Elisabeth von Heyking
Tagebücher aus vier Weltteilen
Elisabeth von Heyking

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Chile (Valparaiso)

Juli 1886 bis Februar 1889

15. Juli. Wir kamen am 5. früh in Valparaiso an.Am 4. April 1886 erhielt Edmund von Heyking in New York die Ankündigung, daß er zum Konsul in Valparaiso ernannt worden sei. Am 8. Mai wurde die fast zweimonatige Reise nach dem neuen Bestimmungsort angetreten, die über Chikago, Denver, San Franzisko und von dort zu Schiff an der Kalifornischen, Mexikanischen und Südamerikanischen Westküste entlangführte. Die Einfahrt in den Hafen war sehr hübsch, durch den bläulichen Morgennebel hindurch strahlte die Sonne, daß das Wasser glitzerte und die Fensterscheiben der Häuser auf den Hügeln blitzten. Die Lage der Stadt erinnert mich an San Franzisko und an Genua, und sie trug einen so ausgesprochen südlichen Charakter, daß ich gleich sicher war, ich würde mich in ihr wohlfühlen. Wir wurden von Herrn von Seldeneck vom Schiff abgeholt und quartierten uns im Hôtel de France ein. Während der ersten Tage bummelten Edmund und ich viel herum. Die Stadt erscheint uns nach New York ganz komisch kleinstädtisch. Sie besteht eigentlich nur aus zwei an der See entlanglaufenden Straßen, die von zwei Plätzen unterbrochen werden, in denen öffentliche Gärten angelegt sind. Hinter diesen Straßen erheben sich gleich die Hügel, auf denen einige Villen, meistens aber nur elende Hüttchen zwischen Kaktushecken liegen. Während der folgenden Tage hatte ich viel Besuche von hier ansässigen Deutschen, sah sie auch einmal en masse im Theater, wo spanische Musik gemacht wurde, und lernte noch ein paar bei einem Dinerchen von Herrn von Seideneck kennen. Nach diesen Erfahrungen glaube ich, daß ich mich hier auf die striktesten gesellschaftlichen Pflichten beschränken werde! Ich habe mir dagegen vorgenommen, die Jahre, die wir hier zubringen müssen, zu möglichster Herzens- und Geistesbildung zu verwenden. Herzensbildung, indem ich suchen will, möglichst genau all meine Pflichten zu erfüllen, und zwar sie nicht murrend, sondern gern auf mich zu nehmen; ich will danach streben, immer mehr zu erkennen, wie die Welt und jeder einzelne unter großen sittlichen Gesetzen steht, und wie ein höheres freieres Leben erst dann für uns anfängt, wenn wir uns so weit herangebildet haben, daß wir uns diesen Gesetzen nie mehr zu entziehen suchen, sondern uns mit ihnen innerlich in Harmonie fühlen. So hoffe ich durch inneren Frieden äußere Unannehmlichkeiten auch leichter zu ertragen, ihre Kleinlichkeit einzusehen und in Gedanken mit höheren Gegenständen mich zu beschäftigen. Um aber aus alledem durch die Alltäglichkeit nicht herausgerissen zu werden, will ich mir einen festen Studienplan machen, dessen Innehalten mich immer wieder auf den richtigen Weg bringen soll. Dies nenne ich Geistesbildung. Ich habe mir vorgenommen, eingehend Geschichte zu treiben, mir über die einzelnen Epochen die speziellen Werke zu verschaffen und sie in richtiger Folge zu lesen; gleichzeitig will ich soviel als möglich die Schriftsteller jedes Volkes, dessen Geschichte ich gerade treibe, auch kennenlernen. Ferner will ich so fleißig wie möglich im Zeichnen und Malen sein und hierzu kunstgeschichtliche und kritische Werke lesen. – Voraussichtlich wird unser Leben die nächsten Monate ein stilles und ereignisloses sein, wo wir uns ganz solchen Zielen widmen können. Wir haben es aufgegeben, jetzt gleich nach Vina zu ziehen, sondern bleiben hier, wo wir diejenigen Ressourcen, die Valparaiso bietet, gleich zur Hand haben.

Seitdem wir hier sind, habe ich gelesen: »Romola« von George Eliot, was an und für sich einen großen Charme für mich hat, da es im geliebten Florenz spielt und dieses mit interessanten Figuren belebt; daneben bezeugt das Buch auch, daß es von einem ethisch hochdenkenden Menschen geschrieben ist, und ich habe viele Stellen darin gefunden, die mir Antworten sind auf das, was ich jetzt gerade suche: ein Sicheinigfühlen mit höheren Gesetzen und ein Aufnehmen des Unangenehmen und Schweren, was uns begegnet, mit dem festen Willen, es zu überwinden, aber nicht ihm aus dem Weg zu gehen.

Edmund las mir einen Artikel von CurtiusErnst Curtius, der Berliner Archäologe und Erzieher des nachmaligen Kaisers Friedrich. vor über »Das Königtum bei den Alten«, in welchem ganz allgemein angenommene geschichtliche Gesichtspunkte total verdreht werden, um die altgriechische Geschichte in Einklang zu bringen mit preußisch loyalen Gesinnungen für das Hohenzollernhaus; darin liegt ein Kriechen vor der augenblicklichen Richtung, wie es jetzt in Deutschland so viel vorkommt. Ein Gegenstück dazu in pietistischer Richtung ist Paul Lindaus Kritik der neuausgestellten Bilder Wereschtschagins aus Christi Leben. Außerdem liest mir Edmund allabendlich aus Goethes »Dichtung und Wahrheit«, an dem wir viel reine Freude haben und woraus manche Körnerchen zu entnehmen sind, die mit dem Leben versöhnen. Daneben lese ich morgens für mich allein aus den verschiedenen Büchern von Ruskin.

18. Juli machten wir einen Teil unsrer Gegenbesuche, fanden die Menschen alle sehr freundlich, aber merkwürdig kleinstädtisch. Die Gesellschaft ist hier in zwei Lager geteilt, die, welche auf den Hügeln, und die, welche in der Stadt wohnen. Jede Partei versucht nun, uns möglichst rasch aus dem Hotel und in ihr Lager hinein zu persuadieren, während uns diese Hotelneutralität gerade lieb ist. Nachmittags fand eine nachträgliche Fête champêtre zu Ehren des 14. Juli statt. Wir gingen nicht hin, sahen aber die Leute aus dem Park herauskommen; eine Menge übertrieben geputzter Damen und Kinder, neben welchen die Toiletten der Pariser Kokotten und ihrer zur Fahrt ins Bois de Boulogne gemieteten Kinder mir in der Erinnerung puritanerhaft erscheinen.

19. Juli, abends, während mir Edmund vorlas, erlebten wir unser erstes Erdbeben, zuerst ein rollendes Geräusch, dann zwei leise Stöße.

21. Juli. Während der letzten Tage las ich »South America« von Galenga und habe es soeben beendet. Galenga hebt den Gegensatz in der Kolonisation von Nord- und Südamerika hervor. In dem einen Land Einwanderer, welche einen wirklichen Staat gründen wollten und die ihnen Nachfolgenden zu Gehorsam gegen ihre Gesetze zwangen, in geordneten Verhältnissen lebten, so daß später die Loslösung vom Mutterland ohne dauernde Unruhen vor sich ging. Südamerika dagegen, von spanischen Soldaten erobert, weniger mit dem Gedanken, eine eigene Kolonie zu gründen, sondern um die Mineralschätze auszubeuten. Spanien selbst ein zu kleines Land, um eine genügende Menge von eigentlichen Arbeitern exportieren zu können, wodurch sie auf die eingeborenen Indianer oder auf Fremde angewiesen blieben. In Südamerika also starkes Überwiegen der Farbigen und Mischlinge. Die vielen Unruhen, Revolutionen erklären sich aus dem ursprünglich aufrührerischen spanischen Geist und der Unreife der Indianer und Mischlinge für die ihnen plötzlich gegebenen freien Staatsformen. Galenga sieht dieses Prädominieren der farbigen Rassen als Fluch Südamerikas an und findet den krassesten Ausdruck der Folgen in den auf dem Isthmus von Panama herrschenden Zuständen. Die einzigen Arbeiter, welche es dort aushalten, seien die Neger, welche daher ganz ihre Bedingungen diktieren könnten. Die Länder Südamerikas, welche G. den geordnetsten Eindruck gemacht haben, sind Chile, Uruguay und Brasilien; bei letzterem sei es die Folge einer festen Monarchie im Gegensatz zu den stets neu erwählten und neu gestürzten Präsidenten. In Uruguay käme es daher, daß die Bevölkerung beinah durchaus weiß sei. Der größte Verderb durch republikanische Verfassung sei in Paraguay zu sehen, welches durch einige als Tyrannen herrschende Präsidenten, durch deren Massenexekutionen, unvernünftige Bauunternehmen und leichtsinnige Kriege jetzt gänzlich ruiniert und in seiner Bevölkerung dezimiert sei. Das Unglück Perus liegt darin, daß kein einheitlich arbeitendes Volk da existiert. Unzählige Mischrassen, welche die groben Arbeiten tun, eingewanderte Europäer, welche den ganzen Handel haben, während die eigentlichen Peruaner nicht arbeiten, sondern nur politisieren und regieren wollen und dabei durch ihre Minen-, Guano- und Salpeterschätze verdorben sind, auf die sie sich zur Deckung aller großen Ausgaben verlassen. Bei Gelegenheit von Chile spricht Galenga viel von den großen Majoraten, die sehr selten von den eigentlichen Besitzern bewirtschaftet worden sind, da das Leben auf dem Land allen lateinischen und spanischen Völkern zuwider sei. Diese Majorate sind jetzt aufgehoben.

12. August. Der Monat schlimm für uns begonnen mit einer schweren Lungenentzündung Stephaniechens. Jetzt ist sie Gott sei Dank wieder wohl, und die furchtbaren Ängste, die ich durchgemacht, erscheinen mir wie schlimme Traumgespenste. Wenn es überhaupt möglich war, so hätte ich das Kind während der Krankheit noch lieber bekommen, da es so rührend geduldig und sanft war. Die Menschen waren sehr teilnehmend und hilfreich für uns. – Eine angenehme Bekanntschaft haben wir an Dr. Bredin gemacht, mit dem es sich nett schwatzen läßt und der hier auch sehr an der unbefriedigenden Geselligkeit leidet. Es fehlt eben alles, was man in großen Städten gewohnt ist, oder sogar in kleinen deutschen, wo doch alle wichtigen Nachrichten und alle neuesten Erscheinungen schnell hindringen. –

Im vorigen Monat gab Herr von Seideneck einen Ball, bei dem wir die hiesigen Menschen en masse kennen lernten, – ich fand keinen, außer dem italienischen Gesandten Carcano, mit dem man sich hätte unterhalten können, wie man es in Europa gewohnt ist. Eine fatale Unterbrechung des Balles war ein ziemlich starkes Erdbeben. Die darauf folgenden Tage benutzten wir zu schönen Spaziergängen in die Zorras. In diesen grünen Schluchten genießt man den Anblick einer schönen halbtropischen Natur und ist allein mit seinen Gedanken, Erinnerungen und Bestrebungen; entschieden die beste Gesellschaft, die man hier haben kann.

Ich las für mich allein: »The Mill on the Floss« by George Eliot. Wie in ihren andern ist auch in diesem Buch der Grundgedanke der, daß es sowohl moralisch falsch wie auch vergeblich sei, nach individuellem Glück als Lebenszweck zu streben. Der Rahmen hierzu ist eine kleinstädtische Gesellschaft, deren Eigentümlichkeiten meisterhaft geschildert sind, und wie in solcher Gesellschaft ein Fehltritt ohne Skandal und mit äußerm Erfolg meist milde angesehen, ein innerer Kampf aber, und wenn er auch durch Sieg gekrönt wird, hart verurteilt wird. Der Gedanke der Resignation ist wohl einer, der immer heilsam und mir besonders jetzt sehr willkommen ist, denn wenn ich mich auch in intimer Familienhinsicht absolut glücklich fühle und dafür täglich dankbar bin, so hat doch mein äußeres Leben vieles, bei dem es gut ist, sich immer wieder daran zu erinnern, daß Resignation überall und eigentlich für jeden des Lebens Endzweck ist. Die Schilderungen der kleinstädtischen Gesellschaft hatten mir auch etwas Tröstliches, denn in einem alten Kulturstaat wie England ist es also auch stellenweise tout comme chez nous au Chile. – Edmund hat mir jetzt Goethes: »Aus meinem Leben« fertig gelesen. Es sind darin viele Gedanken und Aussprüche, die man sich als stete Lebensmaximen merken kann; daneben aber fühlten wir doch, daß das Buch aus einer Zeit stammt, für deren enge Lebensverhältnisse, Weitläuftigkeiten, Fürstendienerei unsre Zeit oder speziell wir beide nicht mehr das richtige Verständnis haben. Ich habe selten ein Buch gelesen, in dem es mir klarer geworden, welch eine Revolution aller Anschauungen und Lebensbedingungen allein die Erfindungen der Eisenbahn und des Telegraphs gemacht haben.

4. September. Am 2. war abends kleiner Ball, wo wir Gelegenheit hatten, das außerordentlich freie Benehmen hiesiger junger Mädchen zu beobachten. Ich fühlte aber recht, wie ich für derartige Vergnügungen zu alt geworden bin. Am frohesten fühle ich mich jetzt, wenn ich ohne Tracas mit Edmund zusammen in einer schönen Gegend bin, wenn wir etwas zusammenlesen oder ich male.

Wir sprachen über unsre Lektüre, unsre früheren Ansprüche ans Leben, unsere zeitweiligen Enttäuschungen und eigenen Fehler und was einem sonst in den Sinn kommt in einer Periode, wo man sich bemüht, über die Vergangenheit ins klare zu kommen, um aus dieser Klarheit nützliche Lehren für Gegenwart und Zukunft zu schöpfen. Solche Gespräche gehören zu unsern meilleurs moments.

16. September machten wir einen allerliebsten Ausflug nach der Laguna, einige zu Wagen, andere zu Pferde. Der Weg führt zuerst auf die steilen Höhen hinter Valparaiso, dann oben auf der Höhe entlang an einsamen Ranchos vorbei; dann endlich geht es an einer steilen Wand im Zickzack herab in ein geschütztes sonniges Tal, das, breit am Meer beginnend, in eine enge felsige Schlucht ausläuft. In diesem sehr geschützten Tal liegt ein verwilderter großer Garten, in dem allerhand südeuropäische und tropische Pflanzen wachsen; besonders schön nahmen sich große Teerosenbäume aus, an denen rote Passionsblumen emporwuchern.

Am 16. September fuhren wir nach SantiagoZu den Feiertagen des diez y ocho, des chilenischen Unabhängigkeitstages, 18.IX. durch eine z. T. wilde, felsige Gegend, die etwas an die Schweiz erinnert. Leider war das Wetter regnerisch und wurde kälter, je höher wir kamen, so daß wir tüchtig froren. Die Eisenbahn war klapperig und schlecht wie ein Omnibus en retraite. Abends fuhren wir ins Theater, wo von einer französischen Truppe »Tell« ganz niederträchtig aufgeführt wurde. Das Theater selbst ist ein schönes elegantes Haus, in feinem Rokokostil weiß und gold dekoriert, die Logenwände rot mit goldenen Lilien tapeziert, von denen die hellgekleideten dunkelhaarigen Chileninnen mit ihren hohen spanischen Kämmen und buntem Blumenschmuck sich sehr vorteilhaft abhoben.

18. September. Morgens fuhren wir in den Kongreß, um zu sehen, wie der alte Präsident Santa-Maria abging und der neue, Balmaceda, sein Amt antrat. Der Kongreßsaal ist ein sehr schöner, hoher Raum, in ganz hellen Farben gehalten, von einem Italiener gebaut. Von außen hat das Gebäude eine gewisse offiziell griechische Monotonie und Kälte, wie man sie auch in Europa so häufig an Staatsgebäuden sieht. Der Saal war gefüllt mit allerhand Großwürdenträgern, denen man die Würde nicht ansah, mit den Mitgliedern des diplomatischen Korps, unter denen Seideneck und Edmund bei weitem die bestaussehenden waren, mit hübsch geputzten Damen und allerhand mehr oder weniger unberufenen Zuschauern. Letztere nahmen der ganzen Handlung, sowohl durch ihr Vordrängen, wie durch ihre einfache Straßenkleidung, noch den letzten Rest von Feierlichkeit und Ordnung. Der ganze Akt besteht darin, daß von dem Präsident der Kammer vorgelesen wird, die Regierungsdauer des alten Präsidenten sei abgelaufen und der neue rechtmäßig gewählt worden. Dann nimmt der alte seine Schärpe ab, der neue tritt vor, empfängt sie und legt sie um, während der frühere wie ein Hündchen, dem man einen schönen Knochen weggenommen, durch den Saal fortschleicht. Dann beschwört der neue Präsident die Konstitution, ernennt sein erstes Ministerium, und die Sache ist fertig. Man kann sich nichts Unfeierlicheres denken, wie die Art, in der alles das behandelt wurde. Mir tat auch der alte Santa-Maria so leid, denn es traten ihm die Tränen in die Augen und er zitterte so, daß er seine écharpe kaum abnehmen konnte. Unsere Manier, den einen erst sterben zu lassen, ehe man den neuen einsetzt, hat doch etwas Humaneres. Nach dem Kongreß gingen die Herren in die Kathedrale, wo ein Tedeum gesungen wurde. Der Gang durch die Straßen mit den Spalier bildenden Truppen und die Kirchenfeier sollen das Schönste gewesen sein. Am Nachmittag waren Rennen, zu denen wir auch noch fuhren. Die Fahrt hinaus durch die beflaggten, dichtgedrängten Straßen war sehr hübsch und die Rennbahn mit der himmelhohen Cordillera als Hintergrund hat etwas überwältigend Großartiges. Die Rennen selbst sind schwach, scheinen auch, für die Damen wenigstens, die Nebensache zu sein, da es ihnen nur darauf ankommt, ihre fabelhaft eleganten Kleider auf der Tribüne bewundern zu lassen. Nach dem Rennen Korso durch den Parque Cousiño, der aber des schlechten Wetters halber nicht sehr besucht war. Abends die Nationalhymne im Theater ohne den Enthusiasmus wie bei uns, dann »Mignon«.

19. September. Morgens Besuch von Dr. Vulpius, dem Großneffen Goethes. Ein schöner aber noch unbeleckter junger Teutone, der viel in Bolivien gewesen ist, als Morgenspaziergang über die Kordilleren wandert und in gleichen Stiefeln und mit gleichem Schritt durch die Salons schreitet. Dann ein nettes mir zu Ehren gegebenes Luncheon bei Herrn Magliano, dem italienischen Geschäftsträger, in seiner reizenden Garçonwohnung. Von da fuhren wir nach dem Park Cousiño, wo die große Revue stattfand. Am interessantesten war das zuschauende Publikum. Schöne Privatwagen mit eleganten Damen die Menge,Indianische Bauern rufen Elisabeth nach: »Una linda preciosa señora!« (»Eine anmutige, liebliche Frau!«). große Char à banc voll geschminkter singender Mädchen, armselige volantenartige Droschken, Scharen von Landleuten zu Pferde, Männer, Frauen und Kinder, die Männer in buntesten Ponchos, großen Strohhüten und Riesensporen, die Frauen in langen, hellen Kattunreitkleidern; dazu mit Leinen überdachte Leiterwagen, von großen schwarzen Ochsen gezogen und einem Huaso geführt. Drinnen celà grouillait d'enfants, de femmes et de bêtes. – Um den ganzen Paradeplatz herum kampieren in Zelten, Bretterbuden und grünen Lauben die für die Feste gekommenen Landbewohner mit Frauen, Kindern und Haustieren. Alle sangen, tanzten den Nationaltanz, die Cueca, würfelten oder tranken: wir stiegen aus, um es uns in der Nähe zu besehn, und die Leute zeigten eine musterhafte Höflichkeit. Ein sehr wildes Vergnügen sind ihre Pferdespiele, wo sie gegeneinanderreiten und einer den andern vom Pferde zu schieben oder einer von hinten versucht, sich zwischen zwei schon Nebeneinanderreitenden hindurchzudrängeln. Die Leute sind alle ganz fabelhafte Reiter, und wenn man sie für zerquetscht und zertrampelt hält, machen sie sich mit einer geschickten Wendung aus dem Knäuel von Menschen und Pferden heraus und springen lustig weiter. Wehe aber einem unglücklichen Gringo (Fremden), wenn er sie durch irgend etwas beleidigt und dann attackiert wird; wir sahen einen kleinen blonden Reiter in einem sekundenlangen Kampf aus dem Sattel gehoben und am Boden liegen. Zufällig fuhr einer der neuen Minister vorbei und ließ sofort einen Polizisten dem Täter nachsetzen. – Neben dem Lager der Landleute war auch ein Zelt des Diez y ocho-Klubs, in welches wir vom brasilianischen Minister geholt wurden, um einen kleinen Imbiß zu nehmen. Die Südamerikaner, die ich dabei kennen lernte, sind wirklich sehr liebenswürdige Leute. Von dem Klub aus sahen wir den Präsidenten vorbeifahren in einer schönen vierspännigen Equipage, von einer großen berittenen Garde gefolgt. – Im Theater wurde »Faust« gegeben, ein bißchen besser, wie die vorhergehenden Vorstellungen; unsre Loge wieder sehr besucht.

20. September. Morgens früh bei herrlichem Sonnenschein kutschierte uns Herr von Seideneck hinaus in die Quinta Normal, einen Mustergarten, wo wir auf der Veranda eines kleinen Restaurants frühstückten bei herrlichem Sonnenschein, umgeben von blühenden Bäumen, mit Aussicht auf die Kordilleren und bei heiterster Laune. Von da zurückgekehrt, fuhren wir zu den Rennen, bei denen ich zwei liebenswürdige Chileninnen, Mme. Vergara und Mme. Garcia de la Huerta de Sanchez kennen lernte. Die Damen aus der hiesigen wirklich guten Gesellschaft haben sehr liebenswürdige feine Manieren und erinnern am meisten an Französinnen. Die Rennen waren viel belebter als am ersten Tag, das Wetter klar und sonnig, so daß der Blick auf die Kordilleren ganz überwältigend schön war. Der Rennplatz ist umgeben von einer Kette montblancartiger schneeiger Riesen, die man mit der Hand zu greifen meint. Bei der Rückfahrt herrliches Alpenglühn.

21. September. Wir unternahmen ein großes Picknick nach Macul, einer Hazienda der immens reichen Familie C. Die Fahrt hinaus war sehr schön an dem Fuß der Berge entlang. Der große Garten draußen voll von allerhand italienischen Baumarten und schönen Blumen mit grasenden Lamas als natürlicher Staffage, die Schneeberge als Hintergrund.

22. September. Wir fuhren mit Herrn Magliano, uns das Palais von Mme. C. zu besehen. Es ist ein sehr schönes und besonders sehr elegant möbliertes Gebäude, macht aber einen traurig verlassenen Eindruck, da es niemand bewohnt. Mme. und Töchter in Europa, die Söhne in Garçonwohnungen in zweifelhafter Umgebung lebend; dabei wird in dem Haus gehämmert und gearbeitet, als ob die Herrschaft in den nächsten Stunden erwartet würde, und neu bestellte oder reparierte und geänderte Möbel schwimmen beständig zwischen hier und Paris auf und ab. Niemand hat etwas davon, und wenn die Familie hier ist, soll es in dem Palais auch nicht lustiger sein. Mme. C. soll von ihrem Mann sehr schlecht behandelt und von ihm selbst, um sich ganze Freiheit zu erkaufen, auf Abwege geleitet worden sein; als sie Witwe wurde, führte sie abwechselnd in zwei Weltteilen einen sehr leichtsinnigen Lebenswandel. Die Kinder aus dieser Ehe sind kränkliche, sehr elende Geschöpfe, welche ihre Mutter schlecht behandeln, die jetzt eine alternde, gebrochene, kranke Frau ist. Ihr großes Vermögen soll sie ganz allein und zwar ausgezeichnet verwalten. Vor ein paar Jahren starb ihr Bruder, ein alter Geizhals, der hauptsächlich von Cognac gelebt haben soll. In seinem Testament vermachte er ihr 20 000 Pesos, im guten Glauben, dies sei sein ganzes Vermögen; es fanden sich aber statt dessen 4–5 Millionen, die sie alle erbte; seine illegitime Familie, und die scheint hier jedermann zu haben, bekam garnichts. (Ein südamerikanisches Sittenbild!)

23. September. Seideneck fand Erlasse aus Berlin vor, die die Ernennung Herrn von Gutschmids zum Minister mitteilen und sagen, daß Seideneck nach Ankunft Gutschmids, welche vielleicht schon im November stattfinden wird, nach Havanna abreisen soll. Ihm und uns hat die Nachricht sehr leid getan. Er hat jetzt eine brillante Stellung hier und verdiente wohl als Anerkennung für seine Abmachungen in der Kriegsentschädigungsangelegenheit»Es zeigt sich hier, daß das menschliche Handwerkszeug, mit dem die deutsche Politik arbeitet, ganz anders leistungsfähig ist, als die betreffenden Kräfte anderer Nationen. ... Diese Sachlage ist hier sehr praktisch zutage getreten: Von den Kriegsreklamationen aus dem Peruanisch-Chilenischen Krieg wegen Beschädigung ausländischen Eigentums durch chilenische Truppen (d. h. Brandstiftung, die nicht während einer Schlacht oder Belagerung geschehen) sind soeben nur die Ansprüche deutscher Reichsangehöriger von der hiesigen Regierung bezahlt worden, keine andere Nation hat bisher etwas bekommen, noch je Aussicht, etwas zu erhalten. Die deutsche Vertretung schloß einen besonderen Vergleich mit Chile. Die Engländer, von denen viele Nachbarn der jetzt entschädigten Deutschen sind und die nichts bekommen, sind natürlich wütend, sie sagen: ›only Bismarck knows to manage these things‹ – gewiß, aber er hat auch sehr gute Diener.« Edmund von Heyking an seinen Vater. 3. September 1887. noch eine Weile hiergelassen zu werden. Wir werden schwerlich je einen andern hierherbekommen, mit dem es sich so gut kameradschaftlich lebt.

24. September. Wir bummelten viel in den Straßen herum, und aus Freude daran, mal wieder pariserhafte Läden zu sehen, kauften wir allerhand entzückende Dinge. Abends aßen Edmund und ich bei der reizenden Mme. Echaurren in ihrem wundervollen, höchst eleganten Hause. Mme. Echaurren macht noch ganz den Eindruck eines Kindes, und ihre Mutter, welche ganz bei ihr lebt, empfängt für sie. Diese Mutter ist eine höchst kuriose alte Spanierin, welche mir erzählte, sie sei die intimste Freundin der Königin Isabella. Bei Tisch saß ich neben einem Balmaceda, Bruder des Präsidenten, der auch recht tropisch in seiner Bewunderung ist.

25. September. Morgens holte uns Dr. Vulpius ab, und wir fuhren mit ihm in die Quinta Normal, um dort unter Führung des Professors Philippi das Museum zu betrachten. Unter den amerikanischen Tieren und den Altertümern war einiges recht interessant, daneben aber auch allerhand ridiculer Theaterplunder. Wir lunchten im Restaurant mit Philippi und Vulpius, und die echt deutsche professorenhafte Unterhaltung dieser beiden machte Edmund und mir beim Anblick der Kordilleren einen ganz eigentümlichen, halb komischen, halb rührenden Eindruck: Es gibt doch einzelne so scharf ausgeprägte Gattungstypen, daß sie sich überall gleichbleiben, von keiner Umgebung und geographischen Lage beeinflußt werden.

26. September. Mittags fuhren wir zu den Rennen, zu denen der neue Präsident zum erstenmal kam. Wir saßen in seiner Tribüne mit dem diplomatischen Korps und dem Ministerium und ich wurde dem Präsidenten und der Präsidentin vorgestellt, wobei er mir einen liebenswürdigeren Eindruck machte als sie. Mme. Elias war unter den Damen die einzige, die wirklich nach einer vornehmen Frau aussah.

28. September. Gepackt und Besuche und nachmittags fortgefahren. Sehr ungern Santiago verlassen.

15. Oktober. Die ganze Zeit sehr schwer krank gewesen, habe mich nie dem Sterben näher gefühlt und cannot say, that it was a pleasant experience. Dabei von den Ärzten eher kränker als gesunder gemacht und keine wirkliche Pflegerin zu haben. Seit ein paar Tagen stehe ich etwas auf und werde in den Wagen getragen, um spazierenzufahren. Fühle mich schwach und elend und gänzlich decouragiert.

2. November. Morgens mit Edmund in die Palmen quebrada gewandert, in Begleitung eines indianischen Muchacho, der uns Frühstück nachtrug. Draußen gemalt und den schönen Tag sehr genossen.

9. November. In dieser Zeit gelesen den ersten Teil der »Kulturgeschichte« von Julius Lippert, »Zohar« von Catulle Mendez, verschiedene Artikel in der »Rundschau«, einen über Schopenhauer.

Dezember. Viel ausgeritten. Mehrere Tage krank ... Sehr nettes behagliches Weihnachtsfest, das netteste der drei, die wir zusammen erlebt. Seit dem 29. große Sorgen wegen der Cholera. Der neue Minister Herr von Gutschmid angekommen. Am 31. Diner für ihn bei uns. Im Anfang allgemein gedrückte Stimmung wegen der Cholera, später tauten die Gäste und wir auf. Das Jahr begonnen mit viel ernsten Gedanken und guten Vorsätzen und mit dem Gebet, daß wir uns erhalten bleiben. In diesem Monat gelesen »Middle march« und »Scenes of clerical life« von G. Elliot. Edmund las mir Treitschke vor.

1. Januar 1887. Mich dünkt manchmal, daß in mir außer dem Geist, der mit dem täglichen Leben sich beschäftigt und sich über dasselbe seinen Vers macht, noch ein andrer höherer Geist wohne, der noch im Werden, sich selbst noch nicht bewußt geworden ist. Es ist mir oft wie ein Schmerz, als fühlte ich ein zweites Leben in mir, das nicht zum Ausdruck kommen kann. Ich habe so keinerlei Gaben und kann gar nichts. Oft will es mich dünken, könnte ich nur das Kleinste leisten, ganz aus mir selbst heraus und selbständig, so käme dieser zweite Geist zur Ruh. Im kleinsten Schaffen müßte ihm so sein wie Gott, der die Welt schuf und sich in ihr bewußt ward. Gelesen das Buch über den »Krieg in China 60« und über den »Krieg 70/71« von Graf Herisson, das erstere vorgezogen. Viel in »Rundschau« und »Revue« gelesen mit Edmund. Ebenso »Über den Tod« von Schopenhauer. Habe mir daraus besonders gemerkt, wie es eigentlich unmöglich ist, daß etwas von uns vergehe, und wir uns garnicht vor dem Tode fürchten sollten, weil dasjenige in uns, was sich gegen den Tod sträubt, der Wille zum Leben, dasjenige ist, was eigentlich die ganze Welt, das Ding an sich ist, welches nie vergehen kann und welches auch nach uns in andern Wesen weiter bestehen wird. Wir sind eine Erscheinungsform des Willens zum Leben, der sich, wenn das einzelne Individuum auch vergeht, in der Gattung stets weiter offenbart. Hinweis auf eine Art Seelenwanderung, d. h. Wanderung des Willens zum Leben aus einer Hülle in die andere ...

Ein nettes Picknick mit Gutschmid und Claire Adelsdörfer nach dem »Zorrashaus«»Der Weg nach unsrer neuen Villa führt auf der alten Fahrstraße nach Santiago, biegt dann links ab in eine Schlucht, die sog. »Zorras«, d. h. Tal oder Schlucht, vielleicht kommt das Wort von Fuchsbau her, weil hier früher viele Füchse gewesen sein sollen. Das Tal, dicht belaubt, sieht immer wie eine schöne Überraschung aus nach dem dürren Felsweg; unser Haus kann man nicht von oben sehen, da es gänzlich von den Bäumen des Gartens verdeckt ist. Vor dem Hause innerhalb des von dem Vorfahrtsweg gebildeten Kreises ist der gepflegte Garten mit Springbrunnen, Palmen und Blumenbeeten, links ein mit Staketenzaun und Schlinggewächsen ganz abgeschlossenes Gärtchen, die sog. Glorieita, darin in der Mitte ein Hügel mit Veilchen und Vergißmeinnicht bedeckt. Rechts vom Haus das Gemüseland, Erdbeeren etc. und einige hübsche Alleen von Linden und Eukalyptus, auch ein Badehaus mit großem Schwimmbassin. Dahinter gehört ein hoher Berg mit Einsiedlerhütte mit zur Besitzung, die hier »Quinta« genannt werden (Landhaus mit Garten). Links vom Hause noch eine tiefe Schlucht, die das alte, jetzt ausgetrocknete Flußbett gebildet hat. Hier stehen nun, das heißt im Frühjahr und Winter, schöne Orangenbäume, die auch Früchte tragen, und die wir besonders pflegen, auch riesige Aloes und Kakteen.« Edmund von Heyking an seinen Vater. 1. März 1887. gemacht. Am 30. Edmund und ich allein dort gewesen, Edmund einiges vorgelesen aus meiner Choleranovelle, die ich in diesem Monat begonnen.

Februar. »Nora« von Henric Ibsen mit Edmund gelesen. Beide sehr ergriffen davon. Eine fabelhafte Satire auf männlichen Egoismus und Überhebung in der Ehe. Wir sagten uns aber beide, daß die Welt für dieses Stück noch nicht vorgeschritten genug sei. All die Tage im Zorrashaus gewesen und dort eingerichtet, was z. T. spaßhaft, z. T. ärgerlich und ermüdend war. »Familienglück« von Tolstoi gelesen; es hat mich darin frappiert, wie merkwürdig T. es versteht, sich in Gedanken und Gefühle eines jungen Mädchens zu versetzen; die Beschreibung von Marias Liebe finde ich meisterhaft; ebenso wie sie sich später nach den ersten Eindrücken und Glück ihrer Ehe zurücksehnt, das doch durch ihre Schuld, etwas früher als sonst wohl geschehen wäre, vergangen ist. Der Grundgedanke aber ist, daß dies Entzücken und Glück immer, auch in den besten Fällen, schwinden müssen, und daß diese besten Fälle eben darin bestehen, daß das Schwinden ruhig und allmählich geschieht ohne Verstimmungen und ohne Katastrophen.

Am 10. Februar nach Los Zorras gezogen. Die Kinder einige Tage später nachgekommen. Den ganzen Monat sehr viel mit Packen und Einrichten zu tun gehabt, dazwischen auch krank gewesen. Etwas an meiner Novelle geschrieben, aber im ganzen nicht zu viel gekommen, hauptsächlich in praktisch häuslichen Dingen gelebt und mich daran gefreut, zum erstenmal, seit Edmund und ich verheiratet sind, ein selbsteingerichtetes Häuschen zu haben.

März. Am 22. Kaisers Geburtstag gefeiert, in Valparaiso durch eine Art Gottesdienst mit musikalischer und historischer Färbung im Turnverein. Kindergesang, Männerchor, Streichquartett, Rede von Pastor Fiedler – etwas Potpourri, aber doch viel würdiger, als das zuerst beabsichtigte Volksfest. Nachher Déjeuner im deutschen Konsulatsrestaurant. Abends Tanz im Turnverein. Wohltuend zu sehen, wie franchement die Deutschen sich amüsierten.

26. März von Los Zorras abgereistZu einem Ausflug in die Kordilleren. und abends in Panquene angekommen. Eisenbahnfahrt in überfüllten Waggons bis San Felipe; von da zu Wagen auf sehr holprigem Wege am Aconcagua entlang bis zur Hazienda.

27. März. Haus und Garten besehen, den Morgen in Hängematten auf der Veranda gebummelt, unter einem Weinlaubdach, von dem Riesentrauben, blau und rosalich, herabbaumelten. Nachmittags eine hübsche Ausfahrt in die Felder gemacht, wo das Vieh weidete, am Fuß der starren grauen Felsen. Zum erstenmal in Chile wirkliches Grün gesehen auf den Wiesen, und an den graziösen Maitenbäumen. Schöner Sonnenuntergang, die Bergkette im Hintergrund noch leuchtend rosarot mit blaudunstigen Schatten, als die näheren, niedrigeren Berge schon ganz lichtlos waren mit gelbbraunen Felsentönen.

28. März. Mittags per Eisenbahn von San Felipe nach Los Andes gefahren durch ein reiches fruchtbares Tal mit großen Reben und Weiden. Alles in herrlichstem Grün. Los Andes ein kleines sehr niedlich gelegenes Städtchen, mit Blick auf die fernen Gebirge. Von Los Andes zu Wagen gefahren an den Bergen entlang durch schöne reiche Gegend nach einem kleinen Hotel, das am Aconcagua liegt. Das Hotel »Bismarck« von einem Herrn von Knesebeck gehalten, der offenbar bessere Tage gesehen hat, sehr reinlich, einfach und nett.

29. März. Um fünf aufgestanden und per Wagen nach Los Lorros gefahren, dort zu Pferde gestiegen. Auf einem ganz fabelhaften Weg auf mittlerer Höhe eines ganz steilen Geröllbergs, zu dessen Fuß der Aconcagua schäumt, nach dem Salto del Soldado geritten, einer merkwürdigen engen Felsenspalte, durch die der Aconcagua sich drängt. Von da aus weiter bis nach Guardia vieja, einem ranchoartigen Gasthaus, wo wir mittags aßen, ruhten und ich etwas skizzierte. Nachmittags weiter geritten bis Juncal, wo wir abends sehr müde ankamen. Nachtessen im Freien, bei malerischer Umgebung von allerhand Pferdetreibern, die den nächsten Tag nach Argentinien weiter wollten. Sehr kalte Nacht auf Strohbetten zugebracht, wir fünf in einem großen Zimmer, in welchem ein Verschlag für Rose und mich abgeteilt war. Dach mit starker Ventilation!

30. März. Um sechs aufgebrochen unter Führung des pittoresk schmutzigen Ranchobesitzers Don Pedro. Vier Stunden geritten durch eine schauerlich einsame Gegend mit sehr schlechten Wegen, immer schöner werdender Aussicht auf schneebedeckte Berge. Mittags geruht auf einem weiten einsamen mit Felsblöcken bedeckten Plateau am Fuß der sieben Juncal-Gletscher, aus denen ein Lauf des Aconcagua entspringt. Rose Carvallo und ich die ersten Damen, die je bis dahin gekommen. Der Heimritt bis Juncal sehr windig, die Nacht in Juncal wir alle kaum geschlafen.

31. März. Früh von Juncal zurück und abends in Panquene angelangt, sehr entzückt von dem Ausflug, die Gegend großartig gefunden, charakteristisch durch die Riesenkakteen. Die Pferde durch Dauerhaftigkeit und Sicherheit über alles Lob erhaben. Mehrere Kondore gesehen.

April. Den 1. April nach Los Zorras zurückgekehrt, wo wir die Kinder, Gottlob, wohl fanden. Ganz stilles regelmäßiges Leben begonnen, Ranke zusammen lesend und ich die Türen malend. Am 6. einen Spaziergang in die Pinische Quinta gemacht, wo eine alte Französin mit ihren zwei Kindern, wovon das eine ein Krüppel und das andre idiotisch ist, ganz einsam lebt. Die alte Frau führte uns durch ihren großen Garten, in dem herrliche alte Bäume stehen und alles malerisch überwuchert ist von Wein, Brombeeren und anderen Schlingpflanzen. Sie machte mir einen tiefen Eindruck durch die Courage, mit der sie ihr schweres Schicksal anzufassen schien, und es war rührend zu sehen, wieviel Freude an der Natur und wieviel Frische sie sich bei alledem bewahrt hatte.

Mai. Viel im Garten herumgepusselt. Im Ganzen d'une humeur noire gewesen, mit viel Heimweh und allgemeinem Desperatsein bei dem grauen und doch regenlosen Wetter und der Abgeschiedenheit von allem, was man früher interessant fand. Edmund mir vorgelesen Treitschke »Geschichte des 19. Jahrhunderts«; selbst gelesen Lindau »Der Zug nach dem Westen«.

Juni. In der Nacht vom 2. auf 3. endlich unsern ersten Regen in Chile erlebt und uns sehr daran gefreut. Am 3. wanderten wir morgens in Regenmänteln und dicken Stiefeln durch den Garten und besahen mit Rührung jede Regenpfütze.

A m 5. im Garten gearbeitet. Blumen gepflanzt, nachmittags einen schönen großen Ritt auf dem alten Santiagoweg gemacht. Ein sehr behaglicher glücklicher Hochzeitstag, wie wir uns noch viele wünschen.

Am 12. Juni. Gegen Mittag Edmund und ich mit Marie nach Santiago abgereist.»Unser Ministerresident hat uns eingeladen, in seinem Hause einige Diners mitzumachen, die er den diplomatischen und sonstigen Spitzen der Hauptstadt gab, wobei Lisa die Honneurs des Hauses machte.« Edmund von Heyking an seinen Vater. 25. Juni 1887. Schöne Fahrt mit hellem sonnigem Wetter. Unterwegs mit zwei netten alten Chilenen zusammengetroffen, die recht interessant über hiesige Geldverhältnisse sprachen. Herr von Gutschmid war an der Bahn und brachte uns ins Hotel. Abends bei ihm gegessen in seiner ganz reizenden Wohnung mit schönen spanischen Kabinetten, chinesischen Kuriositäten und hübschen Kopien von spanischen Gemälden. Nach Tisch zu der argentinischen Gesandtin gefahren, Madame Uriburu, die uns schön Klavier vorspielte; ihr Salon höchst einfach und der Vorplatz stockdunkel.

Am 13. Juni Besuche gemacht und bei Gutschmid diniert; nach Tisch viele Photographien aus Asien besehen, die mir sehr den Wunsch gaben, einmal dahin versetzt zu werden; den gänzlichen Mangel an großer Vergangenheit und an alter Kultur fühlt man hier so sehr.

Am 14. Juni lunchte Baron Gutschmid bei uns, sehr in Eile, weil er noch allerhand Möbel für den Abend auszupacken hatte; ein großer Kronleuchter lag noch im Hof. Zum Diner war alles sehr gut fertig geworden und die Wohnung sah reizend aus. Ich machte die HonneursDie Zeitungen berichteten: »Para valernos de una espresion del Figaro, ya que hablamos de una fiesta en la legacion alemana, esencialmente parisiense, por lo graciosa i amena, diremos que, ›notamos entre los asistentes‹, a la señora baronesa de Heyking, personificando la gracia i la elegancia perfecta, porque en ella es inconsciente.« und es führte mich Ruperto Vergara, der mir auf fatale Weise faustdicke Artigkeiten sagen wollte, die aber nur unter Indianern dafür gelten können. U. a. sagte er: »on voit tout de suite, que vous êtes une femme comme il faut, et moi je m'y connais.« »Votre mari a l'air d'être bien amoureux de vous, si j'étais à sa place, j'en ferais autant et plus.« Später sagte er im Beisein des allerdings sehr rauhbeinigen französischen Gesandten und seines Sekretärs: »Sous l'empire on envoyait au moins des gentlemen comme ministres, mais maintenant qu'est ce que c'est que ça.« Madame Uriburu, die neben Gutschmid saß, frug ihn, ob man nicht in Europa die Preise der Weine auf die Menüs schriebe. Sie selbst hatte einige Tage vorher ein Diner gegeben, bei welchem ein beliebiges französisches Menü auf dem Tisch lag, auf dem Turbot und Chevreuil stand, was es in Chile überhaupt nicht gibt. – Dem Diner folgte eine musikalische Soirée von zirka 50 Personen, von denen keine sechs wirklich dem sehr guten Streichquartett zuhörten; die übrigen sprachen unausgesetzt, so daß die Musiker mir leid taten. Eine alte Dame, deren Salons als geschmacklos bekannt sind, sagte zu Gutschmid über seine Wohnung: »Mais oui, pour un appartement de garçon, ce n'est pas mal, vous n'avez pas besoin de plus.« Mir fiel es wieder auf, wie leicht Soiréen hier steif ausfallen, da sich die Damen nie getrauen, allein im Zimmer zu gehn, Plätze zu wechseln und etwas Animation hineinzubringen; sie sitzen auf dem Sessel angenagelt, den sie zuerst einnehmen, bis irgend ein Herr sie erlöst und wieder auf einen andern Platz führt. Nachdem alle Gäste fort waren, amüsierten wir uns sehr gut, da die Musiker blieben und der schwedische Pianist Arnoldson uns reizend vorphantasierte. Recht charakteristisch war mir bei der Gesellschaft ein alter Franzose, der hier ist, weil er große Reklamationen an die hiesige Regierung hat. Er hat jahrelang in Südamerika gelebt und sich viel mit Minen beschäftigt. Jetzt will er eine große Gesellschaft mit Lesseps gründen, um Gold in einem Peruanischen Fluß zu waschen. Er behauptet, es lägen große Goldbänke dort, die seit Jahrtausenden von dem Fluß angeschwemmt wurden. Kaum daß er das Wort »Gold« und »Mine« aussprach, leuchteten seine Augen, seine Stimme bebte, und der ganze Mann machte den Eindruck eines Halluciné. Dieses Goldfieber ist wirklich eine charakteristische Seite hiesigen Lebens, es ist die Spielwut in ihrer höchsten Potenz.

Am 15. Juni machten wir Besuche beim Präsidenten, wo nur zerlumpte Dienerschaft zu sehen war und wir eine Viertelstunde mit dem kleinen Balmacedas auf dem Vorplatz warteten. Nachher erschien der Präsident in seinem langen malerischen Rock, in welchem er wie ein altniederländisches Bild aussieht, und dann kam auch die Präsidentin. Beide waren höchst liebenswürdig. Von da machten wir beim Minister Perez Visite, wo überhaupt keine Dienerschaft vorhanden war, sondern die Tochter des Hauses unsere Karten entgegennahm. In der Straße war gerade eine Wasserleitung zerbrochen, so daß mich Edmund über die Straße trug.

Am 16. Juni war Lunch bei Gutschmid, mit den Vergara Bulnes und mit Mr. Fraser, dem englischen Minister und seiner Frau. Letztere ist die erste vornehme Frau, die ich seit langem gesehen habe; dabei hat sie einen ihr eigenen rührenden Zauber, der in einer fortwährenden Kränklichkeit besteht, die sie mit wahrhafter, aufrichtiger Religiosität trägt, und behält, obschon sie selbst gar nicht worldly ist, doch die Objektivität, bei andern Eleganz zu bewundern. Sie ist vor Jahren in Rom zur katholischen Kirche übergetreten, weshalb sie einige Jahre von ihrem Mann getrennt gelebt hat; well he must have been the loser by it! Wenn man nur sicher wäre, vom Katholischwerden so reizend zu werden wie sie, könnte man es jedem empfehlen. Unter den Umständen war es höchst taktvoll von Herrn Vergara, ihr zu sagen, daß sie »trop pieuse« sei!

19. Juni. Diner bei den Vergara Bulnes mit der Familie Martinez (er war früher chilenischer Minister in London). Sehr zivilisierte Leute. Bei Tisch wieder ein Menü mit Dingen, die es in Chile gar nicht gibt. Vergaras sollen ganz ruiniert sein und leben von Pump und Spiel, was mir das Diner etwas peinlich machte.

Am 20. Juni Deutsches Diner bei Gutschmid, wobei mir Dr. Möricke sehr gefiel. Die andern unmöglich. Ein Tarapski ließ uns eine halbe Stunde warten, wir setzten uns zu Tisch, schließlich kamen sie, und der Mann sagte als einzige Entschuldigung: »Verzeihen Sie, daß wir nicht von militärischer Pünktlichkeit sind.« Die Frau, gemalt wie eine Kokotte, aß mit Gabeln und Messern in der Luft und ließ alles auf die Erde fallen, wozu Gutschmid sagte: »Der größte Teil des Diners befindet sich unter dem Tische.«

Am 22. Juni morgens Pferde betrachtet und gekauft, abends nach Valparaiso zurückgekehrt.

Ende des Monats hier wohltätige Aufführung im Theater, ein entsetzlich langweiliges Amateurkonzert, dann eine spanische Komödie und zum Schluß ein Tableau: Glaube, Liebe, Hoffnung, letzteres ich. Am Anfang saßen alle Mitwirkende im Kreise auf der Szene, drei fette Italienerinnen besonders als Lockspeise auffallend – es erinnerte sehr an Café chantant in Paris; die einzigen, die es bemerkten, waren wir – den hiesigen Indianern schien es nicht unangenehm aufzufallen.

Juli. In den ersten Tagen ein Diner für Ruperte Vergara gegeben, zu dem niemand kommen wollte, weil sich alle fürchteten, auf dem Heimweg von ihm angepumpt zu werden; aus gleicher Angst aber wollten wir nicht mit ihm allein essen, schließlich war es noch ganz lustig.

Gelesen: »Ein adliges Nest« von Turgenjew und »Helene« von demselben. In ersterem kann die Heldin ihren Geliebten nicht heiraten, weil sich dessen totgeglaubte Frau plötzlich als lebend vorfindet; darauf verläßt die Heldin ihre Eltern und Geschwister und geht ins Kloster. In »Helene« heiratet die Heldin im geheimen und im Bewußtsein des Widerspruchs ihrer Eltern ihren Geliebten, der ein bulgarischer Freiheitskämpfer ist; nach kurzer Ehe aber stirbt er an der Schwindsucht; nun kehrt sie aber nicht etwa zu ihrer kranken Mutter heim, sondern schreibt, daß es für sie keinen Zweck mehr habe, in Rußland zu leben, sondern sie müsse ihres Mannes Andenken treu bleiben und nach Bulgarien gehen, wo gerade gekämpft wird. Dann ist sie verschollen. Diese falsche Sentimentalität und der Mangel an wirklicher Moral in beiden Büchern hat mich sehr frappiert. Schmerz sollte nicht die Folge haben, daß der Mensch sich in selbstsüchtige Betrachtung seiner eigenen Leiden vertieft und so seinen Pflichten aus dem Wege geht, sondern er sollte jeden dahinführen, sich wirklich selbst zu vergessen und nur um so mehr für die Nächsten zu leben.

August. Viel im Garten gearbeitet, trotz entsetzlicher Regengüsse, die uns am 21. [Juli] sogar an der Abreise nach Santiago hinderten.

Am 2. August nach Santiago gereist. Beim Diner zwischen Gutschmid und Vergara Debatte über Don Carlos,»Jetzt ist der berüchtigte Prätendent Don Carlos in Santiago, er macht eine Rundfahrt in den südamerikanischen Republiken; er wird von der vornehmen, hochultramontanen Gesellschaft Santiagos gefeiert, was taktlos gegenüber der spanischen Regierung ist.« Edmund von Heyking an seinen Vater. 8. August 1887. der kürzlich in Chile gewesen und von den Chilenen, die wie alle Republikaner prinzentoll sind, sehr fêtiert worden ist, besonders von der hiesigen ultramontanen Oppositionspartei. Der spanische Gesandte hat sich darüber natürlich froissiert gefühlt, und sucht Baron Gutschmid und uns, die wir auch zu einem solchen Don-Carlos-Diner geladen waren und mit Ostentation nicht hingingen, seine Anerkennung dafür zu beweisen.

Am 5. August bei Gutschmid mit dem französischen, kolumbischen und bolivianischen Gesandten zusammen. Letzterer eine Art Wilder, der uns aber viel von Bolivien erzählte. Es steht dort eine neue Präsidentenwahl bevor, zu der Arcey und General Chamaco aufgestellt sind; hoffentlich wird Arcey gewählt, der ein Hauptaktionär der Huanchachamine ist und der viel für Eisenbahnen und gutes Einvernehmen mit Chile tun würde, wodurch dann alles dort angelegte Geld sehr steigen würde.Heyking hatte sich überreden lassen, einen Teil des Vermögens seiner Gattin in dieser Huanchachamine anzulegen.

Am 6. August aß Baron Gutschmid bei uns im Hotel, wo es so stark einregnete, daß neben dem Eßtische eine Badewanne stand!

Am 7. August Diner mit allen hiesigen Ministern. Mich führte Señor Amunátegui (M. L. Amunátegui, Minister des Äußern), ein liebenswürdiger alter Doge.

Am 8. nach Valparaiso zurückgekehrt.

Gelesen »Rabagas« par Sardou, was mir durch seinen beißenden Witz, der nicht nur in Worten, sondern in Situationen liegt, sehr gefiel. »Was soll das werden« von Spielhagen hat mir gar nicht gefallen. Es hat alle Spielhagenschen Fehler der embrouillierten Erzählung mit unehelichen Kindern und allen möglichen unklaren Verwandtschaften, dazu fortwährende Attacken gegen Bismarck und ein gänzlicher Mangel an Verständnis für den schönen Patriotismus von 1870. Lassalle, das Sozialistengesetz, Stöcker, die Nihilisten müssen in Spielhagens Kopf stark gespukt haben. Aus alledem hat er einen großen sozialistischen Roman backen wollen, der aber nicht geraten. Höchst unklar, dazu unmögliche Situationen und eine übertriebene Sprache. Außerdem gelesen: »H. Heines Leben und Werke« von Strodtmann.

September. Am 1. eine Einladung zu Browns für denselben Abend zum Diner erhalten. In aller Hetze hingefahren und unterwegs den Wagen zerbrochen. Dort mit dem Intendanten Freire diniert, der früher Minister des Auswärtigen war und mir erzählte, daß er während der Zeit in den Noten Herbert Bismarcks Charakter sehr studiert habe; Herbert Bismarck bekümmere sich um Chile und habe sehr genau Chiles präponderierende Stellung auf dem Pazifik erkannt, während der Fürst Bismarck gar kein Interesse für Chile habe.

15. September mit dem ersten Zug nach Santiago gefahren, müde und zerschlagen angekommen.

17. September. Zum Ball in die Philharmonie gefahren, von wo wir aber nach einer Stunde weggingen, da es zu medio pelo (gemischte Gesellschaft) war, vermischt mit schlechter Luft, einem wackelnden Fußboden, usw.

18. September von Herren gehört, daß am Abend vorher, zum Schluß des Philharmonieballs, eine Art Prügelei gewesen ist!!

19. September. Diner uns zu Ehren bei Alamosa.»Eine zur erzklerikalen Partei gehörige Familie, was dort die beste und vornehmste Gesellschaft ist, im Gegensatz zu den antiklerikalen Regierungskreisen.« Edmund von Heyking an seinen Vater. 25. September 1887. Gutschmid und Andrada, der brasilianische Gesandte und Schiedsrichter in den Reklamationen, waren auch da. Edmund und ich führten den Herrn und die Frau des Hauses, und Alamosa sagte mir, er gäbe das Diner »para hacer una manifestación para V. V. una ovación muy merecida«. Der Ton bei dem ganzen Diner war ein außerordentlich herzlicher und freundschaftlicher. Dadurch, daß die vielen Verwandten der Frau Alamosa da waren, hatte man ganz die Empfindung, en famille zu sein, und man merkte auch, daß sie uns damit gerade die größte Ehre antaten, die sie erweisen konnten. Es war ein fortwährendes Zutrinken nach hiesiger Sitte, was denn den Herren auch zu Kopf zu steigen schien. Der Brasilianer, dem man sonst hier sehr die Cour macht, damit er in den Schiedsgerichten günstig für Chile entscheidet, war offenbar ganz betreten, nicht der Gefeierte zu sein.

24. September. Im Waggon viel darüber gesprochen, daß der Dienst uns recht wenig Chancen bietet, daß man aber auch andrerseits kein Recht hat, etwas anderes zu erwarten, wo soviel andere und vielleicht bessere doch auch nie aus den mittelmäßigen Stellungen herauskommen und man schließlich im Ausland doch immer mehr noch eine Rolle spielt wie zu Hause, wo man ganz verschwinden würde. An einer Station mit den Brown Carvallos zusammengetroffen, die von ihrem Gut zurückkamen, wohin sie mit ihrem Baby Festtag = Hochzeitsreise gemacht hatten. Das sind doch die reinsten Freuden, auf die man immer wieder zurückkommt, und die man sich auch in der bescheidensten weltvergessensten Stellung verschaffen kann, solang nur das Herz noch jung ist und uns nicht Sorgen die Elastizität geraubt haben, welche dazu gehört, um solch kleine Ausflüge in das Reich der Romantik unternehmen zu können.

26. September. Abends viel mit Edmund in seinem Zimmer geschwatzt. Wir sprachen über die Persönlichkeit Christi, und warum die Kirche eigentlich sein Opfer so groß darstellt. Es ist ja doch viel schwerer, sich tagtäglich verborgen und vergessen zu opfern, wie einmal im vollen Bewußtsein einer Mission, im Glauben an eine Idee zu sterben...

Unser neuer Kutscher hat seine Frau und Kind herkommen lassen. Abends starb das Baby, das schon sehr krank hertransportiert worden war. Die Leute hatten über Tags um nichts für das Kind gebeten, sondern es so ziemlich »unattended« sterben lassen; sowie es aber tot war, baten sie um Kleider und Bänder, es auszuputzen, und es schien für alle Dienstboten als eine Art Fest. Marie (französische Jungfer) war ganz aufgeregt, verfertigte ein Kleid, von dem sie meinte, es sei so schön wie das der »Notre-Dame de Lourdes«, und da das Kind damit vor dem lieben Gott zu erscheinen habe, würde uns das Glück bringen. Die Leute schienen es übrigens als un bon débaras anzusehen und geben hier ja überhaupt weniger acht auf ihre Kinder wie wir auf junge Puttkücken. Wäre ich doch eine George Eliot, um die kleinen Misèren schildern zu können, die man so alltäglich vor Augen hat. Ich bin seit längerer Zeit schon in der allerunglücklichsten Stimmung, und bekomme immer mehr einen Dégout vor diesem Leben hier, was für mich noch so viel, viel schwerer wie für Edmund ist, und über das ich doch suche vor ihm nicht zuviel zu klagen. Wie mir oft wirklich zu Mut ist, sag ich zu niemand. In vieler Hinsicht ist mein Leben ein so verlorenes und zerstörtes und ich empfinde so recht die Trauer, die durch soviel Existenzen geht, zu dem nicht kommen zu können, wozu man eigentlich beanlagt war. Es ist ja wahrscheinlich durch eigne Fehler so gekommen, aber warum ist uns die Möglichkeit gegeben, so jung unser ganzes Leben verderben zu können? Oft möchte ich glauben können, daß dies nur ein paar Probejahre sind, und daß sich dann auch das Rad für uns wenden wird, aber wo soll die Wendung, wo soll das Glück herkommen? Wir haben ja gar keine Chancen, sind ganz ohne Freunde, es ist so aussichtslos. Edmund dauert mich so, er muß so bitter werden, wenn er daran denkt, wie anders er sonst dastand ...

12. November. Zur Stadt gefahren und da die Nachricht bekommen, daß es mit dem Kronprinz so sehr schlecht steht – er hat also Krebs und geht von San Remo nach Berlin zurück, – es klingt so hoffnungslos und als suche man ihm nur den Sterbeort aus. Ich konnte den ganzen Tag an nichts anderes denken und habe auf offener Straße darüber geweint. Es ist zu unglaublich hart für ihn, für das ganze Land, für seine unglückliche Frau! Ich hatte Visiten zu machen und Leute begegneten mir, und ihr kühles teilnahmsloses »what sad news about your crownprince« oder »wie schlecht es dem Kronprinzen geht« ging mir ordentlich auf die Nerven. Wie kann man so konventionell bleiben einem solchen Unglück gegenüber? Ich mag nicht daran denken, so sehr muß ich bei jedem Gedanken daran weinen, – und all diese Leute, die doch Deutsche sind, sprechen davon wie von den Silber- und Kupferpreisen. Ich mochte schließlich mit niemand mehr darüber sprechen, so sehr erschien es mir eine Entweihung. – Haben denn all diese Menschen gar keinen Patriotismus, der sie lehre, diesen Verlust eines Landes und diesen Jammer einer Frau und eines Mannes zu verstehen? 0 lieber Gott, wenn ich ihm mit meinem Leben sein Leben erkaufen könnte, wie gern gäbe ich es – und ohne das Gefühl eines großen Opfers – wer sehnte sich denn nicht, etwas wirklich Großes, der Menschheit oder einem Teil der Menschheit, also dem Vaterland, Förderliches tun zu können – man preist Christus, man preist die Märtyrer, ja, wer mit Phantasie und Idealismus wäre denn nicht gern ein Märtyrer, wenn er nur die Idee fände, die des Märtyrertums wert wäre! Meine Idee, mein Kultus nun ist Deutschland, in dem ich soviel gelitten, dessen kleinliche nörgelnde Seiten ich so gut kenne, und das ich doch mit so ganzer Liebe liebe. Gott behüte es und diejenigen, die ihm Herr sein sollen! Ein so Großer der Erde, und speziell unsres Vaterlandes scheint im Sterben zu liegen, und doch geht die Welt hier so ruhig und ungestört ihren Gang weiter, – was sind wir kleine einzelne denn, wenn ein so Großer so vergehen kann, wie können wir denn Mitleid, Teilnahme von andern erwarten? Die Welt ist sich ja untereinander so gleichgültig geworden. Diese Gleichgültigkeit selbst erscheint mir aber als ein Mangel an Phantasie, als eine große Herzensunbildung! Ich sehe vor mir in Bildern, die ich malen könnte, den Schmerz und die Verzweiflung all derer, die ihn geliebt, für jeden einzelnen fühle ich, dem mit ihm eine Hoffnung, eine Erinnerung, ein Streben stirbt – und hier scheint sie alle das so kühl zu lassen. Wissen sie denn gar nicht, was ein Schmerz, was das Zweifeln an einer göttlichen Gerechtigkeit ist? ... Wir machten Besuche und aßen dann in einer kleinen Kneipe, – am Tisch neben uns saßen fremde Matrosen, und ich hörte einen sagen in bewegter Stimme: »The crownprince of Germany is dying and he was the most important man for Germanys future«. Das war das erste Wort an dem Tag, das mir ganz sympathisch war, – o lieber Gott, behüte ihn und behüte Deutschland!

Dezember. Am 1. aß A. bei uns, er ist neu angekommen, hat bei den Karlsruher Dragonern gedient, sprach viel von dort und besonders auch von Herrn von M., was mich viel mehr impressionierte, als ich es erwartet hätte. – Die ganze Jugendzeit stand wieder dabei vor mir, und ich empfand die tiefste Sehnsucht danach zurück, weniger vielleicht um dessentwillen, was sie wirklich enthielt, wie um das, was man in ihr alles so sicher erhoffte. Wie viel Unrecht, Enttäuschung und Schmerz seitdem! Ich habe auch, sooft ich an die Zeit zurückdenke, sosehr die Empfindung, gegen M. nicht recht gehandelt zu haben, und doch war mir soviel Falsches über ihn als ganz bestimmt mitgeteilt worden, daß er mir sicher verzeihen würde, wenn er es alles wüßte!

Am 4. zwei Jahre her, daß ich Stephaniechen wieder habe, – viel Angst um sie in der Zeit durchgemacht und sie immer lieber gewonnen, Gott gebe ihr ein leichtes Leben! – Viel mit Edmund über Karriere gesprochen – er findet den Dienst aussichtslos und fühlt sich zurückgesetzt. Ich finde aber, wenn man unparteiisch die eigenen Verdienste betrachtet, so kann man nicht als zurückgesetzt sich ansehen, man findet sich nur dann zurückgesetzt, wenn man sich mit Leuten vergleicht, die bei ebenso geringen Verdiensten durch Verwandtschaft oder sonstige Protektion besonders vorwärtskommen – mit denen aber sollte man sich nicht vergleichen, denn es sind an und für sich unmoralische Fälle, zu denen zu gehören man nicht wünschen darf. – Mit großer Spannung all die Nachrichten aus Frankreich verfolgt, über die Ordensverkäufe und den Präsidentenwechsel – das ist doch ein Schmutz, neben dem das Ärgste in Deutschland immer noch Gold ist.Beginn der Dreyfusangelegenheit. »Heute sind die Depeschen über die skandalösen Vorgänge im französischen Kriegsministerium, Verkauf des Mobilisationsplanes eingetroffen.« Edmund von Heyking an seinen Vater. 6. Oktober 1887.

9. Dezember. Ein recht glückliches ruhiges Lebensjahr liegt hinter mir, wie ich mir noch viele wünsche, denn mein Leben ist bisher so überreich an Aufregungen gewesen. Ich habe in dem Jahr viel gelesen, bin über manche Sachen weniger verbittert, und im ganzen klarer. – Ich will weiter suchen, meinen kleinen Wirkungskreis hier gut auszufüllen, Edmund aufzumuntern, für die Kinder zu sorgen, mich selbst auszubilden. Vielleicht stellt mir das Leben doch noch einmal größere Aufgaben. Ich wünschte so sehr, daß Edmund hier ein genügend großes Vermögen verdiente, damit wir in Europa eine schöne wohltätige Stiftung machen könnten, – ich möchte so gern etwas Gutes tun und habe dabei noch den besonderen Gedanken, daß es in Erinnerung an Papa geschehen sollte ...

Gelesen: »Lettres de Marie-Louise«.»Correspondence de Marie-Louise« (Erzherzogin von Österreich, zweite Gemahlin Napoleons I.) Paris 1882. Man hat die Empfindung, als seien sie von einer herzensguten, tätigen, kleinbürgerlichen Frau geschrieben, die sich in einem ruhigen, alltäglichen Leben sicher ganz gut benommen hätte, – so war sie ein kleiner Geist avec une grande destinée – and she made a mess of it. Recht viele böse Nachrichten in dieser Zeit über die Cholera, die in der Stadt und auch besonders in unserer Nachbarschaft sehr schlimm ist.

Sehr viel für Weihnachten gearbeitet ... Der Aufbau war in der Gloriette ... Eine warme schöne Nacht, der Baum und die vielen chinesischen Laternen, die an Girlanden aufgehängt waren, machten sich reizend im Freien. In der Kegelbahn hatte ich großen Aufbau mit Baum für die Leute; unsere hiesigen Dienstboten schienen aber so wenig gegenseitig ihrer Ehrlichkeit zu vertrauen, daß sie ihre Geschenke unbesehen zusammenpackten und dann wie Auswanderer mit dem Bündel auf dem Rücken abzogen. Nachher tanzten sie alle hinter dem Hause Cueca, was höchst exotisch und wenig christlich-weihnachtlich aussah.

31. Dezember. Edmund und ich zusammen das neue Jahr erwartet, von Herzen für das letzte dankbar, das uns so viel schöne Stunden gebracht hat, und in dem wir uns immer lieber gewonnen haben; uns noch viel ähnliche Jahre erbeten, in denen wir vier beieinander bleiben mögen. Will uns der liebe Gott im nächsten Jahr auch etwas äußerliche Erfolge geben, so wollen wir es in Dankbarkeit annehmen – der Schwerpunkt liegt für uns aber nicht darin, sondern im Zusammensein; und daß wir uns das erworben, ist etwas so Kostbares, daß wir es selbst mit unseren traurigen Erfahrungen nicht zu teuer erkauft haben. – Vielleicht wären wir in einem heitereren Leben mehr verflacht, hätten nicht so gelernt, aufeinander einzugehn und das Glück innen, nicht außen zu suchen. – Ich habe auch in diesem Jahr Unrechtes getan und gedacht, bin oft ungeduldig und undankbar gewesen, habe nicht genug gegen trübe Stimmungen angekämpft, aber doch scheint mir das Jahr ein kleiner Schritt vorwärts im Erstreben innerer Harmonie. Lieber Gott, behüte uns vier und hilf mir besser werden.

1. Januar 1888. Morgens früh zur deutschen Kirche gefahren, was ein hübscher Jahresanfang war.

5. Januar. Die Nachricht erhalten, daß die Huanchacha die Zinsen eingestellt hat, was ein harter Schlag war.

8. Januar. Viel überlegt, wie wir unser Leben recht billig einrichten können, da die Huanchachazinsen einen großen Ausfall machen; ich bin aber immer ganz froh, wenn ich nur meinen Mann und die Kinder gesund habe.

Am 17. Januar bei Dr. von Schröders, einem ausgewanderten Landsmann von Edmund, gegessen. Er erzählte recht interessant über russische Verhältnisse, u. a. von einer Reise, die Alexander II. durch Distrikte im Süden machen wollte, in denen der Karte nach schöne Chausseen sein sollten, in Wirklichkeit aber nicht einmal gewöhnliche Wege existierten. Der Gouverneur ließ nun in aller Eile Baumstämme in den Morast legen und Kies darüber werfen, so daß der Weg bei der Durchfahrt des Kaisers herrlich war und der Gouverneur eine große Dekoration erhielt. Nach wenigen Monaten aber war der Weg, der seitdem Kaiserweg heißt, im Sumpf versunken, verregnet und verfroren und die Baumstämme standen wie Knüppel heraus. Dann erzählte Dr. von Schröders noch von einem Elsässer, Paraf, der vor sieben Jahren hier herauskam und angab, er könne Gold machen. Wirklich kaufte er Mineralien auf, die nach genauester Prüfung kein Gold enthielten, schüttete in Gegenwart von Chemikern und Mineuren eine Flüssigkeit darauf und siehe, beim Schmelzen fand sich alsbald Gold. Die ganze Santiagogesellschaft geriet in die fabelhafteste Aufregung darüber, es wurde eine Gesellschaft gegründet, der Präsident und die hervorragendsten Leute kauften Aktien, ein großes Bankett wurde gegeben, und bei demselben erklärte Paraf, mit seinem Gelde sollte Elsaß-Lothringen für Frankreich zurückgekauft werden. Da aber diese großen Erfolge immer auf sich warten ließen, wurden die Aktionäre ungeduldig und schließlich mißtrauisch. Es stellte sich heraus, daß Herr Paraf bei den Juwelieren in Valparaiso Gold kaufen ließ, und daß die Flüssigkeit, die er auf die Metalle goß, flüssiges Gold sei. Der Schwindel endete mit einem großen Krach, viele Leute hatten ihr ganzes Vermögen verloren. Paraf verschwand mit Schimpf und Schande, aber ohne Profit. Das Ganze recht Moyen-âge.

29. Januar. Ein Picknick in einer der Palmen quebradas gemacht; der Weg dahin schauerlich. Wir zwei Damen brauchten vier Herren, um uns die Abhänge hinaufzuziehen und zu schieben. Nachmittags zu Wagen und zu Pferd Partie nach den Salinas, eine verkommene verlassene Hazienda, das Haus sehr verfallen, der Garten vernachlässigt, aber voll von ganz prachtvollen Bäumen. Der Besitzer, ein betrunkener Huaso mit un air de brigand de Calabre,aber sehr gastfrei und höflich, machte uns in seinem betrunkenen Zustand die tollsten Reiterkunststücke vor. Das Ganze machte einen seltsamen geträumten Eindruck wie eine Schilderung eines Romantikers – ich mußte unwillkürlich an das Schloß in Gräfin Dolores denken.

In diesem Monat gelesen: »Eugene Rougon« par Zola, was mir sehr gefallen hat in seinen Schilderungen des 2. Kaiserreichs. Sehr gut auch die zweifelhafte Italienerin mit ihren Konspirationen, ihrer Schlampigkeit und dem dabei doch so großen Charme. »She« by Rider Haggard. Ein ganz seltsames Buch mit modernem Realismus in den kleinsten Details und dabei doch einer schwindelerregenden Phantasie. Zwei Engländer, die im Herzen Afrikas eine 2000 Jahre alte, ewig junge Königin finden. Viel Schopenhauer und etwas Lippert in dem Buch.

»Arme Mädchen« von Paul Lindau. Ein recht betrübendes Buch. Lauter Elend, dem in absehbarer Ferne nicht zu helfen ist. Das Découragement, die Hoffnungslosigkeit so unzähliger Existenzen und daß sie doch existieren müssen – das scheinen mir die Hauptzüge. Sehr schöne Berliner Beschreibungen. In diesem Monat noch den 2. Teil der Kulturgeschichte von Lippert gelesen.

16. Februar. Edmund fuhr schon früh nach Valparaiso, ich blieb bis Mittag in den Zorras. Es wurde mir recht schwer, von den Kindern Abschied zu nehmen. Wir trafen mit Baron Gutschmid an der Bahn zusammen und schifften uns dann auf der Valdivia ein.Zu einer Exkursion nach dem Süden, die der inzwischen zum Gesandten beförderte Baron Gutschmid beruflich zu machen hatte.

17. Februar. Wir haben eine sehr große Kajüte und der Dampfer, ein alter Raddampfer, ist sehr bequem. Der Kapitän ein Deutscher, der sehr liebenswürdig für uns ist. Er erzählte viel von seinen Reisen, u. a. von einem ersten Offizier, der kürzlich an Typhus gestorben ist. Es soll ein mysteriöser alter Pole gewesen sein, dessen eigentlichen Namen niemand kannte. Nach seinem Tode fand man, daß er über und über mit Marken geheimer Gesellschaften tätowiert war und allerhand Schmuck als Andenken an seine verstorbene Frau bewahrte. Sein einziger Sohn ward dann in Australien ermittelt. Man könnte das vielleicht als Novellenfigur verwenden. Abends kamen wir in Tomé an, ein kleiner Ort im Golf von Talcahuano. Wir drei gingen mit dem Kapitän an Land und spazierten durch die Stadt, die pflasterlos, staubig, schmutzig und übelriechend ist. Wir krabbelten auf einen Hügel, der weit ins Meer hinausspringt, und von dem aus wir eine nette Aussicht auf die Bai hatten, halb mit Sonnenuntergang, halb mit beginnendem Mondschein. Oben zwischen Büschen stand ein großes Kreuz, unter das wir uns setzten, inmitten von dem, woraus man »eau de mille fleurs« macht. – Tomé ist ein kleines Seebad und wir gingen nachher mit der plöterigen Badegesellschaft auf der Landungsbrücke auf und ab, die der einzige Spaziergang zu sein scheint.

18. Februar morgens um 6 Uhr kamen wir in Talcahuano an. Wir fuhren mit Baron G. an Land, wobei er solche Eile hatte, ein Boot zu erwischen, daß er die Douanebeamten, die an Bord kamen, beinah umrannte und eine dicke Chilenin, die uns den Weg auf der Schiffsleiter versperrte, um ein Haar ins Wasser warf. Der Gegensatz zwischen seiner nordischen Geschäftigkeit und dem hiesigen Phlegma war sehr amüsant zu sehen. In Talcahuano konnten wir noch gerade in den Zug springen, der nach Concepcion in 20 Minuten fährt. Die Bahn geht zuerst an seltsamem Flugsand vorbei, der sie ganz verschütten würde, wenn er nicht fortwährend weggeschaufelt würde und Snowsheds dagegen errichtet wären. Nachher kommt man an weiten Potreros vorbei, an einem kleinen See und dem Biobio, an welchem Concepcion liegt. – Die Stadt ist sehr reinlich, gut gepflastert und macht einen wohlhabenden aufstrebenden Eindruck. Wir fuhren zu dem deutschen Konsul S., den wir ganz verdattert über unsern frühen Besuch fanden. Mit ihm machten wir einen großen Gang durch die Stadt, besahen das Theater, das neu gebaut wird, viel größer und eleganter, als es eine doppelt so große Stadt in Deutschland haben würde, dabei ist nie eine Truppe dauernd in Chile. Dann gingen wir in das Geschäft des Herrn S., der Louvre von Concepcion, und in sein Privathaus, lernten dort seine fünf Töchter kennen und seine chilenische Frau. Sie erwartete gerade ein Sechstes und hatte denselben geduldigen Kuhausdruck wie Frau Tohde in Cuba. Ich wurde in meiner Ansicht bestärkt, daß Heiraten zwischen Männern einer höheren und Frauen einer niederen Kaste nichts taugen, die Frau muß dabei zu einer bloßen Retorte für den Homunkulus werden. – Concepcion ist Zentrum des Ackerbaus Chiles und soll eine große Zukunft haben. Herr S. erzählte uns, wie auf vielen Gebieten der deutsche Handel hier immer mehr aufkäme und den englischen verdrängt. Nachmittags kamen wir nach Coronel, blieben ein paar Stunden, die ich zu einer kleinen Skizze benutzte. Bei Coronel sind große Kohlenminen, früher sehr viel bedeutenderer Art wie heute, da mehrere der Minen so leichtsinnig betrieben wurden, daß sie einstürzten und von der See überschwemmt wurden. Delames in Valparaiso haben dabei in einer Stunde ihr ganzes Vermögen verloren. – Abends kamen wir in Lota an. Zuerst fährt das Schiff an einer felsigen dichtbewaldeten Landzunge vorbei, auf deren Höhe zwischen den Bäumen das Cousinosche Schloß hervorschaut. Dann biegt das Schiff um und man läuft am Hafen der Stadt Lota ein, die unten am Strand liegt, und über deren Häuser sich die großen Schornsteine der verschiedenen Cousinoschen Kohlenbergwerke erheben. Gleich nach Tisch gingen wir drei mit dem Kapitän an Land und bei Mondschein durch den Park und um das Schloß. Dann durch das obere Lota, wo Frau C. reizende Häuser für ihre Beamten, die alle Europäer sind, gebaut hat, sowie Arbeiterwohnungen, Hospital, katholische und evangelische Kirche. Das Schloß ist noch ganz von Gerüsten umgeben, es hat ein hohes französisches Dach, der Stil war mir aber nicht ganz klar. Der Garten, der ein Gemisch von Parkanlage, Blumengärten, Irrwegen, Lauben, Pavillons, Grotten, Brücken, Treibhäusern enthält, ist das Originellste und Hübscheste, was man sehen kann, dabei überall ein augenerquickendes Grün. Ganz besonders schön sind die vielen Sorten Farrenkräuter, die große Dickichte bilden. Dabei hat man von Zeit zu Zeit Ausblicke auf meerumspülte felsige Landzungen, die an Rügen erinnern. Sehr schön ist ein Punkt, wo in der Tiefe Tropfsteingrotten zwischen Wasserarmen liegen, mit riesigen Farren und Caladiumblättern, und hoch oben eine hängende Kettenbrücke schwebt, von der aus die Aussicht auf die baumbedeckten Hügel, die wäßrige und grünfarbige Tiefe unter einem und das Meer in der Ferne ganz zauberhaft ist. Sehr originell sind auch lange Bogengänge aus Naturhölzern verflochten, an denen sich die reizenden Copigues- und Passionsblumen emporranken. Die Anlagen sind voller Überraschungen – bald sind es reizende Statuen, bald kuriose elegante Pavillons oder Teiche, Treibhäuser, Sitze in großen Bäumen. Auf einigen Rasen sahen wir allerhand Tiere, Guanacos, Lamas und sehr schönes Federvieh. Auch Papageien, Kakadus und Affen sind da. Ganz nahe dabei, stellenweise unter einem, liegen die Minen, man hört die Maschinen arbeiten, die Züge bringen die Kohlen zum Verschiffen auf die Brücken. Schwarze, berußte Gestalten laufen herum, die Schornsteine blasen dicken Rauch in die graue Morgenluft. – Alles ist da unten Arbeit, Mühe, Stampfen, Dampfen, Schnauben, Laufen, damit es da oben alles Schönheit, Stille, Grüne, Poesie und Träumerei sein könne! – Der immense Cousinosche Reichtum stammt von diesen Minen. Für Unbeteiligte wäre es vielleicht schöner, den Park und das Schloß etwas weiter fort davon zu haben, so aber hat es einen gewissen, nicht unangenehmen Parvenuestolz, Ursache und Wirkung so dicht nebeneinander zu sehen, – es ist wie ein Millionär, der sich des Vaters en blouse nicht schämt.

19. Februar nachmittags kamen wir in Lebu an, ein Fischerdörfchen, das zwischen verwitterten alten, z. T. abgestorbenen Bäumen nicht unmalerisch liegt. Wir gingen mit dem Kapitän an Land, begegneten einem Herrn E., der uns das Haus seines Bruders zeigte, welcher mit der Tochter des reichen Vergara aus Vino verheiratet ist und seit kurzem Schwindsucht halber in La Paz sitzt. Wir drei waren ganz bedrückt von der Melancholie, Muffigkeit und Primitivität des Ortes. Ich konnte mir die hübsche kleine Vergara gar nicht in dieser Einöde vorstellen; im Hause ihrer Eltern, in Santiago, habe ich ihr Bild von einem berühmten französischen Maler gesehen und mußte immer denken, was der wohl sagen würde, wenn er die Heimat des Originals sähe. Wir machten einen Spaziergang unter seltsamen efeubewachsenen Stämmen nach einem kleinen armseligen Nonnenkloster, mit Kirche dabei; alles war malerisch, die großen Steine, die grauen Stämme, das dunkle Grün, aber dabei so bedrückend trübselig. Die Folge war, daß wir auf dem Schiff die melancholischsten Gespräche bis abends spät führten.

20. Februar. Morgens fuhren wir zwischen waldigen Höhen an den alten spanischen Forts vorbei in den Hafen von Corral ein. Es ist ein kleiner Ort mit hochdachigen Holzhäusern, alten Festungsmauern, vom Grün halb verdeckt; bei der grauen Morgenbeleuchtung erinnerte es mich an kleine norwegische Stranddörfer. In Corral erwartete uns eine kleine Privatdampfbarkasse, die die deutsche Flagge trug. Wir fuhren in zwei Stunden nach Valdivia. Die Fahrt auf dem Fluß ist reizend, die Ufer über und über mit prachtvollstem Urwald bedeckt. An manchen Stellen hat man begonnen, ihn auszuroden, da strecken dann die verkohlten Bäume ihre schwarzen Äste in die Luft. Sonst aber ist alles dichtes, undurchdringliches Grün mit weißblühenden Olmos und den köstlichen Farren, die bis ins Wasser herunterhängen. An einigen Orten sind kleine Wiesen angelegt, auf denen man Vieh weiden sieht, und hie und da liegt ein Hüttchen am Ufer, das entweder einem deutschen Kolonisten oder einer echten Indianerfamilie gehört... Am Nachmittag machten wir eine Promenade in den Urwald. Die Bäume sind herrlich; und von größtem Reiz sind die Schlingpflanzen, Copigues, mit ihren großen roten Glockenblumen, die sich hoch hinauf in die Bäume ranken. Leid tut mir nur, daß soviel ausgerodet wird, die schwarzen verkohlten Baumriesen strecken die Arme so protestierend in die Lüfte.

22. Februar. Wir machten per Dampfbarkasse einen Ausflug einen der Flüsse hinauf, kamen vorbei an einem Felsenvorsprung, der Loreleyfelsen genannt ist. An einer scharfen Biegung des Flusses sahen wir plötzlich am Horizont einen herrlichen Schneeberg, den Villarica, der bei der gleichnamigen altspanischen Stadt liegt, und wo jetzt das Indianergebiet ist. Es sollen aber auch dort schon viele deutsche Kolonien sein. Es war eine Freude, zu hören, daß jedes gut und freundlich aussehende Dorf am Ufer Deutschen gehört, während die chilenischen Niederlassungen elend und verkommen aussehen.

23. Februar. Von Valdivia abgefahren, mit Dampfer den Titafluß hinauf bis Chamyl, wo wir ein Boot nahmen und nach zweistündiger Fahrt an Land stiegen, dann in einer Stunde nach Los Ulmos reisten, wo wir in einem deutschen kleinen Gasthaus blieben.

24. Februar. Ich war in der Nacht recht krank, trotzdem ritten wir um 6 Uhr von Los Ulmos ab. Der Weg führte mehrere Stunden durch Urwald, der undurchdringlich wird durch das seltsam wirre Lianengestrüpp, das sich von Baum zu Baum schlingt. Wir kamen an verschiedenen ganz neuen Settler-Hüttchen vorbei, wo die Leute noch ganz in den allerersten Anfängen waren; bei einigen brannte der Wald noch, bei anderen waren in das eben urbar gemachte Land Kartoffeln gesetzt worden, und diese heimatliche Pflanze wuchs neben den großen, schwarzverkohlten Baumstämmen, die stehen geblieben waren. Dieses Benützen des kleinsten Fleckchens Landes, nachdem es kaum urbar gemacht worden ist, und wo man unmittelbar daneben noch mit der Hand in die jahrtausendalte Wildnis greifen kann, hat etwas unbeschreiblich Rührendes. Manche der Settler sind Deutsche; in den Türen stand manchmal ein blondes, blauäugiges Kind, bei dessen Anblick mich Heimweh nach heimatlichen Dorfhäuschen beschlich – ich hab' von ganzem Herzen den armen, fernverschlagenen Menschen Gedeihen und Segen gewünscht. Andere Settlers sind hiesige Halbchilenen und Halbindianer; bei einer ihrer Hütten sahen wir einen recht widerlichen Auftritt: der Mann war schwer betrunken und stürmte mit der Sichel auf seine Frau ein, sie mußte es aber wohl recht gewohnt sein, denn sie lachte nur, daß die weißen Zähne in dem braunen Gesicht blitzten. Als wir durch eine tiefe Schlucht ritten, in der unten ein breites Flußbett war, wo wir die Pferde etwas trinken ließen, begegnete uns eine Schar Indianer mit einem Caciquen; derselbe trug einen schöngestickten Poncho und sein Zaumzeug und Sporen waren schön und massiv aus Silber gearbeitet. Wir unterhielten uns mit dem Alten, der sehr stolz war, daß wir seine Sachen so bewunderten. Der letzte Teil des Weges führt nicht mehr durch Wald, sondern durch sanfthügeliges weizenbebautes Land, das sehr an den Oderbruch und Mecklenburg erinnert. Freilich sahen wir hier in weiter Ferne den Osorno, einen zirka 9000 Fuß hohen, schneebedeckten Vulkan. Während der letzten Stunde ward es recht heiß und staubig wegen der vielen ochsenbespannten Karren, die uns begegneten. Die Räder daran bestehen aus einer runden Baumscheibe, in deren Mitte ein Loch ist, durch das die Achse geht; – sie machen einen schauderhaft knarrenden Lärm, sind aber die einzigen Fuhrwerke, die durch die steilen Wege durchgekommen; et encore! – bei jeder schlechten Stelle liegen viele kaputte Räder und sonstige Reste verunglückter Wagen, auch mehrere tote Pferde. Dicht vor Union kamen wir an einer Tenne vorbei, wo das Korn ausgedroschen wurde, indem etwa 20 Pferde darauf herumliefen, wozu Männer, Frauen und Kinder sie antrieben. Früher soll dies hier überall üblich gewesen sein.

25. Februar. Wir ritten wieder um 6 Uhr fort und waren um 8 in Trumao, wo wir auf einer großen Fähre samt Pferden, Führern und Maultieren übergesetzt wurden. Es sah wieder recht kurios abenteuerlich aus. Von Trumao ritten wir etwa drei Stunden nach der Stadt Osorno; der Führer, hier arriero genannt, ermunterte uns sehr, seine Pferde nicht zu schonen, indem er uns wiederholt zurief: »pique no mas«. Kurz vor Osorno begegnete uns ein Reiter, dem man trotz Poncho und chilenischem Zaumzeug gleich den Deutschen ansah. Er ritt an Baron Gutschmid still vorbei, Edmund aber sagte: »Da kommt schon die erste Deputation«, und richtig, auf dem Gesicht des Reiters wich der Ausdruck respektvollen Zweifels, um sich zu dem loyalster Gewißheit zu steigern, und er entpuppte sich als der deutsche Vizekonsul K. Ich sollte durchaus bei seiner Frau wohnen, was wir aber dankend ablehnten.

Zu Tisch gingen wir zu K. und wurden von seiner kleinen, fabelhaft lebhaften Frau an der Tür empfangen. Wir hatten kaum das Haus betreten, so fing sie auch schon an, sich über alles zu entschuldigen, schien von der Idee auszugehn, daß wir höhere Wesen seien und alles schlecht finden würden. Wir wurden ins Eßzimmer geführt, ich mußte mich an die Spitze des Tisches setzen und Edmund und Baron G. neben mich zu meinen beiden Seiten, da Frau K. meinte, ich könne mich sonst unter den fremden Menschen fürchten. Das Essen war sehr gut, echt deutsche Kost, die uns dreien auch sehr gut schmeckte, nur daß wir zu sehr genötigt wurden, und wenn wir nicht so viel nahmen, wie unsre Wirtin erwartete, sagte sie: »Ach, Ihnen ist es gewiß zu power bei uns«, und dann ging es wieder ans Entschuldigen. Zum Aufwarten hatte sie ein nettes deutsches Mädchen, lief aber selbst, vermutlich aus Aufregung, da es eigentlich ganz unnötig war, beständig zwischen Küche und Eßzimmer auf und ab, Teller und Schüsseln schleppend. Einmal verschwand auch gleichzeitig der Mann, um Wein zu holen, so daß wir ganz allein waren, und ich da allerdings mich hätte fürchten können! Nach langer Sitzung standen wir ganz erschöpft auf von all dem Essen und Trinken. Bei Tisch war das siebenjährige Töchterchen zugegen und nachher wurde mir auch der einjährige Sohn mit dicker indianischer Amme vorgestellt, wobei Frau K. in ihrer krankhaften Entschuldigungssucht sich schließlich noch bei mir entschuldigte, daß es bloß zwei Kinder seien! Nach Tisch erschien, um Baron Gutschmid zu besuchen, der hiesige Gouverneur, ein dicker Deutscher, Vater von 15 Kindern, mit seinem Adjutanten, der kein Wort sprach, sondern nur von Zeit zu Zeit seinen Säbel klirrend fallen ließ, und der hiesige Zivilrichter, der sich offenbar auf uns vorbereitet hatte und über die bulgarische Frage, die Verwicklungen zwischen Österreich und Rußland und das falsche Placement des Fürsten Bismarck bei dem Zarendiner in Berlin sprach! Der Besuch dehnte sich ins Ungeheuerliche und Unerträgliche, obschon wir drei mehrmals versuchten, die Herren zum Aufbruch zu bewegen. Dabei hielt der Richter zuerst meinen Mann für den Ministro und richtete an ihn alle seine Reden; als er nun aufgeklärt wurde, schien er zu bedauern, seine Weisheit so verschwendet zu haben, und richtete nun ausschließlich die Worte an Baron Gutschmid. Endlich gingen die Herren, und wir begaben uns ins Hotel mit Kopfschmerzen von zu vielem Essen, Trinken und Sprechen. Abends waren wir so elend, daß wir alle drei nichts tun konnten, sondern ohne Hüte durch Osorno liefen zur Abkühlung. Wir kamen dabei auf die Plaza, in deren Mitte ein Platz für Musik ist; dort setzten wir drei uns platt auf den Boden und brachen trotz Kopfschmerzen in schallendes Gelächter aus!

26. Februar. Morgens früh um 6 wurden uns Pferde von dem Gouverneur geschickt. Ich ritt zuerst ein Pferd, das mir als Damenpferd besonders empfohlen worden war; es ging aber ganz scheußlich, und das war auch kein Wunder, denn es stellte sich heraus, daß es von der Frau Gouverneuse geritten zu werden gewöhnt ist, und da diese Mutter von 15 Kindern 250 Pfund wiegt, konnte es sich an mein leichteres Kaliber nicht gewöhnen. Wir kamen im Wald nach der Mission, wo eine Kirche steht und in einem netten Häuschen ein Padre wohnt, der die heidnischen Indianer zum Christentum bekehrt. Der Haupterfolg soll sein, daß sie jährlich einmal zu einem Feste kommen und dann Geld und Lichter bringen – ich mußte recht an Lippert und die Opferkulte denken! ... Als wir uns abends nach den Pferden umsahen, mit denen wir den nächsten Tag reiten sollten, stellte es sich heraus, daß es schlechte durchgerittene Tiere seien, meines noch dazu ein bekannter Durchgänger. Es gab zwischen Baron Gutschmid und dem Pferdebesitzer eine scharfe Auseinandersetzung, und darauf ward ein Teil der Nacht damit zugebracht, nach anderen Pferden zu suchen. G. trommelte noch den dicken Gouverneur aus dem Schlaf, der uns Pferde sowie die Begleitung des Polizeikommandanten und seines Soldaten versprach.

27. Februar. Nach langem Hin- und Herlaufen und Warten, der Pferde und Maultiere halber, ritten wir endlich um 9 Uhr von Osorno ab, der dicke Gouverneur gab uns noch ein Stück das Geleite. Dann ging es in ziemlich scharfem Tempo durch einen hübschen Wald, der hier und da von Settlers gelichtet war. Wir scheuchten dabei mehrmals große Schwärme grüner Papageien auf, die es sehr viel hier gibt. Sie sehen sehr hübsch aus, wenn sie so schreiend fliegen, aber in Korn und Erbsen sollen sie viel Schaden tun, wie auch die hübschen graugelben wilden Tauben. Um 12 kamen wir in Cancura an. C. besteht nur aus ein paar Häuschen, die malerisch am Flusse liegen, über den eine Fähre geht; auf der andern Seite sieht man in den Urwald hinein und darüber ragt der schneeige Gipfel des Vulkans Llanquihué in die blaue Luft. Wir kehrten in dem Gasthäuschen ein, das von einem Chilenen und seiner netten appetitlichen englischen Frau gehalten wird, aßen mit der Familie, bei der zwei entzückende Chileninnen zu Besuch waren. Die eine mit einem koketten, bezaubernden Gesichtchen und großen glänzenden Augen, so wie man sich Carmen denkt, die andere mit großen klassischen und dabei merkwürdig schmerzlichen Zügen. Hätte im glücklichen Altertum der Begriff Resignation existiert, so hätte sie als Modell zu seiner Verkörperung dienen können. Um halb vier ging es von Cancura weiter, anfänglich ziemlich langsam, da der Weg aus kiesbeschüttetem Knüppeldamm besteht. Wir wurden aber von einem Deutschen mit chilenischem Gefolge überholt, dessen fatales Wesen uns schon in Cancura geärgert hatte, und da wir nun fortwährend seinen Staub schlucken mußten, rafften wir uns auf und jagten in langem Galopp an ihm vorbei. Er versuchte noch ein paarmal, uns zu überholen, was wir aber nicht zuließen. Am meisten amüsierte sich wohl unser chilenischer Soldat über unser Wettreiten. In Europa hätte man es auf dem Weg für ganz verrückt gehalten. Nach 2 ½ Stunden befanden wir uns auf einer Anhöhe und hatten einen ganz entzückenden Blick vor uns. Tief unten lag der blaue See Llanquihué. Auf dem jenseitigen Ufer erhob sich eine lange Kette schöner blauer Berge, die zur alten Cordillera gehören, und von denen einige ziemlich tief herunter mit Schnee bedeckt waren. Der schönste ist wohl der Llanquihué, der zirka 7000 Fuß hoch, steil aus dem See emporsteigt.

28. Februar. Wir gingen auf einen kleinen Dampfer, der uns nach Puerto Varas bringen sollte. Baron Gutschmid erzählte uns viel von allerhand Leuten, die er gekannt hatte, und von interessanten Begebenheiten auf seinen verschiedenen Posten; besonders viel sprach er von der Berliner Gesellschaft. Ich begreife wohl, daß er sich von Chile fort und nach dort zurücksehnt, er hat doch dort etwas, wonach sich zu sehnen lohnt. Ich sehne mich auch manchmal nach Berlin und nach vielen kleinen Futilitäten und Ehrgeiz- und Eitelkeitsbefriedigungen, aber selbst wenn ich dort wäre, hätte ich das alles ja doch nicht. Es ist bitter, sich sagen zu müssen, daß man wahrscheinlich in der Heimat, nach der man sich sehnt, mehr Grund hätte, sich unglücklich zu fühlen, wie hier in der fremden Ferne. Oft in der letzten Zeit habe ich darum gebetet, daß sich das Blatt für uns wenden möge. Mein größter Wunsch wäre der, daß wir die Mittel hätten, etwas Großes, Wohltätiges zu tun. Der Welt zeigen, daß wir nicht schlecht sind, sich dann meinetwegen von der Welt ganz zurückziehen, weil es einem selbst in der Einsamkeit am besten behagt, aber nicht einsam sein, weil man muß ... Mama sagte mir oft, daß mir die Demut mangele, – ich fürchte, ich habe sie noch immer nicht!

März. Wir ritten morgens nach dem linken Seeufer. In einem echten Kanoe, d. h. einem großen ausgehöhlten Baumstamm, setzte ich nach dem andern Ufer über und skizzierte dort.

5. März. Morgens ritten wir zuerst auf steilen ziemlich schlechten Wegen durch den Wald. Mit einemmal ging es hinab in eine tiefe Schlucht. Der Pfad war sehr steil und schmal in eine Seite des Berges eingehauen, über dem Abgrund schwebend. Unten in der Schlucht kamen wir auf den seltsamsten Weg, den ich noch je gesehen. Wir folgten einem kleinen Flüßchen, das sich zwischen den Felsenwänden einen so schmalen Pfad gebrochen hat, daß kaum Reiter und Pferd hindurchkönnen. An diesen Felsenwänden sickert langsam das Wasser herab, und es hat sich da eine ganze Welt seltener Moosarten und feiner reizender Farren gebildet. Über dem Flußbett von einer Wand zur andern haben Bambus und Riesenfarren ein dichtes Dach gebildet, und die Sonne von oben durch dies Dach gibt ein seltsam gelbes Licht, ungefähr so, wie das in den Aquarienkästen in Berlin. Der Ritt durch diese seltsame Grotte ist so zauberhaft und unwahrscheinlich, daß man unwillkürlich den Atem anhält. Es herrscht die tiefste, geheimnisvollste Stille in dieser gelbgrünen Einsamkeit, – der einzige Lärm ist das Klatschen des Wassers und Rollen der Steine unter dem Hufschlag der Pferde. Sehr wenige Reisende haben diese Kuriosität bisher gesehen. Ich fand es das Seltsamste, Zauberhafteste, was ich bisher erlebt, man glaubt in eine unmögliche Dekoration einer großen Feerie hineinzuschauen. Dabei ist jedes Mooschen, was auf den Steinen oder halbverwesten Baumstämmen wächst, ein kleines Kunstwerk für sich, und die langen grauen Schleiermoose, die wie in Florida von den Ästen herabhängen, sehen geisterhaft aus. Die Farren sind so groß, daß man bequem darunter wegreitet.

6. März. Ich stand um 6 Uhr auf, um noch einmal in der Grotte zu skizzieren; abends leider einpacken zur Heimfahrt.

10. März. Wie wir in Lota aussteigen wollten, ward Gutschmid ein Telegramm gebracht, welches den Tod unsres lieben alten Kaisers anzeigte und uns alle aufs tiefste bestürzte und betrübte.

11. März. Die Fahrt auf dem Schiff unter all den fremden Menschen, die natürlich nicht verstehen konnten, wie uns ums Herz war, wurde eine wahre Qual. Ich war mit meinen Gedanken immer abwechselnd in Berlin und in San Remo. Es ist so hart, so weit weg zu sein. Ein Herr hatte Zeitungen, die furchtbar traurige Nachrichten über den Kronprinzen brachten. Edmund und ich weinten den ganzen Abend darüber. Dies Unglück scheint so viel entsetzlicher, als der Tod des alten Kaisers, weil es so viel unnatürlicher ist. Mein Gott, gib ihm wenigstens noch ein paar Jahre des Schaffens und Wirkens!

12. März. Mittags in Valparaiso angekommen. Der Kronprinz hat als Kaiser Friedrich III. die Regierung angetreten. Ich habe mich so darüber gefreut, daß er und die arme Kronprinzeß das doch noch erlebt haben. Ich habe während der Reise rechte Charakterstudien an Baron Gutschmid gemacht. Er besitzt einen seltenen Grad unbewußten Egoismus, ist sehr gescheit und unterrichtet, sagt aber dabei, er läse »Renan« nicht, weil er nichts hören wollte, was seinen Glauben erschüttern könnte. Bei ihm ist, wie Edmund sagt, der Verstand dem Willen untergeordnet. Er hat an dem Faktum allein, seinen Willen durchzusetzen, Freude bei Sachen, die ganz gleichgültig sind und über die er auch fortwährend Meinung wechselt, man möchte beinahe glauben, um andern seinen Willen und seine Meinung aufzuoktroyieren. Er ist nervös und sehr heftig und so von der Richtigkeit seiner Meinung überzeugt, daß er alles, was mit ihm zusammenhängt, für besonders gut hält. Ein netter Zug aber ist, daß er sich über all das necken läßt, und, glaube ich, gar nicht übelnehmerisch ist. Er ist der methodischste Mensch, den ich kenne; sein Leben geht nach der Uhr, und genau nach dem, was er für gesundheitszuträglich hält. Was ihn darin genieren würde, schüttelt er ab, es möchten nun wichtige Geschäfte oder liebe Menschen sein. Er gehört ganz zur modernen Bismarckschen Aufrichtigkeitsschule und versteht es, Leuten die größten Grobheiten ins Gesicht zu sagen. Drei Minuten nachher ist er comme si rien n'était, und my good fellowed dieselben Leute. Er kann sehr nervenangreifend und unliebenswürdig sein, dann ist er aber nachher besonders freundlich, als habe er das Gefühl, etwas gutmachen zu müssen, und man schätzt seine Liebenswürdigkeit dann besonders, vermutlich weil es eine seltene Sache ist! Er besteht auf alledem, was er sein Recht nennt, ganz unerbittlich und findet, daß sich dem alles fügen muß. Er versteht es, über politische Angelegenheiten sehr klar und interessant zu erzählen.

Gegen Ende des Monats kamen bessere Nachrichten über den Kaiser. Ich bin in dieser Zeit mit allen Gedanken zu Hause und bete täglich für den armen Kaiser. Wir haben mit soviel Interesse die Proklamationen gelesen und auch die Antwort der Kaiserin auf die Adressen der Wohltätigkeitsvereine. Ich habe eine objektive Freude daran, zu sehen, wie zwei Menschen zu dem kommen und zu dem werden, wozu sie innerlich bestimmt waren und wozu sie sich ausgebildet haben. Es wäre zu traurig gewesen, wenn auch in diesen beiden hervorragenden Leben jene Trauer um das, was sie hätten sein, tun und werden können, getreten wäre, die so viele unbeachtetere kleinere Existenzen bedrückt und Schaffenslust und Freudigkeit erdrückt.

April. Mit größter Spannung alle Nachrichten von Berlin erwartet und mit Betrübnis gesehen, welche Richtung die neue Kaiserin einschlägt, und wie sie sich durch ihre Intrigen gegen Bismarck die Liebe verscherzt, die man so bereit war für sie zu empfinden. Bei dem Gesundheitszustand des Kaisers macht tout ce mouvement, qu'elle se donne, so sehr den Eindruck, als wolle sie noch schnell die Macht ausnutzen und langjährigem Ärger Ausdruck geben. Es hat etwas Unvornehmes.

9. Mai. Seit wir aus dem Süden zurück sind, beinah täglich zwei Stunden geritten, was die einzige Art ist, um vom Spleen nicht ganz übermannt zu werden.

13.Juni. Stephaniechens Geburtstag gefeiert, große Kinderschokolade, nachher Lotto. Jetzt ist man selbst die Mama, die aufbaut und amüsiert, und es scheint doch, als sei es erst gestern, daß man selbst noch das Kind war, das die Nacht vor dem Geburtstag vor Aufregung und Freude kaum schlafen konnte. Und doch, wie weit ist die Zeit! – Kein Rest mehr von dem Home der Kindheit, das Haus verkauft, die Bewohner gestorben und zerstreut, Unrecht getan und Unrecht erduldet, Freunde verloren, lange tief verbittert gewesen und um gescheiterte Hoffnungen getrauert, dann allmählich ruhiger, versöhnter geworden mit Dankbarkeit für das viele, was doch noch geblieben. Das ist meine Geschichte, und ich bete zu Gott, daß das Leben meines Kindes ruhigere, gleichmäßigere Wege gehen möge. Stephaniechen ist, glaube ich, viel vernünftiger angelegt als ich, sie kann manchmal etwas ganz matter of fact haben, und ich suche sie darin zu bestärken. Sie lernt so leicht, daß es eine Freude ist, ihr Unterricht zu geben. Alfredino sagte neulich ›when one man whip my mama, me whip man!‹. Möge er so chevaleresk, so unerschrocken bleiben. Es war mir ganz rührend, daß der kleine Kerl schon daran denkt, mich zu verteidigen. –

Ich las ›Trois mois sur le Gange‹ par Jaccolliot, was meine Sehnsucht nach einer Reise nach Asien sehr erhöht hat. Im Gegensatz zu Hübner spricht der Verfasser sehr scharf über die Engländer in Indien, über ihr Aussaugen der Eingeborenen und ihre dabei stets aufrecht gehaltene Humanitäts-, Bildungs- und Religionsheuchelei. Einiges über indische religiöse Glauben hat mich sehr interessiert. Mir hat der Gedanke etwas sehr Anheimelndes, daß wir nach dem Tode, je nach unsern Verdiensten, in höheren oder niedrigeren Erscheinungen von neuem leben werden, bis daß wir, wenn wir vollendete Güte erreicht haben, schließlich in den Geist, von dem wir ausgingen, zurückkehren. Aber wozu das Ganze? Ein Satz aus einem uralten indischen Gesang hat mich auch frappiert: ›Ich grolle der Welt, weil sie mich geschaffen.‹

Am 15. Juni. Als Edmund abends nach Hause kam, brachte er die Nachricht, daß unser armer, armer Kaiser gestorben! Es ist nicht zu realisieren, obwohl wir ja schon lange wissen, daß es kommen mußte. Aber er war eine solche Ausnahmegestalt, daß man immer noch hoffte, für ihn müßte ein Wunder geschehen. Wieviel Gutes und Schönes muß er vorgehabt haben, und hat fort gemußt, ohne wirklich etwas haben tun zu können. Ein Märtyrer in einer Nibelungenheldengestalt. Wo ist in solchem Jammer denn noch eine Gerechtigkeit?

29. Juni war eine Trauerfeier in der Presbyterianchurch, die Musik gut, aber das Ganze nicht so recht. Alles klingt so blaß und nichtssagend neben dem, was man für den armen Kaiser selbst empfindet.

Juli. Ich habe all die Zeit Beängstigungen, daß uns ein Unglück passieren wird und bin allmählich so nervös geworden, daß ich eine abergläubische Angst habe, weil ein krächzender Vogel so viel um unser Haus geflogen und in unserm Garten unsre schönste Zypresse umgestürzt ist. Vielleicht trägt die Unsicherheit unserer augenblicklichen Lage dazu bei, das Hinundherschwanken mit unsern Gedanken und nicht wissen, was aus uns werden wird. Durch die Zeitungen erfahren, daß Seldeneck in das Auswärtige Amt zurückberufen ist, nachdem er noch bei Kaiser Friedrich eine Audienz gehabt. Nicht umhin gekonnt, darauf neidisch zu sein. Wahrscheinlich kam dies als Dämpfer dafür, daß wir am Tag vorher durch Briefe gehört hatten, daß man in Berlin mit Heyking sehr zufrieden sei. In wieviel gemeine Gefühle des Neides und der Mißgunst kommt man doch unwillkürlich in der Karriere, auch wenn man, wie ich von uns glaube, zu den Anständigsten gehört... Warum ist es nicht das Hergebrachte, von einem gewissen Einkommen an nur ein Enjoyer zu sein, künstlerisch, kritisch wohlgebildet. Man könnte sich dann zurückziehen, ohne über Aufgeben des Berufs, Verlassen der Pflicht allerhand désobligeante Dinge zu hören, und ließe Platz für die, welche das, was man selbst verachtet, als hohes Ziel ansehen. – Wenn man hört, wie der arme Kaiser für alle, die zu Hause waren und ihn liebten, noch etwas getan, scheint es wie ein besonderes Grignon, nicht dagewesen zu sein. Edmund fühlt es, glaub' ich, sehr, ich weniger. Vielleicht, weil er noch seine Eltern hat. Die Menschen, vor denen man etwas gelten möchte, vor deren Augen einen Erfolge freuen, sind die der vorhergehenden Generation, zu denen man aufgeblickt hat. Was kann einem dagegen daran liegen, vor Jüngeren zu glänzen, über denen man ja allein schon nach Alter und Erfahrung steht. Alte Eltern gehabt zu haben, die man der Natur nach früh verlieren muß, ist auch deshalb ein Unglück. Nicht nur entbehrt man der natürlichen, besten Tröster, man verliert auch die, vor denen Lorbeer und Erfolge Wert gehabt hätten. Wer kümmert sich darum, daß es mir so oft schlecht geht? Wer würde sich darum kümmern, wenn es mir heute ganz besonders gut ginge? Ach Papa und Mama, wo seid ihr?

14. Ju1i. Viel zusammen gesprochen über die Eventualität, den Abschied zu nehmen und dann in Rom und Zürich zu leben, sogar die Möglichkeit erwogen, daß sich Edmund an der Züricher Universität habilitieren könnte. Nachmittags saßen wir beide auf dem Fensterbrett im Schlafzimmer und redeten darüber. In unser künftiges gemaltes Tagebuch soll ein Bildchen davon kommen unter dem steht: »Miez und Mauz überlegen sich, ob sie Professoren werden sollen.«

24. Juli Seit dem 15. fortwährend mehr oder minder krank gewesen und mich ein paarmal so schlecht gefühlt, wie nie im Leben. Ich war selten der Empfindung so nahe, von Bewußtsein und Vernünftigkeit Abschied zu nehmen. Dabei plagte mich der Gedanke, wie ich durch die vielen weltlichen Dinge, die ich ungeregelt gelassen habe, wenig fit zum Sterben bin, was doch jeden Augenblick kommen kann. Ich habe mir vorgenommen, viel mehr als bisher mit dem Gedanken an das Sterben zu leben und alles äußerlich und innerlich darauf vorzubereiten.

10. August. Regen und wahnsinniger Sturm, daß wir vollkommen wie in einer Arche Noah leben. Im Hafen sollen viele Schiffe untergegangen sein. Hunderte von Häusern, die nahe an den Cerros gelegen, von denen das Wasser in großen Kaskaden herabströmt, sind unter dem Schutt begraben. Unser Garten ist verwüstet durch Erdrutsche, und die schönsten Bäume sind umgefallen.

13. August. Eine schwere, schwüle Gewitter- oder Erdbebenluft. Man fühlt sich von all dem Schrecken ganz nervös und demoralisiert.

28. August früh. Edmund und ich nach Santiago gefahren. Auf dem Weg überall die Verwüstungen von den Überschwemmungen gesehen. Im ganzen aber sah das Land sehr hübsch aus. Alles grün, die Berge duftig blau. Im Hintergrund in den Gärtchen um die elenden Lehmhütten blühende Pfirsichbäume, wie ein rosaroter Schnee auf dem ganzen Lande zerstreut. Die großen Brombeerhecken dunkelgrün und darüber die Zweige der Trauerweiden, die wie duftige hellgrüne Schleier wehten.

31. August. Uns sehr an unserm Entschluß gefreut, zum 1. Januar Urlaub zu nehmen und dann den Winter in Rom zuzubringen ... Gelesen: »The history of the Conquest of Peru« by Prescott. Wie glücklich dieser Erdteil doch vor seiner Entdeckung gewesen sein muß!

Oktober. Ich recht müde und elend infolge des vielen wear und tear of life. Marie krank an gastrischem Fieber, den Diener weggeschickt wegen eines Attentats auf die tugendhafte Schneiderin. Minna wegen epileptischer Anfälle, durch Trunk veranlaßt, nach Santiago gegeben.

November. In all der Zeit habe ich viel gekocht, was mir ganz neu ist, mich aber amüsiert. Urlaubsbewilligung erhalten.»Die Urlaubsbewilligung ab 1. Januar auf 6 Monate erhalten. So hoffen wir denn etwa am 5. Januar Valparaiso zu verlassen... Wir wollen zunächst nach Italien gehen, um dort den Eintritt milderer Jahreszeit abzuwarten, da der Klimawechsel aus hiesigem Hochsommer in deutschen Winter hinein gefährlich wäre.« Edmund von Heyking an seinen Vater. 16. Dezember 1888.

Dezember viel gepackt, was sehr angreifend war.

27. Großes Abschiedsdiner bei der deutschen Kolonie für Edmund. Von Valparaiso abgereist, den Garten mit rechter Wehmut verlassen; wir haben da schöne Stunden verlebt.

11. Januar 1889. Von Mittag bis Abend die Küste Patagoniens gesehen. Seltsam zerklüftete Felsen mit abenteuerlich wilden Formen, von der Sonne, die durch das graue Gewölk hindurchschien, in ein zartes, silbernes Licht gehüllt. Mich interessierte es, diese Küste, die ich vor zweieinhalb Jahren von San Franzisko bis Valparaiso sah, nun weiter verfolgen zu können. Dort die glühenden Sandflächen, die brennenden rotvioletten Felsenwände, die tropische Glut, hier die starre silbergraue Kälte und Öde. Es war mir, als nähme ich wiederum ein Buch zur Hand, das ich lange liegen gelassen. Diese Felsenketten haben etwas seltsam Ursprüngliches, als ständen sie dem Schöpfungstag noch viel näher als andre Erdstriche. Es ist ein seltsames Gefühl, so endlose Gegenden vor sich zu sehen, die so gut wie ganz inexploriert sind.

12. Januar. Mittags sahen wir das gefürchtete Kap Pillar, kamen ohne Unfall in die Magelhaensstraße hinein, gerade noch zur Zeit, um einem beginnenden Sturm zu entgehen. Die hohen zerklüfteten Felsen, an deren Fuß noch Moose und verkrüppelte zwerghafte Bäume wachsen, und deren Spitzen mit Schnee bedeckt sind, die weiten Schneefelder und einzelne bis zum Wasser reichende Gletscher erinnerten mich ganz an das nördliche Norwegen. Wie in den dortigen Fjorden, gibt es auch in der Magelhaensstraße Stellen, wo man gar keinen Ausweg mehr sieht und sich in einem Binnensee vermutet. Leider keine Feuerländer gesehen, die sonst gerade an diesen Stellen splitternackt auf ihren Kanoes angerudert kommen.

18. Januar. Morgens ganz früh in Montevideo angekommen. Die Stadt sieht vom Schiff sehr unansehnlich aus. Unser erster Gang an Land war auf den Markt, um uns mit frischem Fleisch und Gemüse zu verproviantieren, da das Schiffsrefrigeratoressen»Der Refrigerator ist ein mit Eis bekleidetes Zimmer, in dem gefrorenes Fleisch, Fische, Milch mitgeführt wurde.« Edmund von Heyking an seinen Vater. 24. Januar 1889. so sehr monoton ist. Beinahe alle Verkäufer sind Italiener, und die ganze Stadt trägt überhaupt ein so italienisches Gepräge, daß sie gleich mein Herz gewann. In den Läden waren viele europäische Neuheiten, die in Chile noch unbekannt sind. Charakeristisch waren mir die langen Hecken von Agaven, die jetzt in voller Blüte stehen und die Wege einsäumen. Diese Hunderte von Riesenkandelabern, an denen die Blumen wie goldene Lichter sitzen, machten einen ganz eigentümlichen Eindruck.

22. Januar. Nachts spät aufgeblieben, um die Einfahrt von Rio zu sehen, es wurde aber nebelig.

23. Januar. Ganz früh aufgestanden und schon von dem Blick aus der Schiffsluke ganz begeistert gewesen. Die Lage der Stadt übertrifft alles, was ich je gesehen; viel schöner wie Neapel. Dazu ein in Amerika ganz ungewohnter Anblick, daß alle Gebäude so malerisch und alt aussehen ... Wir landeten am Markt, der ähnlich wie in Guayaquil auf Booten gehalten wird. Es war ein bewildering Bild: Die Neger, die Haufen von Ananas, Bananen, Mangos, dazu die grelle Sonne, die heiße Luft, die seltsamen Gerüche. Wir machten eine herrliche Fahrt an einer Fülle reizender Landhäuser vorbei mit himmlischen Gärten; in jedem einzelnen wäre ich gern wohnen geblieben. Die Häuser müssen alle in der Zopfzeit gebaut worden sein, und diese zopfigen Vasen, Balustraden und Schnörkel inmitten dieser Treibhausvegetation machten einen ganz wunderbar malerischen Eindruck. Dabei sieht man allem an, daß es mit Schönheitssinn angelegt ist, die Palmenalleen werden unterhalten und immer wieder neuangelegt, die Straßen sind gut, die Garten z. T. großartig gedacht, nirgends der Indifferentismus gegen das Schöne wie in Chile.

27. Januar ganz früh trafen wir in Bahia ein. Es besteht eigentlich aus zwei Städten, eine die am Strand liegt und die andre auf einem sanften Hügelzug darüber, zu der man durch einen Lift gelangt. Die Stadt ist für Amerika sehr altertümlich, voll von Empirestilgebäuden. Wir gingen zuerst durch den Markt, der noch seltsamer wie der von Rio ist. Die Verkäuferinnen sind alle Negerinnen, z. T. wahre Prachtexemplare von Negerschönheit. Ihre Kleidung besteht aus einem schneeweißen reichgesticktem Hemd und einem ebenfalls gesticktem Rock, den sie z. T. noch sticken, während sie ihn schon tragen. Wir fuhren nach dem Stadtgarten an vielen alten Zopfkirchen vorbei. Der Garten selbst ist sehr schön und still mit alten ehrwürdigen Mangobäumen, von denen zuweilen eine dicke, reife Frucht herabfällt; dazwischen ein paar große, herrliche Fächerpalmen. Wahrscheinlich von der Zeit her, wo Bahia als San Salvador Hauptstadt Brasiliens war, stehen in dem Garten seltsame alte Bänke aus Majolika und Muscheln gemacht, wie man sie in Sizilien sieht. Die Vorsprünge, von denen man die Aussichten hat, sind mit Marmorgeländern umgeben, auf denen schnörkelige Vasen und Köpfe stehen, auch eine Pyramide mit Rokokoverzierungen ist da; wären nicht die mächtigen Palmen, man glaubte in Italien zu sein.

29. In Pernambuco angekommen. Eine ganz flachgelegene, langweilig holländisch aussehende Stadt. Die Häuser hoch, weiß gestrichen mit rötlich spitzen Dächern, dazwischen eine Menge Palmen, was gar nicht dazu passend aussieht.

4. Februar. In San Vincent, einer der Kapverdischen Inseln, eingetroffen. Die schroffen, seltsam geformten Berge höchst malerisch, dazwischen kleinere Miniatur-Saharas mit teilweise weißem, teilweise rotem Sand; es sah ganz aus, wie man sich Afrika denkt.

10. Februar. Abends spät in Lissabon eingetroffen. Da keine Quarantäne war, fuhren wir an Land, zuerst zum Zollhaus und Lazarett, wo uns der Anblick portugiesischer Soldaten mit Pickelhaube sehr erfreute und anheimelte. Wir lunchten in einem Hotel, wo uns die Reinlichkeit, das gute Essen, die Höflichkeit der nicht wie in Chile in Hemdärmeln fungierenden, sondern anständig gekleideten Kellner als lauter lang entbehrte Dinge frappierten. Gute Briefe von Hause vorgefunden, aber ganz entsetzt gewesen über die Nachricht vom Tode des unglücklichen Kronprinzen Rudolf

14. Februar. Endlich, endlich in Pauillac angekommen und mit wahrer Herzenserleichterung die »Cotopaxi« verlassen, die uns allen in den letzten Tagen recht wenig sicher erschienen war. Abends in Bordeaux eingetroffen. Schmutz, Regen, allgemeine Kofferverwirrung. Im Hotel de France abgestiegen, wo uns alles herrlich und gemütlich erschien. Nach dem Diner, bei dem wir uns seit langem zum erstenmal wieder satt aßen, gingen wir in ein Cafekonzert, von da ins Theater und zum Schluß noch in ein Restaurant. Wir waren sehr lustig, alle in der Stimmung des »Brésilien qui va s'en fourrer jusque là!«


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