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Nicht ganz allein war Ilse in diesen Zeiten. Greinchen kam ein paarmal zu ihr, aus dem Berliner Vorort, der kein Vorort mehr war, sondern den die große Stadt längst mit ihren langen Straßenarmen umspannt und dann aufgesogen hatte. – Recht alt und grau war Greinchen geworden und nicht mehr so kampfbereit wie einst. Manch neue Falte wies ihr Gesicht, und immer mehr glich sie einer kleinen dicken Bulldogge, die bissig böse aussehen möchte und doch nicht ihre Gutmütigkeit verbergen kann. Eigentlich war Ilse jedesmal froh, wenn diese Besuche vorüber waren, denn Greinchens Teilnahme tat ihr beinahe weh, und zu sehr mahnte sie ihr Anblick an die Zeit, da sie bei ihr im Vororthäuschen gewohnt hatte, und wo, trotz aller augenblicklichen Bitterkeit und Kämpfe, die Zukunft vor ihr zu liegen schien wie ein gelobtes Land. –

Noch einen anderen Freund aus jenen fernen Tagen sah sie wieder. Justizrat Schilderer kam, sie zu besuchen, erzählte verlegen von Geschäften, die ihn in diese Stadt geführt hätten, wollte es verbergen, daß er die Reise von Berlin nur gemacht, um zu sehen, ob er ihr in etwas helfen könne. – Aber der Kampf, den sie da mit Krankheit und finsteren Geistesmächten aufgenommen hatte, wurde in Gebieten geführt, die jenseits aller Freundschaftshilfe lagen. Auch der Justizrat konnte ihr nur Mitgefühl und Bewunderung darbringen. – Beim Abschied sagte er ihr: »Sie haben mich damals bisweilen geneckt, daß ich immer noch so vieles von den Familien erwarte, denen Traditionen lehren, wie man mit Anstand auch zum Schafotte schreitet – und nun geben Sie mir selbst recht – denn wie Sie hier alles anfassen und ertragen, das ist eben schließlich doch auch Rasse.«

»Ach nein, Herr Justizrat,« antwortete sie wehmütig, »das ist Liebe.« –

Zwischen zwei Reisen tauchte auch Taudien einmal auf. Aber er, der Kampf und Gefahr an sich liebte, und kein Ausweichen kannte, blieb hier nur kurz. »Meine Kräfte langen nicht aus, das mit anzusehen,« sagte er ganz offen.

Doch auch sehr viel Fremdere kümmerten sich um Ilse, als es in ihrer einstmaligen Welt erst bekannt geworden, wie das Schicksal hieß, das Wolf und sie mit ihm getroffen hatte. Denn es gibt Grade des Unglücks, in denen eine große werbende Kraft liegt. Aus amerikanischen Riesenstädten und einsamen Hacienden am Fuße der Anden, von Dahabien auf dem Nil und Dampfern auf dem Hangtse schrieben ihr ferne Freunde. Und auch von den Leuten des eigenen Landes, die ihr früher vielleicht weniger gewogen wie die Fremden gewesen waren, erhielt sie viele teilnehmende Briefe. Manch einem mochte jetzt vielleicht ein Zweifel kommen, ob man gegen diese beiden am Ende doch einstmals gar zu streng und unversöhnlich gewesen sei. »Was hatten sie denn eigentlich getan?« fragte man heute. Die meisten wußten es kaum noch. Es war nur ein verschwommener, allgemeiner Eindruck übrig von irgend etwas, das man mal vor Jahren über sie gehört. Und doch hatte das genügt, sie ihr Lebenlang zu belasten, ihnen überall Schwierigkeiten zu schaffen, Voreingenommenheiten, die an jedem neuen Ort, an den sie kamen, erst überwunden werden mußten. – Jetzt wollte man freundlich zu ihnen sein, jetzt, wo ihnen die Jahre, da sie dessen so sehr bedurft hätten, unwiderruflich genommen waren. Jetzt, wo Wolf menschliche Absichten kaum mehr zu bemerken vermochte, und wo keine Macht Ilsen ihre einstmalige Freudigkeit, ihr vertrauendes Hoffen wiedergeben konnte, da boten ihnen die Menschen freigebig ihre besten Gaben: Güte, Milde und Hilfe. Aber es war zu spät! – Das Schicksal hatte Wolf und Ilse dem allen entrückt – er fühlte weder Härte noch Weiche, ihr waren sie über anderem, allzu großen Jammer innerlich gleichgültig geworden.

Gisi Helmstedts Briefe waren es, die Ilse in diesen Zeiten noch am meisten wohl taten. Der Graf war gestorben, und Gisi lebte seit seinem Tode ganz auf ihrer eigenen Besitzung bei Florenz; denn Frohhausen gehörte jetzt einem fernen Lehnsvetter, der, auf das sichere Erbe wartend, bis dahin in einem Kavallerieregiment der Provinz gedient hatte, von Mechtild und anderen töchterreichen Müttern als gute Partie umgarnt wurde und wohl besser in das ihn umgebende Zehrentum passen mochte, wie sein weitgereister Vorgänger.

Gräfin Helmstedt schrieb:

»Mein liebes Kind!

Was soll ich Dir sagen – kann niemand doch Deinen Jammer besser verstehen wie ich, auch wenn ich ihn nicht in den kurzen Worten Deiner Briefe so deutlich läse. – Grausam ist es, sinnlos scheint es. Doch bedenke, wenn Dich die Last unerträglich dünkt, daß ich trotz allem eine Glückliche in Dir sehe, denn Dir bleibt noch die Hoffnung, und ich habe nur das Erinnern. Leben, das schließt ja alles in sich! Das scheint mir heute das einzig kniefällig zu erbittende Gut. Und Wolf lebt noch! Drum hoffe!

Und, so schwer es scheint – hadre nicht zu sehr mit dem Geschick, daß es vorausbestimmend auf Eure Stirnen das Zeichen so bitteren Leides prägte, denn wie einer sein Leiden im stillen trägt, was er daraus zu machen weiß, kann für die Welt viel bedeutsamer werden, als manche laut verkündete Heldentat. Leid und auch Unrecht sind wechselnde Begriffe und an sich ganz belanglos – erst durch das, was wir aus ihnen heraus gestalten, erhalten sie ihre wirkliche Bedeutung. Und das wollen sie von uns, dazu werden sie uns gesandt. Wir sollen etwas aus ihnen machen, sie zu Höherem wandeln. – Auf diese Art kann auch der Schmerz zum Vater der schönsten Kinder werden. Wie viele Wohltaten, wie manches Kunstwerk entstammen ihm! – Und auch Sünde läßt sich umwerten; sie rief Märtyrer und Heilige und Freiheitskämpfer hervor. – Nichts ist endgültig abgeschlossen, alles noch wandelbar, so lange nur ein Fünkchen Leben bleibt. Denk stündlich hieran, arme kleine Ilse, die Du jetzt glaubst, vor Unabänderlichem zu stehen. Sag dies vor allem auch Wolf, wenn er wieder gesund ist – und ich fühle, daß er es werden muß. Der alten Ziele beraubt, wird er dann da stehen, nicht wissend mehr, was er tun soll. – Da sag ihm leise, daß nur das Streben Ewigkeitswert hat – nicht das Erreichen, denn alles Erreichte wird alsobald ein Überholtes.

Doch sollte ich mich in meinem Hoffen für Euch dennoch täuschen, so laß mich Dir sagen, was mir selbst zum einzigen Trost geworden. Das ist das Bewußtsein, daß ich nicht als betrogene Bettlerin vom Leben scheiden werde, sondern daß ich besessen habe, was mir das höchste Glück war, eine große Liebe. Der Erde wahrhaft Bedauernswerte sind die Frauen, die das nicht hatten. Dir Ilse, wie mir, kann dies Erinnern nie geraubt werden.

Deine Gisi.

*

Von den Eiszapfen an den Dachrinnen tropfte es jetzt herab, daß sich in der Schneedecke unten am Boden regelmäßige runde Löcher bildeten, auf deren Grund man die nasse braune Erde schimmern sah. Und eines Morgens waren Eis und Schnee verschwunden, nur draußen an den Nordabhängen der Feldwege lagen noch weiße Streifen, gleich Pelzen, die südwärts wandernde Riesen achtlos abgeworfen hätten. Hatte nicht eben hier schon ein Vogel gezirpt? Drängten nicht dort daseinsdurstige Keime zum Lichte? –

Und wie in den Gärten unter der schützenden vorjährigen Laubdecke geheimnisvolles Werden sich regte, so begannen an Wolf erneuernde Kräfte zu schaffen. So schwach und zart waren die ersten Pulsschläge wieder erwachenden Lebens, daß Ilse sie anfangs kaum bemerkte, und als sie dann die beginnende Wandlung gewahrte, verschloß sie sich zuerst noch ängstlich dagegen. Denn zu viel hatte sie während dieser Monate von scheinbaren Besserungen und schweren Rückfällen anderer Kranken gehört. Nur das nicht erleben müssen! Nicht zu früh jubeln und nachher in noch tieferes, lähmendes Elend sinken! – Aber ihre Kräfte, ihr ganzes Wollen spannte sie doppelt an seit diesem ersten Hoffnungsschimmer, denn ihr war ja, als sei ihr Wolfs Seele bei finsterer Nacht in die Arme gelegt worden, und als erblicke sie nun endlich auf der fernen Höhe, zu der sie die Seele tragen sollte, einen lichten, wegweisenden Schein. Sie wich nicht von ihm und hütete ihn mit ihrer ganzen Liebe. Er lebte von ihrem Leben und erstarkte an ihren Kräften. – An ihr kleines Kind dachte sie bisweilen; ähnlich war das damals gewesen, ehe es geboren wurde, sie fühlte es ja oft ganz deutlich, wie etwas von ihr ebbte und in ihn überflutete. – Größeres Wunder aber wie neu entstehendes Leben dünkte sie dies beinahe schon entflohene, das, aus unbekannten Fernen wiederkehrend, vor ihr auferstand. Osterstimmung erfüllte ihre Welt, und sie konnte nicht anders, als andächtig die Hände falten, wenn sie Wolf jetzt bisweilen in ruhigem, natürlichem Schlafe liegen sah; die welke Haut glättete sich, das arme gequälte Gesicht nahm wieder etwas von seinem früheren Ausdruck an. Langsam begann die hoffnungslose Apathie von ihm zu weichen, und die Dinge, die er sah, glitten nicht mehr spurlos an ihm vorüber, sondern drangen bis zu seinem Bewußtsein. Jeder mußte es nun bemerken, daß er auf dem Wege zur Heilung war! Die ganze Anstalt sprach davon, mit Stolz wiesen die Ärzte auf ihn, und die anderen Patienten blickten ihm in Sehnsucht nach.

Bisher war Ilse mit Wolf nur an sonnigen Stunden im Garten des Krankenhauses auf und ab gegangen, wo Schneeglöckchen und Leberblümchen, in uralter vertrauensvoller Gewöhnung, als Früheste aus der Erde hervorschlüpften. Aber nun erlaubten die Ärzte die erste Ausfahrt. – Mit welcher Sorge ward alles vorbereitet! wie bang beobachtend saß sie dann neben ihm im Wagen! – Es war ja das erstemal seit vielen, vielen Monaten, daß er wieder hinauskam und fremde Gesichter und das Meer sah, das Meer, das ihn an so vieles mahnen mußte, wie würde er das alles ertragen? – Ihr war, als müsse sie die Hände stützend um ihn halten, denn niemand vermochte ja voraus zu sagen, ob sein bißchen Kraft ein standhaft neu Gebäude war oder nur ein leicht verwehbar Kartenhaus.

Er sagte nichts über den Eindruck, den die so lange nicht mehr geschaute Welt auf ihn machte, und Ilse wagte auch gar nicht zu fragen – das mußten Empfindungen sein, an die niemand rühren durfte.

An einem hohen Vorsprung, wo alte Buchen standen, ließ er dann den Wagen halten, stieg aus und setzte sich mit Ilse auf eine Bank. Leise rauschte es über ihnen in dem traumhaft zarten, ersten Grün der Buchenzweige. – Tief unten breitete sich die Bucht, in der die Kriegsschiffe lagen, und die Linie der Küste dehnte sich weit hinaus, im Dunste verschwimmend und die Gedanken mit sich ziehend in weite Fernen. –

Da saßen die beiden lange schweigend. –


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