doctor – war's denn möglich? Aber warum sollte es unmöglich sein? Sind zwei Jahre nicht lang und haben nicht »die Abwesenden Unrecht?«

Es flimmerte ihr vor den Augen. Sie versuchte den Nebel wegzuwischen, er wurde aber nur dichter und dichter. Als die Mutter kurz darauf aus dem Schlafzimmer hereintrat, fand sie ihr Kind mit weit zurückgebogenem Leibe im Stuhle liegen, die Augen fest geschlossen, ohne eine Spur von Bewußtsein. –

Von den bangen, traurigen Tagen, die nun folgten, soll nichts weiter gesagt werden, als daß sie auch das gekränkte Mutterherz der Baronin rührten und wieder einen Verkehr mit der Gastfreundin in der deutschen Pension herbeiführten.

Stina blieb freilich unsichtbar, auch nachdem sie wieder aufgestanden war. Sie schrieb aber schon selbst auf die täglichen Anfragen nach ihrem Befinden einen freundlichen Dank und bat, noch ein wenig Geduld mit ihr zu haben. Das wurde denn auch dem freiherrlichen Ehepaar nicht schwer, da sich jetzt eine Aussicht zeigte, ihren Herzenswunsch doch noch erfüllt zu sehen.

Wie Kurt davon dachte, konnte Niemand sagen. Er verharrte in seinem stummen Groll, trank sehr viel schweren rothen Wein und öffnete die Lippen nur, um auf die schlechten italienischen Regiecigarren zu schimpfen.

Daß es nun an ihm sei, wieder ein wenig Vorsehung zu spielen, leuchtete dem würdigen Pastor Elias Brodersen schon lange ein. Er wartete aber ab, bis er eines Tages sein Beichtkind Stina allein im Garten wandeln sah, gesellte sich zu ihr und blieb eine ganze Stunde auf der Bank vor dem Lorbeergebüsch neben ihr sitzen. Was er mit ihr sprach, war vor dem Rauschen der Brandung von keinem Ohr zu vernehmen. Es schien aber Eindruck auf das ernste junge Wesen gemacht zu haben, denn ihr Seelsorger verließ den Garten mit sehr befriedigter Miene, und am Nachmittag ließ Stina durch eine kurze geschriebene Zeile Kurt bitten, sie noch am Abend desselben Tages zu besuchen.

Sie erhob sich von ihrem Sitz an der offenen Balconthür, als er, immer noch mit der Miene eines Schwergekränkten, bei ihr eintrat und sich förmlich und stumm vor ihr verneigte. Sie streckte ihm eine Hand entgegen, die er nur mit den Fingerspitzen berührte. Seine gemachte Kälte aber hielt nicht Stand, da er sah, wie das Herzeleid an ihrer Blüte gezehrt hatte. Eine alabasterne, durchsichtige Blässe ließ die feinen Züge noch reizvoller, aber zugleich beängstigender erscheinen, und sie mußte sich sofort wieder setzen, da ihre Kniee zitterten.

Lieber Kurt, sagte sie, der Herr Pastor wird dir gesagt haben, wie es um mich steht und wozu ich entschlossen bin. Du weißt, daß das Glück, das ich erhoffte, eine Täuschung war, vielleicht aber weißt du nicht, wie schmerzlich es mir war, dir deßhalb so weh thun zu müssen. Nun ist Alles anders geworden. Du wirst nicht glauben, daß ich den alten falschen Traum so rasch aus meinem Herzen gerissen hätte, wie man ein Unkraut mit der Wurzel ausjätet. Aber ich fühle, daß ich jetzt nur wieder genesen kann, wenn ich Andere glücklich zu machen suche, zunächst meine gute Mutter, und dann – dich, lieber Kurt, das heißt, wenn deine Gefühle sich nicht inzwischen geändert haben.

Er sah finster zu Boden und nagte die Lippe.

Meine Gefühle? sagte er. Die ändern sich nicht so geschwind. Aber wenn du erwartet hast, daß ich jetzt himmelhoch jauchzend dir danken würde, weil du mich aus dépit amoureux zu Gnaden annimmst, und weil ich jetzt, da ein Anderer sich anders besonnen hat, zum Lückenbüßer gut genug bin –

Kurt! unterbrach sie ihn mit einer Stimme, deren Innigkeit er nicht widerstand, ich bin krank und noch nicht wieder fähig, so lange und klar zu sprechen, wie ich möchte. Wenn ich glauben soll, daß du es wirklich ernst mit deiner Liebe meinst, mußt du mich schonen und das Wenige, was ich dir sagen kann, nicht in ungerechtem, leidenschaftlichem Groll mißzuverstehen suchen. Der Schlag, der mich getroffen, hat in meinem Herzen alle weichen und holden Regungen geknickt. Ich weiß aber, daß sich mit der Zeit Alles in mir wieder aufrichten wird, bis auf das Eine, was unheilbar verwundet worden ist. Dann werde ich auch für das Gefühl, das du mir entgegenbringst, dankbar sein und es erwidern können. Ich sage es dir heute schon, damit du nicht an mir verzweifelst. Wenn du mir ein Jahr Zeit lassen willst, wieder mit mir ganz ins Reine zu kommen, will ich gern deine Hand ergreifen, heute schon, und versprechen, dir eine treue, liebevolle Frau zu werden.

Sie sah an ihm vorbei, auf den See hinaus, sonst hätte sie das ungute Lächeln bemerkt, das um seinen Mund spielte und nichts Freundliches weissagte.

Mag es denn sein! sagte er. Ich sehe, du hast ein Wittwenjahr nöthig, um mit der Trauer über deine erste Liebe fertig zu werden. Da das immerhin respectabel ist, als ein Zeichen von Treue, muß ich mich wohl darein fügen. Vielleicht lernst du mich inzwischen auch so viel besser kennen, daß du selber die lange Wartezeit abkürzest. Auf alle Fälle verpflichte ich mich mit Leib und Seele zu deinem Dienst.

Er neigte sich auf ihre Hand hinab und küßte sie. Als er Miene machte, auch ihre Lippen zu küssen, entzog sie sich ihm mit tiefem Erröthen. Du hast mich zu schonen versprochen, mein Freund. Ich werde es noch eine Weile nöthig haben und dir innig dankbar sein, wenn du dich bemühst, dein Versprechen ritterlich zu halten.

*

Drei Tage nach diesem fand das Verlobungsmahl statt, über das zu Anfang unserer Erzählung berichtet worden ist. Daß es nicht fröhlicher dabei herging, wird nun Niemand wundernehmen.

Zwar den Eltern des Bräutigams schien jetzt Alles in bester Ordnung zu sein, und daß die Braut sich sanft, aber entschieden weigerte, das kostbare Armband anzunehmen und den Ring – einen breiten Goldreif mit einem Türkis, den die Baronin selbst sich vom Finger gezogen hatte – anzustecken, da sie für Kurt keinen Verlobungsring in Bereitschaft habe, ließ man ihr als eine Grille der Bescheidenheit hingehen. Auch ihre Bitte, die Verlobung noch eine Weile geheim zu halten. Sie sei noch nicht wieder gesund genug, Gratulationsbriefe zu beantworten.

Daß aber die Baronin in der Freude ihres Herzens ihre Tischnachbarin in das große Ereigniß einweihte, war um so natürlicher, als Alle nur darauf gewartet hatten. Ein so schönes Paar, das sichtbar von der Natur für einander geschaffen war! Schade, daß man es noch nicht officiell beglückwünschen konnte.

Pastor Brodersen vollends fand das gute Werk, das er mit der Hülfe des Herrn gestiftet hatte, untadelig und für alle Zukunft gesichert. Stina's Mutter aber, obwohl ihr mit der Sorge für ihr Häuschen jetzt ein Stein vom Herzen genommen war, blickte mit stillem Kummer in das blasse, seltsam gespannte Gesicht ihres Kindes, das nicht nach dem Gesicht einer glücklichen Braut aussah. Und Kurt? Es gab Augenblicke, wo er es trotz aller Verliebtheit verwünschte, daß er nun doch das Glück haben sollte, die Braut heimzuführen.

Die Frauen hatten ihn hinlänglich verwöhnt, daß er es nun als einen harten Zwang empfand, um dieses stille, schwermüthige Mädchen, das ihm nicht die kleinste zärtliche Freiheit gestattete, ein ganzes Jahr dienen zu müssen. War er mit ihr zusammen, so empfand er freilich die stille Macht ihrer Anmuth und Seelenhoheit, doch nicht so stark, daß ihn nicht manchmal ein Gefühl von Langerweile beschlichen hätte, da er sie von seinen Berliner Erlebnissen nicht unterhalten durfte und auch ihre gemeinsame Jugend keinen erfreulichen Stoff zum Plaudern bot.

Als sie darum auf der Bank im Garten, nachdem sie lange auf die weißen Wellenkämme des Sees gestarrt, davon anfing, daß sie sich nach Hause sehne, weil sie in dieser weichen südlichen Luft sich nicht zu erholen fürchte, griff er den Gedanken einer raschen Abreise lebhaft auf. Auch er, heuchelte er, könne dies unthätige Leben nicht auf die Länge ertragen, es falle ihm auf die Nerven; schon der eintönige Dienst habe ihm nicht genügt, er sei dem Papa dankbar, daß er ihm den größten Theil der Gutsverwaltung übertragen wolle, und wenn sie selbst sich heimsehne, könne ihm nichts Lieberes geschehen, als sofort in seinen künftigen Wirkungskreis eingeführt zu werden. Er müsse nur auf kurze Zeit zu seinem Regiment zurück, seinen Austritt zu bewerkstelligen und all seine dortigen Verhältnisse aufzulösen. Wie schwer ihm diese Trennungszeit werden würde – dabei ergriff er mit einem Seufzer ihre schmale, blasse Hand, die auf ihrem Schooße ruhte – daran werde sie wohl nicht zweifeln.

Sie nickte zerstreut und überließ ihm ihre Hand; es war, als beruhige sie der Gedanke an diese Trennung und sie wisse ihm Dank dafür. Dann rauchte er ruhig weiter, und sie blickten Beide schweigend auf den gährenden und brandenden See hinaus.

*

Gerade um diese Zeit schritt von Fasano her ein junger Mann auf das Haus zu, in welchem sich die deutsche Pension befand, sah sich nach allen Seiten um wie ein Fremder, der sich zurechtzufinden sucht, und blieb endlich vor der Hausthür stehen.

Es war eine mittelgroße, gedrungene Gestalt, ohne sonderliche Eleganz gekleidet, auf den breiten Schultern ein derber, doch nicht plumper Kopf mit scharfgeschnittenen Zügen und etwas tiefliegenden, sehr hellblauen Augen, die jedes Ding mit ruhiger Festigkeit betrachteten. Als er den weichen grauen Hut abnahm, unter dem ihm warm geworden war, fiel ihm ein dichter dunkelblonder Haarschopf über die Stirn herab, die ungewöhnlich weiß und feingebildet war. Um die sonnverbrannten Wangen kraus'te sich ein kurzer röthlicher Bart, und wenn er lachte, sah man breite weiße Zähne schimmern. Auf den ersten Blick war in ihm der Nordländer zu erkennen, auch ohne den seltsam wiegenden Gang, wie er Sprößlingen einer Seefahrerfamilie eigen zu sein pflegt, auch wenn sie selbst einen Beruf ergriffen haben, der sie aufs feste Land anweis't.

Er las über dem Hauseingang das Wort: »Deutsche Pension« und nickte befriedigt, zog dann sein Taschentuch heraus und klopfte sich den Staub von feinem grauen Anzug und den gelben Schuhen, die nicht eben klein waren. Dann zog er die Hausglocke.

Das deutsche Mädchen ließ eine Weile auf sich warten, ehe sie öffnete. Sie war mit dem Abräumen der Verlobungstafel beschäftigt gewesen.

Ob hier die Majorin Soundso wohne?

Gewiß.

Und ob die Damen zu Hause seien?

Freilich. Sie seien noch im Garten. Wen sie melden solle?

Der Fremde war in den Flur eingetreten. Führen Sie mich zu ihnen, sagte er rasch. Dann besann er sich. Sind die Damen allein?

Nein. Die anderen Herrschaften seien noch bei ihnen in der Laube. Das heißt, das Brautpaar sitze für sich am Ufer. Sie seien noch nicht lange von Tisch aufgestanden.

Das Brautpaar? Von welchem Brautpaar sie rede?

Nun, natürlich von keinem anderen, als von Fräulein Stina und dem jungen Herrn Baron. Die Verlobung sei ja hier im Hause gefeiert worden. Er könne noch sehen, wie schön sie den Speisesaal decorirt hätten.

Der junge Fremde fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wie um einen Traumnebel wegzuwischen. Was reden Sie da für Unsinn, liebes Kind! sagte er, noch mit ganz ruhiger Stimme. Sie scheinen von dem süßen Wein, den die Gäste getrunken haben, ein wenig angeheitert zu sein, in solcher Verfassung sieht ein Mädchen leicht in jedem jungen Paar, das bei Tische nebeneinander sitzt, ein Brautpaar. Aber da ich sowohl die vermeintliche Braut als auch den gewissen Herrn Baron länger kenne als Sie, erlaube ich mir, Ihre Geschichte von einer Verlobungsfeier für eine Ausgeburt der Weinlaune zu halten.

Nun, sagte das Mädchen sehr gekränkt durch diese Äußerungen, wenn Sie mir nicht glauben, so fragen Sie die Herrschaften selbst. Dort durch das Zimmer kommen Sie in den Garten.

Er zauderte doch wieder.

Hören Sie, sagte er, ich möchte nur zu den beiden Damen, die Baronsfamilie ist mir fremd. Seien Sie so gut, mich in das Zimmer der Frau Majorin zu führen und mich dann dieser allein zu melden – nein, lieber nur dem Fräulein. Und auch der nennen Sie meinen Namen nicht; sagen Sie nur, es sei »Jemand« da, der sie zu sprechen wünsche, auch nicht, daß es ein Fremder sei. Ich möchte sie gern überraschen.

Kopfschüttelnd stieg er die Treppe hinauf nach dem Zimmer, das ihm das Mädchen bezeichnet hatte. Die Sache fing doch an, ihm nicht ganz geheuer vorzukommen. Warum hatte er auf seinen Geburtstagsbrief, den er pünktlich vor vierzehn Tagen geschrieben, keine Antwort erhalten? Konnte sie es ihm übel genommen haben, daß andere Pflichten, die er respectiren mußte, ihn gehindert hatten, über Hals und Kopf, wie sein Herz ihn trieb, zu ihr zu eilen? Aber wenn sie ihn auch fühlen lassen wollte, daß ihm nichts heiliger und dringender hätte sein müssen, als sie wiederzusehen nach so langer Entbehrung – zur Strafe dafür sich mit einem Anderen zu verloben – mit diesem – diesem –

Unsinn! Ein Mißverständnis dieses fremden Zimmermädchens! Wie wollten sie darüber lachen, wenn sie sich wieder hätten und vom ersten seligen Küssen und Herzen aufathmeten!

Damit trat er in das Zimmer, und nachdem er an einem Bildchen des seligen Majors, das Frau Marie über das Sopha gehängt, erkannt hatte, daß es das richtige Zimmer war, näherte er sich dem Balcon und blickte in den Garten hinunter.

War das denn aber wirklich kein Spuk seiner aufgeregten Sinne, was er da sah? War's wirklich Stina, seine Stina, die da unten vor dem dunkelgrünen Lorbeerbusch auf der Bank saß und dem geckenhaften jungen Herrn neben sich ihre Hand überließ? Diesem hochmüthigen Junker, der ihr schon als kleinem Ding zuwider gewesen war, dem sie die Pfirsich, die er ihr einmal aus dem Treibhaus beim Schlößchen gebracht, ins Gesicht geworfen hatte, weil er sie zum Dank dafür hatte küssen wollen? Und jetzt – so traulich allein mit ihm – und die Leute sagten, sie sei mit ihm verlobt – und die Eltern überließen sie sich selbst – Himmel und Hölle! Jetzt einen Revolver – oder nein, lieber hinunterstürzen, ihnen die ganze Wuth und Verachtung ins Gesicht schleudern und dann – dann –

Plötzlich lachte er hell auf. Das war ja alles Unsinn, ein Blendwerk der Hölle. Stina, seine Stina – und die zwei langen Prüfungsjahre – und die Mutter, die liebe »Tante Marie«, die ihn immer wie einen eigenen Sohn geliebt hatte, wie hätte sie einwilligen können in so etwas Unerhörtes, Unmögliches – wie konnte er diesen Menschen, die er so genau kannte, wie sich selbst, nur einen Augenblick zutrauen –

Und da sah er auch schon das Mädchen zu den Beiden herantreten und ihre Botschaft ausrichten und Stina sogleich aufstehen, um ihr zu folgen, als wäre es ihr nur lieb, einen Vorwand zu haben, um sich diesem verhaßten Courmacher zu entziehen. Nun werde sich ja Alles aufklären und er sich schämen müssen, daß er nur einen Augenblick sich von einem so tollen Hirngespinnst hatte ängstigen lassen.

So stand er mitten im Zimmer, der Thüre zugekehrt, durch die sie eintreten mußte, mit einem Herzklopfen, das ihm bis in den Hals hinaufschlug. Und nun hörte er auf der Treppe draußen die Stimme des Mädchens, der Herr sei droben im Zimmer, und die raschen Schritte die Stufen herauf, und jetzt wurde die Thür aufgerissen, Stina's helle, schlanke Gestalt erschien auf der Schwelle, aber mit einem erstickten Aufschrei: Wilm! O mein Gott! brach das unglückliche Mädchen, ehe er noch hinzuspringen konnte, zusammen.

Stina war nicht ohnmächtig geworden. Sie streckte die Arme abwehrend gegen Wilm aus, als er sie aufhob, um sie nach dem Sopha zu tragen. Aber ihr Blick flackerte so irr und heiß, als ob etwas Schlimmeres als Ohnmacht sich hinter ihrer Stirne vorbereite. Sie selbst schien es zu fürchten, daß sie die jähe Erschütterung um ihren Verstand bringen würde. Laß mich! stammelte sie. Rühre mich nicht an! Ich werde wahnsinnig, wenn du mir vor Augen bleibst. Gieb mir etwas ein, das mich für immer um mich selbst bringt. Nein, es ist unmöglich! Ich kann nicht fortleben – ich muß mir selber entfliehen, wenn der Ekel, der Jammer, die Verzweiflung – o! es ist zu viel! Das kann kein Mensch aushalten!

Sie entwand sich leidenschaftlich seinem Arm, mit dem er sie noch immer umschlungen hielt. So im Innersten empört und vernichtet er sich selbst fühlte, überwog doch das schmerzliche Mitleid mit ihrem Zustand, so daß er scheinbar gelassen sagte: Min söte Deern, ich verlange jetzt als Arzt, nicht als dein ehemaliger Liebster, daß du Vernunft annimmst, dies unsinnige Toben lässest und dich so weit beruhigst, daß man ein paar vernünftige Worte miteinander reden kann. Willst du das nicht versuchen, deine lieben fünf Sinne zusammennehmen, daß du wieder meine holde, klare, kluge Stina wirst?

Sie antwortete nicht. Sie saß gerade aufgerichtet, wie erstarrt und versteinert, nur den Kopf zurückgelehnt und die Augen gegen die Decke gekehrt. Er beobachtete sie mit gespanntem Blick ein paar Secunden lang, dann ließ er ihre Hand los, deren Puls er umspannt hatte, ging nach der Thür und drückte auf den elektrischen Knopf. Dem eintretenden Mädchen sagte er ein Wort und nahm ihr, als sie wiederkam, die kleine Schale ab, in der ein paar Eisstückchen lagen. Eins davon ließ er in das Weinglas gleiten, das auf dem Tische stand, goß Wasser dazu und ein wenig Cognac aus der Reiseflasche, die daneben gelegen hatte. Dann trat er vor die noch immer Regungslose und sagte: Das sollst du austrinken, Stina, hörst du? Doctor Lornsen, der berühmte Arzt, befiehlt es dir. So! es wird dir gut thun. Noch einen Schluck! So! du bist eine brave Patientin und sollst gelobt werden.

Er stellte das geleerte Glas wieder auf den Tisch, nahm einen Stuhl und setzte sich ihr gegenüber. Und nun mußt du so gut sein, mir auf ein paar Fragen Antwort zu geben. Du begreifst doch, daß ich von dieser ganzen verrückten Geschichte nicht ein Wort verstehe. Klar ist mir nur, daß mein Brief nicht angekommen ist, der Punkt Geburtstag in deinen Händen sein und mich anmelden sollte. Drei Tage vorher war ich wohlpromovirter Doctor der Medicin geworden. Ich konnte aber nicht gleich fort, gewiß, Liebste, ich konnte nicht. Mein alter Geheimrath, der so fabelhaft viel Liebes und Gutes an mir gethan hatte, wollte durchaus, daß ich erst einer schwer erkrankten alten Dame, seiner besonderen Freundin, wieder auf die Beine helfen sollte. Er bewies mir dies ehrenvolle Vertrauen, da er selbst das Bett hüten mußte und mich für seinen besten Schüler erklärte. Sollt' ich ihm sagen: Es geht nicht, verehrter Gönner, ich muß mit dem nächsten Schnellzug nach Gardone, sonst sucht sich meine Braut einen Anderen? Na, du begreifst, solch eine Verrücktheit konnte mir nicht einfallen. Ich beging nur eine andere Dummheit. Statt einfach zu schreiben, recommandirt, oder zu telegraphiren, kauft' ich einen großen Haufen Fondants und Chocoladen von der Sorte, die du besonders liebst, du weißt, von Johann Jakob Meier am Hafen. Die packt' ich in eine Schachtel, legte ein paar schüchterne Frühlingsblümchen dazu, die sich neben eurer südlichen Rosenpracht noch armseliger ausgenommen hätten, wären sie nicht höchst eigenhändig von mir selbst gepflückt worden, und that den Brief – acht lange Seiten – dazu. Ich ahnte freilich nicht, daß dies die sicherste Art war, meine Botschaft nicht in deine Hände gelangen zu lassen; noch dazu, da meine Hausfrau, welche die Schachtel selbst auf die Post tragen wollte, kopflos genug war, sie nicht einschreiben zu lassen. Und nun stell dir meinen Schrecken vor: als ich im Gespräch mit einem Bekannten, der lange in Italien gelebt hatte, von den verschiedenen Zollchicanen sprach, denen man da unten ausgesetzt sein sollte, erfuhr ich, daß ihm mehrfach, zumal in der Weihnachtszeit, Packete mit Eß- oder Naschwaaren nicht zugegangen seien. Wo sich ein Liebhaber dafür gefunden, habe er nie herausbringen können. Teufel! dacht' ich, wenn auch deine Geburtstagsbescherung dasselbe Schicksal gehabt hätte! Und freilich, eine Empfangsbescheinigung, eine Antwort auf meinen Brief hatte ich ja nicht erhalten. Also meiner Patientin ein Attest darüber ausgestellt, daß sie noch gut und gern zwanzig, dreißig Jahre leben könne, und mit dem nächsten Eilzug abgedampft, besinnungslos Tag und Nacht, daß mir Hören und Sehen verging. Und wie ich endlich hier ankomme – nein, sage, Kind, ist es denn möglich? Wenn ein alter Liebster sich nicht pünktlich zur Gratulation einstellt, muß dann gleich –

Sie bewegte Kopf und Schultern, als ob sie sich zum Sprechen aufraffen wollte, versank aber wieder in ihre Starrheit. Das Herz schlug ihm bange und schwer, er mußte alle Kraft aufbieten, um seine Aufregung zu bemeistern.

Willst du mich am Ende nur schonen, sagte er mit erzwungenem Lachen, um nicht den Spieß umzudrehen und mich des Verraths und Treubruchs anzuklagen? Hat etwa auch dir irgend eine mitleidige Seele das Blatt in die Hände gespielt, das mich mit einem Fräulein Martha Liebetraut zusammengekuppelt hat? Siehst du, da haben wir's! (Sie hatte kaum merklich genickt.) Aber du dummes Mädel, hast du nicht sofort merken können, daß da der schamloseste aller Druckfehlerteufel sein Spiel getrieben hat? Wenn mich dieses schöne Fräulein, das mir völlig Hekuba ist, dir abtrünnig gemacht hätte, wäre es nicht die gemeinste Anstandspflicht gewesen, dir erst zu schreiben: »Verehrtes Fräulein, ich bedaure Ihnen mittheilen zu müssen, daß ich mich anders besonnen habe und dich sitzen lassen werde?« Aber dieser mein Doppelgänger und glücklicher Bräutigam hat sich meinen Namen nur fälschlich angemaßt, heißt eigentlich Lorenzen und hat mir mit dieser verwünschten Annonce eine Flut von Gratulationsbriefen auf den Hals gezogen, so daß ich ihn hundertmal in die tiefste Hölle gewünscht habe!

Er hatte sich so in Eifer geredet, daß er aufsprang, an den Tisch trat und sich ein Glas Wasser einschenkte. Dann kam er langsam wieder zu dem Mädchen zurück, das immer noch die Lippen fest geschlossen hielt.

So, sagte er, hiermit hätte ich meinerseits die Thatsachen festgestellt. Nun ist es an dir, mich darüber aufzuklären, wie diese Armseligkeiten dich so weit bringen konnten, mich einfach aufzugeben und dich einem gewissen Junker, über dessen Charakter du doch hinlänglich Bescheid wissen mußtest, an den Hals zu werfen. Ich will alle mildernden Umstände gelten lassen: daß deine Mutter dich mit ihm besser versorgt glaubte, als mit dem armen Schlucker von Assistenzarzt, der noch sein erstes Honorar für seine erste glänzende Kur an jener alten Dame zu erwarten hat, daß Junker Kurt hier die Zeit benutzt haben wird, den Charmanten zu spielen und dir von seinem durch dich veredelten inneren Menschen vorzusäuseln, dann vor Allem, daß du in deinen armen zarten Nerven so gründlich heruntergekommen bist durch das lange Sitzen und Büffeln zum Examen, daß man dich wie ein unzurechnungsfähiges Kind zu Allem, was man wollte, bringen konnte. Ja, min söte Deern, das alles sag' ich mir, und doch – war's denn so eilig mit dem Andern? Mußte denn gleich, nachdem der eine Brautstand, der heimliche, ins Wackeln gekommen war, an einen anderen gedacht werden? Ich erkenne meine alte Liebste nicht wieder. Eher hätte ich ihr die Unvernunft zugetraut, überhaupt lieber eine alte Jungfer zu werden, als ihren alten Wilm so im Handumdrehen sich aus dem Sinn zu schlagen.

Er war wieder aufgesprungen und lief im Zimmer auf und ab, mit der heißen Hand seinen Haarschopf zerwühlend. Da kam es mit einer kaum hörbaren Stimme vom Sopha her: Wilm! Habe Mitleid mit mir – aber nein, ich verdiene kein Mitleid! Je mehr du mich schonen und entschuldigen wolltest, je schwerer würde ich mich anklagen. Ich will dir auch nicht schildern, welche Qualen ich in diesen letzten Wochen ausgestanden habe, bis ich so herunter war, daß ich mir sagte: es ist nun alles Eins, du selbst bist es ja nicht mehr; der Eine, der deine Welt war, ist für dich verloren, der Pastor hat Recht: lebe jetzt nur noch für Andere. Und dann – Eins weißt du doch noch nicht, was der letzte bittere Tropfen war, der den Becher überfließen machte, das mit meiner Mutter – die Hypothek, die ihr gekündigt war, die Angst, das Haus verkaufen zu müssen und auf ihre alten Tage ihren theuersten Erinnerungen den Rücken zu kehren, wenn der Baron nicht half. Und da der es nur thun wollte, wenn ich Kurt's Werbung annahm –

Sie verstummte. Er war wieder dicht vor sie hingetreten, so daß er ihre Kniee berührte. O du dummes Kind! lachte er ingrimmig auf. Haben sie dir diese alte Komödie vorgespielt, und du bist gerührt und heldenmüthig in die plumpe Falle gegangen? Die gute Tochter, die sich für das Wohl ihrer Mutter opfert, weil sie von der Welt nichts weiß und glaubt, es gebe keinen anderen Ausweg? War da nicht ein gewisser Wilm Lornsen vorhanden, selbst arm wie eine Kirchenmaus, aber ein resoluter Bursch und, wo es sein Liebstes galt, schlau und kühn genug, Rath zu schaffen, und wenn er einem Millionär, dem er auf dem Spaziergang begegnet wäre, die Pistole hätte auf die Brust setzen müssen, um ihm ein so bettelhaftes Darlehen abzuschmeicheln? Dein Baron freilich, dem für seinen liederlichen Herrn Sohn eine anständige Frau, die den Knaben Mores lehren sollte, ganz erwünscht war, ja Der – und wenn es nur so viel wäre, wie er selbst als junger Lebemann an eine Tänzerin gewendet –

Er schwieg plötzlich. Die Thür hatte sich geöffnet, und die Mutter war eingetreten. Aber mit einem erschrockenen Ausruf, wie wenn sie ein Gespenst erblickt hätte, fuhr auch sie zurück, als sie Wilm erkannte.

Guten Abend, Tante Marie! sagte er mit heiserer Stimme, indem er sich zu fassen suchte. Wie geht es Ihnen? Haben Sie sich's recht wohl sein lassen in dem Lande, wo die Citronen blühn? Aber natürlich, Sie leben ja hier herrlich und in Freuden, feiern sogar die schönsten Verlobungsfeste. Nur, daß Sie das hinter meinem Rücken thun, das – verzeihen Sie – ist nicht hübsch von Ihnen. Sie hätten mich wohl dazu einladen sollen – ich war doch am Ende, wie Frau Nüßlern sagt, der Nächste dazu, die glückliche Braut hätte sich wie die Perle im Golde ausgenommen zwischen zwei Bräutigams, einem verflossenen und einem neuen, und statt dessen komm' ich erst, nachdem die Festgesellschaft schon beim Kaffee sitzt, und mir wird nicht einmal eine Tasse angeboten, und das alles, weil die Herren Zöllner und Sünder an der welschen Grenze vorgezogen haben, die Näschereien, die ich dem Geburtstagskinde bescheren wollte, sich selbst zu Gemüthe zu führen! Das ist denn doch die albernste Farce, die das tückische Schicksal mit einem arglosen Sterblichen jemals aufgeführt hat!

Er hatte diese wilden Worte besinnungslos hinausgestoßen und sah jetzt erst, daß die kleine Frau am ganzen Leibe zitterte und mit geschlossenen Augen auf einen Sessel gesunken war. sofort kam er zu sich, trat zu ihr hin und streckte die Hand nach ihr aus.

Verzeihen Sie mir, liebe Tante! sagte er. Ich war zu heftig, Sie kennen meine Unart von den Knabenjahren her, wenn ich etwas hörte, was ich für Unrecht hielt, gleich aufzufahren, als ob die Welt aus den Fugen gehen sollte und ich berufen sei, sie einzurenken. Das, was mir da widerfahren, ist nun freilich ein starkes Stück. Aber da kein böser Wille dahinter steckt, wenigstens nicht von Ihrer und Stina's Seite, nur ein bischen – sagen wir Kurzsichtigkeit, müssen wir ruhig Blut behalten und vor Allem sehen, wie wir die verfahrene Sache wieder ins richtige Geleise bringen. Du wirst mir nämlich nicht zutrauen, Liebste, fuhr er fort, da er Stina's Augen fassungslos auf sich gerichtet sah, daß ich mich bei der absurden Schicksalstücke beruhige und mich darein ergebe, wenn Junker Kurt dich mir wegfischt, zu beten: Wie Gott will, ich halte still. Ich habe ältere Rechte auf dich und habe sie mir durch zwei harte Trennungsjahre sauer genug verdient, und so wahr ich Wilm Lornsen heiße, kein Baron und kein Teufel soll sie mir streitig machen!

Da faßte sie sich ein Herz und sagte mit bebender Stimme, aber sehr entschieden: Wilm, ich habe ihm mein Wort gegeben. Kannst du verlangen, daß ich es breche, weil es mir das Herz bricht, es ihm zu halten?

Ihre Festigkeit schien keinen großen Eindruck auf ihn zu machen.

Nein, min söte Deern, sagte er, du sollst ganz aus dem Spiele bleiben. Wir machen das unter uns Männern ab. Erschrick nicht, ich will ihm keine Kugel in den Leib jagen, damit du deinen richtigen Bräutigam dann als Festungsgefangenen betrauern müßtest. Es giebt noch andere Wege – ich bin nur im Augenblick noch nicht klar darüber, welcher der zweckmäßigste wäre. Nur so viel steht mir fest, ehe ich zusehe, wie dieser Laffe dich auf das Schloß seiner Väter führt –

Ein Klopfen an der Thür unterbrach ihn. Das Mädchen fragte im Namen der Frau Baronin an, ob Fräulein Stina etwa unwohl geworden sei, und ob die Schwiegermama sie sehen dürfe.

Ich komme selbst hinunter, antwortete die kleine Frau hastig. Sie ergriff den Anlaß begierig, diesem wilden Menschen, vor dem sie sich doch heimlich eines Unrechts zeihen mußte, aus den Augen zu kommen. Ich will ihnen sagen, Stina, du seiest zu angegriffen, um Besuche zu ertragen. Sie werden dann gehen, von Wilm's Kommen dürfen sie noch nichts erfahren, bis du dich beruhigt hast. O mein armer Junge, wie furchtbar leid thust du mir und wir alle! Aber Stina wird dir erklären –

Damit wankte sie hinaus.

Sie hatte kaum die Thür hinter sich geschlossen, da trat er zu dem blassen Mädchen, das immer noch schwieg, und sagte: Es ist mir hier so heiß, daß mir die Adern an den Schläfen zu springen drohen. Auch möchte ich deiner Mutter noch eine Weile ausweichen. Ich stehe nicht dafür, daß ich nicht unartig gegen sie werde, wenn ich denke, daß sie doch eigentlich, da sie ganz gesund war, die Schwäche nicht hätte haben sollen, zu dieser unmöglichen Verlobung ihre Einwilligung zu geben, und daß nur die Sorge für eure alte Hütte sie blind und taub gemacht hat gegen die Mutterpflicht, das Glück ihres Kindes vor Allem zu bedenken. Komm, wir wollen ins Freie, es weht ein so starker Föhn draußen auf dem See, mich verlangt danach, eine Weile zu rudern, damit mein stürmisches Blut sich beschwichtigt. Dabei können wir ungestört Kriegsrath halten. Hast du nicht ein Regenmäntelchen? Es kann draußen ein bischen naß vom Himmel kommen.

Sie erhob sich mühsam und ging ins Nebenzimmer, aus dem sie sofort, in einen langen, dunklen Umhang gehüllt, zurückkehrte. Sie hatte die Kapuze über den Kopf gezogen, ihr aufgeregtes bleiches Gesicht mit den traurigen Augen sah so reizend darunter aus, daß er sich Gewalt anthun mußte, sie nicht zu küssen. Es war aber etwas zwischen ihnen, das mußte erst aus dem Wege geräumt werden.

*

Er wollte ihr den Arm bieten, sie hinauszuführen. Sie glitt aber ängstlich an ihm vorbei, und erst draußen auf der Treppe, als er sah, wie unsicher sie die Stufen hinunterwankte, konnte er sich ihres Armes bemächtigen, obwohl er fühlte, daß sie, da er sie stützte, nur stärker zitterte. Das deutsche Mädchen kam ihnen entgegen, mit großen neugierigen Augen. Wenn man nach uns fragt, sagte er, – wir wollen nur eine kleine Fahrt auf dem See machen.

So traten sie durch die Hinterthür aus dem Hause. Er spähte vorsichtig nach der Rosenlaube, sie war leer, die Gesellschaft war drüben durch den Garten nach der Straße hinauf gewandelt, man sah sie langsam oben im Gespräch mit der Mutter den Weg nach dem großen Hôtel einschlagen. Die Luft ist rein, sagte er und führte das stumme Mädchen rasch nach dem See hinunter. Der lange dürre Francesco, der den Gärtner und im Nothfall den Schiffer machte, begegnete ihnen und sah sie verwundert an. Als ihm Wilm in seinem mangelhaften Italienisch mittheilte, daß sie auf den See hinaus wollten, zuckte er die Achseln. Schlecht Wetter! Il lago è torbido! Dabei wies er auf die weite schwarze Fläche, die mit schäumenden Wellenkämmen unheimlich gestreift war, während man die Brandung immer ungestümer gegen das Ufer anstürmen hörte.

Wilm zog sein Geldtäschchen hervor, nahm einen Zehn-Lire-Schein heraus und drückte ihn dem Zögernden in die Hand. Der nickte bedächtig und steckte das Zettelchen in die Tasche. Hätte diese Scene sich im südlichen Italien ereignet, so würde er bei sich gedacht haben: 's ist ein Engländer, ein Milordo! Da nun von dieser Nation und ihren Sitten am Gardasee zur Zeit noch nichts zu spüren war, sagte er nur kopfschüttelnd zwischen den Zähnen: Er ist verrückt!

Er lief aber über den Landungssteg nach dem Boot, das unten auf den erregten Wellen schaukelte. Stina wollte ihm hastig nachfolgen, aber Wilm hielt sie mit einer lebhaften Gebärde zurück und sprang ihr voran in das Boot, um ihr erst ein bequemes Lager zurecht zu machen. Das Sitzbrett zunächst dem Steuer hob er aus und lehnte es als Rückwand schräg gegen das Bootsende, breitete dann die verschiedenen rothgeblümten Kissen auf dem Boden aus, so daß sie weich darauf ruhen konnte, und deckte, nachdem er ihr den Arm gereicht hatte, sie beim Einsteigen zu unterstützen, eine wollene Decke, die im Kielraum gelegen hatte, über ihre Kniee bis zu den Hüften hinauf. Er selbst nahm auf dem Bänkchen ihr gegenüber Platz, Francesco auf dem zweiten hinter ihm, beide griffen nach den Rudern und legten sich mächtig aus, so daß schon nach wenigen Minuten der Strand weit zurückgeblieben war.

Sie lag regungslos mit geschlossenen Augen. Unverwandt hielt er die seinigen auf ihr blasses Gesicht geheftet und grübelte darüber nach, was für Gedanken sich wohl hinter ihrer Stirn bewegen mochten. In Wahrheit hätte sie selbst einstweilen nicht darüber Rechenschaft geben können. Es war nur zunächst auf den Tumult von Schreck und Schmerz und Verzweiflung eine dumpfe Stille gefolgt, sogar eine Art Wohlgefühl, daß sie nun zunächst allen Menschen entrückt und den Elementen anvertraut war, die so wild und tobsüchtig schienen und sie doch in ihren Schutz nahmen. Einen Augenblick fühlte sie sogar ein leidenschaftliches Gelüst, sich für immer in die Obhut dieses Sees zu geben. Da unten liegen – schlafen – nicht einmal davon träumen, daß sie einem Ungeliebten ihre Treue gelobt und sie dem Geliebtesten gebrochen hatte! Das zuckte ihr aber nur im Fluge durch den Kopf. Nein, ihrer Mutter diesen Schmerz anthun, dazu die Hoffnung vereiteln, das Häuschen behalten zu können – lieber das Härteste ertragen. Er freilich – Wilm – wie er es ertragen würde – daran durfte sie nicht denken. Sie sah, wenn sie die Lider nur ein wenig hob, sein finsteres, ingrimmiges Gesicht unter dem grauen Hutrande sich gegenüber, und es war ihr, als höre sie seine Zähne knirschen.

Da versank sie wieder in rathlosen Kummer.

Er aber, so düster seine Miene war, fühlte sich nicht entfernt so unglücklich, wie sie ihm zutraute. Wenn er die Zähne aufeinander biß, daß sie knirschten, war's nur aus Trotz gegen den stürmischen See, gegen den anzukämpfen keine geringe Anstrengung kostete. Im Übrigen schien ihm, seitdem er auf dem Wasser war, die Lage der Dinge gar nicht so verzweifelt. Zunächst hatte er einmal die Liebste, die man ihm streitig machen wollte, hier in Sicherheit. An der Kraft seiner Arme, mit der er die Ruder gegen die brandende Welle stemmte, hatte er gleichsam die Gewähr, daß er Alles bezwingen würde, was sich ihm entgegenwarf. Wie das geschehen möchte, war ihm freilich noch nicht klar. Aber sie hatten ja eine ganze Nacht vor sich, in der ihm gewiß ein rettender Gedanke kommen würde. Ein paarmal, wenn Stina sich halb aufrichtete, um über die dunkle Flut zu blicken, kam ihm freilich die Furcht, sie möchte Lust haben, allen Zukunftsfragen durch einen Sprung über Bord eine rasche Antwort zu geben. Auch das ängstigte ihn nicht ernstlich. Er war jeden Augenblick bereit, ihr nachzuspringen und sein armes Schätzchen wieder herauszufischen. Zum Glück kam er nicht in diesen Fall. Sie sank immer wieder auf ihr unbequemes Lager zurück.

Viertelstunde um Viertelstunde verstrich, keines sprach ein Wort. Immer ruhiger und sicherer fühlte sich Wilm in seinem Innersten, je rascher ihm bei der starken Arbeit in freier Luft das Blut durch die Adern lief. Immer mehr bestärkte sich Francesco in seinem Glauben, es sei mit dem Fremden nicht ganz richtig. Auf eine Anfrage, ob sie nicht umkehren sollten, das Wetter werde immer wüster, ein Gewitter und Wolkenbruch sei zu fürchten, hatte Wilm nur mit einem energischen No! avanti! sempre avanti! geantwortet. Es war ihm unendlich wohl zu Muth. Diese Wildheit, diese tiefe Schwärze der Flut, dazu die bleifarbigen Wolken, die tief am Himmel hinjagten, daß nur dann und wann das Schneehaupt des Monte Baldo gespenstisch durchschimmerte – all diesen grandiosen Aufruhr der Natur, der ihm von seiner holsteinischen See so bekannt und vertraut war, hatte er dem zahmen lombardischen Binnensee mit dem berühmten ewig blauen Himmel gar nicht zugetraut. Er sah mit übermüthig herausforderndem Blick zu den drohenden Wolken empor und ließ ein helles Ahoi! ertönen. Stina fuhr zusammen, auch ihr war's einen Augenblick unheimlich, ihn so ausgelassen zu sehen. Dann überfiel sie an Leib und Seele eine seltsame Mattigkeit. Sie schloß wieder die Augen und starrte in ihr Inneres hinein, wo Alles dunkel und leer war.

Nun fielen plötzlich einzelne schwere Tropfen aus dem purpurdunklen Gewölk über ihnen. Francesco hob die Ruder aus dem Wasser und stand auf.

Es ist höchste Zeit, umzukehren, murrte er. Wir sind schon fast weiter von Gardone weg als von San Vigilio entfernt. Auch wenn wir uns sehr zusammennehmen, brauchen wir eine Stunde bis nach Hause, und naß werden wir auf jeden Fall. Der Herr hat mir nicht glauben wollen, 's ist eine böse Sache.

Auch Wilm zog die Ruder ein und stand auf, Umschau zu halten. Die Häuser von Gardone lagen drüben in so weiter Ferne, daß kaum ein weißer Fleck hie und da herüberschimmerte. Auf der anderen, der veronesischen Seite sah man deutlicher die Küste mit den beiden weißen Palästen neben der Hafeneinfahrt, von hohen Cypressen überragt. Dahin mußte in einer halben Stunde zu gelangen sein. Die Gardainsel zur Rechten lag nur wie ein langes schwarzes Seeungethüm fest auf den unstät tanzenden Wellen, die manchmal von einem stärkeren Windstoß so hoch emporgestürmt wurden, daß sie den Rücken des Leviathans völlig zu überströmen schienen.

Nur eine kurze Minute hatte es gedauert, daß Wilm mit sich zu Rathe ging. Dann überflog sein Gesicht ein kühner, freudiger Blitz, wie wenn ihm ein siegreicher Gedanke im Innern aufgeleuchtet wäre. Ja, so müsse es gelingen, so könne sich Alles aufs Einfachste schlichten lassen, ohne daß sein armes, zaghaftes Lieb sich zu einem heroischen Entschluß aufzuschwingen brauchte! Sie lag dort so ahnungslos, sie sollte auch gar nicht in die Kriegslist eingeweiht werden, und jetzt war sie überdies in eine so tiefe Erschöpfung gesunken, daß sie nicht einmal merken würde, wenn die Barke, statt nach Hause zu lenken, weiter und weiter steuerte, nach einem unbekannten Hafen, wo Niemand sie erwartete, wo sie keinen anderen Hüter und Beschirmer hatte als den einen, der sich das Recht, sie auch fernerhin als sein Eigenthum zu behüten, von keinem geckenhaften Junker rauben lassen wollte.

*

Nachdem er soweit mit sich ins Reine gekommen war, lüftete er den Hut, wischte sich den Schweiß von der Stirn und ließ sich wieder auf das Bänkchen fallen. Dann griff er zu den Rudern, rief dem Burschen hinter seinem Rücken abermals ein lautes Avanti! Sempre avanti! zu und fuhr fort, mit mächtigen Stößen das Boot vorwärts zu treiben. Vogue la galère! murmelte er zwischen den Zähnen. Nun geht's auf Biegen oder Brechen!

Die Ruder waren von gutem Holz und brachen nicht, so knirschend sie sich auch in ihren Halftern bogen. Auch droben in den Wolken, so tief sie sich herabsenkten, wollte das Ungewitter nicht losbrechen. Der Sturm freilich wuchs beständig an Wuth und Gewalt, wälzte aber das Regengewölk so athemlos am Himmel hin, daß es nicht dazu kommen konnte, sich zu entladen. Nur klatschten immer noch einzelne breite Tropfen auf die Drei in der Barke herab. Wilm, ohne die Ruder fahren zu lassen, bog sich vor, breitete die wollene Decke höher hinauf bis über die Brust des Mädchens, das sich nicht rührte, auch nicht als er die Kapuze des Regenmantels ihr vollends übers Gesicht zog. Wie fühlst du dich? fragte er leise. Statt aller Antwort nickte sie nur schwach und lag dann wieder, wie wenn sie von all dem Aufruhr um sie her nichts hörte und sähe.

Das beruhigte ihn, und er dachte jetzt an nichts Anderes, als die Küste drüben zu erreichen, ehe die Sintflut losbräche. Er hätte gern von seinem Gefährten erfahren, wie es in San Vigilio aussehe, von dem er zum ersten Mal den Namen gehört hatte, ob ein gutes Wirthshaus dort zu finden sei. Dazu reichten die paar italienischen Worte, die er wußte, nicht aus, und Francesco's lombardische Mundart hätte, auch wenn er geübter gewesen wäre, die Verständigung erschwert.

So ergab er sich darein, sich blindlings auf sein gutes Glück zu verlassen, dem er heute schon viel zu verdanken hatte. Auch mußte ihm wohl alles unfruchtbare Denken vergehen. Denn die Arbeit wurde immer härter, die rasenden Wogen, deren silberne Schaumkämme hoch ins Boot hineinsprühten, mit dem schwachen Kiel zu durchschneiden. So manche stürmische Fahrt der nordische Kapitänssohn auf dem weiten Meer auch schon bestanden hatte, einer so gefahrvollen und mühseligen wie auf diesem südlichen Binnensee konnte er sich nicht entsinnen. Dazu wurde es immer finsterer um sie her. Die weißen Flecke am Ufer, auf die sie zusteuerten, und nach denen er von Zeit zu Zeit in brennender Ungeduld sich umsah, verschwanden völlig in Nacht, jetzt fielen auch die Regentropfen dichter, das Herz klopfte ihm stürmisch, wenn er daran dachte, das Unwetter könne seine Schleusen durchbrechen, ehe sie gelandet, und niemals hatte er sich eine schwerere Centnerlast vom Herzen fallen fühlen, als da nach einer letzten gewaltigen Anstrengung der Kiel der Barke mit einem scharfen Knirschen auf dem groben Kiesgrunde des Ufers auffuhr.

Francesco sprang sofort hinaus, das Boot höher hinaufzuziehen. Auch Wilm erhob sich mit einem aus tiefster Seele kommenden: Gott sei Dank! Er sah nach dem Strande hinauf, wo aus dem fast nächtlichen Zwielicht verschiedene Gestalten auftauchten, die er nicht zu unterscheiden vermochte. Aber gleichviel, sie standen auf dem festen Lande und würden die armen Verschlagenen gastlich aufnehmen. Das Wichtigste war, seinen geretteten Schatz möglichst rasch zu bergen. Stina! rief er, sich zu der regungslos Daliegenden hinabbeugend. Wir sind gelandet. Richte dich auf, Liebste! Das Wetter wird gleich losbrechen. Komm, gieb mir deine Hand, laß dir hinaushelfen!

Er zog die Decke zurück und tastete unter dem Regenmantel nach Stina's Arm. Aber weder eine Antwort kam unter der Kapuze hervor, noch streckte sich eine Hand ihm entgegen. Als er heftig erschrocken sie mit beiden Armen umfaßte und emporzurichten suchte, erkannte er an der willenlosen Last, die ihm an die Brust sank, daß sie das Bewußtsein verloren hatte.

Er rief nach Francesco, der eilig herbeisprang. Dann hoben sie Beide die Ohnmächtige aus dem Nachen und ließen sie einen Augenblick auf dem feuchten Strande nieder. Ob das Albergo nahe sei? fragte Wilm. Ob ein Wagen geholt werden könnte? Der Italiener starrte ihn schweigend an, da er ihn nicht verstand. Ein paar Schiffer, die an dem kleinen Hafen gestanden und das verwegen daherrudernde Schiffchen beobachtet hatten, wußten ebensowenig aus den geradebrechten Fragen des fremden jungen Mannes klug zu werden. Schon wollte er in heller Verzweiflung die theure Last in seine Arme nehmen und aufs Gerathewohl den sacht ansteigenden Hafenstrand hinauftragen – irgendwo in einem der kleinen Häuser zur Rechten müßte doch ein Unterkommen zu finden sein –, da traten plötzlich aus dem Schwarm der müßigen Gaffer zwei weibliche Gestalten an ihn heran, und eine derselben sagte in einem Deutsch, das ihm trotz seiner starken Münchner Färbung wie Sphärenmusik klang: Sind Sie nur ganz ruhig, lieber Herr! Ein Albergo giebt's freilich in San Vigilio nicht, aber für das arme Hascherl da wollen wir schon sorgen. Jessas, sie ist ja wirklich bewußtlos! Komm, Hilde, faß mit an! Wir müssen uns sputen, sie unter Dach zu bringen, sonst wird sie uns noch todkrank, wenn sie hier länger auf der nassen Erde liegt und das Unwetter über sie hereinbricht!

Die Sprecherin war eine kleine, untersetzte Gestalt in einem braunen, kittelartigen Kleide, das in der Mitte mit einem breiten Gürtel zusammengehalten wurde. Um den Kopf hatte sie ein rothes Tuch geknüpft, unter dem ein etwas scharfgeschnittenes, aber gescheites und treuherziges Gesicht hervorsah, während die dünnen blonden Flechten vom Winde zerweht auf den bloßen Hals herabhingen. Ihre Freundin, die sie Hilde genannt hatte, war eine schlanke, etwas vorgebeugte Figur in einem schmucklosen grauen Kleide und hatte ein ungemein sanftes Gesicht, das trotz einer etwas dicken Nase und der fahlen Blässe durch die schönsten blauen Augen sehr anziehend war.

Wilm sah das Alles nur wie durch einen Schleier. Trotz seiner jungen ärztlichen Erfahrungen erregte Stina's Starrheit ihm lebhafte Besorgnisse, und er bereute nun doch einen Augenblick, so gewaltsam sich ihrer bemächtigt zu haben. Wie mechanisch half er den beiden Fräulein, die Ohnmächtige aufheben und das Ufer hinauftragen. Francesco blieb zurück, das Boot an einen Pfahl zu befestigen, zwischen den anderen großen und kleinen Fahrzeugen, die hier vor Anker lagen. Die übrigen Zuschauer folgten unter sich schwatzend dem kleinen Zuge, der sich dem nächsten Hause zuwandte.

Cap San Vigilio, auch Punta di San Vigilio genannt, bildet auf dem östlichen Rande des Gardasees einen kleinen Vorsprung, der sich gerade so weit der gegenüberliegenden Gardainsel entgegenstreckt, daß hinter ihm nach Süden zu ein sanfter kleiner Busen entsteht, die Bucht von Garda. Nach diesem malerisch am Ufer hingelagerten Nest führt in zwanzig Minuten eine bequeme Straße, während sie über San Vigilio nordwärts eine gute halbe Stunde braucht, um das kleine Torri zu erreichen, dessen weißen Häuserstreif man am hellen Tag von Gardone aus deutlich unterscheiden kann.

Der heilige Vigilius aber ist nicht etwa, wie Geschichtsunkundige wohl vermuthen mögen, eine Übersetzung des heidnischen Virgilius ins Christliche. Der Name des römischen Dichters, dessen Gestalt in so vielfacher legendärer Verherrlichung durch das ganze Mittelalter spukt, findet sich freilich auch im Kalender am 31. Januar verzeichnet, als der eines Bischofs Virgilius von Salzburg zur Zeit Pipin's um 740 bis 750. Unser San Vigilio aber hat schon um 405 gelebt, ein sehr frommer und eifriger Mann, der im Veronesischen und Brescianischen viele der dortigen bäuerlichen Einwohner bekehrt hat, an dreißig Kirchen gründete und dann den Märtyrertod erlitt. Die Trentiner brachten seine Gebeine in den Dom von Trento, wo zu seinem Fest am 27. November das Landvolk der Umgegend zahlreich zusammenströmt, während auch in der Pfarrkirche von Salò ein mit seinem Märtyrerblut getränktes Linnen noch heutigen Tages aufbewahrt wird.

Von diesem gelehrten kleinen Excurs in die Heiligengeschichte zu der sehr profanen zurückkehrend, die uns hier zunächst beschäftigt, müssen wir nur noch hinzufügen, daß heutzutage die Punta di San Vigilio, obwohl nur ein paar alte, verwahrloste Paläste an frühere Glanzzeiten erinnern und in den wenigen Häusern jüngeren Datums dürftige Schiffer wohnen, nicht um des guten Heiligen willen eine angesehene Rolle unter den vielen kleinen Nestern am veronesischen Ufer spielt. Denn der Steinbruch, der in dem niederen Hügelstrich aufgeschlossen ist, versorgt die sämmtlichen Ortschaften am See, wo irgend ein Neubau aufgeführt wird, mit einem vielgesuchten Material, das auf den großen Segelbarken, die mit ihren wundersam rothen, gelben und braunen Segeln auf der tiefen Purpurbläue des Sees eine so herrliche Farbenwirkung machen, nach allen Seiten verschifft wird. In der kleinen Hafenbucht von San Vigilio und Garda ankert dann an den müßigen Feiertagen die malerische Flottille, und zumal der Strand von San Vigilio nimmt sich phantastisch genug aus, wenn hinter den gedämpften bunten Farben der Segel die schwarzen Cypressen des höheren Ufers feierlich in den blauen Himmel hinaufragen.

Kein Wunder, daß die Sage entstanden ist, Arnold Böcklin habe das Motiv zu seiner Todteninsel von hier entlehnt, als er an einem gewitterdunklen Abend in diese cypressenumragte Hafenbucht eingefahren sei. Er ist nie hier gewesen. Man vergaß, daß seine mächtige Phantasie der Anregung durch eine angeschaute barocke Wirklichkeit nicht bedurfte, um wundersame Formen hervorzubringen.

Den Reiz dieser phantastischen Scenerie erhöht die tiefe Einsamkeit, in der sie durch die Schwierigkeit, hinzugelangen, erhalten wird. Denn die Dampfer, die von Riva aus den See der ganzen Länge nach befahren, vermeiden sorgfältig, die Ortschaften am östlichen Ufer zu berühren. Nur ein Marktschiff, das einmal in der Woche von Maderno aus nach Desenzano fährt, legt drüben an, nicht aber an der Punta, wo es kaum etwas zu schaffen hätte, sondern in Garda und hütet sich auch, Nachmittags dort wieder zu erscheinen, um etwa einen Touristen, der Morgens hier ausgestiegen, wieder an Bord zu nehmen, den Neugier oder ein malerisches Bedürfniß in den nahen Cypressenhain hinaufgelockt hätte.

Wie es demnach sich damit verhielt, daß die beiden deutschen Fräuleins bei der Hand waren, um sich in dem unwirthlichen Schiffernest der ohnmächtigen Stina anzunehmen, bedarf einer weiteren Erklärung.

Sie waren beide Malerinnen, die Kleinere, in München geboren, hatte ihre Lehrjahre in Kunst und Leben schon hinter sich und durch talentvolle Frucht- und Blumenstücke sich vortheilhaft bekannt gemacht. Sie hätte sich viel damit verdienen können, wenn sie nicht ein wenig faul gewesen wäre und lieber Karikaturen gezeichnet hätte, als die Trauben und Rosen zu malen, in denen sie es zu einer unbestrittenen Meisterschaft gebracht hatte. Da sie wenig Bedürfnisse hatte, griff sie erst zu ihren Pinseln, wenn ihr das Wasser an die Kehle ging. Übrigens war sie durch einen gewissen trockenen Humor überall beliebt und hatte in dem Damenatelier des Malers, der ihr Lehrer gewesen und dem sie längst entwachsen war, einen Kreis junger Schülerinnen um sich, die, da sie die Stelle einer Art Unterlehrerin einnahm, ihrer Unterweisung lieber folgten als der des Meisters.

Ihr Name war Ottilie Schwarz. Man nannte sie aber allgemein in Künstlerkreisen »die Otti«, mit welcher Abkürzung sie auch ihre Bildchen zeichnete.

In jener privaten Malschule hatte sie nun auch vor etlichen Jahren die etwas jüngere Collegin kennen gelernt, die sie Hilde nannte, und die mit ihrem vollen Namen Hildegard von Neubrunn hieß, die Tochter eines österreichischen Generals, der sich, nachdem er den Abschied genommen, nach Linz zurückgezogen und dort verheirathet hatte. Als beide Eltern gestorben waren, ohne ihre einzige Tochter versorgt zu haben, hatte sich das kränkliche junge Fräulein genöthigt gesehen, zu ihrem Maltalent ihre Zuflucht zu nehmen, und war mit dem dürftigen Rest ihrer Habe nach München gegangen, sich im Porträtfach weiter auszubilden.

Hierbei war ihr ein schwärmerischer »idealer« Zug ihrer Natur in seltsamer Weise hinderlich. Denn während sie sich selbst, sehr mit Unrecht, ungemein häßlich vorkam, widmete sie allen schönen Menschen, die ihr begegneten, einen leidenschaftlichen Cultus, so eigensinnig, daß sie sich nicht überwinden konnte, ein Gesicht, das ihren Schönheitssinn verletzte, zu porträtiren, und wenn es ihr noch so gut bezahlt worden wäre. Kein Wunder, daß diese Schwäche sie nicht auf einen grünen Zweig kommen ließ.

Otti hatte sie vom ersten Tag an in ihr Herz geschlossen, vielleicht gerade weil sie in ihr den entschiedenen Widerpart ihres eigenen Naturells fand. Sie selbst war im Grunde ihres Herzens ziemlich kühl und ließ sich das Wohl und Weh ihrer Nebenmenschen wenig anfechten. Hilde's Herz dagegen zu rühren, genügte durchaus nicht ein hübsches Gesicht, sondern irgend ein hülfloses Schicksal, in das sie selbst einen Wildfremden verstrickt sah. Auch die boshaften Karikaturen wohlbekannter Menschen, die Otti zeichnete, thaten ihr weh, abgesehen von der Mißempfindung, die ihr jedes Häßliche erregte. Sie konnte aber auf die Länge der eifrigen Freundschaft, mit welcher die ältere Collegin sie umwarb, nicht widerstehen, zumal sie sah, daß sie die Einzige war, die ein wärmeres Gefühl in der Kleinen weckte. So kam es bald dazu, daß die beiden ungleichen Wesen sich eng aneinanderschlossen, in einer Art von Ehe, wie sie unter ledigen Mädchen, die auf Männerliebe verzichtet haben, nicht selten gefunden wird.

Als sich dann nach ein paar Jahren herausstellte, daß das rauhe Münchener Klima die zarte Brust der jungen Linzerin gefährdete und der Arzt dringend zu einem Winteraufenthalt im Süden rieth, bestand Otti sogleich darauf, Hilde zu begleiten, und sorgte zunächst durch ein paar Fruchtstücke, die sie Hals über Kopf anfertigte, für die Bestreitung der ersten Reisekosten. Hilde entschloß sich blutenden Herzens, das Ihrige dazu beizusteuern, indem sie das Doppelbildniß eines dicken reichen Brauerssohnes und seiner höchst insipiden Braut malte, eine Sünde gegen den heiligen Geist ihrer Kunst, die sie sich lange nicht vergeben konnte.

Den Gedanken, an die elegante theure Riviera zu gehen, hatten sie von vornherein aufgegeben. Aber auch an den Ufern des Gardasees war nicht so wohlfeil zu leben, wie sie sich vorgestellt hatten. Der Pensionspreis selbst in den bescheidensten Häusern schien ihnen unerschwinglich, zumal es unsicher war, ob sie hier im Winter etwas zu Stande bringen könnten, was auf dem Münchener Kunstmarkt seinen Abnehmer fände.

Eines Tages aber waren sie nach der Punta di San Vigilio gerathen, die mit ihrem Cypressenhain hinter den weißen Palastmauern sie geheimnißvoll angelockt hatte, als sie von der Gardainsel zu ihr hinüberspähten. Schon am folgenden Tage hatte ein Nachen sie an das seltsame Gestade gebracht, gleich mit all ihren Siebensachen, Staffeleien und Malkästen. Denn obwohl man sie gewarnt hatte, es sei dort kein Gasthaus, nicht einmal eine Osterie vorhanden, hatten sie sich's fest in den Kopf gesetzt, dort müsse das ersehnte Winterasyl zu finden sein.

Und wirklich war es ihnen gelungen, gleich in dem ersten Hause, an dessen Thür sie anklopften, sich einquartiren zu dürfen. Es gehörte der noch jungen Wittwe eines Schiffers, der vor einem Jahr beim Verladen von Steinen aus dem Bruch verunglückt war. Ein einstöckiges Häuschen, oben zwei Zimmer, ein größeres und ein kleineres, in welchem die Betten des Ehepaars und des einzigen Knaben standen. Diese Räume waren nun frei geworden, da die Frau lieber in der Kammer unten neben der Küche schlief, weil sie droben den gespenstischen Besuch ihres todten Mannes zu erhalten fürchtete.

Den Ausschlag für Hilde gab der dunkle Lockenkopf und die schwarzen feurigen Augen des sechsjährigen Agostino und das melancholische braune Gesicht der jungen Frau, die es übrigens sehr zufrieden war, durch den geringen Miethzins, den die Malerinnen zahlen wollten, einen Zuwachs ihrer kärglichen Einkünfte aus allerlei kleinen Erwerbszweigen zu erhalten.

So zogen die Freundinnen noch in der nämlichen Stunde ein, und Hilde, der die kahlen, verstaubten Wände ein Grauen erregten, machte sich sogleich daran, zuerst mit Hülfe der Hausfrau nach Möglichkeit den grauen Wust hinauszufegen, dann die Räume etwas zu schmücken, indem sie allerlei mitgebrachte Studien, die hier ausgeführt werden sollten, über dem Kamin und an der Wand gegenüber anheftete und in den nächsten Tagen aus dem Garten und Cypressenhain droben allerlei schönes immergrünes Strauchwerk zusammentrug, mit dem sie die Winkel decorirte. Neben das Fenster, das nach dem See ging, wurden die beiden Staffeleien postirt, eine rothe Reisedecke über das Tischchen gebreitet, das vor dem alten wackelbeinigen Sopha stand – dem einzigen Möbel besserer Herkunft, das aus einem der benachbarten Paläste sich in das Schifferhaus verloren hatte, – und da nach italienischem Brauch das grobe Linnenzeug, mit dem die Betten überzogen wurden, an Sauberkeit nichts zu wünschen übrig ließ, nahm sich auch das Schlafzimmerchen ganz wohnlich aus, zumal nachdem auf dem kleinen Tisch, den die Hausfrau noch herbeischaffte, der blanke Toilettenkram der beiden Damen zierlich um ihren Reisespiegel herum aufgestellt worden war.

Diese bescheidene Häuslichkeit entzückte, nachdem die erste Einrichtung beendet war, die beiden anspruchslosen Künstlerinnen dermaßen, daß sie sich begeistert umarmten und ein paarmal in dem größeren Raum, der zum Wohn-, Mal- und Eßzimmer dienen sollte, sich lachend herumschwangen. Als sie nun vollends am nächsten Tage die Umgebung durchstreiften und immer Neues entdeckten, was ihre Maleraugen bestaunen mußten, war ihnen zu Muth, als hätten sie ein Stück des verlorenen Paradieses wiedergefunden, aus dem sie durch keinen Sündenfall vertrieben werden könnten.

Da noch schöne warme Herbsttage waren, trieben sie sich fast den ganzen Tag im Freien herum, unendliche Cypressenstudien malend oder fremdartige Gewächse botanisirend, deren Otti zu phantastischen Blumenstücken nie genug bekommen konnte. Als das Wetter rauher wurde, wenn auch die beständige Windstille Hilde's angegriffener Brust wohlthat, malte diese das Bild des Knaben und seiner Mutter, und Otti saß neben ihr mit wunderlichen Stillleben beschäftigt, die sie sich aus landüblichen Eßwaren und Früchten, Granatäpfeln, Fischen und etwa einem Stück Gorgonzola mit den grünlichen Arabesken im Innern zusammengebaut hatte.

Diese Modelle hatten das Gute, daß sie, wenn sie im Dienst der Kunst ihre Schuldigkeit gethan hatten, noch für die einfachen Mahlzeiten zu verwenden waren, in deren dürftigen Zuschnitt sich die Freundinnen ohne Murren ergaben. Da nur einmal in der Woche von Garda herüber frisches Brod kam, gewöhnten sich die beiden an die landesübliche Polenta, die ein äußerst billiger rother Wein hinunterspülen half. Auch bekamen sie fast täglich frische Fische, und überdies hatten sie eine Vorliebe gefaßt für den sehr fraglichen Genuß des in Öl eingemachten Thunfisches, der für empfindsamere Magen schwer verdaulich zu sein pflegt. Selbst die zarte Hilde bezwang ihn ohne schlimme Folgen, wie sie denn überhaupt in dem armseligen Leben unter dem Dach des feuchten Schifferhauses sichtbar aufblühte und sogar etwas Roth auf ihre blassen Wangen bekam.

Gingen dann trotz ihrer so überaus sparsamen Haushaltung ihre Mittel wieder einmal auf die Neige, so schickten sie geschwind ein paar ihrer fertigeren Studien nach München an Freunde, die sich's angelegen sein ließen, sie zu verkaufen. Davon konnten sie dann wieder eine Weile leben, ihre Miethe und den Vorrath an Tonno sott'olio bezahlen und sich auch etwa den Luxus einer Dampferfahrt gönnen, um neue schöne Punkte zu entdecken.

In ihren Briefen nach Hause hüteten sie sich aber wohl, ihrem Enthusiasmus für die Punta di San Vigilio den Zügel schießen zu lassen, aus Furcht, Andere herbeizulocken, die ihnen die Wonne ihres weltentrückten Idylls hätten stören können.

*

Zu diesen zwei guten Seelen, wie sturmverschlagene Vögel zu einem trockenen Nest am Strande, hatte der freundliche Zufall das junge Paar in der Barke geführt.

Es war, als empfände Stina in ihrer Erstarrung die Wärme der vier schwesterlichen Arme, die ihre regungslosen Glieder umfaßt hatten. Als sie die Schwelle des Hauses erreicht hatten, öffnete sie sogar die Augen wie schlaftrunken und versuchte mit den Füßen den Boden zu erreichen. Das gelang aber noch nicht; sie mußte sich wieder ihren beiden Samariterinnen überlassen. Nur als sie an die schmale, steile Steintreppe kamen, überließ Hilde ihr Amt dem jungen Mann, theils um voranzuhuschen und droben Licht zu machen, theils weil in dieser Enge nur Einer die schlanke Last tragen konnte.

Oben aber nahm man ihm die noch immer halb Bewußtlose wieder ab und bedeutete ihn, sich im Wohnzimmer zu gedulden, bis er gerufen würde. Im Schlafzimmer nebenan ging es dann wohl eine halbe Stunde sehr lebhaft und geschäftig her, ab und zu schlüpfte eine der beiden Malerinnen an ihm vorbei die Treppe hinab, um in der Küche unten eins und das andere zu holen oder anzuordnen. Man warf ihm dann ein Trostwörtchen zu, es gehe sehr gut, die Kranke bessere sich zusehends.

Dann wurde er endlich zu ihr eingelassen und fand sie in Otti's Bett, das geschwind frisch überzogen worden war, mit einem spitzenumsäumten Nachtjäckchen Hilde's angethan, immer noch nicht viel weniger bleich als das Linnen des Kissens, auf dem der zarte junge Kopf ruhte, aber doch nicht mehr mit dem angstvollen Ausdruck, wie in der Barke.

Sie öffnete die Augen, als Wilm an das Bett trat und ihre Hand faßte, die freilich eiskalt war. Wie fühlst du dich, min söte Deern? fragte er.

Gut. Aber meine Mutter – sie wird sich zu Tod ängstigen!

Ich habe schon an sie geschrieben. Hier, siehst du! Ich habe ihr gesagt, daß wir nicht zurückgekonnt hätten, aber glücklich hier gelandet und von zwei liebenswürdigen Damen aufs Freundlichste ausgenommen worden seien. Morgen, wenn der Sturm nachließe, kämen wir zurück. Den Zettel gebe ich dem Francesco, daß er ihn noch heute vor Nacht an die Mutter bringt. Sei nur ganz unbesorgt. Laß mich deinen Puls fühlen, Liebste!

Sie war schon wieder in ihren Halbschlummer zurückgesunken, als er die Schläge ihres Blutes zählte. Fieber hat sie nicht, flüsterte er, als Otti eben wieder mit einer Wärmflasche und einer dampfenden Tasse Thee von unten heraufkam. Es ist nur eine heftige Nervenerregung, und ich wollte, ich könnte was dagegen thun. Aber eine Apotheke ist wohl nicht zu erreichen?

Nein, versetzte Otti, diesen Luxus kennt man am östlichen Ufer des Gardasees nicht. Vielleicht aber finden Sie etwas Passendes in Hilde's kleiner Reiseapotheke.

Sie trug geschwind das Kästchen herbei, das bisher kaum einmal geöffnet worden war. Famos! sagte der junge Arzt. Da haben Sie ja auch Phenacetinpulver. Mehr brauche ich nicht. Nun wird hoffentlich ein gesunder Schlaf sich einstellen, und morgen sind wir aus aller Noth.

Er überließ dann seine Patientin der einen barmherzigen Schwester, während die andere ihn in die Küche hinunter begleitete, dort für ein Nachtessen zu sorgen. Er selbst suchte Francesco auf, übergab ihm den Zettel an Frau Marie in Gardone und band ihm auf die Seele, unverzüglich die Rückfahrt zu versuchen. Dabei drückte er ihm wieder einen Zehn-Lire-Zettel in die Hand und versprach ihm ein weiteres Douceur, wenn er seine Botschaft rasch und pünktlich ausrichtete.

Der Bursch nickte zu Allem, steckte das Papier und das Geld ein und machte sich daran, das Seil, mit welchem das Boot befestigt war, von dem Pfahl zu lösen. Kaum aber hatte Wilm den Rücken gewendet, so knotete er es von neuem fest und ging, lebhaft vor sich hin gesticulirend, zu einer Gruppe junger Schiffer, die in die ungestüm wogende Flut hinausschauten. Er erzählte ihnen, welches Ansinnen der verrückte Forestiere ihm gestellt. Und wenn er ihm statt zwanzig Lire hundert geboten hätte, sein Leben und Weib und Kinder seien ihm mehr werth. Er habe sich genug abgerackert, hierher zu kommen. Zur Rückkehr wolle er sich erst frische Kräfte anschlafen.

Dies Alles wurde sehr vernünftig und selbstverständlich gefunden. Und so gelangte die Botschaft, welche das angstvolle Mutterherz beruhigen sollte, heute noch nicht zu ihrer Bestimmung.

*

Inzwischen hatten die Freundinnen droben im Hause große Anstrengungen gemacht, das Wohn- und Eßzimmer festlich und gastlich herzurichten.

Der Tisch vor dem Sopha war mit einem schneeweißen Tuch gedeckt worden, darauf ein großes strohumflochtenes Fiasco stand als Mittelpunkt verschiedener Schüsseln, die den gesammten Speisevorrath des Hauses enthielten: zunächst einen halben Laib Brot, freilich hart genug, da es schon sieben Tage im Hause war, ferner einen Teller mit großen rothen Scheiben knoblauchduftender Salami, ein Schüsselchen, in welchem zierliche Stücke des berühmten Tonno sott'olio schwammen, endlich drei Eier, welche die Hausfrau mit Noth bei einer Nachbarin aufgetrieben hatte.

Dieses appetitliche Stillleben nahm sich lockend genug aus für einen Gast, der sich mehrere Stunden lang im Kampf gegen Sturm und Wellen abgearbeitet hatte. Auch war es hübsch beleuchtet durch ein Petroleumlämpchen mit grünem Schirm und zwei in Flaschen gesteckte Kerzen, die auf dem Kaminsims standen. Zwei andere auf gleichen Leuchtern verbreiteten drüben von der Kommode aus eine schwache Helligkeit und waren eigentlich überflüssig. Hilde aber hatte darauf bestanden, sich heute diesen unvernünftigen Luxus zu gönnen, da das zweite Lämpchen neben dem Bett der Kranken unentbehrlich war.

Wilm blieb mit einem Ausruf ungeheuchelten Erstaunens stehen, als er eintretend diese festlichen Zurüstungen erblickte. Otti, die eben die vierte Kerze angezündet hatte, kam ihm lachend entgegen, hielt ihm die Hand hin und sagte: Schön, daß Sie uns die Ehr' geben, Herr – Wilhelm Lorenzen, wenn ich den Namen recht verstanden habe. (Wilm Lornsen, verbesserte er rasch, in unliebsamer Erinnerung an die verhängnißvolle Verlobungsanzeige.) Sie werden vorlieb nehmen müssen, zwei arme Malweibchen haben's halt nicht besser, und San Vigilio ist noch nicht so civilisirt, daß sich hier ein Delicatessenladen befände, nach dem man nur zu schicken brauchte, wenn unversehens Gäste kommen. Die Hauptsach' aber ist, daß Ihre liebe – ja was ist sie eigentlich zu Ihnen? Schwester – Cousine – Freundin – Braut?

Die Frage setzte ihn einen Augenblick in Verlegenheit. Seine Braut durfte er Stina ja nicht mehr nennen, und doch konnte er das wunderliche Verhältniß nicht so in der Geschwindigkeit aufklären.

Wir haben uns vor zwei Jahren verlobt, sagte er endlich, aber nach langer Trennung erst heute wiedergesehen, und da mußten wir gleich in das stürmische Abenteuer gerathen. Wenn ich denke, wie es hätte ablaufen können und wie es auch mir gewesen wäre, wenn meine arme Liebste hier nicht so freundliche Pflegerinnen gefunden hätte, stehen mir nachträglich die Haare zu Berge. Wie ich Ihnen Beiden jemals danken soll –

Schwatzen Sie doch nicht von Dank! unterbrach ihn die Malerin. Nein, wir haben zu danken. So ein unverhoffter lieber Besuch in unserer einförmigen Zweisiedelei, Sie glauben gar nicht, wie einen das erfrischt. Und Hilde nun gar, die für schöne Menschen schwärmt – die ist ganz weg von Ihrem Fräulein Braut. Ich stehe nicht dafür, daß sie ihr nicht morgen zumuthet, sich von ihr malen zu lassen. Aber nun kommen Sie und essen. Ihrem Schatzerl da drinnen haben wir eine Tasse Thee eingeflößt, sonst braucht sie heute nichts. Für morgen will die Hausfrau ein Huhn auftreiben, daß wir ihr ein gutes Supperl kochen können. Sie aber – ich weiß nicht, ob Sie schon die Bekanntschaft von Tonno sott'olio gemacht haben? So das erste Mal scheint's einem ein bissel zäh und ledern. Aber man gewöhnt sich bald daran. Die Salami ist von Brescia, den Wein können wir jedenfalls empfehlen, und überhaupt, ein Schelm giebt mehr als er hat.

Hilde trat auf den Zehen herein und meldete, das Fräulein schlafe so ruhig, daß man sie wohl allein lassen könne, wenn die Thür offen bleibe. Das bestätigte Wilm, nachdem er selbst drinnen nachgeschaut hatte, und nun setzten sich alle Drei an das Tischchen, und Wilm stürzte zunächst ein paar Gläser des dunkelrothen Weins hinunter, da ihm die Zunge am Gaumen klebte nach aller Arbeit und Aufregung. Über die Vorzüge des Tonno und der Salami äußerte er sich etwas zurückhaltend, während er mit Verwunderung sah, wie selbst die zarte Hilde eine große Portion des harten Fisches sich zu Gemüthe führte. Übrigens überließ sie der Freundin die Pflicht, den Gast zu unterhalten, was diese mit drolligen Schilderungen der Sitten und Unsitten, die unter der Küstenbevölkerung im Schwange gingen, aufs Munterste besorgte.

Zwischendurch horchte Wilm in das Schlafzimmer hinein und in den Sturm hinaus, dessen Gewalt sich noch nicht mäßigte, so daß, wenn ein besonders heftiger Stoß durch die Ritzen der schlecht schließenden Fensterläden fuhr, diese in ihren Haspen schlitterten und die Flammen der Kerzen auf dem Kamin zu flackern begannen. So hart gewöhnt er als ein armes Waisenkind von Jugend auf gewesen war, so bewunderte er doch die Genügsamkeit der beiden Freundinnen, die in diesem übel verwahrten Quartier – der Kamin sei kaum heizbar, da er rauche, hatten sie ihm geklagt – und bei so schwerer Kost den Winter fröhlich überdauert hatten.

Als man das Mahl beendet und Wilm seine Cigarre geraucht hatte, mahnte Fräulein Otti, daß es Zeit sei, zu Bett zu gehen, obwohl es erst halb Neun geworden war. Wir Zwei schlafen heut in Einem Bett, sagte sie. Sie aber müssen auf diesem Sopha vorlieb nehmen. Wir stellen ein paar Stühle an das Fußende hin, und mit unseren Plaids können Sie sich zudecken. Die Hausfrau hat uns eine Matratze für Sie geben wollen, es sieht aber nicht allzu sauber unten bei ihr aus, und ich denke, nach Ihrer Sturmfahrt werden Sie auch auf diesem harten Marterbette ungewiegt schlafen.

*

Damit sollte sie Recht behalten, doch freilich nur für den ersten Theil der Nacht. Lange vor Tagesanbruch erwachte er und entschloß sich nur darum auf seinem unbequemen Lager noch eine Weile liegen zu bleiben, um die nebenan schlafenden Mädchen nicht zu stören.

Endlich aber hielt er es doch nicht länger aus und stand behutsam auf, sich auf den Strümpfen ans Fenster schleichend. Er stieß den Laden auf und lehnte sich in die graue Morgenluft hinaus, seine heiße Stirn zu lüften. Er konnte von seinem Platz aus ein Stück des Hafens überblicken und darüber hinaus den See, der noch immer heftig brandete, während die Wipfel der Cypressen drüben sich bogen. Zu seinem Schrecken aber sah er, wie Francesco eben erst die Barke ins Freie hinausruderte. Auch der gewahrte den »verrückten Forestiere« droben am Fenster, kam aber nicht sonderlich aus der Fassung, sondern deutete nur mit Achselzucken und bedauernden Gebärden auf die noch nicht gestillte stürmische Bewegung der Flut, wie um zu sagen: Fordere was menschlich ist! Aber bei solchem Seegang wär's Wahnsinn gewesen, gestern Abend noch die Rückfahrt anzutreten.

Wilm selbst war einsichtig genug, dies anzuerkennen. Ja, er hatte im Grunde seines Herzens wohl selbst kaum daran glauben können, daß noch vor der Nacht die Botschaft nach Gardone gelangen würde, und nur zur Beschwichtigung Stina's das Möglichste zu thun gesucht. Jetzt erst bedachte er, wie entsetzlich die Mutter diese Nacht in Ungewißheit um das Schicksal ihres Kindes verbracht haben würde. Das war nun aber einmal nicht zu ändern gewesen, und wenn man es auch beklagen mußte, eine Strafe für ihr selbstsüchtiges Betragen gegen die Tochter hatte sie immerhin verdient. Nun würde sie ja in einigen Stunden aus aller Angst und Sorge erlös't werden.

Hierauf zog er sich sacht vollends an, schlich die Treppe hinab und riegelte die Hausthür auf. Draußen rührte sich noch keine Menschenseele. Nur der Sturm war noch nicht zur Ruhe gekommen, und Wilm hörte das donnernde Wogen und Rauschen der Flut vom Strande herauf und dazwischen das leise Klirren der Ketten, mit denen die Boote befestigt waren. Über ihm graute noch kaum der Tag, und immer noch zog ein schweres, dunkles Wolkengeschwader unter dem Himmel hin, mit seiner Wucht den weiten Luftkreis tief herabdrückend. Eine Fledermaus kreis'te in ihrem schwankenden Zickzackfluge dicht über dem Kopf des jungen Mannes und flüchtete erschrocken unter den Sims des flachen Daches. Von einem Hahnenschrei oder dem Zwitschern erwachender Vögel war nichts zu hören.

Wilm athmete tief auf, um den Schauer der öden Frühe, der ihn überlief, abzuschütteln. Dann ging er über die Straße und wandte sich nach einem über der Brandung erhöhten Platz, wo einige Bäume standen, das Kirchlein überschattend, das dem heiligen Vigilius geweiht war. Da stand er eine Weile an der niederen Brüstung und sah in den See hinaus. Daß auch heute, da der Aufruhr der Elemente noch nicht gestillt war, von einer Fahrt nach der Küste drüben keine Rede sein konnte, war ihm klar. Er bedauerte es aber nicht. Je länger er seine Liebste hier in seiner Gewalt behielt, desto sicherer war der Erfolg seines schlauen Anschlags.

Dann kehrte er um, stieg die schlecht gepflasterte breite Straße hinan, die auf den Rücken der Landzunge führt, rechts von niederen Schifferhäusern begrenzt, links von einer Mauer, in der sich nach wenigen Schritten eine Thür öffnete. Durch diese trat er ein und sah sich in einem sehr verwilderten kleinen Garten, dessen eine Seite von einem Winterhause für Limonenbäumchen eingenommen war, einer der Serren, die an diesem See so häufig sind. Diese war schon abgedeckt, aber wie Alles in diesem Revier verwahrlos't, und der Boden mit abgefallenen angefaulten Früchten bedeckt. Alle Gewächse und Stauden troffen von den nächtlichen Regengüssen, aber zwischen den Moderdüften schwebte auch ein süßer Geruch von Lorbeer und allerlei Würzkräutern. Als er das Gärtchen durchschritten hatte, kam er zu einer Treppe, die in ein höhergelegenes Gebiet hinaufführte. Und hier erst erschloß sich ihm der volle Reiz dieses phantastischen Erdenwinkels.

Ein kleiner Park zog sich an der hohen Küste hin, in dessen Schutz der eine der beiden alten Paläste lag. Zwischen den Stämmen der immergrünen Bäume sah man auf den See hinaus, nach dem Monte Baldo hinüber, der heute freilich nur mit einem schmalen Schneestreifen, wie mit einer Silberlocke seines greisen Hauptes, durch das dunkle Gewölk herüberwinkte. Als Wilm aber nur kurze Zeit dem Wege, der im Kreise herumlief, gefolgt war, kam er an eine Allee dichtgepflanzter hoher Cypressen, die ein wenig ansteigend zum Allerheiligsten dieses verzauberten Reviers führte.

Es war das ein nicht gar großer, länglich runder Wiesenplan, auf dem hohes Gras wucherte, wie wenn kein Menschenfuß hier je zu wandeln wagte. Zwölf überhöhte viereckige Nischen aus weißem Marmor, nach Art flacher Kapellen, ragten in mäßigen Abständen um das Rondell herum auf, in der vertieften Mitte einer jeden stand eine antike Büste, wohl eines Kaisers nach dem mancherlei fürstlichen Schmuck zu schließen, alle aber der Nasen beraubt, und die Schrift am Sockel, auch wenn das Zwielicht sie zu lesen gestattet hätte, im Lauf der Jahrtausende verwittert. Drüben in der Mitte dieser Denkmäler den Kreis beschließend, leuchtete ein wunderlicher hoher Marmorblock hervor mit einem Relief, das vier lebensgroße Figuren darstellte. Was sie bedeuteten, war nicht zu enträthseln, nur daß sie das Werk eines späten Künstlers, vielleicht aus der abklingenden Zeit der Renaissance sein mußten, leuchtete selbst einem so wenig geübten Auge, wie das des jungen Holsteiners, ein.

Er gab sich aber gar nicht damit ab, hierüber nachzugrübeln. Denn sein Blick hing wie gebannt an dem, was die Feierlichkeit dieser Stätte vollendete, dem Kreis uralter Cypressen, die wie eine lebendige schwarze Tempelmauer hinter den Marmornischen aufragten. In keinem der gothischen Dome, die er gesehen, war ihm so überwältigend andachtsvoll zu Muth gewesen. Auch zog der Sturm so hoch über den höchsten Spitzen der Baumriesen hin, daß sie regungslos wie eherne Wächter das Heiligthum zu umstehen schienen, wie wenn sie in seiner Tiefe ein entschlafenes Herrscher- oder Heldengeschlecht zu hüten hätten.

*

Wie lange der einsame Wanderer hier gestanden, ganz in die schauerlich erhabene Andachtsstimmung dieses Orts versunken, wußte er nicht zu sagen. Dann aber reckte er sich in die Höhe. Es war, als fürchte er, wenn er hier länger stehen bliebe, gleichfalls verzaubert und für alle Zeiten als ein steinernes Standbild festgebannt zu werden.

Langsam durchschritt er wieder die Cypressenallee, dann das Gärtchen unten und die Straße nach dem Hause, das ihn zu Nacht beherbergt hatte. Er fand jetzt, da es allmählich Tag geworden war, so gut es bei diesem grauen Sturmwesen konnte, die Bevölkerung des dürftigen Nestes schon regsam, einige Schiffer am Hafen, die eifrig beriethen, ob eine Fahrt zu wagen sei, am Herd der Schifferswittwe Fräulein Otti mit dem Kochen des Theewassers beschäftigt. Sie begrüßte ihn in sehr munterer Laune, sein Schatz habe vortrefflich geschlafen und sei nur mit Mühe im Bett zurückzuhalten gewesen, bis der Herr Doctor die Erlaubniß zum Aufstehen gegeben haben würde.

Als Wilm dann in das jungfräuliche Schlafgemach trat, grüßten ihn die großen Augen seiner Liebsten von ihrem Kissen aus mit einem halb glücklichen, halb verlegenen Ausdruck, da es sie doch beklommen machte, ihn so in seiner Eigenschaft als Arzt empfangen zu müssen. Er kürzte auch den Besuch nach Möglichkeit ab, that ein paar Fragen nach ihrem Befinden, fuhr ihr sanft mit der Hand über die Stirn und zog sich dann zurück, nachdem er sie für ganz genesen erklärt und nur noch, wenn sie aufstände, große Ruhe empfohlen hatte.

Hilde war bei dieser ärztlichen Morgenvisite zugegen gewesen. Der kühle Ton, mit dem die Liebesleute sich begegneten, hatte sie höchlich verwundert. Nicht einen einzigen Kuß hat er ihr gegeben, äußerte sie sich gegen Otti. Das hätte sich zwischen Braut und Bräutigam doch nur gehört, auch wenn ein Drittes dabei war. Und obwohl sie offenbar in ihn verliebt ist und er in sie und man es auch bei Beiden begreifen kann – sie betragen sich wie Bruder und Schwester. Vielleicht ist das bei Norddeutschen so hergebracht.

Die beiden süddeutschen Jungfräulein sollten im Lauf des Tages noch mehr Anlaß zum Verwundern erhalten. Denn auch nachdem Stina aufgestanden war und am Frühstück theilgenommen hatte, verharrte sie in ihrer schwermüthigen Haltung, zu der in der Lage der Dinge kein Grund zu entdecken war. Die Schrecken der stürmischen Fahrt lagen hinter ihr, ihre Mutter wußte sie sammt ihrem Liebsten wohl geborgen, ihre beiden Wirthinnen wetteiferten, ihr alles erdenkliche Liebe anzuthun, und doch erschien kaum einmal ein schwaches Lächeln auf ihren Lippen, und an dem heiteren Geplauder der Anderen nahm sie nur zerstreut und einsilbig Theil.

Hilde hatte vergebens gehofft, sie etwas mittheilsamer zu machen, wenn sie mit ihr unter vier Augen wäre in der Stunde am Vormittag, die sie von ihr erbeten hatte, um eine rasche Porträtskizze von ihr zu machen. Doch sogar auf eine directe Frage, ob sie einen heimlichen Kummer habe, erhielt sie keine andere Antwort, als daß sie sich darum sorge, wie es bei der Mutter stehe. Dies genügte der Malerin keineswegs, um alle die Seufzer zu erklären, die der jungen Brust ihres Modells entstiegen. Sie hatte für sich selbst auf Liebesglück verzichtet. Aber wenn sie sich in Stina's Lage versetzte, – mit einem Bräutigam wie Wilm selbst auf eine einsame Insel im weiten Weltmeer verschlagen zu sein, wäre ihr so beseligend erschienen, daß alle fernen Mütter der Welt dagegen nicht in Betracht gekommen wären.

Ein wenig heiterte sich das sanfte, trübe Gesicht gegen Mittag auf, als man sich zu Tische setzte, um das festliche Mahl zu genießen, das die Freundinnen bereitet hatten. Stina weigerte sich freilich lebhaft, daß das famose Hühnersüppchen nur für sie allein aufgetragen werden sollte. Es half ihr aber nichts; der junge Leibarzt erklärte, daß für eine Reconvalescentin selbst der vortrefflichste Thunfisch in Öl und die duftendste Salami keine zuträgliche Kost seien. Auch von der großen Schüssel mit Maccaroni – ein Bote war eigens nach Garda geschickt worden, um diese Delicatesse herbeizuschaffen – durfte Stina nur kosten. Dagegen brauchte sie auf das Hauptgericht dieses glänzenden Gastmahls nicht ganz zu verzichten: die zierlichen winzigen Fischchen, aule genannt, die gestern Abend noch ein Fischer zum Verkauf herumgetragen und welche die Hausfrau nach einem einheimischen Recept in reinem Öl gebacken hatte. So ganz unschuldig mochte auch diese Speise nicht sein. Aber sie sah in ihrer weißen Schüssel so appetitlich aus, daß es grausam gewesen wäre, sie der Reconvalescentin zu versagen.

Statt des Brodes diente in Scheiben geschnittene Polenta. Der feurige rothe Wein hatte dafür zu sorgen, daß all diese etwas schwerverdaulichen Gaben Gottes den Schmausenden gut anschlugen.

Fräulein Otti und Doctor Wilm trugen die Kosten der Unterhaltung. Als er aber auf seinen Morgenspaziergang zu sprechen kam und von dem verzauberten Cypressenhain erzählte, liefen beide Mädchen nach ihren Mappen und holten eine Menge Studien nach dieser wundersamen Stelle des Parks hervor, von der auch sie beide in höchstem Entzücken sprachen.

Stina, die sich darein ergeben hatte, die Rückfahrt heute noch nicht anzutreten – nicht einmal die beiden großen Dampfer hatten sich in den noch immer stürmischen See hinausgewagt – bestand darauf, diese gepriesene Scenerie selbst kennen zu lernen. Also nahmen, nach einer kleinen Siesta, die Freundinnen sie in die Mitte, indem Otti Wilm erklärte, seine Bräutigamsrechte müßten für diesen Tag zurücktreten, da sie sich der geretteten Braut wie eines ihnen zukommenden Strandguts bemächtigt hätten. Auch war es Stina selbst heimlich zufrieden, daß nicht Wilm, sondern die beiden Mädchen sie am Arm führten, zumal sie noch schwach auf den Füßen war.

Als sie aber droben durch die Cypressenallee geschritten waren und nun den geweihten inneren Raum betraten, überwältigte sie die Erhabenheit dieser einsamen Stätte mit solcher Gewalt, daß sie in ein krampfhaftes Schluchzen ausbrach und niedergesunken wäre, wenn Otti sie nicht in ihren kräftigen Armen aufgefangen hätte.

Die ganze Schwere und Hoffnungslosigkeit ihrer Lage, die sie eine Weile über all dem Freundlichen, was ihr geschah, und so fern von den Menschen, die ihr Schicksal bedingten, vergessen hatte, bedrängte auf einmal wieder ihre arme Seele. Sie dachte daran, wie gern sie für immer in dieser feierlichen Rotunde wie in einem unnahbaren Asyl sich geborgen hätte, und wie, nachdem dieser Traum ausgeträumt sei, morgen Alles wieder ganz so verzweifelt und herzbrechend sein würde wie vorher.

Nach Hause zurückgekehrt, erholte Stina sich bald wieder und bat aufs Rührendste um Verzeihung, daß sie einer kindischen Schwäche nachgegeben hätte.

Die Freundinnen umarmten sie, küßten ihr die Thränen von den Wangen und sprachen sie ein für allemal von jeder Sünde frei, die nur die elenden Nerven verschuldeten. So verging der Abend wieder heiter und traulich genug, man trennte sich aber früh, da Stina fest darauf beharrte, das Marktschiff, das am morgigen Dienstag gegen Neun von Maderno nach Desenzano fahren und von dort am Nachmittag in Gardone anlegen sollte, zur unwiderruflichen Rückkehr zu benutzen.

Diese Nacht schliefen Alle schlechter als die vorige, die beiden Liebenden vor Gedanken, wie sie drüben empfangen werden würden, die Malerinnen, da sie sich schwer in die bevorstehende Trennung fanden. Sie ließen es sich auch nicht nehmen, ihre Gäste am frühen Morgen bis nach Garda zu begleiten, wo der kleine Dampfer pünktlich eintraf. Man nahm gerührten Abschied, versprach von beiden Seiten, bald wieder von sich hören zu lassen, und winkte vom Lande und vom Verdeck des Schiffes eifrig mit den Taschentüchern!

Lange noch standen die beiden Zurückgebliebenen und sahen dem jungen Paar, das sie so rasch in ihr Herz geschlossen hatten, wehmüthig nach. Wir hätten doch wenigstens bis Desenzano mitfahren sollen, sagte Otti, als sie sich endlich entschloß, den Rückweg anzutreten. – Wo denkst du hin! versetzte Hilde, die zwar nicht durch eigene Erfahrung, aber durch ihre zärtliche Phantasie besser darüber Bescheid zu wissen glaubte, was Liebesleuten noth that. Am Ende hätten sie uns auch das Geleit bis ans Schiff gern geschenkt, um etwas früher wieder unter vier Augen zu sein. Vielleicht rührte Stina's ganzer Trübsinn nur davon her, daß sie uns beständig zwischen sich und ihrem Bräutigam sehen mußte. Ach, was ist sie für ein himmlisches Wesen! Und wie rasch blühte sie wieder auf nach der ersten Erschöpfung! So auszusehen muß ein Glück sein, das ein so garstiges Schätzchen wie ich sich gar nicht vorstellen kann!

Hierauf umarmte und küßte Otti die Freundin auf der offenen Straße und versicherte ihr, sie sei ein Dummerl und alle Raffaelischen Engel- und Madonnengesichter seien ihr nicht so lieb wie das ihre.

Wenn sie das Brautpaar hätten sehen können, wie es auf dem Verdeck des Dampfers nebeneinander stand, ohne sich anzusehen oder miteinander zu sprechen, würde ihre Sorge, ihr Alleinsein zu lange gestört zu haben, rasch geschwunden sein.

Auch auf dem Wochenmarkt in Desenzano thaute Stina aus ihrer Versonnenheit nicht auf, so sehr Wilm sich darum bemühte, indem er sie heiter plaudernd auf das fremdartige Leben und Treiben um sie her aufmerksam machte. Das Wetter war schön geworden, und unter dem strahlenden Sonnenhimmel nahm sich selbst das sehr unansehnliche Nest und das Gewimmel der Marktleute, das darin wogte, lustig genug aus. Stina aber sah alle Augenblicke nach der Uhr, ob die Zeit zur Weiterfahrt noch nicht gekommen sei. Erst in der kleinen Trattorie, wo sie gegen Mittag einkehrten, vergaß sie auf Augenblicke ihr schweres Herz und mußte sogar lächeln bei der Erinnerung an all die Schwerverdaulichkeiten, mit denen sie in San Vigilio bewirthet worden waren und die ihnen hier wieder angeboten wurden. Daneben aber fanden sich auch leichtere Speisen, und bei dem guten Landwein hob sich die Stimmung erfreulich, zumal da sie auf die Gastfreundschaft zu sprechen kamen, die sie bei den guten Seelen gefunden hatten, und auf den Märchenzauber jenes wundersamen Cypressenhains.

Kaum aber hatten sie das Schiff wieder bestiegen, das nun ohne weiteren Aufenthalt, als ein paar Minuten in Salò, sie nach Gardone zurückbringen sollte, so fiel plötzlich wieder ein Schleier über Stina's Gesicht und Gemüth, sie antwortete auf Wilm's Fragen nur einsilbig und sorgte dafür, daß auf der Bank an Bord zwischen ihnen ein kleiner Zwischenraum blieb. Zuletzt hörte auch er zu plaudern auf, und eine gewisse Spannung erschien auch auf seinen kühnen und selbstbewußten Zügen. Er hielt den Blick unverwandt auf das Ufer gerichtet, und als das Schiff zwischen der Gardainsel und dem Cap San Felice durchgefahren war und nun die Bucht von Salò und weiter nach rechts die Häuser von Gardone sichtbar wurden, stand er auf und ging nach dem Vorderdeck, wo er Ausschau hielt, bis die langgestreckte Häuserflucht des Hôtel Gardone in Sicht kam.

Dann kehrte er zu seiner Liebsten zurück und sagte: Wir werden nun gleich landen, min söte Deern. Ich bitte dich, den Kopf aufrecht zu tragen und nicht etwa mit einer Armsündermiene ans Land zu gehen, da du nichts verbrochen hast, dessen du dich zu schämen hättest. Auch ich werde, wenn wir zufällig unseren Bekannten begegnen sollten, ihnen frei ins Auge blicken, da ich ja unschuldig daran bin, daß der Sturm uns nach San Vigilio verschlagen hat. Was dann weiter geschieht, wollen wir dem lieben Gott anheimstellen.

Es klang das ganz treuherzig, und zum Glück sah Stina nicht den Schelmenzug, der ihm dabei um die Lippen spielte. Mit einem beklommenen Seufzer stand sie auf, legte den Arm in den seinen und ließ sich nach vorn führen, wo bereits die Matrosen das Seil bereit hielten, das nach der Landungsbrücke geschleudert werden sollte.

Wie gewöhnlich hatte sich ein zahlreiches Häuflein von Eingeborenen und Kurgästen zu beiden Seiten des Uferstegs aufgestellt.

Als Stina die vielen neugierigen Gesichter sah, die alle gerade auf sie gerichtet schienen, zauderte sie einen Augenblick, als wäre sie lieber auf das Schiff zurückgeflüchtet und hätte nie wieder einen Fuß aufs Land gesetzt. Wilm aber überwand ihr Widerstreben und führte sie mit hocherhobenem Kopf durch die Gasse der Gaffenden, die sich vor dem Landungssteg gebildet hatte. Kein einziges Gesicht war ihm bekannt, wie ja auch Stina diese Hôtelgesellschaft zum großen Theil fremd geblieben war. Aber schon vor dem Anlegen des Schiffes hatte Wilm oben in einem der Hôtelfenster des ersten Stockes eine ältere Dame und einen jüngeren Herrn gesehen, in denen er den verhaßten Bräutigam seiner eigenen Braut und dessen Mutter erkannt hatte. Auch sie hatten ihn und Stina offenbar bemerkt, wenigstens hatte die Baronin ihren Operngucker gerade auf die Stelle des Verdecks gerichtet, wo der dreiste Entführer seinen holden Raub offenkundig am Arme hielt, und der, statt schuldbewußt die Stirn zu senken, hatte den Blick gerade zu ihnen emporgerichtet und sogar leicht den Hut gelüftet, wie wenn er gute Bekannte, doch noch ein wenig zweifelhaft, ob sie es auch wirklich seien, begrüßen wollte.

Wie das auf die Beiden oben am Fenster gewirkt, hatte er nicht sehen können, da sie sich sofort zurückgezogen hatten. Daß ihre Landung Arm in Arm auch unter der übrigen Hôtelgesellschaft Aufsehen machte, gewahrte er an dem hastigen Zusammenstecken einiger Köpfe und dem Geflüster, während sie durch die Gasse gingen. Aber noch eine unfreundlichere Begegnung stand ihnen bevor.

Sie waren eben mit raschen Schritten, da keinerlei Reisegepäck sie beschwerte, um die Ecke des Hôtels gebogen, als zwei Männergestalten langsam ihnen entgegenkamen, keine Geringeren als Seine Ehrwürden Pastor Elias Brodersen und der kleine Freiherr in dem grauen Sportanzug. Sie kamen von einem Nachmittagsspaziergang zurück, auf dem die Entführung der jungen Verlobten und die muthmaßlichen Folgen dieses kecken Streiches das Hauptthema ihrer Unterhaltung gebildet hatten.

Als nun plötzlich das entflohene Paar leibhaftig vor ihnen auftauchte, blieben sie wie angewurzelt stehen und starrten die jungen Leute sprachlos an. Wilm aber, während Stina sich zitternd an seinen Arm schmiegte, sah den alten Herren mit der harmlosesten Freundlichkeit ins Gesicht und zog höflich den Hut. Dann führte er das tief erschrockene Mädchen ruhig an ihnen vorüber und hatte sogar den Muth, sich umzublicken, wo er die beiden verehrten Herrn noch immer ganz verdutzt und tief empört regungslos beieinander stehen sah.

*

O Wilm, was hast du gethan! flüsterte Stina in höchster Erregung. Sie werden es uns nie verzeihen!

Das ist auch meine Hoffnung, erwiderte er trocken, indem er ihr zitterndes kaltes Händchen fest an sein Herz drückte. Etwas Unverzeihliches mußte ja geschehen, damit ich dir das Andere verzeihen konnte. Aber nein, verzeih du mir, daß ich wieder von dem angefangen habe, was nun ein für allemal vergeben und vergessen sein soll. Du hast ja auch keine Verantwortung dafür, es kam, wie es kommen mußte. Aber Gott sei gedankt, daß noch Zeit war, es ungeschehen zu machen. Mach dir nur weiter keine Gedanken, Herz, ich stehe für Alles ein. Und nun Kopf hoch, Liebste! Da kommt wahrhaftig deine gute Mutter auf uns zu. Guten Tag, Tante Marie! Da bring' ich Ihnen Ihr Sorgenkind heil und wohlbehalten wieder zurück. Ja, das war eine schlimme Geschichte! Aber wir können noch froh sein, daß sie so glimpflich abgelaufen ist, und ein Seemannskind würde sich ja auch von einem noch wüthenderen Sturm nicht haben unterkriegen lassen.

Er hatte Stina's Arm losgelassen, als er die Mutter auf sie zueilen sah. Bis zum Landungssteg ihrer Tochter entgegen zu eilen, hatte Frau Marie der vielen Fremden wegen sich nicht getraut, aber sobald sie das Schiff hatte anlegen sehen, war sie fortgestürzt, ihr verlorenes Kind wieder an ihr Herz zu ziehen. Sie sowohl wie Stina waren sprachlos geblieben, als sie sich in die Arme sanken, und hatten sich unter tausend Thränen umfaßt gehalten. Dann fand die Tochter zuerst so viel Fassung, sich von der Mutter loszumachen, ihren Arm in den ihren zu ziehen und sie leise zu bitten, nach der Pension zurückzukehren und den Vorübergehenden kein Schauspiel zu bieten.

Sie legten die kurze Strecke ohne zu reden zurück. Vor der Thür ihres Hauses blieb Wilm stehen, zog den Hut und sagte: Ich überlasse dich nun der Mutter, Stina; du wirst ihr Alles erzählen, und so bin ich überflüssig. Morgen frag' ich nach, wie ihr Beide auf all die Angst und Sorge geschlafen habt. Gute Nacht, liebe Mutter! Stina ist ganz wohl, aber ein Tasse Thee mit etwas Rum würde ihr doch gut thun. Aus Wiedersehen also! – Damit reichte er Beiden die Hand und setzte seinen Weg fort nach dem Hôtel Fasano.

*

Was in dieser ersten Stunde des Wiederhabens zwischen Mutter und Tochter vorging, braucht wohl nicht ausführlich berichtet zu werden.

Auch daß Frau Marie nicht der leiseste Argwohn beschlich, an dem Abenteuer, das ihr so viel Herzweh gemacht, möchte nicht alle Schuld auf die Elementargewalten fallen, die ihr Kind unaufhaltsam an die ferne Küste fortgestürmt hätten, sondern eine kecke Kriegslist das Beste daran gethan haben, wird man ihrer arglosen Seele zutrauen. In Stina selbst war durch Wilm's Äußerungen nach dem Begegnen mit den beiden Herren der leise Verdacht, es möchte nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, zur Gewißheit geworden. Sie hütete sich aber wohl, die Mutter etwas davon merken zu lassen, saß nun aufathmend auf dem Sopha am Theetisch und kramte all ihre Erlebnisse aus, jetzt endlich mit der Hoffnung, es möchte doch noch für die unselige Verstrickung ihrer Lage eine Lösung gefunden werden.

Ihrerseits erzählte die Mutter, was sich inzwischen bei ihr ereignet hatte. Am Morgen nach der Sturmnacht war die Baronin bei ihr erschienen, sich nach dem Befinden des gestern unwohl gewordenen Schwiegertöchterchens zu erkundigen. Die Mutter hatte es erst verhehlen wollen, daß sie verschwunden war, in ihrer Schüchternheit aber es doch nicht zu Stande gebracht. Das Geständniß, daß Stina gerade mit Wilm auf den See hinausgefahren und noch nicht zurückgekehrt sei, mußte die gestrenge Dame natürlich im Tiefsten erregen. Sie ließ es auch an anzüglichen Reden über die allzu freie Erziehung, die Stina genossen, nicht fehlen und versprach einstweilen nur, ihren Herren das Märchen von Stina's Unwohlsein plausibel zu machen, da die Entflohene hoffentlich im Lauf des Tages sich wieder einfinden werde.

Das war nun nicht geschehen und durch ein Hintertreppengeschwätz die Nachricht von der Flucht der Braut am Verlobungstage mit einem früheren Liebsten in das große Hôtel hinübergetragen worden. Eine der Damen, die gern für ihre eigenen Töchter den jungen Baron eingefangen hätten, war dann auch boshaft genug gewesen, bei der Abendtafel sich besorgt zu erkundigen, ob das Fräulein Braut auf der stürmischen Seefahrt sich auch nicht erkältet hätte und bald zurückkehren würde. So war das Ungeheure auch dem Baron und Kurt nicht verborgen geblieben. Noch vor der Nacht hatte Kurt in eigener Person sich bei Frau Marie eingefunden und freilich ihr keine Scene gemacht, sie aber durch seine schonungslosen schneidenden Bemerkungen nur tiefer verwundet, als wenn er seinen Zorn heftig ausgeströmt hätte.

Darüber war der armen kleinen Frau auch die zweite Nacht schlaflos vergangen. Daß sie an diesem zweiten Tage nicht das Geringste vom Hôtel aus vernommen hatte, konnte sie nicht beruhigen. Sie deutete es ganz richtig als die Stille vor dem Sturm. Du sollst sehen, Stina, klagte sie, sie verzeihen es dir nie, obwohl du selbst ganz unschuldig daran bist, und was dann werden soll –

Daß die Mutter sich genau desselben Ausdrucks bediente, den sie selbst gegen Wilm gebraucht, fiel Stina sogleich ein, jetzt aber war sie schon so gefaßt, daß sie am liebsten der tief Bekümmerten mit denselben Worten geantwortet hätte, mit denen Wilm sie getröstet hatte: auch ich hoffe, daß sie es nicht verzeihen werden, und das Übrige wollen wir dem lieben Gott überlassen.

Mit der Zeit beruhigte sich die Mutter, und das Glück, ihr Kind wieder zu haben, hob sie über alle Zukunftsängste hinweg. Sie drang aber darauf, daß Stina sich früh niederlegte, und als sie ihr noch eine gute Nacht ans Bett brachte und sie herzlich küßte, überwand sie ihr kummervolles Herz so weit, daß sie ihr tröstend zusprach und ihr gute Träume wünschte, da sie selbst Allem, was kommen würde, und müßte sie auch ihr Häuschen aufgeben, ohne Herzweh entgegensähe, wenn ihr Kind dadurch glücklich gemacht würde.

*

Diese zärtlichen Mutterworte hatten den Erfolg, daß Stina zum ersten Mal seit vielen Wochen unter hoffnungsvollen Gedanken, es werde wirklich noch Alles gut werden, einschlief. Da auch das Fenster dicht verhängt war, schlief sie nach den Erschütterungen der letzten Tage so fest, daß erst der helle Sonnenstreifen, der durch die angelehnte Thür hereinfiel, sie aufweckte, zugleich Stimmen aus dem Wohnzimmer, denen sie athemlos lauschte.

Du wirst wohl ahnen, liebe Marie, weshalb ich schon so früh gekommen bin, hörte sie die Baronin sagen. Es ist mir überaus schmerzlich, daß ich auf eine so liebe, langgehegte Hoffnung verzichten muß. Aber so gern ich, schon um deinetwillen, die Sache in einem milderen Licht ansähe, ich muß den Männern Recht geben, daß nach Allem, was geschehen ist, an eine Vertuschung und Beschönigung nicht gedacht werden kann. Mein Mann ist aufs Tiefste empört, Kurt ganz außer sich und mit Mühe zurückzuhalten, sofort auf Genugthuung zu dringen, und auch unser ehrwürdiger geistlicher Freund gesteht schweren Herzens, daß er im Irrthum gewesen sei, als er geglaubt habe, diese Ehe sei im Himmel geschlossen. Ich habe es deßhalb übernehmen müssen, dir die traurige Mittheilung zu machen, daß zwischen unseren Kindern Alles aus und abgethan ist.

Hierauf klang die schüchterne Stimme der Frau Marie, so leise, daß die Lauscherin ihre Worte nicht verstand.

Dann hörte sie die Baronin sagen: Nein, nein, du täuschest dich. Es war kein Zufall, es war ein schlau und dreist durchgeführter Plan, eine bewußte Tücke. Nicht von Seiten Stina's, der ich etwas so Schändliches nicht zutraue. Er aber hatte von vornherein die Absicht, Stina so zu compromittiren, daß Kurt, der auf die Ehre seines Namens halten muß und Offizier ist, sich gezwungen sähe, von der Verlobung zurückzutreten. Hätte sich's nicht so verhalten, so würden die Beiden nicht am hellen Tage und angesichts der ganzen Kurgesellschaft zu Wasser zurückgekehrt sein, sondern den Abend abgewartet und in Desenzano einen geschlossenen Wagen genommen haben, uns den offenbaren Affront zu ersparen. Nun sind wir auf die empfindlichste Weise vor allen Hausgenossen bloßgestellt, und wenn wir auch unverzüglich abreisen, die schadenfrohe Nachrede und die Glossen zu dem Streich, der meinem armen Jungen gespielt worden ist, werden uns lange verfolgen.

Wieder hörte Stina die Stimme der Mutter, diesmal lebhafter und dringender; was sie aber vorbrachte, wahrscheinlich wieder zur Rechtfertigung des Geschehenen, wurde scharf von der erbitterten früheren Freundin abgeschnitten.

Erspare dir alles Weitere! Die Sache ist endgültig abgethan, bis auf das, was mein Sohn sich vorbehält zu thun und woran ihn zu hindern ich machtlos bin. Du selbst aber sollst nicht weiter, als nun einmal unumgänglich ist, darunter zu leiden haben. Mein Mann läßt dir sagen, daß er auch jetzt noch sich dazu verstehen will, die Hypothek auf deinem Häuschen zu übernehmen. Noblesse oblige, sagt er, und die arme Frau, die ganz unschuldig ist, wird durch die Auflösung des Verlöbnisses schon genug bestraft. Nur wünscht er, dich nicht mehr zu sehen, und auch Pastor Brodersen empfiehlt sich dir sans adieu. Lebewohl! Begleite mich nicht. Ob ich Stina nicht noch selbst sprechen will? Nein. Es wäre mir allzu peinlich, und ich habe ihr auch nichts weiter zu sagen.

Die Thür nach dem Treppenflur wurde geöffnet und wieder geschlossen. Eine Weile war's still in dem Wohnzimmer bis auf das Klirren der Tassen, die eine leise Hand auf den Theetisch stellte.

Dann erschien Stina in ihrem Morgenkleide, mit ganz hellen Augen und einer leichten Röthe auf den Wangen, eilte auf die Mutter zu und umarmte sie. Ich habe Alles gehört, sagte sie, sei nicht mehr betrübt, Mutting. Es ist ja nun Alles wieder in Ordnung. Nur eine Zeile will ich noch gleich schreiben, und das Mädchen muß das Billet dann ins Hôtel bringen.

Sie setzte sich rasch an den kleinen Schreibtisch und warf ein paar Worte aufs Papier. Dann nahm sie Kurt's Verlobungsring, wickelte ihn in Seidenpapier und legte ihn in das Couvert, das sie sorgfältig versiegelte.

Sie sprachen dann, während sie frühstückten, nichts mehr über die Sache, die sie Beide beschäftigte. Als aber eine Stunde später der junge Baron gemeldet wurde, verließ die Mutter auf einen bittenden Wink Stina's das Zimmer, ließ jedoch ebenfalls die Thür nach dem Schlafzimmer nur leicht angelehnt.

Lieber Kurt, sagte Stina, als der elegante junge Herr mit einer steifen Verbeugung eintrat und ihr ein möglichst kaltes, fremdes Gesicht zeigte, ich weiß, wie du und die Deinigen über das Vorgefallene denken. Ich konnte es aber nicht übers Herz bringen, obwohl du selbst es zu wünschen schienst, ohne jeden Versuch einer freundlicheren letzten Verständigung dich für immer von mir gehen zu sehen. Ich will ganz ehrlich sein: obwohl ich ohne diesen Zwischenfall nie daran gedacht hätte, das Wort, das ich dir gegeben, zu brechen – nun es anders gekommen ist, beklage ich es nicht. Denn ich bin der festen Überzeugung, daß ich dich doch nicht hätte glücklich machen können, und daß auch du mich nicht so geliebt hast, wie es zu einer richtigen Ehe nötig ist.

Er machte eine Bewegung, wie wenn er sich feierlich gegen diesen Verdacht verwahren wollte. Sie ließ ihn aber nicht zu Worte kommen. Sie hatte ihn nicht einmal zum Sitzen aufgefordert, so sehr war sie von dem einen Gedanken erfüllt, der sie bewogen hatte, um seinen Besuch zu bitten.

Wenn ich glauben soll, fuhr sie mit etwas unsicherer Stimme fort, daß du mich dennoch lieber gehabt hast, als ich dir zutraute, so giebt es ein Mittel, mich besser als durch Betheuerungen davon zu überzeugen. Deine Mutter hat gegen die meine eine Andeutung gemacht, die uns nicht gerade überraschen konnte: du seiest entschlossen, für die »Ehrenkränkung«, die Wilm dir zugefügt, Genugthuung von ihm zu fordern. Ist das wirklich deine Absicht?

Er nickte mit gespielter Gleichgültigkeit und verzog die Lippen zu einem verächtlichen Lächeln, wie wenn sich's um eine Sache handle, die zu selbstverständlich sei, um viel Worte darüber zu machen.

Nun, lieber Kurt, fuhr sie in wachsender Erregung fort, wenn du mir beweisen willst, daß du mich überhaupt jemals wahrhaft geliebt hast, so mußt du mir dein feierliches Versprechen geben, auf diesen Vorsatz zu verzichten. Du weißt und zweifelst nicht daran, daß ich in diese verhängnißvolle Seefahrt ohne jede heimliche Absicht gewilligt habe, bloß weil ich den Aufruhr in mir durch den in der Natur zu beschwichtigen suchte. Nicht von fern dachte ich daran, was für Folgen dieser plötzliche Einfall haben könnte. Und nun wolltest du mich so furchtbar dafür büßen lassen? Mein Leben lang würde ich, wer auch von euch Beiden verwundet oder gar todt vom Kampfplatz getragen würde, eine Blutschuld auf dem Gewissen fühlen, wie wenn ich selbst die Thäterin wäre. Kannst du das einem Mädchen anthun, das deinem Herzen einmal nahe genug gestanden hat, um dich fürs Leben mit ihr verbinden zu wollen? Einem Mädchen, das durch jenen unüberlegten Einfall schon genug gestraft worden ist? Denn sage selbst, wie soll ich der Welt, die nur auf den Schein blickt, eine bessere Meinung von uns beibringen, den Verdacht von mir abwälzen, als wäre ich ein leichtsinniges, wankelmüthiges Ding, das sich nicht entblödet, an seinem Verlobungstage mit einem anderen guten Freunde auf und davon zu gehen? Das aber will ich gern hinnehmen, da ich mich schuldlos fühle und das Urtheil der Welt verachte. Wenn du aber der Leichtsinnigen, wofür man mich halten wird, erklärst, sie sei nicht mehr würdig, deine Frau zu werden – wie könnte da auf deiner Ehre nur der geringste Flecken bleiben? Ist es das erste Mal, daß eine Verlobung vom Bräutigam aufgelös't wird, weil die Braut sich etwas zu Schulden kommen ließ, was in den Augen der Welt unverzeihlich war?

Er schwieg immer noch und sah mit gerunzelter Stirn zu Boden. Da trat sie dicht an ihn heran, faßte seine Hand und sagte: Kurt, lieber Kurt, dein Vater hat an meiner Mutter gehandelt nach der alten adligen Devise: Noblesse oblige. Thue auch du danach! Dein adliges Blut kann sich nicht dagegen empören, daß du in dem, was sich hier ereignet hat, den Willen Gottes erkennst und dich ihm beugst, ohne einem Rachegedanken gegen Menschen Raum zu geben. Ich hätte dir niemals Treue gelobt, wenn ich nicht an den höheren inneren Adel in deiner Seele geglaubt hätte. Und so gieb mir nun das Wort, um das ich dich gebeten habe, und laß uns als Freunde scheiden.

Während sie dies alles sprach, ahnte sie freilich nicht, daß es ihm in seinem innersten Herzen keinen sonderlichen Kampf kostete, die Sache leicht zu nehmen, ja daß ihm nichts hätte willkommener sein können, als die Lösung eines Bündnisses, in das er nur mit halbem Widerstreben sich gefügt hatte. Gerade in diesen Tagen hatte er einen Brief von der Dame in Berlin erhalten, mit der er hatte brechen müssen, um seinen Eltern zu gehorchen. Nun war er ohne sein Zuthun wieder frei geworden, seine Schulden waren bezahlt, nichts stand seiner Rückkehr in das alte lustige Leben im Wege. Wenn er sich über den ihm angethanen »Affront« empört gezeigt und die Rolle eines tiefgekränkten Liebenden gespielt hatte, so war er doch heimlich seinem glücklichen Nebenbuhler eher dankbar, daß er ihm die Braut, die ihm je länger je weniger zusagte, noch bei Zeiten abspenstig gemacht und einen so gründlichen Vorwand, sich zurückzuziehen, verschafft hatte.

Warum sollte er ihm nun eine Kugel in die Brust schießen, wie er natürlich gethan haben würde, wenn er Stina wirklich geliebt hätte? Und der Verzicht auf dieses zweifelhafte Vergnügen wurde ihm noch als ein Beweis wahrhafter Liebe und echten Seelenadels angerechnet! So erhob er die Augen und sah Stina mit dem Ausdruck eines Menschen, der sich einen schweren Entschluß abgerungen hat, ins Gesicht, indem er lebhaft ihre Hand drückte.

Du sollst gesiegt haben, sagte er. Ce que femme veut, Dieu le veut. Ich reise heute noch ab; Papa will, daß ich den Dienst quittiren soll, sonst – so gern ich persönlich dir diesen Gefallen thäte, würde es damit seine Schwierigkeiten haben. Nun aber gebe ich dir mein Wort, daß die Geschichte für mich abgethan sein soll. Empfiehl mich deiner Mama, und – leb wohl!

Er beugte sich herab, ihre Hand an seine Lippen zu drücken, und ging rasch aus dem Zimmer.

*

Genau ein Jahr nach diesen stürmischen Abenteuern wurde in dem Häuschen an der Ostsee, das die Frau Majorin mit ihrer Tochter bewohnte, eine fröhliche Hochzeit gefeiert.

Der Doctor Wilm Lornsen hatte in der Mitte des Sommers sein Staatsexamen glänzend bestanden und sich nicht nur an der Kieler Universität als Privatdocent habilitirt, sondern auch durch die Gunst, in der er bei seinem alten Geheimrath stand, es zu einer für seine Jugend sehr ansehnlichen Praxis gebracht, so daß er mit einigem Leichtmuth, an dem es ihm ja, wie wir gesehen haben, überhaupt nicht fehlte, wohl daran denken konnte, sich einen eigenen Hausstand zu gründen.

Tante Marie hatte denn auch mit ihrer Einwilligung nicht gezögert, schon um ihr Kind daran zu hindern, die frische Farbe ihrer Wangen, die sich so erfreulich wieder eingestellt hatte, in einer dumpfen Schulstube zu verlieren, wenn sie sich um eine Anstellung als Lehrerin bemüht hätte. So ergab sie sich auch ohne Murren in die Trennung, da das junge Paar in der Nachbarschaft blieb und leicht zu erreichen war.

Wieder an Stina's Geburtstag sollte die Feier, jetzt der Trauung, stattfinden. Das kleine Haus war zwar nicht mit einem Rosenflor geschmückt, wie man ihn in Gardone verschwenderisch über Tisch und Wände gestreut hatte, aber das Gärtchen hatte Alles, was es an Frühlingsblüten ausbringen konnte, zur Zierde der unteren Zimmer hergegeben, und auf der Hochzeitstafel stand in einer herrlichen Krystallvase doch auch ein großer Rosenstrauß, den Wilm's Trauzeuge, ein junger College von der Kieler Universität, zum Feste beigesteuert hatte.

Der Kreis der Gäste war nur klein, nicht zahlreicher als bei dem Verlobungsessen am Ufer des Gardasees. Aber wenn auch die Herrschaften im Schlößchen droben sich einer Einladung aus guten Gründen entzogen hatten durch eine Reise nach Berlin, und auch der Herr Pastor sich hatte entschuldigen lassen, so wurde das doch reichlich aufgewogen durch das Erscheinen der beiden Brautjungfern, die von weit her kamen, um das Hochzeitsfest durch ihre Gegenwart zu verherrlichen: die beiden »Malweibchen« Otti und Hilde.

Sie hatten die Gelegenheit, einmal nordische Menschen und Gegenden kennen zu lernen, gern ergriffen, das Reisegeld eilig durch ein paar »Kitsch«-Bildchen ermalt und die Einladung der Brautmutter angenommen, während der ersten Wochen nach der Abreise des jungen Paars in ihrem Häuschen Gastfreundschaft zu genießen. Es sei hier die beste Gelegenheit, Strand- und Seestudien zu machen, und auch an einigen edlen Exemplaren der holsteinischen Race werde es für das schönheitsdurstige Auge Fräulein Hilde's nicht fehlen.

So waren sie denn ein paar Tage vor der Hochzeit angekommen und hatten neben ihrem mäßigen Reisegepäck eine große Kiste mitgebracht, aus der sie ihre Brautgeschenke auspackten, zwei ziemlich umfangreiche Gemälde, die über den Sommer entstanden waren. Das eine, von Hilde's Hand, stellte den Cvpressenhain um den runden Wiesenplan dar, aber nicht in der düsteren Beleuchtung wie an jenem Sturmtage, sondern unter einem echt südlichen, tiefblauen Himmel. Unten im Vordergrunde sah man eine reizende Gruppe in der feierlichen Haltung des Brautpaars auf Raffael's Sposalizio, nur freilich nicht in so idealen Gewändern wie dort, doch immerhin festlich geschmückt, zur Linken Doctor Wilm, ein Sträußchen von Rosen und Myrten im Knopfloch, ihm gegenüber Jungfrau Stina mit Myrtenkranz und Schleier, sehr holdselig und von Glück strahlend, zwischen ihnen aber statt des Bischofs, der auf Raffael's Bild die Hände des Joseph und der Maria zusammengiebt, einen ehrwürdigen Alten mit dem mildesten Heiligengesicht und einem breiten Goldschein ums Haupt, an dessen Rand winzig klein aber lesbar genug San Vigilio geschrieben stand.

Fräulein Otti's Bild stellte ein sehr sorgfältig ausgeführtes Stillleben dar: auf einem weißgedeckten Tischchen eine flache Schüssel, in der ein paar Stücke Thunfisch in Öl schwammen, ein Teller mit Salami, ein anderer mit Maccaroni, dazwischen schmale Scheibchen Polenta und in der Mitte ein strohbauchiges Fiasco mit rothem Wein.

Diese ländlich-sittliche Tafel war aber mit den schönsten Blumen geziert, und an der Wand dahinter sah man einige Skizzen angeheftet, den Lockenkopf des kleinen Agostino, Landschaftsstudien und rechts und links die Porträts der beiden Freundinnen. Bei dem ihren hatte Otti ihrem Hang zum Karikiren reichlich die Zügel schießen lassen.

Wie großen Jubel diese Bilder erregten und ein Wiederaufleben aller großen und kleinen Erinnerungen veranlaßten, kann man leicht denken, und es zeigte sich wieder einmal, daß nur ein paar Tage, unter denkwürdigen Umständen verlebt, hinreichen, um eine Freundschaft zu knüpfen, die Jahre überdauert.

Zuletzt sollten diese fremden Brautjungfern dem jungen Paar noch einen besonderen Freundschaftsdienst leisten.

Die Hochzeitsgesellschaft war in zwei Kutschen nach der Hauptkirche gefahren, wo unter großem Zulauf des ganzen Städtchens die Trauung stattfinden sollte. Um sich nicht durch die Menge drängen zu müssen, die das weite Schiff Kopf an Kopf gefüllt hatte, war man vor der Thür der Sacristei ausgestiegen und trat durch diese ein, wo Pastor Elias Brodersen schon im Ornat wartete.

Er hatte keine so milde, gütige Miene, wie der heilige Vigilius, sondern da er immer noch das Scheitern seiner Ehevermittlung nicht ganz verschmerzt hatte, sah er die Braut mit einem strengen Blick wie ein unnachsichtiger Richter an und fragte, da sie ihm gegenüberstehend die Augen züchtig niederschlug, indem er auf das Myrtenkrönlein in ihrem braunen Haar deutete: Kannst du, meine Tochter, mit gutem Gewissen versichern, daß du würdig bist, diesen hochzeitlichen Schmuck vor dem Altare des Herrn zu tragen?

Auf diese eifernden Worte entstand ein paar Minuten lang eine so tödtliche Stille in dem kleinen Raum, daß die betroffenen Hochzeiter ihre Herzen pochen hörten. Eben wollte der Bräutigam die Lippen zu einer scharfen Erwiderung öffnen, da trat Fräulein Otti unerschrocken vor und sagte, dem Pastor gerade ins Gesicht blickend: Verzeihen's, Hochwürden, diese Frage hätten's nicht zu stellen brauchen. Da Sie, wie uns Stina gesagt hat, die Braut getauft und eingesegnet haben, hätten's wissen können, daß kein Engel so rein ist, wie dieses liebe Mädel. Wenn Sie aber denken sollten, es sei damals, als sie ein paar Tage auf der Punta di San Vigilio mit ihrem Liebsten durch den Sturm gefangen gehalten wurde, nicht ganz ehrbar zugegangen, so können wir, meine Freundin und ich, Zeugniß für sie ablegen. Denn in all der Zeit sind wir ihr nicht von der Seite gewichen, und es hat uns selbst gewundert, daß die zwei verliebten Leuteln sich nicht ein einziges Mal auch nur ein Busserl gegeben haben!

In diesem Augenblick öffnete der Küster die Pforte, die ins Innere der Kirche führte, die Orgel drinnen stimmte den Choral an, und der Brautzug, den etwas verdutzten Pastor an der Spitze, setzte sich ohne weiteren Aufenthalt in Bewegung.


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