Elisabeth von Heyking
Tagebücher aus vier Weltteilen
Elisabeth von Heyking

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China I (Peking)

April 1896 bis September 1897

13. April. Edmund ging aufs Amt, um marokkanische Akten zu studieren, und er war eben fort, als Mumm sich melden ließ, was mir so am frühen Morgen sehr seltsam war. Er trat ein und als ich ihn frug, wie es ihm ginge, sagte er mit seltsamer Betonung: »Sehr gut!« und dann gleich: »Was geben Sie mir, wenn ich Ihnen einen andern Posten bringe?« – Ich war ganz verdattert und konnte kaum fragen: »Welchen?« »Peking!« Es scheint, daß Schenk eine neue Dummheit losgelassen hat, über die sich Marschall heut furchtbar geärgert hat, so daß er zu Holstein und Mumm ganz wütend hereinkam und gesagt hat: »Nein, nun sehe ich selbst, daß der fort muß«. (Holstein soll sich darob gefreut haben, weil er im Gegensatz zu Marschall Schenk nie gewertet hat.) Nun war die Frage gleich, »wen hinschicken?« Mumm sagte sofort: »Heyking«, aber Marschall scheint anfänglich gemeint zu haben, wir würden nicht hinwollen; als ihm aber Mumm sagte, er glaube doch, war er sofort dafür. Die einzige Angst, die sie gehabt, scheint gewesen zu sein, Edmund könne da zu aktiv vorgehen wollen, aber sie meinten schließlich, da es ja nur finanzielle Fragen seien, in denen etwas zu erreichen wäre, so schade das ja nichts. Mumm wurde dann abgesandt, bei uns anzufragen, und ich sagte gleich, ich sei dafür und glaubte, Edmund würde es auch sein. Mumm erzählte noch, man habe im Auswärtigen Amt eine gewisse Angst vor Edmund, weil seine letzten Berichte so sehr antienglisch gewesen seien und man von ihm fürchte, er würde eigene Politik treiben. Ich mußte an Stumms Ausspruch denken: »Wenn einer in den Verdacht kommt, etwas leisten zu wollen, so wird er kaltgestellt.« Übrigens kann Edmund höchstens gegen Holsteins Ideen gehandelt haben, Marschall und der Kaiser haben ihn stets gelobt und »so fortzufahren« aufgefordert. Erst am Nachmittag kam Edmund vom Amt zurück und, gottlob, mit dem Wechsel in seinen Aussichten sehr zufrieden. In welch einen Knäuel von Eifersuchten, Mißtrauen, Intrigen und Strebereien hat er aber da hineingeschaut!

15. April. Wir besuchten Onkel Grimm und sprachen ihm von Peking. Die Schwierigkeit wegen der Kinder sah er ein, im übrigen aber meinte er, es sei doch der Unterschied von Tanger nach Peking, als ob man aus einem Zweispänner in einen Vierspänner käme. Ich finde: aus einem Einspänner in einen Zweispänner charakterisiert die Lage besser.

20. April. Wir dinierten bei Mumm, wo Rotenhans Geburtstag gefeiert wurde. Dieser sagte mir, er habe unsre Peking-Idee anfangs nicht begriffen, aber für einen ehrgeizigen Menschen sei es der richtige Posten, denn man sei so unabhängig dort, und könne tun, was man wolle, weil der Posten von hier aus eben nicht zu kontrollieren sei. Er meinte, die Aufgabe würde eben sein, so zu manövrieren und zu berichten, daß man das Auswärtige Amt mit sich zöge. Als Ort muß es wohl ganz entsetzlich sein und manchmal wird man von argen misgivings erfaßt; wie schön müssen doch die Leben sein, in denen das Recht immer ganz klar erscheint, – mir kommt es viel schwerer vor, das Richtige zu erkennen, als es nachher zu tun!

21. April. Edmund ging zu Herrn von Hanneken, der lange als Militärreformator in China gewesen ist, und kam von da zurück voll Begeisterung für all die Aufgaben, die man dort finden würde. Ich war ganz glücklich, daß Edmund so enthusiasmiert für die Sache geworden ist.

26. April. Die Ungewißheit, in der wir leben, ist sehr aufreibend. Nun muß S. M. morgen zurückkommen, und es ist noch gar nicht sicher, was ihm eigentlich vorgetragen werden soll. Holstein möchte uns nach Peking, Winkler nach Marokko und Schenk nach Mexiko. Marschall dagegen hat immer noch eine gewisse Kommilitonenzärtlichkeit für Schenk und will ihn nach Marokko bringen; Holstein soll nun schon Versuche machen, Marschall die Angelegenheit aus den Händen zu spielen und sie in seinem Sinn vom Reichskanzler bei S. M. vortragen zu lassen. Der Gedanke, je im Auswärtigen Amt zu sein, wäre mir furchtbar!

30. April. Edmund war morgens noch beim Baden, als ein Diener vom Auswärtigen Amt kam mit einem Briefchen von Marschall, daß S. M. die Versetzung nach Peking genehmigt habe; es solle aber noch ganz geheim gehalten werden. Edmund war strahlend, und ich gönnte es ihm sehr nach diesen 5 Monaten der Aufregungen und des innerlichen Gekränktseins.

1. Mai. Dieser Arbeiterfeiertag ist auch für uns einer, denn wir haben doch sehr die Empfindung des Feierns und daß eine große Sorge von uns genommen ist. Das war mir immer so schrecklich an Tanger, daß ich mir sagte, der Dümmste könnte das auch noch! Edmund sieht vorläufig, glaube ich, nur die guten Seiten, das Schwere dabei habe ich schon jetzt mehr wie er realisiert. So hoffe ich, es innerlich überwunden zu haben, wenn es ihm am fühlbarsten wird, und ihn dann trösten zu können. Die Kinder sind die Hauptsorge, aber auch ihnen wird ja das, was wir uns auferlegen, zugute kommen. Wir besuchten Onkel Grimm, nachdem Edmund vorher bei Pourtalès gewesen, der ihm sagte, Peking sei nach den Botschaften bei weitem der wichtigste Posten. Onkel Grimm war voll geistreicher Aperçus über die Sache. Sehr interessant war es, ihn über S. M. reden zu hören; er erklärt ihn durch die Koburgsche Abkunft, bei denen alles auf das Rhetorische basiert sei, und durch den Vater, der, wenn er sich im Traum gesehen, immer mit der Hand auf der Hüfte in Rednerpositur dagestanden sei. – – Ich fühlte mich so elend, daß ich mich nach Hause und zu Bett begeben mußte. Manchmal ergreift mich eine große Angst, wie ich die Jahre in Peking gesundheitlich aushalten werde. Aber ich sage mir dann: à la grace de Dieu! Edmund ist jetzt über den Berg, und ich bin sehr müde.

6. Mai. Edmund arbeitet im Auswärtigen Amt in chinesischen Akten und hat den Eindruck, daß so vieles, das für Deutschland dort hätte errungen werden können, an Holsteins Nervosität gescheitert ist. Er geht dem aus dem Wege, sich mal entscheiden zu müssen, darum treiben wir diese ziellose Tâtonnementpolitik. Nach Tisch wurde Edmund aus dem Auswärtigen Amt seine Ernennung gebracht, und zu unserm nicht geringen Schrecken stand darin, wir sollten womöglich in 14 Tagen abreisen.

7. Mai. Edmund war gleich im Auswärtigen Amt, aber Holstein ist ganz verrannt auf dem Punkt, wir sollen durchaus schnell fort. Damit schwindet die Möglichkeit Li hung chang zu sehen, der nach den Moskauer Krönungsfesten hierherkommt, worauf Edmund so großes Gewicht gelegt hat; für seine Informationen behält Edmund gar keine Zeit, das Zusammensein mit seinen Eltern und den Kindern wird uns sehr verkürzt, und all unsre Vorbereitungen praktischer Art sind kaum zu bewältigen. Die Unkenntnis der Auswärtigen Amt-Leute in praktischen Dingen zeigt sich mal wieder so recht, als Herr Klehmet zu Edmund äußerte: »Sie brauchen in Peking doch keine andern Kleider als in Kairo!« und Holstein sagte, es käme ihm besonders darauf an, daß Edmund in Peking sei, wenn Li hung chang herkäme – auch wenn wir flögen, ist das nicht mehr möglich. Marschall ist die Geschichte ziemlich einerlei, aber er ist so von Holstein terrorisiert, daß er auch ganz in seinem Sinne sprach. Die Aufregung über die schnelle Abreise, die Geldaffären, über die wir diese Tage viel nachgedacht haben, bringen uns ganz herunter. Wir sind zu dem Entschluß gekommen, da wir nun so weit fortgehen, unser Geld aus Chile wegzunehmen, das bedeutet aber den definitiven Verlust von 3/4 unsres Vermögens.

15. Mai. Ich lernte Frau von Lebbin kennen, was schon lange mein Wunsch war. Sie ist eine Vertraute von Holstein, Hohenlohe, Caprivi, Radolin usw., kennt Gott und die Welt und soll viel Einfluß haben. Wenn auch keinen distinguierten, so macht sie doch entschieden einen praktisch-klugen Eindruck; man hat die Empfindung, jemand vor sich zu haben, qui saurait toujours tomber sur ses quatre pattes. Sie wohnt in der Wilhelmstraße in einer kleinen Hofparterrewohnung, zu welcher man durch einen scheußlichen kleinen Eingang gelangt; ist man aber erst da, so ist es in den zwei winzigen Zimmerchen höchst behaglich, man sieht auf ein kleines Berliner Hintergärtchen, ist fern von allem Lärm und dabei doch à deux pas des Auswärtigen Amts. Frau von Lebbin sagte mir die liebenswürdigsten Dinge über alles, was sie von mir gehört habe. Wir sprachen auch lange über Peking, über das sie sehr orientiert ist, da Brandt ihr Onkel ist, und sie ja außerdem durch Holstein alles erfährt. Es war ein sehr interessanter Besuch.

24. Mai. Als wir am Pfingstsonntag nach dem Tee alle zusammen saßen, kam ein Telegramm, Edmund solle den nächsten Morgen um 11 Uhr nach Potsdam kommen zu S. M.

25. Mai. Ich holte Edmund abends von der Bahn ab. Er war sehr zufrieden von seinem Tag. Er war von S. M., wie bei unsrer Rückkehr von Indien, zum Schrippenfest des Lehrbataillons eingeladen worden, ziemlich als einziger Zivilist. Während des Déjeuners saß er neben Senden-Bibran,Gustav Freiherr von Senden-Bibran, Generaladjutant des Kaisers, Chef des Marinekabinetts. mit dem er lange über China sprach, und der auch so sehr fand, daß es am richtigen Schneid im Auswärtigen Amt fehle, und daß wir entschieden in China etwas haben müßten. Der Kaiser sei ganz dafür. Edmund erkannte mal wieder, wie sehr das Auswärtige Amt (siehe Holstein) dem Kaiser immer in den Arm fällt und dann die eigne Nervosität und Unschlüssigkeit ihm zur Last legt. Nach dem Lunch sprach S. M. lange mit Edmund und fing gleich an: »Na, Heyking, ich habe Sie für China ausgesucht, Schenk hat uns dort auf gut hessisch in den Dreck geritten, während wir unter Brandt die erste Stellung hatten, das muß wieder so werden. Sie haben an jedem Posten gezeigt, was Sie konnten, tun Sie es jetzt wieder.« Die Hauptaufgabe sieht der Kaiser darin, daß China möglichst viel Schiffe usw. bei uns bestellt, und daß wir durch deutsche Offiziere die Militärreform in die Hände bekommen. Hierzu schickt er den Major Liebert hinaus, den er Edmund besonders empfahl. Als Edmund sagte, er hoffe, er solle dort eine Flottenstation zu erhalten suchen, sagte S. M.: »Gewiß« und er ließe ihm dazu auch seine besten Schiffe dort. Er habe dem Admiral Tirpitz, der sein persönlicher Freund sei, gesagt, er würde ihm einen guten Gesandten schicken, mit dem er sich über alles verständigen solle. Edmund schlug Amoy vor und S. M. war damit einverstanden.

30. Mai. Wir machten den ganzen Tag in Berlin Abschiedsbesuche. Bei Onkel Grimm war es mir sehr wehmütig, aber sein Geist und Witz helfen darüber hinweg. Er riet Edmund, sich in China ganz ehrlich auf den Ehrgeizigen auszuspielen, der einen succès personel haben will, und das auch ganz ruhig Cassini gegenüber auszusprechen. Wir dinierten mit den Kindern, als sich Schiemann melden ließ und uns erzählte, daß Holstein gegen Edmund irritiert sei; er sage, er habe seine Politik in Ägypten konterkarriert und sei ihm jetzt vom Kaiser aufgedrängt worden. Wir hatten ja schon gefühlt, daß Ähnliches in der Luft liege, waren aber doch sehr starr. Wir sprachen die halbe Nacht darüber. Einen wirklichen Kampf mit Holstein müssen wir zu vermeiden suchen, aber wir müssen uns attaches sichern, wodurch wir direkt zu S. M. gelangen können, wenn mal etwas wirklich Ernstes vorliegt.

1. Juni. Edmund lunchte beim Reichskanzler und kam sehr befriedigt zurück. Er meint, der Reichskanzler stehe entschieden über den Holsteinschen Nervositäten, wolle etwas in China, sei russenfreundlich und habe ihn aufgefordert, sich in wichtigen Fällen an ihn direkt zu wenden.

2. Juni. Abends im Hotel Bellevue bei Edmunds Eltern mit den Kindern. Lange zusammen auf dem Balkon gestanden und auf den Platz hinausgeschaut. Es war recht traurig, dieser letzte Abend.

3. Juni. Belowchen kam mit Güntherchen, der ganz ahnungslos heiter ist, während die beiden Großen sehr traurig waren. Am Abend zuvor waren sie beide in meinem Bett eingeschlafen, Teddie ganz verweint, während Stephaniechen so rührend brav ist und uns immer aufzuheitern sucht. Das liebe Kind! Der Abschied auf dem Lehrter Bahnhof war gräßlich und nicht zum wenigsten traurig als Güntherchen rief: »Wir sehen uns ja alle zu den großen Ferien wieder!« Sie gingen uns alle nach, solange sie konnten. Die lieben drei Gesichtchen, wann werde ich sie wiedersehen? Gott behüte und bewahre sie! – –

Die Reise war heiß und rasend staubig. Einmal hielt der Zug mitten im Wald, und wir hörten den Kuckuck. Es klang so friedlich. Wer doch unter den Bäumen im kühlen Schatten ruhen könnte! –

4. Juni. Die »Augusta Victoria« ist ein wunderbar schönes Schiff. Die Bedienung ist tadellos, das Essen vortrefflich, wir haben zwei herrliche Kabinen. Es war eine wirkliche Wonne, abgefahren und aus aller Hetze und Quälerei heraus zu sein. Ich atmete förmlich auf, es war, als begänne ein neues Leben.

5. Juni. Bei schönstem Wetter an der englischen Küste entlang gefahren. Mittags in Southampton. Dicht vor unserm Halteplatz lag ein schönes Landhaus, halb versteckt in grünen Bäumen. Bei aller Freude und allem Stolz, zu denen zu gehören, die hinausziehen ins wahre Leben, empfindet man doch eine große Sehnsucht beim Anblick solch eines Fleckchens Erde, wo es sich so leicht glücklich sein ließe. Aber das sind die Träume derjenigen, die in den Schiffen hinausfahren, und vielleicht haben die, welche die Schiffe vorbeifahren sehen, auch ihre Träume, und alles kennen und verstehen, heißt: alles bemitleiden.

8. Juni. Sehr schönes Wetter, bei dem man in der köstlichen Luft so recht la joie de vivre empfindet.

9. und 10. Juni hatten wir dichten Nebel, was mir das Entsetzlichste zur See ist. Das unheimliche Nebelhorn tönte ohne Unterlaß alle Minuten, und es klang wie ein Ungeheuer, das vor Entsetzen im Dunkel heult. Alle Türen, welche das Schiff in wasserdichte Kompartimente teilen, waren geschlossen, und man hatte das beruhigende und doch so unheimliche Gefühl, to be prepared for the worst. The worst wäre in diesem Fall Begegnung mit Schiffen oder mit Eisbergen, die um diese Jahreszeit von den nordischen Eisfeldern herabtreiben. Wirklich begegneten wir am Nachmittag des 10. einem solchen Koloß, von dem der Kapitän meinte, daß er an 2000 Fuß hoch sein müsse.

12. Juni. Gegen Mittag sahen wir zuerst Land und hatten dann eine wundervolle Einfahrt. Zuerst an den Inseln vorbei, wobei wir recht an unsern damaligen Aufenthalt in Longbranch dachten, zwischen Massen von Segelbooten hindurch, an den weißen amerikanischen Kriegsschiffen vorüber und dann an der Freiheitsstatue vorbei, die wir noch nicht kannten und die sich recht großartig ausnimmt. Hier kamen die amerikanischen Zollbeamten an Bord, frugen sofort nach Edmund, ließen ihn keinerlei Deklaration machen, sondern behandelten ihn ganz als reisenden König. Dies und so manches andere, und vor allem die eigne Stimmung, war so recht anders, wie vor 11 Jahren, als wir so forlorn da ankamen, und während wir an den riesigen Gebäuden vorbeifuhren, die jetzt bis 20 Stockwerke hoch sind, sagten wir uns beide, es hat sich doch gelohnt auszuhalten.

13. Juni. Abends fuhren wir von New York ab. Wir hatten das drawing-room in einem sehr eleganten Waggon und waren most comfortable. Sehr hübsch war die Fahrt den Hudson entlang, auf dessen stillen Wassern eine Menge kleiner weißer Segelyachten schaukelten. An den Ufern lagen hübsche Landhäuser, und wir hatten beide den Gedanken, daß es sich in Amerika wohl leben lassen würde.

14. Juni. Morgens früh über die große Brücke über den St. Lawrence-Strom nach Montreal. Dort machten wir eine große Ausfahrt auf einen bewaldeten Hügel, von dem aus wir einen sehr schönen Blick auf die Stadt mit ihren vielen Alleen hatten, auf den großen Strom und das weite grüne Land. Ich hatte nicht erwartet, daß Montreal so schön sein würde.

15. Juni. Ganz früh abgedampft in einem Waggon, dessen Delabriertheit der Canadian-Pacific nicht eben Ehre machte. Mittags in Ottawa, dessen große Parlamentsgebäude sich von der Bahn aus sehr gut machen. Gegen Abend ward die Gegend immer hübscher; wir kamen durch große Wälder mit einzelnen Blockhäusersettlements und an zahllosen Bächen und Seen vorbei. Diese Seen mit ihren waldigen Ufern sind entzückend, voll reizender Inseln und Inselchen. Auf beiden Seiten der Bahn sieht man beständig große Wasserflächen mit zackigen Landzungen, die sich wie Dekorationen verschieben.

16. Juni. Den ganzen Vormittag dieselbe Gegend, die am meisten an ein flacheres, in die Unendlichkeit ausgedehntes Norwegen erinnert. Ein See folgt auf den andern, und man hat die Empfindung von etwas unendlich Großem, unendlich Hübschem und unendlich Monotonem. Steht der Zug einmal still, so hört man die Vögel in den Wäldern singen. An Blumen blaue Iris und rote Lilien, aber der Gesamteindruck ist nur immer Wasser, Felsen, dünne Tannen, und wieder dünne Tannen, Felsen, Wasser. Nachmittags kamen wir an den Lake Superior, der groß und im Nebel verschwindend wie ein wahres Meer erscheint. In kühnen Bogen auf allerhand seltsamen Holzbrücken folgten wir seinen reizend gegliederten und inselbesäten Buchten. Plötzlich hieß es, wir würden um fünf aussteigen müssen, es sei ein großes Unglück auf der Bahn geschehen, und wir würden jenseits der Stelle einen andern Zug besteigen müssen. Um 5 Uhr hielt dann der Zug an einem steilen Abhang über dem See, auf den wir einen so schönen Blick hatten, daß ich ihn schnell skizzierte. Außer unserm Waggon bestand der Zug aus Wagen für Einwandrer und Chinesen, und diese wurden zuerst herübergebracht. Dann begann unser Umzug. Wir mußten dazu durch den ganzen Zug durch, bei hübschen Chinesinnen und stinkenden Chinesen vorbei, und daß dieser Geruch, den wir nun jahrelang riechen sollen, uns schon hier im kanadischen Urwald begrüßte, war wirklich de trop. Wir profitierten bei dem Tausch, da wir eine viel bessere Kabine bekamen, aber mußten 5 Stunden auf das Gepäck warten. Am erfreutesten schienen darüber die kanadischen Moskitos zu sein, die sich in Myriaden auf uns stürzten, aber so wenig von menschlicher Bosheit wissen, daß sie sich anfassen ließen, ohne davonzufliegen. Ebenso zutraulich waren eine Art Wiesel, die ganz dicht an uns heranliefen, – so müssen die Tiere im Paradies gewesen sein. Gegen 10 Uhr setzte sich unser Zug in Bewegung, und zwar war es noch vollkommen hell. Diese uns ungewohnten langen nordischen Tage haben ihren großen Charme.

17. Juni. Gegen Mittag wurde die Gegend immer flacher, bis wir allmählich in die eigentliche Prärie kamen; aber eine Prärie, die in dieser Jahreszeit voll wilder Blumen ist, besonders viel weiße Anemonen, die mich recht heimatlich an Karlsruhe erinnerten. Der Boden ist zum Teil sehr gut, und so sieht man, im Gegensatz zu den vorhergehenden Strecken, viel einfache Häuschen von Settlern, die Ackerbau betreiben oder auch Viehzucht. Abends kamen wir nach Winnipeg, einer sehr aufblühenden Stadt, aber mit jenem far westlichen entsetzlich trostlosen Aussehen des Provisorischen. Scheußliche Plankenhäuser, denen man ansieht, daß sie möglichst rasch zusammengenagelt sind, und zwar nicht, um irgendein behagliches home, sondern nur um die notwendige Unterkunft zu bilden für Leute, die nur den einen Gedanken haben, to make money, and to make it quickly. In den Straßen fahren elektrische Bahnen, es brennt elektrisches Licht, und man sieht die unvermeidlichen Bicyclereiter. Das alles in diesem Rahmen macht das Bild noch trauriger, denn man denkt unwillkürlich an die europäischen Orte, wo man zuletzt elektrisches Licht, Bahnen und Bicycles gesehn hat, und wo eben alles zueinander paßte und nicht höchste Zivilisation neben größter Primitivität stand. Merkwürdig waren uns einige ganz entsetzlich aussehende Indianer, die auf den Bahnhof kamen, und neben denen die Räuber in Fra Diavolo salonfähige Gentlemen wären.

20. Juni. In Banff ausgestiegen. Herrlich erholende Nacht in einem Bett, das weder schwankt noch schüttelt. Morgens mit dem dankbaren Gefühl erwacht, all diese schönen fernen Länder zu sehen. Nachmittags eine hübsche Fahrt mit Kapitän Harper nach Devils lake, ein tiefblauer See klarsten Wassers, von hohen Felsen umgeben. Kapitän Harper erzählte recht interessant von den Indianern, für die die Regierung mit Geld und Proviant sorgt und auch Schulen errichtet hat. Sehr merkwürdig sollen ihre Versammlungen sein, auf denen die alten Warriors sich all ihrer Morde und Diebstähle unter lautem Beifall rühmen, und die jungen Männer sich große Wunden beibringen, um auch als Krieger aufgenommen zu werden ... In den Zeitungen haben wir viel gelesen über Li hung changs Besuch beim Kaiser. Der Wahnsinn, Edmund gerade 14 Tage vorher fortgeschickt zu haben, saut aux yeux, und das Warum ist mir ganz unerfindlich. Holstein allein hat das gemacht, but why? aber tant qu'on n'est pas le plus fort, muß man sich halt fügen.

21. Juni. Morgens in aller Frühe abgereist und gleich in die wunderbarste Gebirgsszenerie gekommen. Besonders schön das Kicking Horse Canyon, eine enge Schlucht, in deren Tiefe ein Fluß braust, während der Weg der Eisenbahn in schwindelnder Höhe aus dem Felsen herausgehauen ist. Wir kamen zuerst durch die Rocky Mountains, dann durch die Selkirks, welche noch wilder und großartiger sind. Manchmal ist man ganz umgeben von Gletschern und Schneefeldern, und dabei ist der Weg so eng und die Berge verschieben sich so sehr ineinander, daß man nicht begreift, wie sich die Bahn je wieder herausfinden wird. Sehr schade ist, daß so viele Wälder durch Waldbrände zerstört worden sind, wo sie aber noch stehen, staunt man über die Höhe der mächtigen Stämme.

Am 22. Juni war ich wieder um 5 Uhr auf, um Ausschau zu halten. Wir waren noch immer in wilder Gebirgsgegend und folgten nun den Thompson- und Fraserflüssen; allmählich ward die Gegend flacher und zahmer, und auf die riesigen undurchdringlichen Wälder folgen Wiesen und Dörfer, in denen man viele Chinesen sieht. Um 1 Uhr kamen wir in Vancouver an. Der Zug fährt bis dicht an die »Empress of Japan«, welche weiß und reinlich auf dem silbergrauen Wasser liegt und recht nach einem Kriegsschiff»Die ›Empress of Japan‹ gefällt uns gut – die lieben Engländer haben sich nämlich hier eine Dampferlinie nach Japan und China eingerichtet, deren Schiffe eigentlich verkappte Kreuzer sind. Die Schiffe sind für den Kriegsfall gebaut und die ernstere Bewaffnung liegt fertig in Vancouver. Die Kapitäne sind Marineoffiziere der Reserve.« Edmund von Heyking an seinen Vater. 22. Juni 1896. aussieht. Wir gingen sofort an Bord und fuhren auch sogleich ab. Das Wetter ist nicht mehr so blau und sonnig wie gestern, und alles scheint in ein silbriges Licht getaucht.

23. Juni. Morgens bewegte See, so daß alle Welt elend war. Edmund und ich halten uns aber tapfer und sind von dem Schiff sehr entzückt und von der netten chinesischen Bedienung. Sie sehen alle sehr reinlich aus in ihren weißen Kleidern und bedienen ganz geräuschlos auf ihren dicksohligen Schuhen. Manche haben einen merkwürdigen, wehmütigen Zug um den Mund, wie bleichsüchtige Mädchen, und als hätten sie einen gewissen traurigen Humor.

24. bis 28. Juni mehr oder minder bewegtes Wasser und viel Nebel, so daß wir am 28. Juni an den Alëuten vorbeikamen, ohne sie zu sehen. Dies ist der Tag, an dem wir den 180. Meridian überfahren und einen Tag verlieren. Morgens war Gottesdienst bei beständigem Nebelhorn, was die Sache nicht verständlicher machte. Wir gingen hin, weil Edmund meinte, es sei eine Höflichkeit. Als solche ließ ich es gelten. Als Erbauung weniger. Der Kapitän hielt den Gottesdienst, obschon ein englischer Bischof und ein Missionar an Bord sind. Der Bischof ist beständig seekrank und die Frau Bischofin fängt alle Konversationen mit der Frage an: »Are you going out as a missionary?« Der Missionar ist klein, dick, blond, fett und schwitzig, seine Frau ist dito, und sie haben vier kleine, dicke, fette und schwitzige Kinder von 4, 3, 2 und 1 Jahr. Da die Chinesen auch ohne Christentum so viele Kinder zustande bringen, daß sie einen Teil davon wieder ersäufen, wird diese Leistung allein sie wohl nicht bekehren! Wie solch ein dicker Mann, der es sich mit seinem dicken Weibe wohl sein läßt und vier dicke Kinder zeugt, andre bekehren will, die auch nichts Besseres und nichts Schlechteres tun, ist mir unverständlich. Da lob ich mir doch noch einen mageren asketischen Jesuiten. –

4. Juli. Zum erstenmal Japan gesehen. Dunkelgraue Inseln in einem silbrigen Meer, auf das durch Regenwolken die Sonne mondlichtartige Strahlen warf. Dazwischen viele phantastische Dschunken. Ich skizzierte die Insel Kukiwasan. Den ganzen Nachmittag fuhren wir zwischen Trümmern von Häusern, die auf dem Meere trieben.

5. Juli. Von morgens früh ab war ich auf der Brücke des Kapitäns, um die Einfahrt in den Golf von Yokohama zu sehen; leider war das Wetter so trübe, daß wir den Fujiyama nicht erblickten. Die ganze grüne Küste mit den malerisch gruppierten Häusern interessierte mich aber ungemein, und ich war recht melancholisch, daß das Glück, in diesem entzückenden Lande bleiben zu können, so nahe an uns vorübergegangen ist. Der Lotse, der an Bord kam, erzählte uns, daß vor wenigen Tagen eine tidal wave im Norden Japans furchtbare Verheerungen angerichtet hätte, und zirka 5000 Menschen umgekommen seien. Dr. Orth, der Dragoman von der Gesandtschaft holte uns in Gutschmids Namen ab und brachte Edmund ein Telegramm des Admirals Tirpitz, der ihm Rendezvous in Chefoo gibt, und zwar möglichst bald, da er Ende des Monats von dort weg will. Um 7 Uhr fuhren wir mit Dr. Orth nach Tokio. Ich hab so viel über Japan gelesen, daß es mir fortwährend so ist, als sähe ich lauter Altbekanntes, inmitten dessen ich schon einmal gelebt hätte. Die Japaner in ihren halb europäischen Kostümen sind sehr enttäuschend, aber die niedlichen Japanerinnen und die bezaubernden babies make up for it. Sehr müde kamen wir in Tokio an, wo wir auf dem Bahnhof von Gutschmids Leuten, Dienern, und Kutschern in sehr komischen japanischen Livreen erwartet wurden.

6. Juli. Wir standen morgens sehr früh bei leider grauem Wetter auf, um nach Nikko zu reisen, wohin uns Gutschmid eingeladen hat. Die Fahrt durch allerhand seltsame japanische Viertel, in denen man die kleinen Häuschen sich öffnen und erwachen sah, war von ganz besonderem Zauber, und auf dem Bahnhof war wieder das reizende Gedränge kleiner, niedlicher Japanerinnen und das Geklapper von Hunderten stelzenartiger Holzschuhe. Diese Chaussure war aber heut wohl am Platz, denn kaum hatten wir Tokio verlassen, so begann ein strömender Regen. Das grüne Land sah dabei noch grüner aus, und die Leute, die im Feld arbeiteten, nahmen Strohmäntel um, in denen sie wie emsige Stachelschweine aussehen. Jedes Eckchen Land ist bebaut und alles ist in kleine Felder abgeteilt, zwischen denen Kanäle hindurchfließen, und die reichlichen Pfützen sind mit Lotos bedeckt, von denen man nicht weiß, ob die rosa und weißen Blüten oder die geschweiften Blätter am schönsten sind. Zwischen all den hellgrünen Feldern erheben sich große, dunkle Bäume, unter denen sich die Häuser der Lebenden und die Gräber der Toten verstecken. Allmählich, als wir uns Nikko näherten, sahen wir die herrliche Cryptomerien-Allee, in der früher der Shogun zu den Heiligtümern in Nikko wallfahrtete. In Nikko erwartete uns Gutschmid gänzlich unverändert, und wir fuhren bei strömendem Regen in Rickshaws über einen Fluß, den eine rote, nur für die kaiserliche Familie geöffnete Brücke überspannt zum Grand-Hotel, wo wir uns an einem guten Tiffin labten. Bei noch immer strömendem Regen bestiegen wir nachmittags wieder die Rickshaws, in gelbes, geöltes Papier eingewickelt, so daß wir alle wie nasse Kanarienvögel aussahen. Zuerst ging es noch einen verhältnismäßig guten Weg bis zu einem Teehaus, wo wir haltmachten und uns trotz des noch immer weiterströmenden Regens an einem Nipponischen Miniaturgarten und an Nipponischen Teemädchen und ihren Prosternationen erfreuten. Von da ab aber begann für die Kulis die eigentliche Arbeit. Zuerst führte der improvisierte Weg mehrmals über einen Gebirgsbach, da die eigentliche Straße durch die Regen weggespült war, und dann begann er, in den kühnsten Zickzacks, den steilen Berg zu erklimmen. Der Weg war aber in einen dicken Sumpf verwandelt, in welchem die Djns bis zu den Knien versanken und über den sie die Rickshaws streckenweise einfach heben mußten. Die Leute aber, die nur einen Hut und ein kurzes Hemd trugen, blieben bei alledem in der besten Laune, lachten an den schlimmsten Stellen, und sobald der Weg sich etwas besserte, sausten sie in voller carrière weiter. So ging es drei Stunden, und immer strömte der Regen, und wir waren von Feuchtigkeit und von nasser, grüner Vegetation ganz umgeben. Ich kam mir vor, als sei ich plötzlich der Bewohner eines Aquariums geworden, in das ein hellgrünes Licht scheint. Überall Wassertropfen und Nebelschleier und eine aggressive Vegetation, die auch den härtesten, glattesten Stein attakiert und in ihm Wurzel zu fassen weiß. Nach drei Stunden waren wir auf der Höhe, und nun ging es an dem Chujenji-See entlang bis zu Gutschmids Haus, welches dicht am Wasser liegt. Es ist ein echt japanisches Häuschen, ganz aus hellgelbem Holz gebaut mit verschiebbaren weißen Papierwänden, die die einzelnen Zimmer untereinander und von der Veranda abtrennen. Der Fußboden ist mit feinen weißen Matten belegt, auf denen man nur in hackenlosen Schuhen gehen darf.

9. Juli. Edmund erhielt Nachrichten, daß in China wieder ein Missionar des Bischofs Anzer ermordet worden ist, und so entschloß er sich ganz rasch, schon am 12. mit dem französischen Dampfer »Ernest Simons« von Yokohama abzufahren, während wir anfänglich noch ein paar Tage mehr hatten bleiben wollen. Es war recht schade, aber man merkt das Ältergewordensein doch daran, daß man solch kleine Enttäuschungen so sehr leicht nimmt.

11. Juli. Morgens ganz früh nach Yokohama. Den Nachmittag machten wir Kommissionen, fanden aber die Japaner Yokohamas lange nicht so nett und höflich, wie die im Innern des Landes. Abends lernten wir den amerikanischen Gesandten in Peking, Mr. Denby und Mrs. Denby kennen, welche sich einer Kur halber in Japan aufhalten. Er ist ein auffallend gut aussehender älterer Herr mit schönen scharfgeschnittenen Zügen und sie eine recht behagliche alte Dame. Er machte uns aber den Eindruck, in einer gewissen heiligen Scheu vor den Chinesen zu stehen und geneigt zu sein, viel zu viel Rücksicht auf sie zu nehmen. Daß dies zu nichts führt, beweist am besten der abnehmende Einfluß der Engländer, die den Chinesen in allem die Cour machten, in der Hoffnung, in ihnen mal Verbündete gegen Rußland zu finden.

12. Juli. Morgens früh mit dem schönen und geschmackvoll eingerichteten »Ernest Simons« von den Messageries Maritimes abgefahren. Auf dem Dampfer befinden sich einige französische Nonnen, die von einer Menge japanischer Schülerinnen an Bord gebracht wurden; es war rührend, wie die sonst immer lachenden kleinen Japanerinnen eifrig weinten.

13. Juli. Wir kamen morgens in Kobe an. Nach einem unglaublich langen und sehr ungeschickten Manövrieren gelang es endlich, an der Brücke anzulegen, wo uns der Konsul bereits erwartete.

14. Juli. Morgens von Kobe weiter, und zwar bei strömendem Regen, was offenbar das Charakteristische für Japan ist. So sahen wir wenig von der berühmt schönen inneren See. An manchen Stellen wird das Meer ganz eng und kleine pinienbewachsene Inseln liegen darin zerstreut. Wir begegneten viel seltsamen Dschunken, mittelalterlich hoch gebaut, mit viereckigen langen Segeln. Die Beleuchtung fehlte aber gänzlich, und es waren lauter Studien in Grau. Der Abend und die Nacht waren sehr neblig, was in diesem engen Fahrwasser recht unheimlich war.

15. Juli. Wir standen schon vor 5 Uhr auf, um die schöne Fahrt bei Shimoneseki zu sehen. Es war ein grauer trüber Morgen, wie man sie erlebt, wenn man die ganze Nacht bei einem Kranken gewacht hat, wo es auch scheint, als wolle die Sonne nie aufgehen. Die enge Meerstraße schien wie flüssiges Silber, und grau in grau erhoben sich dagegen die hohen Ufer und die zahllosen Dschunken, die zum frühen Fischfang auszogen. Neben uns fuhr ein kleiner japanischer Dampfer und an seinen Seiten brannten noch die Laternen. Wir fuhren ganz langsam und lautlos. Als wir bei den letzten Inseln anlangten, hielten wir, ein winziges Boot legte sich an unsre Seite, und der Lotse, der uns die Nacht hindurch geführt, verließ uns und verschwand in dem hellgrauen Morgennebel. Noch ein paar Stunden und das reizende Japan lag hinter uns in Nebelschleiern versteckt. Mittags ward es klar und das Meer herrlich blau, dafür begann aber auch die Hitze, so daß die Punkas recht wohltuend waren.

16. Juli. Es wird allmählich heißer und vor allem unerträglich feucht. Die schöne graublaue Wasserfarbe verschwindet, und wir fahren in einem café au lait farbigen Meer. Abends spät waren wir am Eingang des Flusses, konnten aber der Ebbe halber nicht hinein, und es ward wieder sehr viel hin- und hermanövriert, was entschieden das schwächste auf französischen Schiffen ist.

17. Juli. Morgens um drei setzte sich das Schiff in Bewegung und fuhr den Fluß aufwärts. Wir begegneten vielen Dschunken mit grauen und braunen Segeln; sie führen Holz, welches außen an die Schiffsseiten gebunden ist. All diese Dschunken haben zwei große gemalte Augen und der Chinese sagt: »Ship no have eye, how can ship go?« Man kommt auch an viel europäischen und chinesischen Schiffen vorbei, unter denen die Kriegsschiffe am seltsamsten sind; abenteuerlich hoch gebaut mit großen gelben Segeln und aufs bunteste bemalt mit komischen Mandarinen und sonstigen Figuren. Sehr drollig war es, die Verachtung zu beobachten, mit der einige mitreisende Japaner diese Kriegsungetüme betrachteten. – Die Einfahrt in Shanghai ist recht imponierend, an den Kais entlang mit ihren sehr stattlichen europäischen Häusern, unter denen das deutsche Generalkonsulat sich besonders gut ausnimmt. Es ist ein großes Gebäude, dicht am Fluß gelegen, welches jede Brise empfängt, die überhaupt weht, und das schätzten wir sehr, denn die Hitze war furchtbar und besonders unerträglich durch die enorme Feuchtigkeit. Diese dicke Luft erinnert mich sehr an Indien, und auch sonst ist mir immerwährend, als wäre ich wieder in Kalkutta. Es sind wieder, wie dort, die zwei getrennten Welten, die dicht nebeneinander hergehen, ohne daß die eine irgend etwas vom eigentlichen Wesen der andern kennt. Auf der einen Seite die Europäer in ihren ganz abgetrennten Quartieren, die sie so luftig und behaglich wie möglich einrichten, und wo sie sich durch größeren Komfort als zu Hause für Exil und heißes, erschlaffendes Klima entschädigen. Andrerseits die geheimnisvolle brodelnde Masse der Eingeborenen, die uns in ihren engen, schmutzigen Häusern so namenlos elend erscheinen, und ihrer eigenen Ansicht nach doch eine Weisheit und Zivilisation zu besitzen glauben, die sie berechtigt, verächtlich auf uns herabzuschauen.

20. Juli. Ich skizzierte die vielen reizenden Boote, die unaufhörlich vor unseren Fenstern auf dem Fluß fahren, und dann machten wir eine schöne Spazierfahrt an einen Kanal, auf welchem viele merkwürdig gebaute und beladene Hausböte tief ins Land hineinfahren. Von weitem sieht man sie kommen, und da die vielgekrümmte Wasserfläche durch die Ufer verdeckt ist, scheint es, als bewegten sich die Segel auf dem Lande. Fedrige Bambusdickichte stehen auf den Dünen, im Schlamm am Ufer lagen große schwarze Wasserbüffel, und der Himmel war von zartem Abendrot überhaucht, das sich im Wasser widerspiegelte. Es war ein schöner ruhiger Moment, den man gern fixiert hätte. Es gibt solche Augenblicke, wo das Leben plötzlich still zu stehen scheint, und sich in träumerisches Beschauen verwandelt. Aber wie kurz sind sie! Besonders in diesen ersten chinesischen Tagen hört und sieht man doch so vieles, daß man zu keiner rechten Ruhe kommt. Das wenigste ist dabei wirklich erfreulich, und sowohl Edmund wie ich haben manchmal ein beklommenes Angstgefühl über seine hiesige Tätigkeit, wo er mit der Arbeit ansetzen soll, und was ihm wohl gelingen wird. Mir fällt ein altes Kindergebet ein: »Gib Herr Vollbringen und Gelingen.«

Abends gab Herr Stuebel eine große Abendgesellschaft von 120 Personen, bei der wir die Notabilitäten der deutschen Kolonie kennenlernten. Mir machen die hiesigen Deutschen einen sehr guten Eindruck. Es scheinen unabhängige Leute zu sein, die das Bewußtsein haben, auf sicherer Grundlage zu stehen.

22. Juli. Schon nachmittags wurde es sehr windig, und in der Nacht wehte der bereits angekündigte Taifun. Edmund und ich schliefen gar nicht. Das Sausen und Brausen war ganz fürchterlich, und ich kann mir jetzt lebhaft vorstellen, wie jemand zumute ist, der im Luftballon durch einen Sturm saust.

26. Juli. Nachmittags fuhren wir bei großer Hitze aus und besahen uns einen chinesischen Vergnügungsgarten. Eine Menge Chinesen in blaßblauen Seidengewändern, die Jeunesse dorée von Shanghai, ergingen sich dort. Chinesinnen, mit weiß und rosa geschminkten runden Gesichtchen, Orangenblüten oder künstlichen Schmetterlingen hinter den Ohren im glänzenden schwarzen Haar, saßen mit ihren niedlichen, in bunte Seide gekleideten Kindern und schlürften allerhand kalte Getränke. In dem Garten ist ein großer Teich, der über und über bedeckt war mit schöngeschwungenen samtigen Lotosblättern und rosa Lotosblüten. Die Chinesen ließen sich alle davon abschneiden, und diese Freude an Blumen und das ganze Treiben in diesem Lokal brachte sie uns menschlich näher. Das Ganze war ja ein besonders ausländisches Bild; die grüne Wiese, in welcher sich die Chinesen wie große blaßblaue Blumen abhoben, der Lotosteich, in dem sich diese seltsamen Menschen gruppierten, um mit langen Zangen einzelne Blüten aus dem Blättergewirr herauszuholen, die buntgekleideten Frauen und Kinder, die unter ihrer dicken Schminke so leblos und artig wie große Puppen dasaßen, einen runden roten Klecks auf der Unterlippe – es war alles so fremd, daß es beinah irreal erschien, und doch hatte dieser Zug, sich harmlos im Freien zu vergnügen, etwas so allgemein Menschliches, daß man unwillkürlich in diesem fernen China an Sonntagnachmittage im Berliner Zoologischen Garten denken mußte! Wenn man in Shangai sieht, wie sehr die Chinesen europäische Straßen genießen, auf denen sie spazierenfahren können, wie sehr sie sich bemühen, in die Settlements hineinzukommen und dort die besten Häuser und Gärten zu kaufen, so sagt man sich doch unwillkürlich, daß dem Lande nichts Besseres passieren könnte, als unter europäische Kontrolle zu kommen, und daß sich die Chinesen dabei sehr bald viel glücklicher fühlen würden.

28. Juli. Nachts um 1 Uhr brachte uns Dr. Stuebel an Bord des He au von der Chinese-Merchant-Gesellschaft, und ich hatte da zum erstenmal so recht die Empfindung, daß wir nun Europa Adieu sagten.

29. Juli. Gegen Abend ward es sehr neblig und kalt, und wir kamen an drohend aussehenden Felsen vorbei, auf denen Sirenen unheimlich heulten.

30. Juli. Morgens ganz früh kam ein Leutnant von Ammon vom »Kaiser« und brachte die entsetzliche Nachricht, daß der »Iltis« vor ein paar Tagen während des großen Taifun auf einer Fahrt begriffen gewesen, auf Felsen getrieben und untergegangen sei. 77 Menschen sind dabei umgekommen! Es war eine gar zu traurige Kunde, und Edmund und ich waren ganz unglücklich. Nach ihm besuchte uns der Admiral Tirpitz. Er ist ein großer, auffallend schöner Mensch und sieht ganz aus wie eine Gestalt aus der nordischen Mythologie, dabei hat er etwas sehr Gewinnendes, und man fühlt sich gleich ganz behaglich mit ihm. Beim Lunch sprach ich lange mit dem Admiral über die Notwendigkeit, daß wir Kolonien erwerben. Er hat ganz Edmunds Ansichten, und es war ein Vergnügen sich mit ihm auszusprechen.

31. Juli. Morgens früh war in der französischen Mission ein Trauergottesdienst für den »Iltis«. Wir begaben uns zum erstenmal in grünen Palanquins hin, und mich rührte der Gottesdienst in dieser fernabgelegenen kleinen Kirche mit chinesischen Chorknaben. Es sind noch nähere Nachrichten über den Untergang gekommen: Als der Kapitän Braun sah, daß sein Schiff verloren, brachte er von der Kommandobrücke ein Hoch auf den Kaiser aus, die Matrosen stimmten das Flaggenlied an, und so singend sind sie in den Wellen verschwunden.

3. August. Der Admiral hat südlich von Chefoo eine Bucht gefunden, von der er glaubt, daß sie sich zur deutschen Flottenstation eignen würde. Eine flache Strecke Landes, auf der sich leicht eine Bahn bauen ließe, führt von da nach Peking, und es sollen dicht dabei große Kohlengruben liegen. Durch die Unentschlossenheit zu Hause und den Mangel an Instruktionen wird aber auch jemand, wie unser Admiral, unsicher. Er sieht überhaupt die Zukunft sehr trübe an und meint, wir würden durch unsre Übervölkerung erdrückt werden, da keine natürlichen Outlets geschaffen werden. Interessant ist seine Idee, die verschiedenen Schutztruppen der Marineinfanterie anzureihen, um so eine Streitkraft zu haben, die man unabhängig vom Reichstag an verschiedenen ausländischen Punkten verwenden könnte.

5. August. Wir hatten wieder eine durch die Hitze beinah schlaflose Nacht, und es war vom frühen Morgen an ganz unerträglich. Um 12 kam Admiral Tirpitz, um uns zu einem Abschiedslunch auf dem »Kaiser« abzuholen, wo wir hofften, etwas Kühlung zu finden. Dies war allerdings eine Illusion, denn auf der Kommandobrücke hatten wir 35 Grad Réaumur im Schatten, in den unteren Räumen stieg die Hitze auf 68 Grad. In dieser angenehmen Temperatur verhandelte Edmund mit dem Admiral Geschäfte, und ich machte mich bei den Offizieren im Schweiße meines Angesichts liebenswürdig. Dann lunchten wir auf Deck, wobei Edmund durch die Hitze beinah krank wurde, und der Admiral brachte uns auf die »Irene« auf der wir nachmittags um 3 in See gingen.

6. August. Nach einer herrlichen Nacht kamen wir morgens in Taku an, d. h. wir lagen in einer braungelben See und am fernen Horizont sah man einige Masten. Bald erschien ein Dampfer, den der Vizekönig Edmund entgegenschickte, ihn zu begrüßen. Als wir die »Irene« verließen, brachten die Matrosen drei Hochs aus, und die 15 Schüsse krachten zum Abschied. Allmählich näherten wir uns Taku, dessen braune Erdwälle sichtbar wurden. Als wir uns auf der Höhe der Festungstürme befanden, wurde auf der Signalstange die deutsche Flagge gehißt, gleichzeitig und mit erstaunlicher Präzision stieg auf dem Fort die gelbe Drachenflagge auf, und über den Krenelierungen der Wälle erschienen eine Masse roter Fahnen mit weißen Inschriften. Dazu wurden 17 Schüsse abgefeuert, und dann verschwanden die Fähnchen mit derselben Schnelligkeit und Präzision, mit der sie gekommen. In solchen eingeübten Kunststückchen soll allerdings die Haupttätigkeit der Fort-Garnison bestehen. Wir fuhren nun den gelben Peiho hinauf, der mit allerhand Dschunken bedeckt ist und an dessen Ufern Lehmdörfer stehen, welche an ägyptische Fellahhäuser erinnern. In Taku verließen wir den Dampfer und bestiegen den Extrazug, den der Vizekönig für Edmund geschickt hatte. Nach einer Stunde stiegen wir aus und fuhren mit einer Dampfbarkasse, die mit vergoldetem Schnitzwerk verziert war, nach dem Landungsplatz von Tientsin. Dort erwartete uns die ganze zahlreiche deutsche Kolonie, die Damen überreichten mir Blumen, eine chinesische Kapelle spielte die »Wacht am Rhein« und »Heil dir im Siegerkranz«, und der Vertreter Krupps und Präsident des deutschen Klubs brachte ein dreifaches Hoch für uns aus. Wir waren ganz ergriffen von der Herzlichkeit und Freundlichkeit dieses Empfangs, wie wir ihn noch nirgends erlebt haben. Wir stiegen im »Astor House« ab, wo uns der deutsche Wirt, Ritter, sehr behagliche Zimmer eingerichtet hatte. Zum Diner waren wir bei Oberst von Kretschmar, mit dem ich gleich sehr bekannt wurde, da seine Tochter in Altenburg erzogen ist. Er erzählte mir viel von Cassini, der seiner Ansicht nach gar kein Deutschenfeind sei, und der ihm von der einstmaligen Aufteilung Chinas sprach, bei der er von England ganz absah und das Gebiet zwischen der russischen und französischen Sphäre Deutschland zuweisen möchte. Das englische Prestige sei hier sehr geschwunden, aber der neue Gesandte Sir Claude Macdonald wäre sehr rührig, und Edmund würde viel zu tun haben, um das Gegengewicht zu halten. Es war ein sehr schöner Tag; man sieht hier ein so rühriges und selbstbewußtes Deutschtum, daß man wieder Zutrauen zu seiner Zukunft bekommt. Eine der ersten Aufgaben Edmunds wird es sein, die hiesige deutsche Konzession zu einem blühenden Settlement zu machen. Überall liegen große Aufgaben und seit wir in Tientsin sind, hat Edmund wieder die Freude und Begeisterung für seinen Posten. Sein spezifisch deutscher Ruf hat ihm entschieden schon Freunde im voraus gemacht.

11. August. Morgens früh brachen wir von Tientsin auf. Zum Abschied hatten sich verschiedene Deutsche im Hotel versammelt; es ward uns ein Ständchen gebracht, und als wir uns in Sänften und Rickshaws in Bewegung setzten, spielte man wieder die »Wacht am Rhein«. Die Boote, auf denen wir den Peiho bis nach Tungchau fahren sollen, waren schon abends vorher vorausgeschickt worden, denn in der Stadt liegen im Fluß so viele Boote, daß man nur ganz mühsam durchkommt, und wir so zirka 12 Stunden gewannen. Wir ließen uns also durch die Chinesenstadt hindurch tragen, mit einem Vorreiter des Vizekönigs voran, der unserm Zug durch kräftiges Dreinhauen einen Weg durch das Menschengewühl bahnte. Die Massenhaftigkeit der Menschen frappiert so sehr in China! Wir begegneten einem Begräbniszug, in welchem allerhand Papiergebäude getragen wurden, die dann verbrannt werden, wodurch dem Verstorbenen alle diese Schätze im Jenseits gesichert werden sollen. Durch verdeckte Basare kamen wir hindurch und über eine Brücke, von der aus wir einen hübschen Blick auf die Stadt und die malerische Ruine der verbrannten Kathedrale hatten. Jenseits der Stadt fanden wir unsre vier Boote. Das große Customhouseboat, in welchem Edmund, Elise und ich wohnen und drei chinesische Hausboote, die wir als Gepäckboot, Eßboot und Grünaus Boot eingeteilt haben. Außerdem eine Dampfbarkasse des Vizekönigs, welche uns so weit als möglich schleppen soll. Zur Begleitung und Bewachung sind uns zwei kleine Mandarine mitgegeben, von denen der eine den Kristallknopf, der andere den Porzellanknopf trägt und die wir unsre »Hofräte« tauften. So setzten wir uns denn in Bewegung und fuhren auf dem stellenweis stark ausgetretenen Fluß zwischen endlosen hellgelben Hirsefeldern dahin. Die Hitze ist Gottlob erträglich, zu den Mahlzeiten treffen wir uns mit Grünau auf dem Eßboot und das Dahingleiten auf dem breiten Fluß in der monotonen, aber anheimelnden Gegend hat etwas Wohltuendes, Nervenberuhigendes. Ich kann mir nachträglich vorstellen, daß eine Nilfahrt in eigener Dahabeah sehr schön sein muß.

12. August. Morgens in Ho si, einem nett gelegenen Dörfchen. Hier entstand langes Parlamentieren zwischen uns, den Hofräten, dem Boy Wei chiang als Dolmetscher und unsern Dampferkapitänen, welche durchaus umkehren wollten. Wir bewogen sie aber schließlich, uns weiter zu schleppen, und betrachteten dies als unsern ersten Sieg über chinesischen Eigensinn. Nachmittags verließ uns aber doch das eine Dampfboot und das zweite abends, da es hieß, das Wasser würde seicht und sie hätten keine Kohle mehr. Wir kamen aber bald dahinter, daß es aus Angst vor einer besonders reißenden Stelle des Flusses war, wo vor einigen Tagen ein Boot von Denbys umgeschlagen war, welches wir auch da im Kot liegen sahen. Während die Kulis unser Boot an Stricken vorwärts zogen und mit langen Stöcken weiterschoben, gingen wir drei ein Stück Wegs am Fluß entlang neben den Hirsefeldern. Es war ein wundervoller Abendhimmel, brennendes Rot am Horizont, welches in Gelb und Blaßgrün überging durch violettgraue Wolken zebriert.

13. August. Es ist unbeschreiblich, wie diese chinesischen Kulis arbeiten; knietief im Schlamm watend und das Boot ziehend und stoßend. Dabei sind sie seelenvergnügt und singen und lachen, machen mittags eine halbstündige Rast und essen etwas saures Brot und Bohnen, die uns als Hundefutter zu schlecht scheinen würden. Wunderschöne sehnige Gestalten sieht man unter ihnen, die wie die antiken Wettläufer gewachsen sind.

14. August. Durch Hunderte von Booten hindurch kamen wir morgens ganz früh in Tungchau an. Während die Vorbereitungen für unsre Weiterreise getroffen wurden, hatte ich mal wieder sehr die Empfindung des Episodenhaften im Leben, und ich mußte daran denken, wie wir in Kairo angekommen und abgereist sind, und alles so schnell vergeht. Vielleicht ist unsre Zeit hier schneller um, wie wir denken; aber wir werden wohl die letzten deutschen Gesandten gewesen sein, die per Boot und Sänfte nach Peking kommen, denn in einem Jahr soll ja die Bahn von Tientsin nach Peking fertig sein. Als sich die Verwirrung ob unseres Gepäcktransportes etwas geklärt hatte, bestiegen Edmund, Elise und ich unsre Sänften, Grünau seinen Schimmel, die Hofräte zwei Eselchen. So setzte sich unser Zug in Bewegung. Zuerst passierten wir Tungchau, und um durch die entsetzliche Stadt hindurchzukommen, brauchten wir eine Stunde. Wir kamen durch so enge Gäßchen, daß die Tragstühle beinah auf beiden Seiten die Häuser streiften, und die Träger versanken im Kot bis an die Waden. Jeder denkbare Schmutz und Abfall liegt auf den Straßen, und darin wälzen sich schwarze Schweine und jeder nur mögliche Gestank steigt zum Himmel. Offene Körbe mit menschlichem Dünger werden durch die Straßen auf die Felder getragen und verpesten die Luft, Menschen, deren Zahllosigkeit immer wieder erstaunt, füllen die Straßen und die offenen Läden und starren die Europäer mit verblüffender Neugierde an. Ich dachte mit Sehnsucht an unsre letzten Tage im Hausboot zurück, welches dem europäischen Bedürfnis nach Exklusivität doch etwas Rechnung trägt. Als wir durch Tungchau hindurch waren, kamen wir auf die große Steinstraße, die nach Peking führt und die einstmals eine großartige Anlage gewesen sein muß. Jetzt sieht sie aus, als habe eben ein furchtbares Erdbeben gewütet. Ganze Quadern fehlen und an ihrer Stelle sind fußtiefe Löcher entstanden; an andern Orten sieht es wieder aus, als hätten unterirdische Mächte die Erdoberfläche so aufgerüttelt, daß einzelne Quadern auf die andern gerutscht sind und dadurch unerwartete Berge entstanden; kein Stein sitzt mehr fest am andern, es ist nur eine Frage, wie tief die Löcher dazwischen sind. Auf dieser Straße begegneten wir Reihen von einrädrigen Schubkarren, auf denen hier die größten Lasten fortbewegt werden. Das Rad befindet sich in der Mitte, und auf beiden Seiten werden Kisten, Säcke, Balken oder was es sonst ist, befestigt; ein Mann schiebt den Karren, und es muß ein Kunststück sein, ihn durch diese Löcher und über diese Höcker hinwegzubalancieren. Ich dachte mit Grauen daran, daß unsere Sachen auch so transportiert werden müssen. Außer diesen Schubkarren begegneten wir einer Menge bedeckter Pekingkarren, in denen man hier reist und Besuche macht. Ein federnloser Kasten, in welchem der Unglückliche kauern muß und dank dem Zustand der Wege von einer Seite zur andern geworfen wird, wobei man sich Beulen und Kontusionen holt. Die einzige andre Alternative ist, auf der Deichsel zu balancieren. Diese sehr massiven Karren haben zwei zackige Räder, welche allein den Wegen widerstehen, andrerseits aber auch die Wege stets von neuem ruinieren – sie sind das einzige Fuhrwerk, welches es in und um Peking gibt. Fußtief sahen wir die Räder solcher Karren in Löchern versinken und dann mit Gepolter und Gekrach auf den nächsten Stein springen, kein andres Gefährt hielte das aus. Wir passierten die Palikao-Brücke und machten auf halbem Wege Rast in einem buddhistischen Kloster, wo wir Tee tranken und mit Sehnsucht der japanischen Tempel gedachten. Endlich näherten wir uns Peking.

Wir kamen nun durch einen besonders schmutzigen und stinkenden Teil der Straße und sahen die große Mauer, welche die Stadt umgibt, und auf der sich von Zeit zu Zeit hohe Türme befinden, deren Dächer mit bunten Kacheln bedeckt sind. Durch einen dieser Türme führte das Tor, durch welches wir unsern Einzug in Peking und zwar in die Tatarenstadt hielten. Wider Erwarten ist diese Stadt wie ein weites leeres Dorf von elenden grauen Häuschen und Hütten; der Weg, wenn von solchem überhaupt gesprochen werden kann, ist noch chaotischer als vorher; bald versinkt man im Kot, bald geht es über große Steinhaufen. Dazwischen sind weite leere Plätze voll stagnierenden Wassers. Der erste Anblick ist so schauerlich häßlich, daß man das Ganze für ein Fieberbild und Alpdrücken hält. Endlich, 5 Stunden nachdem wir Tungchau verlassen, bogen wir in die Straße der Gesandtschaften ein, neben welcher die schmutzigste litauische Dorfgasse ein Paradies ist. Zwischen den chinesischen Hütten erheben sich Mauern, hinter denen die verschiedenen Gesandtschaften in umfriedeten Grundstücken liegen. Die unsrige hat ein rotes Tor, durch welches wir passierten und uns dann in einer Allee befanden, auf deren einer Seite die Sekretär- und Dolmetscher-Häuser liegen, auf der andern das Gesandtenhaus. Herr und Frau von Prittwitz empfingen uns, und diese beiden sehr liebenswürdigen Menschen waren das einzig Erfreuliche bei der ganzen Ankunft, denn unser Haus ist so verwohnt, finster und bis ins Detail scheußlich, que celà serre le coeur, und man daran verzweifelt, das je einigermaßen hübsch zu machen. Der Garten ist verwildert und voller Gestrüpp, so daß keine Blume darin blüht und es multrig und ungesund riecht. Man fragt sich, wie es je Europäer aus guter Gesellschaft in dieser Umgebung ausgehalten haben. Frau von Prittwitz hat drei Schlafzimmer notdürftig für uns aus zusammengeliehenen Möbeln arrangiert, und unsre Mahlzeiten nehmen wir bei ihr. Die Ärmste hat drei winzige Zimmerchen, die sie aber sehr behaglich eingerichtet hat, so daß sie eine Oase in der furchtbaren Wildnis bilden. – An diesem ersten Abend sahen Edmund und ich den Mond an und wünschten von ganzem Herzen, bald und mit Anstand von hier fortzukommen.

17. August. Drei entsetzliche Tage, während der man voller Verzweiflung von einem Ende zum andern läuft und immer wieder neue Scheußlichkeiten und Geschmacklosigkeiten entdeckt. Keine Tür schließt, keine Tapete ist auch nur erträglich, die vielen Reichsmöbel, die im Hause herumstehen, überbieten sich an Häßlichkeit. Das Ganze hat etwas Grabartiges. Dazu bieten die einfachsten Dinge so große Schwierigkeiten. Es gibt keine Ölfarbe in Peking, keine Matten, um die gräßlichen Fußböden zu bedecken, keine anständigen Tapeten. Sendungen aus Shanghai brauchen wegen der Umladungen und des Wasserstandes vier Wochen und sind furchtbar teuer. Unter dem ganzen Gesandtschaftspersonal scheint nicht ein Mensch zu sein, von dem wirkliche Hilfe zu erwarten wäre. Edmund und ich fragen uns immer von neuem, ob wir nicht einen wahren Wahnsinn begangen haben, diesen Posten anzunehmen, und mir ist zumute, wie ich mir denke, daß denjenigen Unglücklichen ums Herz sein muß, die sich im Rausch für die Fremdenlegion anwerben ließen! Man hofft immer, aufzuwachen und geträumt zu haben.

18. August. Edmund machte seine Antrittsvisite im Tsungli Yamen.›Tsungli Yamen, ein Collegium, dessen einzige Funktion darin besteht, mit den fremden Gesandten zu verhandeln.‹ Edmund von Heyking an seinen Vater. 5. Februar 1897. Der Weg dahin soll wie alle Pekinger Wege und das Haus dingy und shabby sein. Prinz Kung empfing Edmund und geleitete ihn in das Empfangszimmer, wo sieben alte Chinesen um einen Tisch saßen, von denen Edmund meint, sie hätten alle wie abschreckende stiere Larven ausgesehen, und der Begriff, mit ihnen ernsthafte Geschäfte zu besprechen, erschien ihm nach dieser Entrevue wie die reine Sinnlosigkeit. Die Stimme der Macht, aber auch nur diese, verstehen sie. Prinz Kung scheint der leitende Mann in diesem Konsortium zu sein, er ist aber dem Opium und Harem ergeben und überläßt viel dem Jung lu, der früher in Washington gewesen, und der der zivilisierteste of the whole lot zu sein scheint. Dieser frug auch Edmund, ob er seine Frau mitgebracht habe, und da es gegen chinesisches Decorum verstößt, davon offen zu reden, frug er Edmund, ›ob er sein kostbares Bündel‹ mitgebracht habe! Im übrigen drehte sich die Unterhaltung um Edmunds Namen, der ›Meeresstille‹ auf chinesisch bedeutet; es soll aber, wie Prinz Kung herausfand, ein Zeichen darin sein, welches ›Streit‹ heißt, und der Prinz meinte, daß es eine schlimme Vorbedeutung habe. Im übrigen soll der Name auch noch irgendwie bedeuten, daß Edmund viel Wein vertragen könne – der Zusammenhang ist allerdings nur für einen Chinesen faßbar. Im Tsungli Yamen wird, wie in allen hiesigen Behörden, die Oberaufsicht von Mandschus geführt, die eigentliche Arbeit aber von Chinesen verrichtet. Der frühere Erzieher des Kaisers sitzt auch darin, und er hat, wie die übrigen Minister, nachts um drei beim Schein einer einzigen Kerze seinen Vortrag bei dem Kaiser, und zwar in kniender Stellung. Es soll dies so angreifend sein, und in der Dunkelheit soll die Gefahr des Stürzens so groß sein, daß jeder Minister ein paar Palasteunuchen besticht, um ihn währenddem zu stützen. Diese Vorträge beim Kaiser, der wie ein Idol dasitzt, sollen den Eindruck schauerlich mysteriöser Kulthandlungen machen. Edmund kam schimpfend von dort zurück. Dies alles gesehen zu haben, ist aber doch interessant, wenn es nur nicht zu lange dauert.

Nachmittags kam eine Depesche des Auswärtigen Amts, ob Edmund glaube, daß bis zum Frühjahr die Flottenstationsfrage gelöst sein würde, da die Admiralität wünsche, dann die ›Prinzeß Wilhelm‹ und die ›Irene‹ nach Deutschland zurückkommen zu lassen. Edmund war höchst perplex, denn wie soll er die Chinesen jetzt plötzlich um eine Flottenstation angehen, ohne equivalents anbieten zu können. Wie soll er wissen, ob bis zum Frühling die Sache gemacht werden kann, und schließlich, warum sollen dann die Schiffe weg, die ja dann gerade doppelt nötig wären?

Wir dinierten bei Monsieur Gérard und begaben uns zu Fuß dahin durch die staubige Pekinger Straße in dekolletiertem Kleid und Diamanten mit zwei Vorläufern, welche riesenhafte Laternen trugen: ›Hier kommt der große Mann des deutschen Kaisers.‹ Jedenfalls war es nicht banal! Die französische Gesandtschaft hat sehr große und schöne Räume; ehe man an das eigentliche Haus herankommt, geht man durch eine riesige chinesische Tempelhalle, die recht schön ist. Wir trafen dort Gassini mit seinem sehr netten ersten Sekretär Pawlow, den spanischen Gesandten Cologan mit seinem greisen Sekretär und Mr. et Mdme. Vissière. Ich unterhielt mich sehr gut mit Gérard, den ich ja früher gekannt, als er noch bei der alten Kaiserin in Baden-BadenAls Vorleser war. Er sprach mit Enthusiasmus von unserm jetzigen Kaiser, was mich amüsierte, da ich weiß, daß S.M. ihm die Autorschaft der ›Société de Berlin‹ nie verziehen hat.

19. August. Grünau und ich packten morgens Konserven aus und räumten sie in den Keller ein, der entschieden der beste Raum des Hauses ist. Edmund ging nach dem Lunch zu Cassini und sprach mit ihm über die Flottenstations-Angelegenheit, wobei er erfuhr, daß die Kiautschou-Bucht den Russen formell abgetreten sei. Somit bleibt nur die Möglichkeit einer südlichen Station, und da wäre Amoy die vorteilhafteste. Schwierigkeiten wären wohl nur noch von England zu erwarten. Edmund telegraphierte sofort nach Berlin und hat überhaupt sehr viel zu tun: das ist entschieden das Beste an dem ganzen Posten.

20. August. Alles präpariert für unsere Auswanderung nach den Tempeln.Die europäischen Diplomaten bezogen in den heißen Sommermonaten außerhalb Pekings gelegene ›kuriose buddhistische Tempel‹ als Sommerwohnung. Präzis um 6 Uhr brachen wir auf, Edmund, Elise und ich in Sänften, Grünau und Herr Cordes zu Pferde. Am frühen Morgen machte Peking einen etwas besseren Eindruck. Sobald man hält, versammelt sich sogleich eine Schar neugierig gaffender Menschen, die aber eigentlich einen ziemlich harmlosen Eindruck machen. Wir passierten die Mauern der Kaiserstadt, über welche Tempel mit geschwungenen Dächern herüberschauen, und die Spiegelung der rosa Mauern und gelbgrünen Kacheln in den breiten Gräben war recht malerisch und erinnerte an Birma. Sehr hübsch ist auch der ›Kohlenberg‹ mit grünen Bäumen bedeckt, zwischen denen gelbe geschwungene Kacheldächer herausschauen. Früher durfte man auf diesem Berg spazieren gehen, aber jetzt haben die Chinesen auch dies den Fremden verboten. Sobald man aus den Mauern Pekings herauskommt, atmet man erleichert auf; die Luft wird rein, man sieht grüne Felder, und die blauduftigen Berge kommen immer näher heran. Die Straße ist außerdem so musterhaft, daß man nicht mehr in China zu sein glaubt, und das kommt daher, weil sie zu dem Sommerpalais der Kaiserin-Exregentin führt. Dies Palais, welches ein Konglomerat von Häusern und Tempeln ist, liegt weithin sichtbar auf einem Hügel in einem großen von Mauern umgebenen Grundstück.

Es ist ein seltsames Gefühl, sich praktisch häuslich in einem chinesischen Tempel niederzulassen! Dieses Gefühl des Seltsamen und Irrealen hatte ich recht, als wir nachmittags um 3 Uhr endlich in unserm Tempel Ta chiao sse anlangten. Von einem Tempel kann man eigentlich nicht sprechen, sondern es sind eine Menge Tempel und Höfe mit Priesterwohnungen, die am Abhang eines Berges zwischen schönen Bäumen stehen und von einer bemoosten grauen Mauer umgeben sind. Durch die ganzen Höfe fließt frisches Wasser, und uralte Pappeln und Zedern beschatten die Häuser mit ihren geschweiften grauen Dächern, auf deren Kanten Reihen kleiner verwitterter Steindrachen sitzen. Wir wohnen in dem höchstgelegenen Tempelchen, hinter welchem eine frische Quelle aus dem Stein hervorsprudelt, einen kleinen Wasserfall bildet und in einem natürlichen Wasserbecken gefangen wird. Um das Haus herum und den ganzen Berg hinan stehen viele schöne Bäume, und es blühen viele wilde Blumen. Ich war gleich ganz verliebt in den Ort und hatte nichts annähernd so Hübsches erwartet. Es ist unbeschreiblich friedlich und still, und wenn wir das ganze Jahr hier leben könnten, hätte ich nichts gegen den Posten einzuwenden.

21. August. Morgens um ½ 6 Uhr schon auf und in dem Wäldchen spazierengegangen, wobei mich ein kleiner Bonze begleitete, der die kläffenden Hunde verjagte und mir wilde Blumen pflückte. Ganz dicht an unserm Haus ist ein besonders heiliger Teich, in welchen das Quellwasser aus einem steinernen Ungeheuerkopf fließt, von beiden Seiten führen Felsentreppen, die mit Glyzinien überwuchert sind, zu einem höhergelegenen Tempel, durch dessen Türen man Buddhas und andre Götzen sitzen sieht, mit den 5 Opfergefäßen vor ihnen auf den Tischen. Vor diesem Teich ist ein kleiner Platz, auf dem eine weiße Steinpagode steht, die sehr an burmesische erinnert. Schlingpflanzen ranken sich daran empor, und eine herrliche Weymouthskiefer hebt sich tiefgrün von dem Weiß der Pagode ab. Wäre es nur etwas kühler und fühlte ich mich etwas weniger krank und hätten wir einen etwas besseren Koch, so wäre alles reizend hier draußen.

Ich mundierte einen Bericht von Edmund über das Tsungli Yamen, welches er sehr amüsant schilderte. Er hat gleich in den ersten Tagen eine Menge Berichte geschrieben, die, unter dem ersten Eindruck verfaßt, die ganze Lage sehr charakterisieren. Über das effacement Englands und die ganz dominierende Stellung des Grafen Cassini hat er berichtet, und hoffentlich werden sie daraus entnehmen im Auswärtigen Amt, daß das, was sie eventuell wollen, nur mit und durch Rußland zu haben ist.

24. August. Unsere Wohnung besteht hauptsächlich aus einer Veranda, ein bißchen wohnlich gemacht durch Drapieren japanischer Crepes und Aufstellen einiger Blumenvasen. Aber es fehlt an allen Ecken und Enden. Wir benutzen Vogelnäpfchen zum Senf und als Aschenbecher. Wenn Edmund nicht so sehr deprimiert über alles Chinesische wäre, könnte es ganz lustig sein. An ein paar Nachmittagen malte ich das Eingangstor unsres Tempels, wobei sich immer Scharen chinesischer Zuschauer hinzustellten. Die Leute sind von harmloser Neugierde, aber eigentlich nie frech.

31. August. Alle Nachmittage auf einen kleinen Hügel mit Baron Grünau geklettert und dort skizziert. Um mir den Weg zu erleichtern, nahm ich mir ein Eselchen, auf welchem ich als Herr ritt; an einer steilen Stelle aber fing das Tier an zu grasen, und als sein Kopf sich so plötzlich neigte, rutschte ich vornüber weg!

7. September. Morgens im Hof skizziert und dabei gesehen, wie die Priester eine Puppe und allerhand Papiersachen als Opfer für die Buddhas verbrannten. Sie trugen fahle, gelbe Priestermäntel, ähnlich wie in Birma, und ihre Prosternationen erinnern sehr an die russische Kirche. 15. September. Einen Ausflug nach dem sogenannten ›Räubernest‹ gemacht. Die Tempel oben sind ganz verwahrlost, Leute, die kranke Augen haben oder sich Kinder wünschen, pilgern dorthin und opfern kleine Porzellanbabys oder Zeugaugen, ein chinesisches Lourdes. – Sehr viel geschrieben. Es ist der erste Ort, der mir je vorgekommen ist, wo man immer für alles Zeit hat. Leider fängt es an, kälter zu werden, wir haben graues, trübes Wetter, so daß von Rückkehr nach Peking immer mehr die Rede ist; für mich ein wahres Grauen! Die absolute Ruhe hier ist mir sehr wohltuend, und ich finde mich mit Freuden in diese Art Einfachheit. Leider aber sehen wir immer mehr ein, daß wir uns mit Prittwitzens nie ernstlich einleben werden. Mit einem netten Ehepaar hätte es so behaglich werden können, denn man ist so ganz aufeinander angewiesen. –

1. Oktober. Wir brachen von dem lieben Ta chiao sse auf, wo ich mich so sehr zufrieden gefühlt habe. Es war ein bedeckter, grauer Tag. Über den Bergen lag ein silberner Nebelhauch und dazwischen schimmerte das Laub in gelblichen und rötlichen Herbsttönen. An den Abhängen blühten große Büsche von wilden rosa Margueriten und blauen Kampanulen auf ihren schlanken Stengeln, – mir wurde ganz weh ums Herz, von all dem weg zu müssen und zurückzukehren in den Pekinger Käfig, und in was für einen ungesäuberten! Nachmittags trafen wir sehr ermüdet in Peking ein, denn gerade der letzte Teil der Reise ist so angreifend und scheint so endlos. Im Hause fanden wir vieles verbessert, denn es sind mehrere Zimmer mit weißer chinesischer Tapete beklebt worden und sehen dadurch heiterer aus. Die mittleren Zimmer sind aber so dunkel, daß wir uns entschlossen haben, die Veranda abzureißen; außerdem werden die entsetzlichen roten Deckenbalken hell gestrichen, und auf den Fußböden hocken Kulis, welche an den Parketts den Schmutz der Jahrzehnte abkratzen.

8. Oktober. Herr von der Goltz traf ein. Er hat entschieden mehr Auftreten als die bisherigen Dolmetscher und wird sich wohl nicht von den Chinesen imponieren lassen. Mr. Gérard besuchte uns, und es fiel mir auf, wie sehr er die Gabe hat, so zu sprechen, daß es gleich gedruckt werden könnte! Er sprach von England und seinen Kolonien und meinte, es habe seine Kinder so gut gebildet, daß diese jetzt nur daran dächten, sich ganz selbständig zu machen, wodurch es sich eine ›triste vieillesse‹ geschaffen habe! Sir Claude Macdonald charakterisierte er als eine Soldatennatur, und zwar als eine friedliebende, der bereit sei, seine Pflicht hier zu tun, dem es aber ganz gegen seine Disziplinideen ginge, daß jeder Engländer sich hier berufen fühle, ihm gute Lehren zu geben. Leider hörten wir, daß Signor Bardi, der italienische Gesandte, beinah hoffnungslos an Dysenterie erkrankt ist.

11. Oktober. Der arme Bardi ist gestorben. Edmund, Prittwitz, von der Goltz und Grünau gingen in großer Uniform zum Begräbnis, das auf dem alten portugiesischen Kirchhof stattfand. Edmund sagt, es sei sehr seltsam gewesen, die alten Jesuitengräber zu sehen, deren Verzierungen ganz buddhistische Anklänge zeigen. Ein sehr merkwürdiger Moment sei gewesen, als der Minister Chang, als Vertreter des Tsungli Yamen, in der Kirche erschienen sei und während des Gottesdienstes mit den Gesandten shake hands machen wollte.

12. Oktober. Morgens fand endlich Edmunds Audienz beim Kaiser von China statt. In großer Uniform wurden Edmund, Prittwitz, Grünau, Goltz, Krebs in 6 grünen Sänften in die Kaiserstadt getragen. Das Innere der Höfe, welche sie passierten, soll sehr delabriert ausgesehen haben, und alles einen ärmlichen, verkommenen Eindruck machen. Eine Zeitlang mußten die Herren in einem ganz kleinen Käfterchen warten, und auch die Halle, in welcher der Kaiser sie empfing, soll so klein sein, daß für die drei vorgeschriebenen Verbeugungen kaum Platz war. Der hinter einem gelbem Tisch ›aufgebaute‹ Kaiser soll jung, kränklich und ganz hébété aussehen, zu welchem Ausdruck die untere Hängelippe sehr beitragen soll; nur die Augen seien schön. Hinter ihm stand ein mit Drachen geschnitzter Paravent, und die ganze Halle soll schmutzig und verwahrlost ausgesehen haben.

24. Oktober kamen unsre 137 Kisten aus Kairo endlich an, welche die ganze Allee des Gartens in vier Reihen ausfüllen. Es ging an ein großes Öffnen und Auspacken, und wir hatten so viel zu tun, daß wir nicht zu den Rennen konnten, welche hier die große soziale Begebenheit bilden, und dies wurde uns seltsamerweise als eine ›antienglische‹ Stellungnahme ausgelegt! Leider aber kamen die meisten unsrer Möbel in schlechtestem Zustand an, da der Kairoer Kirchendiener-Packer sehr töricht gepackt hat. Manche Dinge waren gänzlich zertrümmert, die meisten stark beschädigt, so daß der große Saal zu einer Art Möbelhospital umgewandelt wurde, in welchem chinesische Tischler aufs kunstvollste zu flicken begannen.

Am 27. Oktober waren wir zu einem großen Diner, welches Denby uns zu Ehren gab. Die sämtlichen Gesandten und Chargés d'affaires waren da und ganz wieder Erwarten verlief das Diner sehr gut. An den wenigsten Orten würde eine solche Massenvereinigung des diplomatischen Korps sehr behaglich verlaufen, aber hier scheinen sich alle gut zu vertragen und man fühlte sich ganz en famille. Die japanische Gesandtin, die Baronin Hayashi, im Nationalkostüm verlieh dem Ganzen etwas couleur locale d'extrême Orient.

2. November war Bischof Anzer bei uns, der für ein paar Tage nach Peking gekommen ist und für den es Edmund erreicht hat, daß er mit seiner Mission sich im Heimatsort von Confuzius etablieren darf. Merkwürdigerweise kam am selben Tage eine telegraphische Anfrage von MarschallAdolf Freiherr Marschall von Bieberstein, damals Staatssekretär des Auswärtigen Amtes. über die Angelegenheit, über die dann Edmund sehr stolz antworten konnte. Bischof Anzer ist ein gemütlicher Bayer und es schien mir sehr seltsam, ihn in chinesischem get-up mit heliotrop Beinkleidern, stahlfarbenem, wattierten Rock, marineblauer Jacke und Zöpfchen zu sehen.

4. November. Nachmittags hatte Edmund den Besuch von Li hung chang, der hier sehr klein und still geworden ist. Er ist zum Mitglied des Tsungli Yamen ernannt worden, und nach all ihm in Europa erwiesenen Ehren findet er hier zu Hause die Behandlung recht anders. Vor seinem Kaiser mußte er 1 ½ Stunden knien, und als er im kaiserlichen Garten auf dem Rasen spazieren ging, ward er mit Entziehung eines einjährigen Gehalts bestraft! Edmund war ganz degoutiert über ihn, da er sich die Nase mit den Fingern reinigt und dies dann in einen silbernen Becher tut, welchen ihm ein Diener extra dazu hält. Li hung chang sprach hauptsächlich vom Fürsten Bismarck, welcher ihm erzählt habe, er hätte mit der alten Kaiserin Augusta so viel Schwierigkeiten gehabt.

Dienstlich ist dieser Monat voller Aufregungen, denn es ist dem Belgier Vinck gelungen, einen belgischen Conseiller in das Tsungli Yamen ernennen zu lassen, was natürlich eine starke Bevorzugung alles Belgischen bedeutet. Dann hat Sheng tao tai die Direktion der künftigen Eisenbahn Peking-Hankow erhalten und will nur amerikanischem und belgischem Kapital die Beteiligung erlauben, während er die bisherigen deutschen Ingenieure entläßt. Auch in der Angelegenheit der Militärinstrukteure zeigen sich die Chinesen wenig entgegenkommend. In all diese Unzufriedenheit kam ein Telegramm von Berlin, ob Edmund und der Admiral sich einig seien über Flottenstation. Edmund telegraphierte ›Amoy‹. Die Chinesen haben sich nun noch eine Perfidie zuschulden kommen lassen: sie ernennen augenblicklich eine Reihe neuer Gesandten, und für Berlin war Lo feng lo schon so bestimmt in Aussicht genommen, daß hier alle Welt davon sprach und Edmund es nach Berlin drahtete. Mittlerweile aber hat Sir Claude Macdonald gegen den für London Ausersehenen Einsprache erhoben wegen Unterschleifen, die er begangen, und plötzlich wird dieser anstatt Lo feng lo nach Berlin bestimmt. Edmund drahtete es an das Auswärtige Amt und erhielt die Weisung, diesen Gesandten abzulehnen. Dies tat er denn in einem sehr kühlen Brief und ging tags darauf auf das Tsungli Yamen, wo er den Chinesen all ihre Rücksichtslosigkeiten vorhielt, ihnen sagte, daß sie ein Glas Wein, welches den Engländern zu schal erschienen, für Deutschland noch gerade gut genug gefunden hätten, und daß sie statt der sanften Musik der Freundschaft auch einmal eine andre, nach einem Kriegsmarsch klingende zu hören bekommen könnten! Die Chinesen sollen sich bei der Unterredung sehr demütig und versöhnend gezeigt haben.

Dezember. Es ist wirklich ein aufregender Posten, und der erste, auf dem mir Edmunds Tätigkeit eine fortwährende Sorge ist. Oft wache ich darüber des Nachts auf, weil mich die Angst darüber nicht schlafen läßt. Edmund soll hier das deutsche Prestige heben, der deutschen Industrie Beteiligung schaffen und eine Flottenstation erwerben! Wir stehen davor und fragen uns: Wie? Wie soll man hier gegen russisches und französisches Übergewicht ankämpfen und gegen chinesische Verranntheit. All diese Fragen präokkupieren mich so, daß ich darüber ganz vergesse, ob mir das Leben in Peking eigentlich gefällt oder nicht, und ich würde auf alle Fälle ein zehnmal fataleres Leben ertragen, und zwar mit Freuden, wenn Edmund hier nur einige Erfolge hätte.

6. Dezember. Nachmittags machten wir eine Sonntagspromenade auf der großen Mauer, von der aus man einen unbeschreiblich melancholischen Blick auf die grauen Dächer Pekings hat. Eine Stadt von Hütten, die sich beschämt unter den vielen entlaubten Bäumen verstecken, mit trostlos weiten, ganz leeren Plätzen dazwischen. Über diesem traurigen Grau in Grau erhebt sich die die Kaiserstadt umgebende Mauer, über welche die gelb gedeckten Dächer der Paläste und Tempel herüberschauen, und am Horizont sieht man duftige Gebirgslinien. Die Kanäle sind schon fest zugefroren, man kommt sich weit weg vor, und das erklärt vielleicht die so ganz besondere Melancholie dieser Aussicht. Beim Zurückkommen schauten wir lang auf die Hatamenstraße mit ihrem Grouillement von grau und blauen Karren und Chinesen in dicken Schafpelzen, und Edmund meinte, es sei doch nicht möglich, daß es lange noch hier so weiter dauere, ein europäisches Regiment müsse doch bald kommen! Hier für den Norden Chinas wird es entschieden Knute und Juchtenleder heißen.

18. Dezember. Den ganzen Vormittag schneite es und nachmittags machten wir in Sänften Visiten. Die Stadt sieht im Schnee höchst malerisch aus, und besonders hübsch machen sich die grünen Kacheln der Dächer gegen den silbergrauen Himmel. All die Steinhundchen hatten weiße Schneemützen auf.

24. Dezember. Draußen weht ein eisiger Sturmwind, den man bis in die Zimmerecken spürt. Den ganzen Tag über baute ich im großen Saal auf, um ½ 8 versammelte sich die ganze Gesandtschaft in Edmunds Zimmer, und dann klingelte ich und alle traten in den Saal, voran die Venselauschen und Hummelkenschen Kinder, bei deren Anblick mir recht wehmütig nach den meinen ums Herz war! In einer Ecke des Saals stand der große Baum, dicht unter ihm Edmunds Tisch und außerdem war noch für 15 Personen aufgebaut. Für die chinesischen Diener hatte ich Pelzjacken, worüber sie besonders froh waren, weil sie sonst zu Weihnachten nie etwas bekommen. Sie dankten mir sehr, »weil sie sich bisher nie für alt genug gehalten hätten, um Pelzjacken tragen zu dürfen, nun hätte ich sie zu dieser Würde avanciert«. Das war echt chinesisch. Ich wollte noch zur Mitternachtsmesse der französischen Kapelle gehen, war aber zu erkältet.

26. Dezember. Ich blieb zu Bett, und draußen pfiff ein so eisiger Wind, daß ich sogar unter den Decken fror. Edmund ging ins Tsungli Yamen, um noch einmal den Gesandten Wang abzulehnen und eine Antwort auf seine Flottenstationsanfrage zu erhalten. Dieselbe war, wie vorauszusehen, eine verneinende, »weil sonst andre Mächte dasselbe verlangen würden«. Als Edmund erwiderte, Rußland habe schon große Mehrbegünstigungen erlangt, sagte der Prinz Ching: »China sei auch Rußland zu besonderem Dank verpflichtet, weil es bei der Liaotung Intervention führende Macht gewesen sei.« Es ist betrübend und beschämend zu sehen, daß in Japan Deutschland als diejenige Macht gilt, welche die Japaner um ihre Eroberungen gebracht hat, während in China der Ruhm, den Chinesen geholfen zu haben, einzig Rußland zugeschrieben wird. Es ist schade, daß die beiden Lesarten bei den zwei Völkern nicht gerade umgekehrt sich verteilt haben!

28. Dezember. Mr. Pettnick, ein Amerikaner, der bei Li hung chang Sekretär ist, erzählte mir heut, die Chinesen würden ihm odiöser, je länger er sie kenne; an ein »Erwachen Chinas« sei nicht zu denken, sie seien verrannter und eingebildeter denn je, »and only fit to be sliced up by the different powers«.

29. Dezember. Endlich seit drei Wochen die erste Post, da wir ja jetzt ganz von der Welt abgeschnitten sind und nur noch gänzlich unregelmäßige Landposten erhalten.»Ich bemerke nur, daß demnächst, Anfang Dezember, der Pei ho und der Hafen von Tientsin zufrieren wird, wo dann die Post von hier und nach hier durch Reiter über Land nach Shanghai gebracht wird; hierdurch wird die Dauer der Briefsendungen um etwa 18 Tage verlängert.« Edmund von Heyking an seinen Vater. 13. November 1896.

31. Dezember. Ich war den ganzen Tag recht elend, beschäftigte mich aber mit Frau von Prittwitz' und meinem Kostüm und ging schließlich auf den Macdonaldschen fancy dress ball. Ich stellte die Duchess of Devonshire dar, und es wurden mir mehr Komplimente gesagt, als je auf einem früheren Fest. Es gibt hier eben so wenig hübsche oder elegante Frauen, daß eine nur leidlich gut aussehende wie Honig auf Fliegen wirkt. Die Kostüme waren über Erwarten hübsch, besonders bei den Herren. Zu unsrer aller Erstaunen aber hatte sich Sir Claude statt in Kostüm in seine große Uniform gesteckt, angeblich weil Li hung chang käme. Seine Kollegen hatten sich dagegen auf seinen Wunsch alle kostümiert, nur Gerard war weise, kam im Frack und benutzte dies, um Li zu akkaparieren. Dieser alte Chinese, den ich zum erstenmal sah, frug Lady Macdonald, warum sie so wenig bekleidet sei, und die junge Mrs. Denby, warum sie keine Diamanten hätte! All die Ungezogenheiten, welche er sich erlaubt, sind großgezogen worden durch die auf Bestellungen harrenden europäischen Lieferanten in Tientsin.

1. Januar 1897. Köstliches, kaltes und doch sonnenhelles Winterwetter! Die ganze Gesandtschaft, sowohl Deutsche wie Chinesen, kamen, um zu gratulieren. Ein sehr schöner Jahresanfang war, daß wir unerwartet eine Post erhielten mit, gottlob, sehr guten Nachrichten von den Kindern. Während des Nachmittags kam das nämliche tout Peking, um mir zu gratulieren, so daß ich schließlich ganz erschöpft war.

2. Januar. Edmund wurde vom Tsungli Yamen benachrichtigt, daß der bisherige Gesandte in Petersburg, Hsü, nunmehr für Berlin ernannt sei.

In drei Abteilungen, geführt von den Prinzen Kung, Ching und Li hung chang kamen die sämtlichen Mitglieder des Tsungli Yamens und der übrigen Ministerien, um Edmund zu Neujahr zu gratulieren. Sie wurden mit Schokolade, Champagner und Süßigkeiten traktiert, und da sie sämtliche Gesandtschaften an dem einen Morgen abmachen, sind sie schließlich ziemlich angeheitert.

11. Januar. Wir gaben ein großes Diner und können nur hoffen, daß sich die andern Leute nicht so sehr wie wir dabei gelangweilt haben!

13. Januar. Wir waren zum Diner bei Sir Robert HartChef der internationalen Generalzollinspektion, die zum größten Teil aus Engländern bestand. und ich sah die künstlichen Blumen, die Spieldosen und die Goldfische, die seit 25 Jahren bei all seinen Diners erscheinen. Das Haus ist mit Mahagonimöbeln und Straminstickereien möbliert, und dazwischen stehen diese wahnsinnigen Spieldosen, wie sie Rajaherzen erfreuen würden, und wodurch die Zimmer verchinester aussehen, als wenn sie voller Chinoiserien wären. Zwischen all dem stehen die Photos schöner Damen, u. a. auch Mme. Pansas. Der Gedanke an Mme. Pansa ist mir immer ein Trost. Die ist doch auch hier gewesen, hat es auch ausgehalten und ist doch auch gut fortgekommen. Nach Tisch wurde ein Lancier getanzt, was bei Sir Robert stehende Sitte ist; seine Musiktruppe spielte, und um 11 Uhr spielte sie einen Marsch, der das Zeichen zum Aufbruch bei all seinen Diners seit 25 Jahren bildet. Der neuernannte Conseiller belgique am Tsungli Yamen, Wouters d'Oplinter, war auch da et la pensée a du lui donner froid dans le dos, daß er, um irgend etwas zu erreichen, hier auch 25 Jahre bleiben müßte und Zeit haben würde, ein Sir Robert zu werden, mit Goldfischen, Spieldosen et tout le reste!

14. Januar. Die Chinoiserien hatten mich so krank gemacht, daß ich den ganzen Tag zu Bett blieb. Edmund ging abends zu einem Tanz, kam aber ganz disgusted von der Menschheit zurück. Ich fühle mich in exotischen Ländern nie unglücklicher, als wenn ich »Vergnügungen« wohl oder übel verschlucken muß!

16. Januar. Edmund und ich schrieben den ganzen Tag. Draußen schneite es und pfiff der Wind. Wenn man das durch eine Treibhausveranda beobachten kann, so gehört man immer noch zu den Glücklicheren dieser Welt!

17. Januar. Wir hatten zum Lunch Mr. Gerard, Baron Vinck und Wouters, die alle gut aufgelegt waren und höchst interessant erzählten, so daß man sich ganz in der zivilisierten Welt vorkam. Gérard ist éminemment litteraire und Vinck künstlerisch, so daß sie sich gut ergänzen. Der zweite könnte das Stück montieren, welches der erste geschrieben hätte.

21. Januar. Wir haben jetzt schönes klares Winterwetter, bei welchem man gern spazierenginge, wenn man nur wüßte wohin!

26. Januar. Einige Visiten gemacht. Die Straßen Pekings werden mir aber jedesmal entsetzlicher, und ich habe eine physische Repulsion gegen sie, als sollte ich jemand, der mir sehr eklig ist, einen Kuß geben. Abends ein sehr nettes Diner bei Vinck. Er hat eine Masse schöner alter chinesischer Sachen gekauft. Früher hätte mich hier die Sammelwut entschieden auch erfaßt, jetzt läßt es mich ziemlich kühl und ich weiß nicht, ob der Grund ist, daß ich überhaupt abgestumpft worden bin, oder das fortwährende Denken an unsre Vermögenslage. Wenn diese große Wolke sich lichtete, mit wie viel leichterem Herzen wollte ich Peking ertragen! Vielleicht ist es aber ein für uns heilsamer Zwang. Denn wer weiß, ob wir die force morale hätten, hier auszuharren, wenn wir genug hätten, um unabhängig leben zu können. Ich bin alles so rasend müde und sehne mich – ja wonach eigentlich? Ich glaube nach der Abwesenheit von Sorge. Wenn ich aber bedenke, wie schlimm es mir ganz früher ging, und wie leicht ich hätte mein Lebenlang in jener mornen Hoffnungslosigkeit bleiben können, dann bin ich auch für die jetzigen Sorgen dankbar!

1. Februar. Es wehte ein entsetzlicher Staubsturm und die Kälte war durchdringend. Wir ließen uns aber doch in Sänften zu Baron Vinck tragen, wo wir den père Favier kennenlernten. Er ist schon ein alter Herr, der viele Jahre hier zugebracht hat und von jener wohltuenden gleichmäßigen Heiterkeit ist, welche man manchmal bei wahrhaft religiösen Menschen findet.

2. Februar. Chinesisches Neujahr, welches schon seit mehreren Nächten durch unaufhörliches Böllerschießen eingeleitet wird.

7. Februar. Herr von Groot holte mich morgens ab und brachte mich in einen Tempel, wo eine große Neujahrsmesse gehalten wurde. Es wurden hauptsächlich grüne und rosa Steine verkauft und Perlen und wir erstanden allerhand Bronzesachen. Der Blick auf den Jahrmarkt war entschieden sehr malerisch. Von den Stufen des Haupttempels sah man auf die vielen kleinen Buden, die zwischen Fahnenstangen, alten Bäumen und den marmornen Unsterblichkeitsschildkröten aufgeschlagen waren, und zwischen denen sich die bepelzte chinesische Menschenmenge hindurchdrängte, ganz ordentlich und ohne daß irgendwelche Polizei sichtbar gewesen wäre. Ein Mongolenfürst mit seiner Frau fielen mir sehr auf; sie trugen beide rote Goldbrokatkleider, und die Frau trug eine Perlenmütze, auf der große Flügel aus Roßhaar befestigt waren, die mit Perlen bezogen sind. Über die Ohren hingen ihr lange Quasten aus Perlen und Korallen herab. Das ganze Bild war von der schönsten Sonne beschienen, und sobald ich kalt hatte, führte mich Herr von Groot, den alle Chinesen zu kennen scheinen, in einen der Läden, und wir bekamen Tee und Kohlenbecken. Ich habe in dieser Zeit Herrn von Groot häufiger gesehen, der durch seine große Ruhe für mich einen Charme hat. Er gehört zu den Männern, die wissen, daß Frauen ont besoin d' être choyées, und er hat all die Eigenschaften eines guten Freundes, der kleine ennuis und Widerwärtigkeiten aus dem Wege schafft.

9. Februar. Alle Herren der Gesandtschaft gingen auf das Tsungli, um mit dem übrigen diplomatischen Korps den Chinesen zum Neujahr zu gratulieren. Die Reden, das Bankett, die geistlose Unterhaltung sollen eine wahre Farce gewesen sein, recht kennzeichnend für die unüberbrückbare Kluft, die zwischen uns und den Chinesen besteht.

Sir Claude Macdonald ist es gelungen, die Chinesen dazu zu bewegen, den Westriver dem Handel zu eröffnen. Monsieur Gérard verlangt als Kompensation dafür die Insel Hainan und einen weiteren Bahnbau in die Provinz Honan. Edmund telegraphierte es nach Berlin und hofft, wenn die Franzosen jetzt etwas erreichen, daß man bei uns auch endlich Mut schöpfen wird.

17. Februar. Man ist hier entsetzlich isoliert, und außer Grünau haben wir keine Seele in dieser entsetzlichen Stadt, auf deren good will wir wirklich rechnen könnten. Wie groß ist oft die Sehnsucht, nur weg, wegzukommen! Wir fühlen uns oft so exasperiert, daß wir sogar daran gedacht haben, um Japan zu bitten, was vielleicht frei wird, da Gutschmid mal wieder eine fatale Geschichte mit Japanern gehabt hat, die er geprügelt haben soll.

Edmund erhielt eine Antwort aus Berlin, daß wir, falls die Franzosen ihre Kompensationen erhalten, auch unsre Flottenstation erlangen müssen. Dies versöhnte uns ein bißchen mit diesem Ort. Wir sind ja eigentlich Menschen von guter Rasse und würden hier ja alles gern ertragen, wenn man uns nur ein Ziel läßt, das der Mühe wert ist. Die furchtbaren Momente sind, wenn man an Berlin ganz irre wird. Edmund will nun versuchen, die Chinesen dahin zu bringen, daß sie Gérard nachgeben, damit wir freie Hand bekommen, und sich womöglich mit Gérard verständigen, pour qu'il ne nous jette pas des bâtons dans les roues.

20. Februar. Es ist plötzlich ganz frühlingsmäßig geworden. Luft und Himmel sind göttlich, so daß man lange Ausflüge machen möchte, aber in den Straßen taut und stinkt es derartig, daß man doch am besten zu Hause bleibt. Sobald es hier schön wird, empfindet man mehr als je das Gefängnismäßige . . . Heut erzählte Herr Detring, bei den Chinesen ginge das Gerücht, der Kaiser von Rußland käme nach Peking, was mich lebhaft an Indien erinnerte, wo auch immer am Horizont der indigenen Phantasie der Zar in einem großen Schlitten am Horizont auftauchte. Dies Bild scheint in ganz Asien in der Imagination der Leute zu spuken. So viel ist sicher, daß ein Russe, über dessen Bedeutung die Chinesen sich offenbar große Illusionen machen, nach Peking kommt, um dem Kaiser von China den Andreasorden zu überreichen. Ich schrieb an Kiderlen: »Lieber Herr von Kiderlen! Ich habe Ihnen schon längst einmal schreiben wollen; die ersten Eindrücke von China waren aber so schauerlich, daß ich es verschob, in meiner damaligen Idee, mit der Zeit vielleicht günstiger urteilen zu können. Da sich aber meine Auffassung dieses Landes stets verfinstert und sich die wenigen Lichtblicke, auf die wir gehofft hatten, in nichts auflösen, so will ich nicht länger zögern, Ihnen ein Lebenszeichen zu geben, welches Sie im günstigsten Fall in zwei Monaten erhalten. Diese Tatsache charakterisiert an sich dieses Land, welches in gewollter Abgeschnittenheit von der übrigen Welt stumpfsinnig weiterlebt, während es durch einen Eisbrecher im Hafen von Tientsin oder durch die seit Jahren geplante Bahn in den Süden in ununterbrochener Kommunikation mit dem übrigen Erdball sein könnte. Aber das wollen die Chinesen nicht und sie sind trotz ihrer bitteren Erfahrungen fortschrittfeindlicher denn je, hassen alles Fremde und Reformen, und Eisenbahnen müssen ihnen aufgedrungen werden, nicht als seien dies Vorteile für sie selbst, sondern Zugeständnisse für fremde Nationen.

Wie grauenhaft alle Lebensbedingungen in dieser Barbarenstadt sind, können Sie sich gar nicht vorstellen, denn selbst wer die entsetzlichsten schmutzigsten orientalischen Dörfer gesehen, ahnt nicht, was Peking ist. ›Je rentre dans la grande cloaque‹, soll ein vom Urlaub zurückkehrender Europäer gesagt haben, als er sich wieder vor den Anblicken und Düften der Straßen Pekings befand, und besser wird diese Stadt nie geschildert werden. Wir leben hier wie in einem Gefängnis in die Gesandtschaften eingeschlossen, und was man in den Straßen sieht, ist so unanständig, und was man riecht, so widerlich und gesundheitsgefährlich, daß nur ausgeht, wer durchaus muß. In die paar Gärten, die es in Peking gibt, darf kein Europäer eintreten, alle Sehenswürdigkeiten sind uns verschlossen, und um auf die Umfassungsmauer der Stadt zu gelangen, haben uns die Chinesen nur einen Aufgang eröffnet, der so weit abseits liegt, daß sich auch das von selbst verbietet. Der Europäer ist hier eben ein mißachtetes, gehaßtes Wesen, wenngleich er Gesandter heißt. Die Chinesen schließen sich von uns ab, soviel sie nur irgend können, und da keiner von ihnen eine europäische Sprache ordentlich kann, so fehlt jede Möglichkeit, sich persönlich gut mit ihnen zu stellen und sie zu beeinflussen. Mein Mann empfindet das sehr, denn er hat gerade die Gabe, sich bei Menschen beliebt zu machen, und für die ist hier nicht der geringste Raum. Chinesen verstehen nur die Dollar- oder Kanonensprache. Im übrigen befindet man sich einer großen starren Mauer gegenüber, gegen die alle europäischen Gedanken und Argumente spurlos abprallen, und zwischen den Europäern und Chinesen besteht eine derartige Anschauungskluft, daß sie nie zu überbrücken sein wird. Was sie auch früher gewesen sein mögen, heute sind die Chinesen schmutzige Barbaren, welche keine europäischen Gesandten, wohl aber europäische Herren brauchten – je eher, je besser! Die Russen und Franzosen haben das längst eingesehen, und rücken hier unaufhaltsam von Sibirien und von Tonking aus vor. Daß der ganze Norden Chinas russisch werden wird, ist wohl eine Tatsache, und ich glaube, es wäre ganz verkehrt, etwa unsere Forderungen in der Gegend von Amoy nicht auszusprechen, um dadurch ein russisches Vordringen im Norden zu verhindern, denn der ist ihnen sowieso verfallen. Welchen großen Vorteil die Franzosen und Russen hier vor uns haben, daß sie Grenzen besitzen, von denen aus sie drohen und Forderungen stellen können, erweist sich bei jeder Gelegenheit, wo sich die Chinesen ihnen gegenüber etwas zuschulden kommen lassen, und sie dann sofort von ihrer festen Basis aus einen Schritt vorwärts gehen können. Wir sind den Chinesen zu weit weg, und wenn wir nicht unsre Position in Ostasien auf die Stufe derjenigen Hollands oder Belgiens herabsinken lassen wollen, müssen wir hier eine Station erwerben, von der aus wir dann auch für unsere Industriellen Eisenbahnen in das Land hinein verlangen können. Von der bloßen Gesandtschaft aus kann man mit den Chinesen nicht mit Erfolg arbeiten. Wir müssen uns unsern Platz an dem großen chinesischen Trog erwerben, an dem die besten Plätze von den Russen und Franzosen schon genommen sind. Fressende Völker sind ja noch weniger anmutig wie – nach Byron – essende Damen, nachdem wir aber in Ägypten den Engländern dabei zugeschaut und hier Russen und Franzosen in voller Kautätigkeit finden, möchten wir endlich mitmachen dürfen. Der Gedanke an diese Möglichkeit hat uns ja allein dazu veranlaßt, in dieses furchtbare Land zu ziehen, und wir würden alles Schreckliche hier ja gern ertragen, wenn wir sie dafür aus einer Möglichkeit zur Wirklichkeit werden sehen. Als wir in so überstürzter Weise vorigen Sommer von Berlin abreisen mußten, dachten wir, daß es sich um ganz besonders dringende Aufgaben handele, – die Aufgaben sehen wir ja nun, allein uns fehlt der Glaube, denn mein Mann hat doch allmählich den Eindruck bekommen, daß man in Berlin nicht recht will und mit dem Gedanken einer Flottenstation nur kokettiert. Lieber Herr von Kiderlen, in Darmstadt oder Karlsruhe läßt es sich wahrscheinlich auch ohne besondere Ziele ganz gut leben, aber in Peking ist die Existenz nur auszuhalten, wenn man von dem Bewußtsein getragen wird, wirkliche Aufgaben zu verfolgen, über die man die tausend Entbehrungen vergißt, die man hier täglich erduldet. Zum Verzweifeln aber ist es, wenn man daran irre wird. Ein deutscher Gesandter hat es ja hier ohnedies schwerer, als alle andern. Die Franzosen und Russen helfen und stützen sich durch dick und dünn, wir dagegen stehen hier ganz isoliert, denn die Freunde haben längst vergessen, daß wir mit ihnen gegangen sind, und haben wohl verstanden die Erinnerung daran bei den Chinesen zu verwischen, und unsrerseits ist ja auch nichts geschehen, um sie wachzuhalten. Italien und Österreich sind durch kindliche Dolmetscher hier vertreten, und wir haben von diesen Alliierten um so weniger Hilfe zu erwarten, als wahrscheinlich kein Chinese je von der Tripleallianz gehört hat. Die einzige Möglichkeit, hier etwas zu erreichen ist durch the good will von Rußland. Dagegen ist es unmöglich anzukämpfen, und so widerlich die Russen auch gerade hier sind und so sehr Zweiter-Klasse-Beamte sie hier herausschicken, so wird man doch nur durch sie zu etwas gelangen. Heute noch wurde auf der englischen Gesandtschaft geäußert: ,There is nothing to hinder them from marching into Peking to-day.'

Ich frage mich oftmals, warum wir nach dem geliebten Kairo gerade nur vor die Alternative des furchtbaren Tanger und des schrecklichen Peking gestellt worden sind. Wir sehen hier alles so hoffnungslos an, daß wir uns sehnen, so bald als möglich fortzukommen, und, falls Japan jetzt frei wird und man, wie schon früher einmal, an uns für dort denken sollte, wir gern bereit wären hinzugehen. Wir hätten dort doch ein menschliches Dasein, könnten uns im Freien bewegen, hätten europäische Ärzte und könnten unsre Kinder hinkommen lassen. Wir denken oft mit Sehnsucht an die hübschen Tage in Hamburg bei Ihnen, und ich hege ein besonderes grief gegen das Schicksal, welches es nicht zuließ, daß wir Sie in Kopenhagen besuchten... Mein Mann empfiehlt sich Ihnen in dankbarer Freundschaft, und ich bleibe Ihre aufrichtig ergebene E. H.«

25. Februar. Edmund ging am Nachmittag auf das Tsungli und kam mit der erstaunlichen Nachricht zurück, daß ihm die Chinesen angeboten haben, eine Anleihe von 1 Million Taels in Deutschland für sie zu vermitteln. Wenn sich in Deutschland die nötige Beteiligung findet, wäre es ein herrlicher Erfolg für Edmund; wir fürchten nur, daß am Ende nicht der nötige Mut zu Hause existiert. Außerdem hat Edmund die Zusicherung aus dem Tsungli mitgebracht, daß nur Krupp die Befestigung Port Arthurs erhalten werde. Franzosen und Belgier sollen sich sehr um die Anleihe bewerben.

26. Februar. Morgens war der Empfang des diplomatischen Korps beim Kaiser von China zu Gelegenheit des Neuen Jahrs. Edmund kam mittags mit den Worten von da zurück: »Il y a eu un incident«, was lebhaft an Kairo erinnerte. Das Incident besteht darin, daß Gérard und Edmund, nachdem sie die Audienzhalle verlassen, wieder den Mittelweg einschlugen, auf welchem sie gekommen, statt einen kleinen Seitenweg, wie es bisher üblich. Ein Minister des Tsungli Yamen, Ching hsin, faßte darauf Edmund am Ärmel und suchte ihn auf die Seitenstiege zu zerren. Nun ging Edmund natürlich erst recht den Mittelweg, und mit Ausnahme des Doyen folgten ihnen alle übrigen Anwesenden. Das Zerren am Ärmel scheinen alle gesehen zu haben, und Edmund sagte, er hätte am liebsten gleich dort sich beim Prinzen Kung beschwert, hätte es dann aber unterlassen, weil es doch eben im Palais des Kaisers stattgefunden. Prittwitz und Goltz wurden nun mit einem Brief an das Tsungli Yamen geschickt, in welchem Edmund verlangte, Ching hsin möge kommen und sich entschuldigen, widrigenfalls Edmund nicht bei dem morgigen Festessen für das diplomatische Korps erscheinen würde. Abends sagte Pawlow zu mir, er habe gesehen, wie Ching hsin Edmund am Kragen und Ärmel gezerrt habe, und er würde ihm zu Hilfe gekommen sein, wenn er nicht zu weit abgestanden hätte. Die Gravität der Sache wurde mir erst jetzt klar, als ich so die andern darüber reden hörte. Edmund und ich sprachen dann noch bis spät in der Nacht darüber.

27. Februar. Statt der Entschuldigung kam ein unpassender Brief des Tsungli Yamen, Edmund sei den falschen Weg gegangen, und da sei es sehr natürlich gewesen, daß Ching hsin ihn gezogen habe. Außerdem kam ein Sekretär des Yamen, um Edmund zu bitten, doch zu dem Lunch zu kommen, den er sehr kurz abfertigte und erklärte, er verlange Entschuldigungen. Bald darauf kam der alte Denby, den die Chinesen gestern abend bewogen haben, Frieden zu stiften, allerdings on the understanding, daß Ching hsin einen Entschuldigungsbrief schriebe. Der alte Denby ist leider halb verchinest und gehört einer Schule an, für die wir Neuen kein Verständnis mehr haben. Er stammt aus der Zeit, wo die Gesandten hier mühsam erreicht hatten, überhaupt empfangen zu werden, und stolz auf diesen Lorbeeren ruhten, sich gegenseitig einredeten, China sei ein großes Reich mit einem wirklichen Hof, und sie seien wirklich Gesandte an einem Posten wie jeder europäische. Sie schraubten vor sich selbst den Posten in die Höhe, um sich selbst wichtiger und größer zu erscheinen und sich nicht eingestehen zu müssen, bei welchen Barbaren sie eigentlich akkreditiert wären. Die jetzigen neuen Gesandten stammen aus einer neuen, mehr die Realität sehenden Zeit, und sie lassen sich nicht mehr durch China imponieren. Es war sehr kurios, wie der alte Denby immer wieder auf das Protokoll der früheren Audienzen zurückkam und eigentlich der Advokat der Chinesen war. Edmund blieb aber dabei, daß er ohne genügende Entschuldigungen zu dem Lunch auf dem Tsungli Yamen nicht erscheinen werde. Nun saßen wir wartend, und vor der Tür standen die Sänften für alle Herren bereit. Als aber bis 12 Uhr 15 keine Entschuldigung gekommen war, wurden die Sänften abbestellt, und wir luden alle Herren der Gesandtschaft zu unserm Lunch ein. Während des Frühstücks kamen noch ein paar Boten des Tsungli, Edmund möchte doch kommen, die natürlich abgewiesen wurden. Endlich um 2 Uhr 15, als wir von unserm Lunch aufstanden, kam ein Brief von Ching hsin, der sagte, er sei zerknirscht, aber das Wort Entschuldigung nicht enthielt. Unter allen Umständen aber fand Edmund, daß dies nicht mehr der Moment war, um nun noch zu dem Bankett zu gehen. Während des ganzen Nachmittags hatten wir nun Visiten von allen Herren, die von dem Bankett zurückkamen. Bis um ½ 3 Uhr hatte man dort auf Edmund gewartet, z. T. durch Schuld des alten Denby, der immer noch dachte, Edmund würde noch kommen, und nicht den nötigen Schneid hatte, den Chinesen zu sagen, Entschuldigungen seien durchaus nötig. Die Chinesen sollen übrigens in a great state of mind gewesen sein, und alle Herren meinten, die Lehre sei ihnen sehr gesund gewesen.

28. Februar. Da der Brief des Ching hsin nicht eine eigentliche Entschuldigung enthält, hat Edmund nochmals an das Tsungli Yamen geschrieben, er verlange Chings persönliches Erscheinen und seine Abbitte. Gérard und Pawlow sind eifrig dabei, den Chinesen Nachgiebigkeit zu raten, weil sie fürchten, daß Edmund aus der Angelegenheit Vorteile ziehen könnte. Edmund sprach mit Pawlow über die Flottenstationsfrage, der ihm sagte, von Rußland hätten wir am wenigsten Opposition zu fürchten, aber es würde doch schwer zu erreichen sein, denn selbst kleine Länder, wie Holland, würden Gegenkonzessionen verlangen. Das Telegramm Herrn von Holsteins, wodurch er Edmund vor einigen Monaten in vollster Präparation aufgehalten hat und in welchem er sagte, es lägen Nachrichten vor, wenn wir hier ein Geringes nähmen, daß Rußland gleich ein Großes fordern würde, erweist sich also als ein bloßes Resultat seiner Ängstlichkeit und Nervosität, denn es ist seitdem im Gegenteil bekannt geworden, daß der Zar Li hung chang das Versprechen gegeben hat, keine Länderabtretungen zu verlangen, sondern sich mit der Bahn durch die Chinesische Mandschurei zu begnügen. Von der Nervosität Herrn von Holsteins aber wird Deutschland practically regiert! Das ist die eigentliche verantwortungslose Nebenregierung.

1. März. Wir machten einen Besuch bei Lady Macdonald, und ich war wieder entsetzt über die entsetzlichen Straßen mit ihrem Schmutz und Gestank und der armseligen Menschheit, die sich darin grau und trübe hin wälzt. Ich habe oft die Empfindung, als lebten wir wirklich in der Kloake der ganzen Welt, wo alles Schmutzige und Schreckliche von allen Weltenden zusammenfließt. Dazu die stumpfsinnige Trübseligkeit des ganzen Orts und aller Menschen; alle Leute, denen man begegnet, sehen wie Bettler aus; man sieht nie etwas Hübsches und Freudiges. Ich ertrage es nur dadurch, daß ich Haus und Garten nie verlasse; müßte ich viel ausgehn, so würde ich tiefsinnig, denn ich bin jemand, der so sehr vom Schönen lebt und von einer kongenialen Umgebung abhängig ist. Hier lastet das Häßliche wie Blei auf mir, und dann fühle ich mich so grenzenlos isoliert. Ach, dieses Gefühl des Alleinseins, wie es uns trotz allem durchs Leben begleitet! Wie ein Gefühl der Angst überkommt es mich oft des Nachts, und mir ist dann, als schwebte ich allein, ganz allein im dunklen Äther über einer ausgestorbenen Welt.

Hier, wo ich soviel Zeit zum Nachdenken und Erinnern habe, fallen mir oft frühere Lebensbilder ein. Ich sehe besonders so oft ein ganz junges Mädchen nachts am offenen Fenster; am Himmel steht der Mond, aber große, schwarze Wolken jagen an ihm vorbei; die Straße unten ist naß, die Laternen flackern unstet im Winde, manchmal hört man Sporenklingen auf dem Trottoir. Drüben an der Ecke des Hirschgartens blüht der große Baum hellgelb, und der Wind bringt einen leisen Frühlingsduft mit sich. – Wie oft habe ich da gestanden und soviel Fragen an die Zukunft gestellt und Pläne gemacht. War ich das wirklich? Schon damals habe ich jenes geheime Buch der unerfüllten Wünsche zu schreiben begonnen, in das ich seitdem täglich mit müderer Hand eine unerklommene Höhe mehr verzeichne.

Wenn sich nur der eine große Wunsch hier erfüllt, durch den allein ich das Leben hier ertrage! Alles eigne Leben in mir ist so sehr abgestorben, und so vieles, woraus hätte etwas werden können, ist verkümmert. Ich lebe beinahe mehr in Edmunds Beruf wie er selbst und fühle die Schwierigkeiten und Hoffnungslosigkeiten so sehr intensiv. –

2. März. Nachmittags kamen Ching hsin und Li hung chang zu Edmund, und ersterer entschuldigte sich wegen des Ärmelincidents. Li hung chang sagte, es täte ihm so leid, daß dies vorgekommen, weil er selbst in Deutschland so besonders gut aufgenommen worden sei. Die übrigen Tsungli-Yamen-Minister sollen sich in ihrem effarement an Li gewandt haben, er möge »auf Grund seiner Kenntnisse europäischer Dinge« die Sache wieder in Ordnung bringen, und Li's Prestige soll nun sehr gewachsen sein. Zu der Erledigung der Sache haben aber entschieden Pawlows und Gérards Warnungen sehr beigetragen, daß leicht Ernsteres daraus entstehen könne.

3. März. Wie jetzt beinahe täglich, war mir wieder recht wenig wohl, und so schrecklich abattue ohne eigentlichen Grund. Ich fuhr nachmittags mit Grünau in chinesische Seidenlager, was mich wieder etwas aufrappelte. Die Luft war schön und man empfand so eine Sehnsucht, nach irgendeinem hübschen, grünen, reinlichen Ort zu können; – statt dessen nichts wie diese graue, trübselige Scheußlichkeit. Zum Diner waren wir bei Baron Vinck, der sehr weit weg wohnt, und die Sänftenreise bis dorthin war besonders lugubre. Die Straßen sind hier nachts völlig unbeleuchtet und gänzlich menschenleer, und zwischen den endlosen niederen, grauen Mauern vorbeigetragen zu werden, hat etwas ganz Beklemmendes, als sei man allein noch lebendig in einer ausgestorbenen Welt. Manchmal begegnet man einem Chinesen, eine Laterne in der Hand, und diese undeutlichen Gestalten, deren Umrisse auf Augenblicke aus der Finsternis auftauchen, scheinen wie arme irrende Seelen; sie suchen auch den Weg, und alle bei ungenügendem Licht.

4. März. Wir gingen mit Grosvenor, Vinck, Serceys und Vidals in die Chinesenstadt, um Curioläden zu sehen. Das größte Curio ist immer wieder die Stadt selbst mit ihrem stets von neuem verblüffenden Schmutz und Gestank. Es gibt Straßen, in denen die Unrathaufen bis an die Dächer reichen und nur auf der einen Seite ein kleiner ebener Steg freibleibt, der jetzt aber, im Tauwetter, natürlich auch kaum passierbar ist. Andere, breite Straßen, haben in der Mitte eine Art erhabenen Damm, auf dessen Seiten allerhand fliegende Läden errichtet sind, und daneben viel tieferliegende Fußsteige, in welche natürlich aller flüssige Schmutz von oben herabsickert. Bei noch anderen Straßen findet sich eine Art Trottoir wie angeklebt an den Mauern, und die eigentliche Fahrstraße in braunem Unrat-Schlammstrom führt drei bis vier Fuß tiefer daneben. Die Bettler, denen man in Scharen begegnet, sind abschreckend schmutzig, in die unmöglichsten Lumpen gehüllt, z.T. sogar ganz unbekleidet. Sie bilden eine besondere Gilde und sind nach Straßen verteilt, und von ihrem Erwerb haben sie ihren Häuptlingen gewisse Abgaben zu machen, von denen diese wieder dem obersten Chef der ganzen Gilde, der stets ein kaiserlicher Prinz ist, Prozente zahlen müssen. So wird denn sogar der nackte, verhungernde Bettler in China gesqueezed. Für die Obdachlosen soll es in Peking ein Haus geben, dessen Räume nicht etwa mit Betten versehen sind, sondern welche mit Federn angefüllt sind; da sollen allnächtlich Hunderte dieser beinahe nackten, nie gewaschenen, mit jedem Ungeziefer bedeckten Gestalten hineinkriechen. Man denke sich, welche Ansteckungsherde!

Wir kamen in einen sehr merkwürdigen Hof, in welchem Ballen schöner, alter Seiden und Samte lagen, die von dort auf den öffentlichen Auktionen versteigert werden. Am Eingang dieses Hofes saßen eine Reihe seltsamer Bettlergestalten; einer von ihnen hatte sich seiner Lumpen gänzlich entledigt und fraß die unzähligen Läuse, die darauf promenierten. Die Gourmets sollen sie nur aussaugen und dann die Häute ausspucken, wie wir die Traubenschalen!! Unser Spaziergang währte 3 ½ Stunden, und wir kamen aus dem Wirrsal kleiner Straßen schließlich ganz in der Nähe des Himmelstempels heraus. Die hohen Wipfel der alten Bäume winkten verlockend über die Mauern, welche das weite Grundstück des Himmelstempels umgeben; aber wie überall, wo es in Peking hübsch ist, darf der Europäer ja nicht eintreten. Sir Macdonald meint auch, daß Peking abends ganz den Eindruck einer City of the dead macht, und welche Bilder Dante hier gefunden hätte.

6. bis 9. März zu Bett wegen Fieber und Gliederschmerzen, eine Art Influenzaanfall. Die erste Seepost kam wieder an von Shanghai nach Tientsin, und ich bekam eine Menge Briefe von zuhause, u. a. einen von Mumm, der uns bestätigt, Holstein wolle nicht recht an die Flottenstation heran. S. M. soll unter einen Bericht Edmunds »sehr gut« geschrieben haben, einen andern seinem Flügeladjutanten vorgelesen haben, und Cassini soll sich gegen Radolin sehr lobend über Edmund geäußert haben. Von alledem erfährt man durch das Amt natürlich keine Silbe, ein Auszug des Radolinschen Gesprächs mit Cassini ist Edmund sogar geschickt worden unter sorgfältiger Weglassung der anerkennenden Worte. Es ist alles so kleinlich. Auch einer der berühmten Hatzfeldschen Berichte, aus Zeitungsausschnitten zusammengestellt, über die sibirische Bahn, wurde Edmund geschickt. Welch trauriges Machwerk! Aber der Mann ist Botschafter, leitet mit Holstein die Politik, wird von ihm in allen ernsten Fragen zu Rate gezogen und hat den schmählichen Sansibar-Vertrag abgeschlossen! Alle großen Gedanken des Kaisers scheitern an der Schattenexistenz Holstein, der an einer auf Krankheit basierten Nervosität leidet, allen Dingen aus dem Wege geht, wo es zu einer wirklichen Handlung und Entscheidung kommen und er vielleicht gezwungen werden könnte, aus dem Dunkel herauszutreten. Denn er liebt Macht ohne Verantwortung! Obendrein leidet er an persönlichem Haß gegen die Russen, der sich auch uns hier in der Flottenstationsfrage zeigt und sicher schon oft noch ernstere Folgen gehabt hat. Denn warum ist nach Bismarcks Abgang der Neutralitätsvertrag nicht erneuert worden? Man sagt, weil Caprivi ihn für zu kompliziert hielt; Caprivi aber war in jenen Tagen noch ganz am Gängelband des Auswärtigen Amts, d. h. Holsteins, und wenn der den Vertrag hätte erneuern wollen, wäre er damals nicht an Caprivi gescheitert. Die Zeiten, wo Caprivi sich zu emanzipieren versuchte, kamen erst viel später, da stürzte er denn auch bald. Warum ist ferner nach S. M.s Telegramm an den Präsidenten Krüger Rußlands Anerbieten, darin mit uns zu gehen, wenn wir ihm in seinen antienglischen orientalischen Plänen freie Hand ließen, nicht angenommen worden? Durch Holstein-Hatzfeldsche Manipulationen, von denen der eine Rußland persönlich haßt und der andre unter englischem Einfluß steht!

14. März. Ich habe eine Woche mit Kranksein und in tiefster moralischer Depression zugebracht. So vieles hier würde anders werden, wenn man es nur den Kaiser wissen lassen könnte. Aber wie? Edmunds Berichte, die dem Auswärtigen Amt unbequem sein und die Inaktion und Ängstlichkeit dort klarlegen könnten, werden S. M. ja nie vorgelegt werden.

Es war ein milder, grauer Tag, und Grünau und ich benutzten ihn, um eine Ausfahrt zu machen in einer Siberiènne, einem zweiräderigen Karren, auf welchem ein freier, federnder Holzsitz angebracht ist und in welchem man nicht so sehr wie in den Pekinger Karren geschüttelt wird. Wir fuhren an der langen, hohen Mauer der Tatarenstadt entlang, wo ein leidlicher Sandweg ist, so daß unser Pferdchen ordentlich traben konnte, und wo man wenig Menschen, nur abschreckenden Bettlern und langen Kamelzügen, begegnet. Gegen den grauen Himmel nahm sich die hohe, gelbliche Mauer gut aus und ihre hohen Türme mit glänzenden grünen Kacheldächern. Neben dem breiten Sandweg zieht sich ein moderner Kanal hin, und auf seinem jenseitigen Ufer stehen zwischen entlaubten Bäumen die grauen, kleinen Häuschen der Chinesenstadt. An der Mauer treiben sich Scharen fetter, schwarzer Schweine herum, die in den Unrathaufen wühlen. Sehr malerisch ist der Ausgang der Chinesenstadt mit den doppelten grauen Toren, durch die man in die enge Straße sieht mit ihrem Gewirr von Menschen, seltsamen Aushängeschildern und zottigen Kamelen. Dann geht es über eine Art Zugbrücke hinaus, und zum erstenmal seit dem ersten Oktober befinde ich mich wieder außerhalb der verpesteten Stadt Peking. Ein ganzer Zug brauner, zottiger Kamele mit Lasten beladen steht da, die von weit, weit hergekommen sind, und man hat plötzlich die Empfindung, selbst auch weit, o wie weit weg zu sein von allem bisher Bekannten und Gewohnten. Wir fuhren durch allerhand holperige Landwege, auf denen unsre Siberiènne manchmal ganz seitwärts lag, auch durch etliche Sümpfe mußten wir, und dann wieder an Kamelherden uns vorbeidrängen, die nicht ausweichen wollten trotz des Schreiens unsrer Mafus. Das ganze Land ist noch graugelb und die Bäume kahl, nur die dunklen Flecken der Nadelhölzer beleben das Bild, und im Hintergrund zieht sich die blaßblaue ferne Bergkette. An einem Brückchen verließen wir den Wagen und gingen zu Fuß nach einem Tempel, den wir eventuell mieten wollen. Das ganze China scheint ein weites Grab, und in allen Abhängen, die die Wege einfassen, sieht man kleine und große Stücke menschlicher Gebeine aus dem Boden herausragen. Wir besahen ein altes Grab inmitten einer stillen kieferbewachsenen Fläche, und dann besuchten wir eine Pagode. Ein hoher, massiver Turm, an dessen unterem Teil allerhand Götzen angebracht sind. Darüber erheben sich 9 oder 10 Dächer, die alle mit Glöckchen besetzt sind. Der Wind spielt in diesen kleinen Glöckchen, und ihr leises Klingeln über all den umliegenden Trümmern in der kahlen, grauen Welt war unbeschreiblich trübselig. Verfallene Stufen führen hinauf und allerhand Steinornamente und große Marmortafeln liegen herum. Hübsch war eine weiße Marmorschildkröte mit der hohen Stele auf dem Rücken, die sich, von der Sonne einen Augenblick hell beschienen, scharf abhob von dem blaugrauen verschwommenen Hintergrund. Ein erhalten gebliebenes Sinnbild der Unsterblichkeit, von Trümmern und Zeichen des Vergänglichen umgeben. Durch die tiefliegende Dorfstraße, deren spitzgewölbtes Tor etwas seltsam Mittelalterliches hat, gingen wir nun zu unserem Tempel, der klein aber recht hübsch ist, besonders durch die vier Türmchen an den Ecken seiner Umfassungsmauer, die auch wieder recht mittelalterlich ins Land hinausschauen.

15. März. Sir Claude Macdonald kam zu Edmund und machte ihm bittere Vorwürfe, daß er in der Anleiheangelegenheit ohne ihn vorgegangen sei. Es scheint, daß durch das Auswärtige Amt das Foreign office den Wortlaut von Edmunds letztem Chiffretelegramm erfahren hat!! Edmund war ganz sprachlos. Soll nun aus der Anleihe etwas werden, so müssen wir mit England gehen, während wir sie leicht hätten allein haben können.

16. März. Edmunds Geburtstag. Gott behüte ihn und halte ihm Kummer fern und gebe ihm reichen Erfolg! Trotz dieses Exillandes war der Tag befriedigender als voriges Jahr, wo wir ihn so sehr traurig in Kairo verlebten. Nachmittags besuchte uns Li hung chang und wünschte Edmund tausendjähriges Leben (hoffentlich nicht in Peking!). Außerdem kam er, um mitzuteilen, daß die Chinesen die Anleihe dringend wünschten und bereit seien, als Pfand die Grundsteuer zu geben. Edmund telegraphierte dies gleich nach Berlin.

19. März. Ich schrieb an Mumm: »Lieber Herr von Mumm, haben Sie tausend Dank für Ihren liebenswürdigen Brief vom 1. Es war mir eine besondere Freude, von Ihnen zu hören, denn ich bin seit Wochen krank, lebe abwechselnd im Bett und auf der Chaiselongue, da ich das hiesige Klima absolut nicht vertrage, und habe noch nie ,the joylessness of life' so ganz realisiert wie während dieses entsetzlichen Winters in Peking, umgeben von der grauen, trostlosen Häßlichkeit und Armseligkeit, und dabei belastet durch das erdrückende Gefühl der Abgeschnittenheit, des Gefängnishaften. Wenn ich unser Exil überhaupt überlebe, so werde ich an Peking nur mit schauderndem Frösteln zurückdenken über all das Grauenhafte, was ich hier habe sehen müssen. Wenn man im Grab an Peking zurückdächte, müßte das Totsein an Reiz gewinnen. Man erlebt hier ungeschriebene Kapitel aus Dantes Inferno. Ein Inferno, wie eine kalte nordische, armselige, trostlose, grau in graue Phantasie es träumen könnte! Es kann keinen zweiten so abschreckenden Ort geben, den die arme Sonne bescheinen muß, sonst würde sie das Geschäft aufgeben. Wie gern täten auch wir das! Lieber Herr von Mumm, wozu sind wir eigentlich hierher geschickt worden? Für die schwächliche, ängstliche Politik, die man offenbar hier treiben will, paßte doch Baron von Schenk unendlich viel besser; denn er ward rund und fett, indes man hier über Deutschland die Achseln zuckte, was uns nicht schlafen läßt. Mein Mann ist doch wirklich zu schade für dieses kindische Kokettieren mit Flottenstationsplänen und nervös-ängstliche Fallenlassen aller Vorsätze, sobald eine Schwierigkeit entstehen könnte. Bei der ersten Gelegenheit, wo es mein Mann so weit gebracht hatte, daß wir handeln konnten, und es hier allgemein erwartet wurde, wird von Berlin abgeblasen. Und wegen welcher nichtiger Vorwände, weil Rußland sofort ganze Provinzen annektieren würde! Als ob es damit, wenn es überhaupt Wert darauf legte, auf uns zu warten brauchte! Diese ganze Weisheit basiert auf einem Gespräch des Fürsten Radolin mit Graf Cassini, in dem dieser geäußert hat, wir sollten es doch wie Rußland und Frankreich machen und einfach zugreifen. Dahinter wird mit großer Schlauheit gesucht, Cassini wollte uns hineinhetzen, um selbst Provinzen schlucken zu können, und wir kommen uns sehr klug vor, indem wir sagen: »Nun gerade nicht, ein Russe hat es geraten, folglich muß es schlecht sein!« Aber so liegt es nicht. Wenn Rußland wollte, könnte es den ganzen Norden Chinas besetzen; das liegt aber nicht in seinen vorläufigen Plänen. Auf Jahre hinaus wird es hier Eisenbahnen bauen, Banken gründen, Schulen einrichten und das Land so viel sicherer und ohne Aufsehen absorbieren. Es ist ja in der glücklichen Lage, warten zu können, weil es eine zielbewußte Politik betreibt und Schritt für Schritt nach dem Persischen Golf und den östlichen eisfreien Meeren vorgeht, und es ist auch immer sicher, dafür die nötigen Mittel zu finden, weil es ja nicht von einem gedankenlosen Reichstag abhängt. Gewaltsame Annexionen großer Provinzen wünschen sich weder die Russen noch die Franzosen, dazu sind die Chinesen ein zu schwer verdauliches und unassimilierbares Futter. Was aber alle hier besitzen und was jeder, der dies Land mit seinen Possibilitäten kennt, auch für Deutschland wünschen muß, ist, eine Tür in Händen zu haben, die nach China hineinführt. Und da es nicht eine lange Landgrenze sein kann, wie Rußland und Frankreich sie haben, muß es eben ein deutsches Gegenstück zum englischen Hongkong sein. Solange wir hier nicht festen Fuß gefaßt haben, werden wir nie in Ostasien au sérieux genommen werden. Wir sind gern nach Peking gegangen, solange man glauben konnte, daß es sich hier um besondere Aufgaben handelte, für die man meinen Mann speziell als geeignet hielt. Da das aber nicht der Fall ist, so kann ich nur sagen, daß es eine unnötige Grausamkeit ist, verheiratete Leute an diesen furchtbaren Ort zu schicken. Kinder den Gefahren eines Pekinger Aufenthaltes auszusetzen, wäre ein unverantwortliches Unrecht...«

22. März. Edmund war bei Chang yin wang und kam von diesem Diner ganz schwermütig zurück. Die Geistlosigkeit solcher Feste und das Bewußtsein, eben bei absoluten Barbaren zu sein, drückten ihn ganz nieder.

23. März. Admiral Tirpitz und andere Herren wollen im April heraufkommen. Diese Aussicht ist ganz herrlich.

24. März. Tiefer Schnee. Ich malte eine Ecke der Gesandtschaft, während der Schnee in dicken Flocken fiel.

4. April. Wir gaben ein Diner, zu welchem wir Li hung chang geladen hatten. Der alte Mann hat ein recht pfiffiges Gesicht, und mittels Goltz' unterhielt ich mich viel besser mit ihm, als ich erwartet hatte, so daß Goltz meinte, es sei ein regelrechter Flirt geworden. Ich hatte Befehl gegeben, daß der silberne Becher im Vorzimmer bleiben müsse, und so wurde uns dieser schreckliche Anblick erspart.

6. April. Wir fuhren in Siberiennen nach den außerhalb gelegenen gelben Lamatempeln. Die Wege waren so schauerlich, daß wir mehrmals umwarfen. Der Tempel ist aber so schön, daß der Ausflug doch lohnte. Wir saßen dort unter grünen Zypressen, zwischen denen die weiße Marmorpagode schimmert, unter der ein tibetanischer Lama begraben sein soll und die mich mit ihrem goldenen Aufsatz recht an Birma erinnerte. Um uns herum standen eine Menge Mönche, Chinesen und Mongolen, in seltsamen Pelzmützen und schmutzigen Brokatröcken; besonders eine recht schöne Mongolin mit goldenem Filigrankopfschmuck wich nicht von meiner Seite.

Tirpitz, den wir in den nächsten Tagen erwarteten, kommt nicht, sondern geht direkt aus Japan nach Berlin, da er zum Staatssekretär im Reichs-Marineamt ernannt ist. Einerseits erfreut uns dies sehr, da wir an ihm jemand in Berlin haben werden, der sich für China interessiert, und dem wir unsre Wünsche werden direkt mitteilen können. Andrerseits aber ist es ein Jammer, daß ihn Edmund nicht noch vorher sprechen kann.

10. April. Ich las eine Beschreibung Pekings von dem armen Ehlers, an den wir so oft denken, und dem wir, wenn er noch lebte, soviel anvertrauen könnten von dem, was wir wünschten, daß hier geschähe. Durch seine Freundschaft mit S. M. und seine Gabe, für Dinge Stimmung zu machen, würde er vieles hier erreicht haben.

18. April. Ostersonntag. Wir ließen uns nachmittags in den Petang tragen, wo Gottesdienst mit hübscher Musik war. Trotz der seltsamen chinesischen Mützen der Priester, der chinesischen Chorknaben und der chinesischen Gemeinde hatte diese Feier doch etwas anheimelnd Heimatliches, was auch wohl der Grund war, daß das diplomatische Korps ohne Unterschied der Konfessionen versammelt war. Nach der Kirche war Tee bei père Favier und dann besuchte ich noch die netten Nönnchen, die aus aller Herren Länder stammen und das Glück der Resignation auf dem Antlitz tragen.

19. April. Wir erlebten einen ganz fürchterlichen Staubsturm, durch den die Sonne förmlich verfinstert ward und die ganze Luft dick und gelb schien.

21. April. Edmund hatte infolge des Staubsturms einen heftigen Rheumatismusanfall und auch ich bin recht wenig wohl. Doch hatte ich viel im Haus zu tun, denn am

22. April kamen Kapitän Zeye mit Graf Zeppelin und Geheimrat Franzius mit Neffen, um einige Tage bei uns zu bleiben. Der Geheimrat ist ein kleines buckliges Männchen, der mich lebhaft an Robert-tornow erinnert, er hat ein sehr gescheites Gesicht, und dabei etwas sehr Liebenswürdiges. Er ist an den Kieler Docks angestellt und wird herausgesandt, um zu studieren, welcher Punkt für die Flottenstation am geeignetsten sein würde. Den Süden hat er bereits bereist und ist für Amoy und Samsa nicht sehr eingenommen; jetzt soll Kiautschou untersucht werden, wofür die Marine am meisten eingenommen ist, und neuerdings scheint es ja auch, daß die Russen ihre Ansprüche darauf fallen gelassen haben.

23. April. Edmund, der noch immer ganz krank ist, arbeitete aber mit Zeye und Franzius; sie wissen offenbar beide, daß das Auswärtige Amt nicht recht heran will, und daß S. M. wird persönlich eingreifen müssen, wenn aus der Sache etwas werden soll. Sie meinen, Tirpitz werde sicher in dem Sinne mit S. M. reden.

25. April. Wir standen morgens ganz früh auf, und gleich nach dem Frühstück um ½ 7 brachen der Geheimrat und ich in Karren nach Wan schau schan auf, während die anderen Herren zu Pferde folgten. Die Wege waren in einem so furchtbaren Zustand, daß man sich gar keine Vorstellung davon macht, bis zur Achse versanken die Wagen im Kot und standen oft so schief, daß es unmöglich schien, nicht umzufallen. Vor dem Tor wurde es besser, und ich hatte mich auf die Deichsel gesetzt und genoß die schöne Luft und das knospende Grün. Die Landschaft erinnert entschieden an Oberitalien mit der blaßblauen Gebirgskette, gegen die sich Weidenwäldchen und einzelne Pinien abheben. Auf der Straße herrschte viel Leben, da die Kaiserin Exregentin und häufig auch der Kaiser in Wan schau schan sind. Wir begegneten grünen Sänften, in denen schlafende Großwürdenträger einhergetragen wurden, und zerlumpten Soldaten auf kleinen zottigen Pferdchen, Offiziere mit der Pfauenfeder sprengten dahin. In Wan schau schan wird trotz des vielerwähnten Geldmangels stark gebaut. Von dort bogen wir den Hügeln zu und erreichten gegen 12 Pi yün sse, unser eigentliches Ziel. Dieser Tempel liegt reizend zwischen grünen Bäumen am Abhang eines Berges. Ein Marmortriumphbogen bildet den Eingang, durch den man aufwärts auf eine hohe Treppe sieht, die zu einem zweiten Bogen und endlich zu der Pagode führt. Von oben hat man einen herrlichen Blick auf die schier unermeßliche Ebene. Um den Tempel steht ein kleiner Hain von weißstämmigen Fichten, und an einem Tempeltor blühte ein gefüllter Mandelbusch; es war eine Fülle von reizenden rosa Blüten, wie ich sie noch nie vorher gesehen. Der Tempel enthält merkwürdige Höfe und Bauten. In einer Halle sitzen über 500 Genien, überlebensgroße, goldlackierte Figuren, in einer andern sind die Höllenstrafen dargestellt, genau wie auf unsern alten Bildern; zwei wundervolle alte Cloisonée-Vasen und reizende eingelegte Laternen stehen am Hauptaltar. Wir kamen zwar sehr gerädert durch das Rütteln der Karren nach Hause, aber doch sehr entzückt.

27. April. Den Morgen waren Kuriohändler in Massen vor unserm Haus versammelt und es entstand eine wahre Börse um die vier Herren. Abends gaben wir ein großes Diner für den neuangekommenen österreichischen Gesandten, Baron Czikann, den ich in Berlin bei Eperjessys Hochzeit vor 16 Jahren kennengelernt hatte. Er scheint noch in den Flitterwochen des Gesandtendaseins sich zu befinden und dadurch die Schrecknisse Pekings zu übersehen, spricht von seinem künftigen Gesandtschaftspalais mit griechischer Fassade, und das allein beweist ja, welchen Illusionen er sich hingibt. Zehn Offiziere und ebensoviel Matrosen sind mit ihm heraufgekommen und werden hier abwarten, bis er seine Audienz gehabt hat. Diese neue Gesandtschaft soll hier entschieden mit einem gewissen Trara installiert werden, ich fürchte nur, auf die chinesische Dickfelligkeit macht nichts einen Eindruck.

2. Mai. Wir gaben ein großes Abschiedsdiner für unsre Herren und hatten dazu auch Li hung chang und Baron Czikann und seine österreichischen Offiziere eingeladen. Der Tisch war so schön mit weißem Flieder dekoriert, daß es sogar dem alten Chinesen auffiel. Er hatte uns sehr schöne Fische geschickt, und die erschienen serviert mit kleinen Fahnen, auf denen stand, daß dies kostbare Geschenke Li hung changs seien. Unsern Herren machte es entschieden Spaß, mit dieser größten chinesischen Kuriosität zusammen gespeist zu haben.

5. Mai. Die alte Mrs. Denby holte mich morgens ab, und wir fuhren nach dem verlassenen kaiserlichen Jagdpark Wan hei lo, in welchen eigentlich kein Mensch hinein darf. Der Park ist von einer hohen Mauer umgeben, und wenn man eintritt und die blumigen Wiesen, die halbüberwachsenen Teiche und die schönen Blumen sieht, glaubt man wieder in Europa zu sein. Das Jagdschlößchen, welches verfallen auf einer kleiner Insel inmitten des schilfigen Wassers liegt, wurde von Chen lung gebaut, und alles dort erinnert an die gleichzeitigen Louis XV. Lustpavillons in chinesischem Stil, wie man sie in Frankreich, Deutschland und Sizilien so oft gesehen hat. Ich hatte, wie so oft, die Empfindung des früher schon Erlebten. Auf einem Hügel steht ein Teepavillon mit geschwungenen Dächern, über die Arme des Teiches führen Marmorbrücken, die z. T. ganz eingestürzt sind, z. T. noch eben zusammenhalten – mais sans conviction, als wüßten sie, daß der Ruin und Verfall ja doch nicht aufzuhalten sind. All die Louis XV. Chinesen und Chinesinnen, die dort Tee getrunken und kleine Pfeifchen geraucht haben, sind ja auch längst dahin und verschollen. Im Hof des eigentlichen Schlößchens blühte eine wundervolle Glyzinie, die alles überwucherte, und im Rasen standen unzählige Veilchen und Wicken. Ich skizzierte, und nachher lunchten wir im kleinen Teepavillon lauter praktische Büchsenkonserven, die sich recht merkwürdig machten in dieser Umgebung von 1700. Wir selbst machten uns wohl auch merkwürdig: drei praktische Amerikanerinnen und eine Deutsche, welche letztere allein wohl das sah, was einst gewesen.

8. Mai. Ich stand morgens vor fünf auf, um einige Tage nach Pi yün sse zu ziehen. Ich ließ mich tragen, und der kleine Dr. Merklinghaus, der zum Schutz mitgeht, fuhr im Karren nebenher. Er nimmt seine Rolle sehr ernst und teilte mir mit, er trage Revolver und Apotheke bei sich. Um 6 von Peking weg, waren wir um 10 in Pi yün sse und fanden dort das Wohnhaus von Wey chiang reizend dekoriert, mit indischen Stoffen und Blumensträußen. Frau von Prittwitz, die einige Tage bei mir bleiben will, kam nach und zum Tiffin fand sich Czikann mit all seinen Herren ein. Es war sehr gelungen und machte Koch und Diener in der Wildnis alle Ehre.

Wir blieben bis zum 20. Mai in Pi yün sse zusammen und malten eifrig die schönen Höfe, Buddhas und die Pagode. Wegen der gerade stattfindenden Frühlingswallfahrten, welche täglich Hunderte von Pilgern herbrachten, versuchten die Mönche uns erst wezukomplimentieren, aber all ihre Versuche scheiterten an unserm Entschluß, ruhig dortzubleiben. Die Scharen von Pilgern besahen sich unsre Malereien zwar mit größter Neugier, waren aber nie unverschämt. Einigemal waren wir auch in dem neben Pi yün sse gelegenen kaiserlichen Jagdpark; ich malte dort die Fassade des gleichzeitig wie der Sommerpalast zerstörten Palais. Die grünen Wiesen voll wilder Blumen, vor allem blauer Iris, waren ein ungewohnter Anblick, und noch ungewohnter die wirklich schön gehaltenen Wege. Sehr malerisch sind die Trümmer des Palais mit den Resten eines goldenen Daches und ein großes Schwimmbassin, in dem sich jetzt rote Fische zwischen Entengrütze tummeln. Der geschnitzte Thronsessel, auf dem sich der frühere Kaiser vom Bade ausruhte, steht noch in der Bogenhalle, die um das Bassin führt. Aus diesem Park hat man einen sehr schönen Blick nach der jetzigen Sommerresidenz Wan schau schan mit ihrem großen künstlichen See, dem Damm und der Kamelrücken-Brücke, die darüber führt. Der Kaiser und die alte Kaiserin sollen dort große Feste geben, und wir sahen ein Dorfkind, welches uns akrobatische Kunststücke vormachte, und erzählte, Hunderte von Kindern müßten so dem Kaiser vortanzen.

Am 1. Juni kehrte ich schweren Herzens in das furchtbare Peking zurück, um Marquis Salvago zu bewillkommnen, der zum italienischen Gesandten ernannt ist. Sie sind wirklich alle: er, sie, Vater und Kind hergekommen, und die arme Marquise ist offenbar in hellster Verzweiflung über diesen furchtbaren Ort, und sie ist wohl auch die letzte Frau, die hierher paßt, dazu hat sie ein scheußliches Haus und einen Garten, der der Sahara gleicht.

2. Juni. Heute war Gérard bei Edmund und erzählte ihm, es seien sehr beunruhigende Nachrichten von Tientsin gekommen, wo in der chinesischen Bevölkerung eine große Gärung gegen die Europäer herrschen soll, wegen angeblicher Kinderraube durch christliche Chinesen. Diese Kinderraube würden in Zusammenhang gebracht mit der bevorstehenden Einweihung der neuaufgebauten französischen Kirche, die im Jahre 70 zerstört worden war.

6. Juni. Heut wurde uns erzählt, wie beim Überreichen des Katharinenordens an die Kaiserin derselbe zu Boden und einige Diamanten heraus gefallen seien, die sich natürlich bei dem Suchen der Eunuchen und Dienerinnen nicht wiedergefunden haben. Die schlaue alte Dame sandte nun den Orden an Li hung chang und schrieb dazu, sie schicke Orden und Diamanten zurück, er möge sie wieder einsetzen lassen, was er denn grollenden Herzens tat. Der schlaue Li scheint trotz aller Schlauheit hier doch gehörig ausgenutzt zu werden. So muß er für Prinz Kung die Gegengeschenke an den Zaren aussuchen, »da er ja in Europa gewesen sei«, und das bedeutet denn, sie zu bezahlen. Weder der Kaiser noch die Prinzen haben für solche Gelegenheiten irgendwelche Vorräte, sondern sie müssen sich dazu die schmutzigen Kurioleute kommen lassen, and their great object is, to return for a fine present an inferior one.

27. Juni gaben wir ein großes Diner für den nach Berlin neuernannten Lo hai huan. Alle Deutschen waren dabei, die Österreicher und Italiener, so daß wir 22 waren. Lo hai huan ist ein ganz behaglicher alter Herr, der noch nie in Europa gewesen, but he seems bent upon being delighted with everything. Anfänglich hantierte er mit Messer und Gabel wie mit chop-sticks herum, nachdem er mir aber ein Weilchen zugeschaut, machte er mir alles nach. Er sagte mir, »er fühle sich so mollig bei uns, daß er auch Lust bekäme, Wein zu trinken«, und das tat er denn auch sehr reichlich. Edmund ließ den Kaiser von China leben, und Lo hai huan unsern Kaiser und Kaiserin, was von seinem Dolmetscher und von Krebs übersetzt wurde.

28. Juni. Strömender Regen und ich packe für den Sommer.

1. Juli. Während ich morgens bei Lady Macdonald malte, kam die europäische Post und brachte leider sehr bedenkliche Nachrichten vom armen Onkel Edmund, der für mich so sehr ein Stück Jugend verkörpert und stets so lieb gegen mich gewesen ist. Außerdem sagte der Admiral von Diederichs sich ganz plötzlich an.

3. Juli. Den ganzen Morgen fieberhaft zu tun; es war schon alles für den Sommer weggepackt, Vorhänge und Teppiche eingekampfert und fortgeschlossen. Wir wurden gerade fertig, bis der Admiral, sein Sohn und Herr von Ammon nachmittags eintrafen. Abends hatten wir die Mitglieder der Gesandtschaft zu Tisch, die wohl waren; es herrscht aber allgemein Dysenterie bei den Europäern und bei den Chinesen Cholera. Der Admiral ist ein ganz einfacher, bescheidener Mann, der aber sehr die Absicht hat, hier etwas zu erreichen. Gott gebe es!

In diesen Tagen traf die Nachricht von Marschalls Rücktritt und Bülows Ernennung ein. Eine einzige Zeile Reutertelegramm, so daß für Spekulationen über Gründe und Folgen der weiteste Spielraum gelassen ist. Bei solchen Gelegenheiten bedrückt die Entfernung so sehr.

11. Juli. Briefe von Didi und von Onkel Edmund erhalten, wonach es ihm recht schlecht zu gehen scheint, was mir ein sehr großer Kummer ist. Und dazu kommt noch die Gewißheit, daß er über Crossen anderweitig verfügt hat, und die Sorge, was Sommers aus den Kindern werden soll, wenn die Möglichkeit des Aufenthalts in Buckow wegfällt. Es sind so viel Gedanken und Sorgen zugleich und so viel bittere Regrets, denn Papa rechnete ganz sicher darauf, daß Onkel Edmund an mich denken würde. Wenn man bedenkt, daß mein Großvater sein ganzes Testament so gemacht hat, daß Papa möglichst vorteilhaft bedacht sein sollte, so ist es wohl eine seltsame Ironie, daß nun gerade Didi und ich leer ausgehen werden. Mir geht die Sache schrecklich nahe.

14. Juli. Sir Claude aß bei uns im Garten, was ohne die unerträgliche Hitze sehr nett gewesen wäre; es war aber so heiß, daß Edmund eine Art kleinen Ohnmachtsanfall hatte. Die Nacht war qualvoll. Edmund lief im Hause herum nach einem kühlen Eckchen suchend und ich ihm nach, um ihm zu fächeln.

16. Juli. Mit Herrn Krebs morgens ab nach Fa hei sse; die Wege so schlecht, daß Edmunds Sänfte ein paarmal beinah umschlug. Es war aber eine wahre Wonne aus der Stadt heraus zu sein; es ist mir jedesmal, als würde mir eine große Sorgenlast abgenommen – ich habe noch nie eine so deprimierende Stadt wie Peking gesehen. Und das Land ist im Gegenteil so schön. Wir wollten eigentlich nur für einen Tag nach Fa hai sse, um dann den Umzug von Peking aus zu besorgen, beschlossen aber gleich draußen zu bleiben.

Fa hai sse liegt oberhalb des Städtchens Murshi ko, an einer Art Bergmulde zwischen einem Gehölz von Lebensbäumchen. Schlängelnde Wege führen hinauf durch grüne Wiesen, über die vom Berg herab jetzt trockene Bachbetten ziehn. Am Eingang des Tempels, zu beiden Seiten des großen gelbdachigen Tores stehen hohe alte Zedern. Dann kommt man in einen malerischen alten Hof mit verfallenen Glockentürmchen, zwei Steinschildkröten, deren hohe Stelen von überhängenden Akazien beschattet werden, und einer hohen imposanten Treppe, die zum eigentlichen Tempel führt. Unsre Zimmer liegen um einen viereckigen Hof, in welchem zwei herrliche weißstämmige Kiefern stehen, mit alten Bronzevasen und Räucherbecken und Stelen und Säulen aus verwittertem Stein. Der Farbeneffekt der graublauen Stämme, die sich kalt und gespensterhaft von den warmen grüngrauen Steintönen abheben, ist ganz entzückend. Außer unsern rechtmäßigen Zimmern eroberten wir in hartem Kampf von den Priestern noch die Eingangs-Götterhalle zur Benutzung als Wohn- und Speisezimmer. In ihr steht ein Altar voll bronzener Götter, mit Räucherbecken und Vasen davor. An beiden Schmalseiten des Tempels sitzen auf erhöhter Estrade und in dreifacher Lebensgröße vier groteske Kriegergestalten, welche man in vielen chinesischen Tempeln trifft, und welche die Geister, der vier Weltrichtungen darstellen. Sie tragen seltsame Rüstungen und unter ihren Füßen kauern Teufelsgestalten. Die eine Figur spielt stets Gitarre. All dies stammt aus der Zeit der Tempelerbauung, 1440, und war wohl selten seitdem gereinigt worden. Mit Hilfe unsrer christlichen Boys wurden die Götzen vor allem von mir gehörig getübbed, Altar und Bronzen schräg in eine Ecke gestellt, und dann der ganze Raum wohnlich mit Möbeln und indischen Draperien hergerichtet. Eine besonders schöne Bronzefigur, welche mit gefalteten Händen zu beten scheint, stellte ich auf ein hohes Postament an eine der roten Säulen gelehnt, welche das hohe Giebeldach tragen, und sie sieht jetzt ganz wie eine gotische Figur an einem Pfeiler aus. Während der nächsten Tage war ein recht unbehaglicher Zustand des Einrichtens und Tapezierens und ich wohnte in allen möglichen Winkeln, zwischen Petroleum- und Sardinenbüchsen, während die Arbeiter die eigentlichen Zimmer vornahmen. In all diese Konfusion kam der Baumeister Schiele hinein, der die Bauten an der Gesandtschaft machen soll.

24. Ju1i. Unser letzter Tag mit Grünau, der uns so liebgeworden und dessen Zeit bei uns in China nun leider vorbei ist.

25. Juli. Wir standen um 4 Uhr auf, um Grünau abreisen zu sehen. Er weinte und war offenbar sehr traurig, und uns wird er schrecklich fehlen, denn er war ja der einzige, mit dem wir uns hier wirklich herzlich standen.

27. Juli. Nachmittags nach fürchterlicher Hitze hatten wir ein starkes Gewitter, und die langersehnten Regen brachen los.

30. Juli. Edmund und ich machten mit Maski und Tinchau einen großen Spaziergang an den jetzt rauschenden Bergbächen entlang, über Steine und durch Pfützen, auf den höchsten Berg hinter unserm Tempel. Der Blick von dort ist ganz überraschend, vorn auf die weite schönbebaute Pekinger Ebene, seitwärts auf den breiten Hunho, die Luko chiao-Brücke und die ganzen jenseitigen zackigen und wildaussehenden Berge. Edmund und ich waren entzückt von dem Blick und würden ja überhaupt in China ganz glücklich sein, wenn wir auf dem Lande leben könnten und nicht in die furchtbare Stadt zurück müßten. Es ist wirklich ein schönes malerisches Land.

30. Juli. Kapitän Brussatis vom »Cormoran« kam an. Er ist mehrere Jahre erster Offizier auf der »Hohenzollern« gewesen und erzählt sehr interessant von dieser Zeit. Er meint, daß bei S. M. sich allmählich eine große Erbitterung gegen England angesammelt habe. Sehr hübsch beschrieb er, mit welcher Frische und welchem Enthusiasmus der Kaiser an alles herantritt; will er etwas, so kann es ihm gar nicht schnell genug gehen, und er ist voller Gedanken und Initiative. Aber auch aus diesen Schilderungen gewinnt man den Eindruck, als ob die Regierung und speziell das Auswärtige Amt eigentlich nur da seien, um S. M. in allem zu hemmen.

l. August. Sobald Brussatis abgereist war, kam der Bischof Anzer an, welcher auf Urlaub nach Berlin und Rom geht und Edmund adieu sagen wollte. Er lud uns ein, zu dem nächsten Pfingsten zu ihm nach Shantung zu kommen, um bei der Einweihung seiner neuen Kathedrale zugegen zu sein.

Die Hitze während all dieser Tage ganz entsetzlich. Der angenehmste Augenblick ist noch das allabendliche Baden in dem kleinen Bach, den die Regengüsse gebildet haben. – Ein ganz ruhiges ländliches Dasein und Abwesenheit von allen Sorgen ist das Ziel meiner Wünsche. Man könnte eigentlich so leicht sehr glücklich sein!

11. August. Edmund las mir den ganzen Nachmittag Zeitungen vor, die allerhand Interessantes enthielten über Bülows Ernennung und die Flottenvergrößerungsabsichten des Kaisers. Kiderlen war als künftiger Staatssekretär auch mehrmals genannt, was uns sehr freute.

Am 29. August bekam Edmund ein Telegramm vom Auswärtigen Amt, das erste Bülowsche, daß in Petersburg mit der dortigen Regierung vereinbart worden sei, wir sollten Kiautschou bekommen, sobald die Russen ihrerseits einen Hafen in Korea besetzt haben würden. Obschon die Sache eventuell ad calendas graecas verschoben sein kann, so freuten wir uns doch sehr, daß überhaupt darüber verhandelt wurde; Edmund lebt seit der Nachricht auf und kann sich mit Recht sagen, daß er viel dazu beigetragen hat, indem er durch Berichte und Briefe die Sache immer von neuem angeregt hat, auch kürzlich in einem Privatbrief Hohenlohe direkt gebeten, die Frage mit Petersburg doch direkt zu behandeln. Wie sehr wünschte ich, wir erlebten die Realisation und in nicht allzu langer Ferne.

12. September. Seit einiger Zeit erscheinen Zeitungsnotizen, China wolle mit Rußland Kiautschou befestigen; die englischen Zeitungen sind wütend darüber und loben nun Kiautschou bis in den Himmel, nachdem vorher nie ein Mensch darüber geredet hat; es ist beinah zuviel des Guten, denn es wird die Abtretung nur erschweren. Edmund erhielt die telegraphische Genehmigung zu seiner Hafenreise, er solle aber einen Drahterlaß über Kiautschou abwarten, was uns sehr gespannt macht, denn man sieht doch, daß sie sich in Berlin darum kümmern. In dieser Zeit viel Sorge durch Briefe von Didi, welche so sehr drängt, ich möchte zum Winter zu Onkel Edmund kommen. Ich kann das aber nicht tun, ohne daß er mich direkt darum bittet, und dann wäre es für mich ein ganz entsetzliches Opfer, Edmund hier ganz allein zu lassen. Ich hoffe immer, dieser Kelch geht an mir vorüber. Einen jeden hält doch die trübe Sorge an der Hand, aber die Einbildungskraft in ihrem rosa Wölkchen schiebt sich dazwischen und gaukelt uns etwas vor, so daß wir die graue Frau etwas weniger deutlich merken. Glücklich sind die Projektemacher!

15. September. Edmund erhielt hier die Abschrift eines geheimen Vertrags zwischen Rußland und China, wonach ersteres Kiautschou auf 15 Jahre pachtet. Es geht aus dem Vertrag hervor, daß Rußland dort Hafenbauten usw. anlegen wird, d. h. sie scheinbar von den Chinesen wird ausführen lassen, um das Geheimnis des eigentlichen Herrn zu wahren. Wenn das alles erst einmal geschehen, so weiß ich nicht, was die Russen plagen sollte, uns dann noch Kiautschou gewissermaßen zu schenken. Edmund und ich sind schrecklich deprimiert, denn es sieht doch ganz so aus, als seien wir so recht mis dedans worden. Der Gedanke der Flottenstation ist doch der eigentliche Lebensgrund auf diesem furchtbaren Posten; wenn der wegfällt und wir ganz einsehen, daß hier für Deutschland nichts zu erreichen ist, so weiß ich nicht, wie wir das Leben hier ertragen sollen. Man fühlt sich so gedemütigt und beschämt.

17. September. Ein Militärinspekteur, Herr von Broen, kam aus Tientsin und erzählte uns, wie sehr die Russen dort und in der Provinz Shantung arbeiten und überall Emissäre haben, wie sehr auch die chinesischen Autoritäten, z. B. der Generalgouverneur von Tientsin, unter russischem Einfluß stehen.

18. September. Ein Telegramm von Didi, Onkel Edmund sei gestorben. Ich kann es nicht aussprechen, wie mich das betrübt. Wohl niemand verliert soviel an ihm wie ich, denn seit Jahren ist er so gut zu mir gewesen, wie Papa nicht hätte besser sein können. Den Kindern hat er in Buckow das schönste home gewährt, und für mich ist es, solang er lebte, ein wirkliches Zuhause geblieben. Das fällt nun alles weg und ein Lebensabschnitt schließt mit seinem Tode, und mehr denn je werde ich von nun an das Gefühl haben, ein Blatt im Winde zu sein und kein Fleckchen Erde mehr zu wissen, wo ich wirklich hingehöre. Vor kurzer Zeit war er noch so frisch und freute sich so am Leben. Und so viele ganz alte Leute bleiben weiter, die andern nur eine Last sind. Warum konnte er nicht noch ein bischen leben, der soviel Gutes tat und für mich wie eine Vorsehung war? Buckow und Crossen werde ich wohl nie wiedersehen, und es ist ein sehr wehes Gefühl, Orte, die man so liebt, an Fremde gehn zu sehen. Für mich hatte dort jeder Baum und jeder Stein seine Sprache, die ich verstand. Die letzten Urlaubszeiten aus Kairo habe ich so sehr in Buckow genossen, nun ist das alles vorbei; mit dem armen Onkel Edmund habe ich Papa und meine Jugend ein zweitesmal verloren. Mir ist jetzt oft zumute, als sei die schönste Zeit des Lebens vorüber, ohne daß ich es im Augenblick gewußt hatte.

23. September. All die Tage krank und elend und zu Tode betrübt und immer mehr realisiert, wieviel wir verloren haben. Und das Leben geht weiter, und man muß sich einrichten mit diesem neuen drückenden Stein im Schuh.

25. September. All die Tage sehr viel geschrieben, um die neuen Bestimmungen über die Kinder zu treffen, welche durch Onkels Tod nötig werden. Viel Sorge, viel Kummer und viel Bitternis gegen diese neue Ungerechtigkeit, daß wir als letzte Flemmings von den ganzen Flemmingschen Gütern auch nicht das kleinste Eckchen haben werden. Mit einem Federstrich hätte uns der Onkel von all unsern Sorgen erlösen können, wir hätten jetzt ein festes Zuhause und könnten uns die dienstlichen Kränkungen und Schwierigkeiten so viel gleichmütiger ansehen. Es grämt mich so schrecklich, zu sehen, wie Edmund sich hier abmüht und abarbeitet, und es doch zu gar nichts führt, weil man in Berlin ja doch alles laufen läßt. Dazu das Übelwollen Holsteins, welches wir in so vielen Dingen merken. Mich dauert es um Edmund, der zu gescheit und zu schade ist für die Rolle, die man ihn hier spielen läßt. Und ich frage mich oft, ob die Leute, die so fleißig und scharfblickend wie er sind, in Deutschland so herumwimmeln, that one can afford, ihn hier so verkümmern zu lassen!

Nachmittags besuchte uns Sir Claude, und wir begleiteten ihn ein Stück Wegs zurück; das erste Mal seit Wochen, daß ich wieder ein Stückchen gegangen bin. Wir saßen zwischen Steinen auf dem sonnverbrannten Gras und sahen auf die weite, blaue Ebene vor uns. Es könnte hier alles ganz gut sein, mit der Einsamkeit und andern Übelständen sind wir ja alt genug uns abzufinden, wenn es nur nicht eine so schrecklich deprimierende Rolle wäre, die wir dienstlich hier spielen müssen. Wir sind jetzt über ein Jahr hier und Edmund arbeitet unausgesetzt, aber das Auswärtige Amt hängt wie Blei an ihm. Ich fragte mich, wie schon so oft, ob denn das Ende all unsres Strebens, unsrer Arbeit, unsrer Opferwilligkeit ein Leben sein soll, welches den cachet de la médiocrité trägt? Einerseits Geldsorgen, quälende Gedanken über die Zukunft der Kinder, gänzliche homelessness, andrerseits dienstliche Kränkungen, fortwährendes Schieben an einem Stein, der nicht rollen will, wissen, was Deutschland hier not täte, aber es nicht ausrichten dürfen, sich immer wieder stoßen an kleinen gemeinen Seelen, die aber eine unterirdische Macht besitzen; dazu eine gänzlich aufgeriebene, zerrüttete Gesundheit und täglich mehr zunehmende Schwermut. O Gott, hilf uns!

4. Oktober. Abends kam der neue Militärattaché Herr von Teichmann, an, ein großer, gut aussehender junger Mensch.


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