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Niemand auf der Gesandtschaft vermochte während dieses Tages sich zu einer Beschäftigung wirklich zu sammeln. Man stand umher und wartete, jeden Augenblick konnte ja die Antwort der Regierung der Republik eintreffen. Frühstück und Lunch waren willkommene Unterbrechungen des nervenangreifenden Zustandes. Klingelte es an der Türe, so fuhr man zusammen. Kein Gespräch wollte in Gang kommen, immer wieder stockten die Unterhaltungen, und dann hörte man im allgemeinen Schweigen einen ausrufen, was auf aller Gemüter lastete: »Wenn doch endlich die Antwort da wäre!«

Nachmittags unternahmen ein paar der jüngeren Offiziere einen kleinen Gang durch die Stadt. Als sie heimkehrten, berichteten sie, daß ihnen johlende Straßenjugend gefolgt sei. Wirklich sah man durch die vergitterten Fenster auch bald eine Rotte zerlumpter, jugendlicher Strolche, die sich der Gesandtschaft näherten. Doch plötzlich war Landespolizei in der Straße gewesen, niemand hatte gesehen, wo sie auf einmal hergekommen war. Vor ihr zogen sich die Demonstranten schleunigst zurück, und von da an patrouillierte die Polizei regelmäßig die Straße ab; – bei dem Klang ihrer langsam näher kommenden und dann wieder verhallenden Schritte war Ilse nicht mehr wie in einer Festung, sondern wie in einem Gefängnis zu Mute. – Langsam strichen die Viertelstunden. –

Zum Nachmittagstee hatte man sich im Garten vereinigt, und jeder begrüßte den anderen: »Nun noch immer nichts?« »Nein, noch keine Antwort.«

Da sagte Kapitän Boekerschlamm im mecklenburgischen Dialekt, der in großen Momenten immer bei ihm zum Durchbruch kam: »Na, nach einer gewissen Zeit ist keine Antwort auch eine Antwort. Und dann kann ja morgen früh unsere Antwort sein: Klar zum Gefecht.« – Das war brav gefühlt und brav gesprochen, denn niemand wußte besser als Kapitän Boekerschlamm, daß der Feind, so elend er war, doch ein paar Schiffe besaß, die es mit dem alten Holzkasten allenfalls aufnehmen konnten. –

Wolf schaute von Zeit zu Zeit verstohlen auf die Uhr; nicht nur, daß von der Regierung der Republik keine Antwort auf seine Note erfolgt war, aber er hatte auch auf die telegraphische Anzeige, daß er sie abgegeben und sich weitere Instruktionen erbäte, aus Berlin nichts mehr gehört. Er war schon seit seiner warnenden Depesche ohne alle Nachricht.

Zum Diner an diesem dritten Abend waren einige fremde Gesandte sowie Taudien zu Waldens geladen. Man war froh des Vorwandes, Toilette machen zu müssen, um sich zurückziehen zu können, denn immer bedrückender lastete es auf allen. – Ilse hatte den ganzen Tag in diesem Lande mangelhafter Dienstboten viel für den großen Haushalt zu bedenken gehabt, aber auch neben ihr hatten bei allem, was sie tat, greifbaren Wesen gleich, die Fragen gestanden: Was wird geschehen? werden sie gutwillig nachgeben? oder nicht? und was dann? –

Jetzt stand Ilse, nachdem die Marineherren in ihre Zimmer gegangen, noch einen Augenblick allein mit Wolf im Garten, wie oft sollte sie später an diesen Augenblick zurückdenken! – Die winzigen Kolibris schossen surrend an ihr vorüber und gruben die langen spitzen Schnäbel und die ganzen schillernden Köpfchen in die purpur- und orangefarbenen Canablüten. Das Surren der Kolibris, das Zirpen der Zikaden, waren die einzigen Geräusche, sonst war es so still um sie her, als ständen sie nicht in einem Stadtgarten, sondern in einer einsamen, dem Urwald abgerungenen Hacienda. Der Himmel war noch ganz von Licht durchflutet, doch aus der Erde wuchsen schon abendliche Schatten empor, und mit ihnen erhoben sich die süß betäubenden Düfte, die nachts in den Tropen aus dem feuchten, keimerfüllten Boden steigen, gleich zärtlichen Händen, die streicheln und wiegen und gefangen halten. In der zunehmenden Dunkelheit leuchtete noch, wie magisch, die eine Wand des Hauses, die ganz von violetten Bougainvilliers überwachsen war, und man ahnte, daß davor Jasmine, Heliotrop, Orangen, Geisblatt und die weißen Glocken der Florifundien in ungeahnter Fülle blühten, wie eine große Symphonie der Düfte wehte es durch die Luft.

Wolf und Ilse atmeten auf in dieser ersten kleinen Ruhepause, die ihnen der Tag brachte. Doch ein Gärtner kam auf sie zu und fragte Ilse, wo er die hellgrünen Papierlaternen anbringen müsse, die nach dem Diner im Garten angezündet werden sollten. – Ilse ging mit dem Gärtner, ihm die Stellen an den federnden Bambuszweigen und den Lianen, die die Palmen verbanden, zu bezeichnen, und während dessen trat Wolf ins Haus zurück. – Als sie vom Garten zurückkehrte, fand sie ihn in seinem Arbeitszimmer vor dem geöffneten eisernen Schrank stehen.

»Ich will den Chiffrekasten mit hinaufnehmen, sagte er, »vielleicht kommt doch noch vor dem Essen etwas von zu Hause. Ja, und jetzt ist es wohl Zeit, daß wir uns anziehen.«

Sie gingen hinauf. – Und auch daran sollte sich Ilse später oft erinnern, wie sie, als sie fertig angekleidet gewesen, noch einen Augenblick vor dem Spiegel gestanden und sich einen Zweig goldbrauner Orchideen angesteckt hatte, die zur Farbe ihrer Haare und großen Augen harmonisch stimmten. – Ein bißchen blaß und durchsichtig war auch sie freilich geworden, während der Tropenjahre – weniger vielleicht als Wolf – und es war doch immer noch ein reizvolles Bild, das ihr da entgegen lächelte – etwas Heimatluft würde die frühere Frische rasch zurückzaubern, vor allem aber Wolfs Erfolg – und der stand ja nun sicher dicht bevor, zum Greifen nahe! – Ach schön, schön war das Leben mit all seiner spannenden Aufregung und seinen großen Zielen!

So trat sie strahlend in ihres Mannes Ankleidezimmer, der schon auf sie wartete. – Da klopfte es an die Türe. Ein Diener überreichte dem Gesandten ein Telegramm. Er riß den Umschlag auf. –

»Ach, endlich! von zu Hause!« rief Wolf erleichtert aus, »gut, daß ich den Chiffre gleich mit rauf nahm! Hilf mir Ilse, dann können wir es noch rasch dechiffrieren, ehe die Gäste kommen! Es ist nicht sehr lang.«

Sie kniete auch schon auf einem Taburett und schlug im Dechiffrierbuch, das sie gegen den Leuchter auf seinem Toilettentisch stützte, die Zahlen nach, die er ihr aus dem Telegramm vorlas, und deren Übersetzung er dann gleich mit einem Bleistift unter die Ziffern schrieb.

»013« diktierte Wolf.

» Non va'eur« antwortete Ilse.

»580.« »Im.« »6034.« »Interesse.« »1313.« »des Dienstes.« »607.« »und.« »157.« »auf höchsten Befehl.«

Nun sah Wolf mit in das Buch hinein, es ging ihm nicht rasch genug, und es war ein so eigentümlicher Anfang! Mit zitternden Händen, immer hastiger die Seiten nachschlagend, lasen sie nun zusammen weiter: »werden Euer Hochwohlgeboren von Ihrem bisherigen Posten enthoben und wollen sich aus Gesundheitsrücksichten, nachdem Sie die Geschäfte dem Legationssekretär Baron von Lenval übergeben haben werden, sofort von dort auf längeren Urlaub begeben.« –

Sie waren beide ganz fahl geworden und sahen sich regungslos mit großen Augen an. Dann plötzlich, als müsse sie sich an etwas halten, griff Ilse mit beiden Händen nach des Mannes Schultern; mit völlig veränderter Stimme, wie ein Kind, das sich fürchtet, schluchzte sie einmal laut auf: »Wolf, Wolf, was bedeutet das denn?«

Und er konnte ihr darauf nur mit einer anderen Frage antworten, die er immer wieder vor sich hinsprach: »Aber warum denn nur? warum denn?«

Durch das offene Fenster wehte der Abendwind herein, und das Licht auf dem Toilettentisch erlosch. In dem dunklen Zimmer standen nun die beiden Menschen dicht aneinander gedrückt; sie sprachen jetzt kein Wort, aber sie hielten sich einer am anderen fest, in der gemeinsamen Angst vor allem, das nicht sie beide war, vor all dem Finsteren, Unheimlichen, Unverständlichen, das in dieser Stunde heimtückisch die Krallen in sie schlug. –

Da klopfte es, und sie fuhren auf und hatten die Empfindung, eine ganze Ewigkeit so gestanden zu haben. Derselbe Diener, der vor einigen Minuten das Telegramm gebracht hatte, stand wieder an der Tür und meldete: »Die Herren Offiziere sind im Saal versammelt, und die ersten Wagen biegen eben in den Garten.« –

»Wir kommen sofort,« antwortete Wolf. Mechanisch verschloß er den Chiffrierkasten in eine Schublade, faltete das Telegramm und steckte es in seine Tasche. – »Nun laß uns hinuntergehen« sagte er zu Ilse und an der Tür hielt er sie noch einmal fest: »und vor – den Fremden – natürlich – schweigen.«

Sie nickte. Die lange Gewohnheit eines Lebens, das in ganz bestimmt vorgeschriebenen Formen verlief, kam beiden jetzt zu statten. Sie traten in den Saal und empfingen ihre Gäste, von denen keiner ahnte, was sich wenige Minuten vorher zugetragen hatte. – Sehr fahl und grau sah Walden freilich aus und einem Kollegen, der ihn bei dem Diner danach fragte, antwortete er: »Ja, ich fürchte, mein altes Leiden bedroht mich wieder.«

Und Ilse, die ihm gegenüber sitzend, die Worte vernommen hatte, wiederholte sie ihrem Nachbarn: »Ach ja, mein Mann verträgt das hiesige Klima wirklich nicht gut.«

Das war ja jetzt Instruktion, und Wolf und Ilse standen in diesem Augenblick noch ganz im Bann des Dienstes, an dessen Abschüttlung zu denken ihnen noch gar nicht beigekommen war. Ilse bemühte sich zu sprechen und zu scherzen, als sei es ein Diner, wie all die vielen anderen Diners, die sie im Laufe der Jahre gegeben, und doch, sobald sie nicht selbst sprach, glaubte sie, eine feine, leise Stimme zu hören, die ihr zuflüsterte: »Sieh es dir nur alles recht genau an, präg es dir ein, denn es ist das letztemal, ja, ja, wenn du es auch noch nicht glauben willst, es ist da, allerletztemal.« –

Und dann starrte sie eine Sekunde traumverloren über den Tisch mit den vielen Orchideen hinweg, und über den Gläsern, wie aus weiter Ferne, tauchten die Köpfe ihrer Gäste auf. –

Es wollte keine Stimmung in die Gesellschaft kommen. Die fremden Diplomaten und die Marineherren wußten gegenseitig nicht recht, was miteinander zu beginnen. Taudien und Dedo bemühten sich, jeder auf seine Weise, vermittelnde Konversation zu machen, aber die afrikanischen Jagderlebnisse des berühmten Reisenden hatten so wenig Erfolg wie die diplomatischen Anekdoten des Legationssekretärs. – Beim Kaffee auf der weiten Veranda, von der aus man in den schwarzgrünen Garten blickte, in dem die hellgrünen Lampions und Tausende kleiner umherschwirrender Leuchtkäfer glühten, bildeten sich ganz von selbst abgesonderte Gruppen, in denen leise getuschelt wurde.

Der Gesandte, dessen Land als traditioneller Feind Deutschlands gilt, sagte zu einem Kollegen: »Es sieht mir ganz so aus, als hätten die sich mit ihrem Ultimatum und ihrer Flottendemonstration recht in die Nesseln gesetzt.«

»Ist ihnen sehr gesund,« antwortete der andere. –

»Wenn es nur keine weiteren Komplikationen gibt,« seufzte ein Weiser, »bei dieser Hitze sehnt man sich doch nach Ruhe!«

»Aber, Verehrtester, jetzt können die doch nicht mehr zurück!« entgegnete ihm beinahe gereizt der Vertreter des so gerne Zwietracht säenden Landes.

Doch der Repräsentant der Macht, vor der man sich neuerdings auch fürchtet, sagte gar nichts und ging nur schmunzelnd von Gruppe zu Gruppe.

Es war eine Erlösung, als die Fremden endlich alle gegangen waren! –

Nun blieben nur noch Taudien, Dedo und die Marineherren mit ihren Gastgebern zurück. Und da begann Wolf zu sprechen: »Ich weiß nicht, ob, was ich im Begriff stehe zu sagen, ganz korrekt ist, oder ob ich diese Mitteilung Baron von Lenval allein machen sollte, aber erfahren werden Sie es ja doch morgen, meine Herren – und dann ... Kameraden, sind wir ja doch alle« ..

»Bravo, bravo,« riefen die jüngeren Offiziere dazwischen, die nicht anders dachten, als daß nun die kommende Aktion verkündet werden sollte. – »Prost,« sagte der mecklenburgische Kapitän und trank Walden aus einem großen Glase Whisky-Soda zu.

»Also, meine Herren,« fuhr Walden fort, »ich werde morgen früh die Geschäfte Baron von Lenval übergeben und mich nachmittags mit dem heimfahrenden Postdampfer gesundheitshalber auf langen Urlaub einschiffen.«

»Was?«

»Sie wollen fort?«

»Jetzt, in diesem Augenblick?«

»Aber das ist ja rein unmöglich!«

So schwirrten die aufgeregten Ausrufe durcheinander. Der Mecklenburger aber schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Whisky-Sodaglas wackelte: »Da schlag doch gleich ein dreifaches Kreuzdonnerwetter drein.« Während Dedo, ganz erschöpft in einen Sessel sinkend, nur das eine Wort fand: »Gräßlich, gräßlich!« und Taudien bitter murmelte: »Hab's mir doch gedacht.«

»Aber ums Himmelswillen, warum denn nur?« fragten sie dann beinahe einstimmig. –

»Auf höchsten Befehl,« antwortete Walden. –

Da verstummten sie alle. Und Wolf fühlte, wie da ganz langsam, aber unaufhaltbar etwas Ungreifbares, einer Schleierwand Gleichendes, vor ihm aufwuchs. Es trennte ihn von den übrigen. Auf der einen Seite standen all die anderen, und auf der zweiten Seite stand er ganz allein. Er wunderte sich, daß keiner durch die Schleierwand zu ihm herüberkam, er fühlte, wie die Mauer dichter und trennender wurde. – Dann aber sagte er sich: »Die dort drüben handeln ja ganz korrekt; wäre das einem von ihnen vor vierundzwanzig Stunden geschehen, was heute mir widerfährt, wer weiß, ob ich zu ihm durch die Wand gekommen wäre?« Und wie er das gerade dachte, kam eine zu ihm herüber. Das war Ilse, die hatte den Arm in den seinen gelegt, und nun sprach sie: »Ja, meine Herren, und da wir nun sehr viel zu packen haben, muß ich Sie bitten, uns zu entschuldigen, wenn wir Sie diesen letzten Abend allein lassen.« –

Vor ihrer Stimme war die graue Scheidewand etwas gewichen. Die Herren erwachten wie aus einer Art Erstarrung. Man umdrängte sie. Viel Bedauern ward laut. Und doch fühlten Wolf und Ilse beide, daß sie für die anderen nicht mehr ganz dieselben wie vor einer Viertelstunde waren. – Sie waren es auch wirklich nicht mehr, ohne es selbst schon zu wissen. – Denn es gibt Minuten, die ein für allemal die Menschen verändern, wenn sie selbst auch vielleicht erst später merken, was da in ihnen erstorben oder erstanden ist. –

Ehe Ilse hinauf ging, um für den nächsten Tag zu packen, blickte sie hinaus in den Garten. Der Gärtner hatte die hellgrünen Lampions ausgelöscht. Eine Schicht blauweißen Dunstes lag auf den Rasenflächen, darüber hoben sich die dunklen Umrisse der Palmenkronen, der Mangobäume und Bambuszweige von dem sternefunkelnden Himmel ab. In den Büschen schwirrten zahllose Leuchtkäfer, süßer betäubender Duft entströmte tausend Tropenblumen, und wieder vernahm Ilse die feine, leise Stimme, die ihr zuflüsterte: »Zum letztenmal, zum allerletztenmal.«


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