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Löwen

siehe Bildunterschrift

Mähnenlöwe (Afrika)

Mit den Leuen ist es mir sonderbar gegangen, und das in mehrfacher Hinsicht. Die grossen gelben Kerle übten vom ersten Tage an, den ich in ihrem Reiche, den Steppeneinöden Ostafrikas verbrachte, eine ungewöhnliche und unheimliche Anziehungskraft auf mich aus, wobei die Betonung auf »unheimlich« liegt. Einesteils zogen sie mich in ihrer wilden Kraft und Schönheit an, und zwar nicht nur als eindrucksvolle Kamera-Objekte, sondern sozusagen als vollkommenste tierische Verkörperung der grossen Wildnis selber. Andernteils aber verspürte ich, besonders in der ersten Zeit, einen ganz gehörigen Respekt vor ihnen, oder richtiger, eine mordsmässige Angst. Und zwischen Angst und Zuneigung wurde ich viele Monate lang stetig hin- und hergerissen. Das Ergebnis war eine Reihe von Situationen, die zu meinem Glück viel öfters in reine Komik als in wirkliche Leibes- und Lebensbedrohung ausliefen.

Meine allerersten Eindrücke vom grimmigen Leu waren lediglich akustischer Art: Auf meinem Ausmarsch in die Wildnis, dessen Ziel eine bestimmte Wasserstelle im Herzen des grossen Wildschutzgebietes der Athi River Plains war, vernahm ich Nacht für Nacht das donnernde Gebrüll jagender Löwen, und zwar von bedenklich vielen Löwen und in bedenklicher Nähe unserer Nachtquartiere. Nur ein Wall von Dorngestrüpp ringsum und eine lächerliche Schrotflinte in meiner merklich zitternden Faust (die Mitnahme einer anderen Verteidigungswaffe war mir von der vorsorglichen Administration des Wildreservates nicht zugestanden worden) stellte mein und meiner sieben Mohren einzigen Schutz gegen die Träger der bedrohlichen Stimmen da draussen in der nächtlichen Wildnis dar.

Am Morgen nach dem dritten und letzten dieser ungemütlichen Nachtlager stellte ich fest, dass ich verwunderlicherweise immer noch nicht von einem der Dutzende von draussen herumrohrenden »Simbas« aufgefressen worden war, obgleich einer davon, wie seine Spuren bewiesen, letzte Nacht bis dicht an unseren Dornenzaun herangekommen war und anscheinend durch eine dort vorhandene Lücke hereingelugt hatte.

An dem idyllischen Weiher Ol Matun, wo ich dann mein Standquartier aufschlug, hatten seit Anbeginn der Zeiten niemals Menschen gesiedelt; dann und wann mochte ein Trupp Wandorobbo, die Jagdnomaden der Steppe, ein paar Rasttage hier verbracht haben, sonst aber war Ol Matun immer nur ein einsamer Tränkeplatz für die Tiere der Wildnis gewesen. In der Hauptsache wohl einer für die grösseren Raubkatzen, denn für die kleinen und unbewehrten Pflanzenfresser wäre er mit seinen dichtbewaldeten Ufern allzu gefährlich gewesen. Die Leuen jedenfalls gedachten sich ihre angestammten Rechte keineswegs durch unsere plötzliche Anwesenheit schmälern zu lassen. So kam es, dass ich kurz nach unserer Ankunft in einer durch Chinineinnehmen schlaflos gewordenen Nacht ein schwaches taktmässiges Schlapsen vom Wasser her vernahm und auf den Zehenspitzen hinaustretend, einen hellschimmernden Tierleib drunten am Ufer, fünf bis sechs Schritte von mir entfernt, bemerkte. Für jene Ohren da unten war jedoch mein leiser Schritt noch nicht leise genug gewesen, das Tier erhob sich geschmeidig und lautlos aus seiner liegenden Stellung, ein mächtiges dunkelumwalltes Haupt wuchs empor, wandte sich in gelassener Ruhe nach mir um, und zwei grosse leuchtende Augen schauten mich an.

Ein eisiger Schreck durchfuhr mich da und ich tat etwas sehr Unkluges – ich sprang mit zwei, drei langen Sätzen wieder ins Haus hinein, ergriff die Schrotflinte, blieb damit in der Tür stehen und wartete, gegen das vom Chinin erzeugte Ohrenbrausen und Augenflimmern ankämpfend, was der im Trinken gestörte Simba tun würde. Doch er tat überhaupt nichts. Ich konnte ihn nicht mehr sehen, und als ich schliesslich vorsichtig hinaus- und bis ans Wasser vortrat, sah ich ihn noch immer nicht – er war ebenso still und ebenso friedfertig wie er gekommen war, wieder davongegangen!

Ich lauschte und spähte noch lange in die Finsternis, doch nichts war zu hören als das leise Rauschen des Nachtwindes in den schwarzen Kronen der Bäume, nichts zu sehen als der zitternde Abglanz stiller weisser Sterne auf der dunklen Flut. Und während ich noch in meinem aus Furcht geborenen Misstrauen mit dem Schiesseisen in der Faust da am Ufer stand, überkam mich ein Gefühl der Beschämung.

Es war der erste Löwe, den ich, wenigstens auf so kurze Entfernung vor die Augen bekommen hatte: in den nächsten Wochen sah ich bei meinen photographischen Jagdfahrten auf das tausendfältige Getier, das die weiten Steppenräume ringsum bevölkerte, immer nur die Fährten, die die grossen runden Katzenpfoten der Simbas getreten hatten. Selten waren es die eines einzelnen Tieres, viel häufiger liefen die zwei, drei oder auch vier und fünf eines Familienverbandes nebeneinander her. Einigemale waren es sogar Rudel von acht bis vierzehn Löwen gewesen, die zu nächtlicher Jagd vereinigt, über die Steppen gezogen waren. Aber allabendlich hatte ihr Gebrüll als dumpfes Rollen von den Wänden des kleinen Tales, in das Ol Matun eingebettet lag, widergehallt.

Dann bekam ich eines Tages und in einem Augenblick wieder einen zu sehen, als ich es am wenigsten vermutete. Und das sozusagen ohne jede Entfernung.

Es war so, dass ich vom ersten Tageslicht an ein Rudel Elenantilopen in photographischer Absicht umschlichen hatte, aber, wie ich es auch anstellte, nicht nahe genug an die sehr wachsamen Tiere herankommen konnte. Nur aus westlicher Richtung, wo es eine Anzahl Büsche und Bäume gab, wäre es gegangen, doch von dort hätte ich die aufgehende Sonne direkt im Gesicht gehabt, und das war natürlich unmöglich. Äsend und immer wieder misstrauisch nach jedem Zweig und Grashalm lugend, den ich bei meinen Ankriechversuchen bewegte, zogen die mächtigen Tiere – das Elen ist die grösste Antilopenart der Welt – langsam südwärts weiter, und damit kamen sie schliesslich in die Nähe eines besonders grossen, weitausladenden Busches, der einsam aus der mit hohem Gras bestandenen Steppe aufragte. Von dort aus waren Licht und Entfernung gerade recht, wie ich mir überlegte. Es kam nur darauf an, ungesehen bis zu dieser Deckung zu gelangen.

So winkte ich meinem kleinen Boy Tumbo, der mit Proviantbeutel, Wasserflasche und der albernen Schrotspritze behangen, mir auf Schritt und Tritt nachschlich, meinem Beispiel zu folgen, bückte mich tief zum Boden hinab und huschte, so rasch und dabei so leise wie möglich, auf die Buschinsel zu.

Sie hatten mein Manöver nicht bemerkt; noch zwei, drei Schritt, dann bog ich, die Kamera aufnahmebereit in den Händen, aufatmend um den Lianenbehang, mit dem das Gebüsch übersponnen war, herum – und erstarrte vor Entsetzen. Unmittelbar vor mir lag eine Löwin. Ihr Kopf ruhte auf den langausgestreckten Tatzen, und ihr Blick auf zwei bräunlich getupften gelben Wollbündeln, die sich knurrend im Gras herumbalgten. Sie hatte mein Kommen wegen des starken Morgenwindes nicht hören oder wittern können; in unfassbarer Schnelligkeit fuhr sie jetzt hoch: ein kurzer tiefgrollender Ton drang aus ihrer Brust und der Blick ihrer gelben flammenden Augen bohrte sich in die meinen.

Es vergingen nur Sekunden, doch mir schienen sie Ewigkeiten. Wenn ich später an das Erlebnis zurückdachte, hatte ich stets nur die Erinnerung an eine einzige Empfindung: Unglauben! Nicht eigentlich Angst mehr. Ich konnte oder wollte wohl einfach nicht glauben, dass das, was mir da auf zwei Schritt gegenüberstand, eine Löwin, eine Löwin mit Jungen war, und darum dieser Augenblick wohl der letzte meines Lebens.

Ich glaube, ich habe mit keinem Muskel, mit keiner Wimper gezuckt – ich stand wie zu Stein geworden. Auch das Raubtier vor mir machte keine Bewegung, einzig seine Schwanzspitze zuckte hin und her. Aber mein Gegenüber und ich vernahmen in derselben Sekunde ein leises Geräusch hinter uns im Grase: Tumbos Tritte. Ein leises, aber furchtbar drohendes Grollen schwoll auf, der Blick der gelben Augen wandte sich nach jener Bewegung im Grase und da fiel der Bann von mir. Mit einem Riesensatz sprang ich hinter den Rankenvorhang zurück, raste weiter, sah den Jungen auf einmal dicht vor mir auftauchen, sah wie er in schreckensvoller Erkenntnis der Situation Stativ und Flinte wegwarf und sich zur Flucht umdrehte – doch da hatte ich ihn schon über den Haufen gerannt. Ich war allzusehr im Schuss gewesen, um noch innehalten zu können.

Wir kugelten übereinander; jeden Augenblick darauf gefasst, einen Prankenhieb über den Schädel zu bekommen, krebste ich als erstes nach meiner heruntergefallenen Brille herum, und der Junge unter mir schrie, als ob er am Spiesse stäke: »Bwana, amekamatwa! Amekamatwa! – Herr, sie hat mich, sie hat mich!« Er dachte, es wäre die Löwin, die auf ihm lag!

Es ist fast überflüssig zu sagen, dass es der Löwenmutter gar nicht eingefallen war, von ihren Jungen weg- und uns nachzuspringen. Tumbo kam schliesslich die Erkenntnis, dass ich nicht die Löwin und er selbst noch nicht tot war. Er krabbelte hoch und sah mir, mit einem schlechthin saudummen Gesicht im Grase sitzend, zu, wie ich die Gläser putzte, sie mir auf die zerschundene Nase setzte und mit Seufzen feststellte, dass die Mattscheibe der Kamera zerbrochen war. Dann zogen wir ohne ein Wort zu sagen und gesenkten Kopfes heimwärts. Mir schien, dass ich auch bei meiner zweiten Begegnung mit einem Löwen allen Grund hatte, mich zu schämen.

Von diesem Tag an wiederholte ich mir mit stillem Ingrimm immer und immer aufs neue, dass ich bei der nächsten Gelegenheit, die sich mir bieten würde nicht wiederum so jämmerlich die Nerven verlieren dürfe, denn schliesslich war ich doch hier, um Tiere aufzunehmen, und nicht, um kopflos vor ihnen auszureissen. Seltsamerweise vergingen nur wenige Wochen, bis ich abermals einem Simba – und was für einem Kerl! – ebenso unerwartet und ebenso greifbar nahe gegenüberstand, oder genauer gesagt, gegenüberhing. Und auch dieses Zusammentreffen wies wiederum eine ausgesprochen komische Note auf.

Dabei hatte es sich ursprünglich nur um einen einzelnen altersgrauen Gnubullen gehandelt, der einsam auf einer kurzgrasigen Fläche stand und sehnsuchtsvoll nach einer unweit von ihm grasenden Herde von Stammesgenossen hinüberglotzte. Wahrscheinlich war der alte Bursche von den jüngeren Bullen weggejagt und aus dem Herdenverband ausgestossen worden, welch harter Brauch ja bei vielen grösseren Pflanzenfressern, bis zum Büffel und Elefanten hinauf, geübt wird.

Diesem Ismael mit der Kamera beizukommen, war verhältnismässig leicht, denn etwa fünfzig Schritt vor mir, und gleichweit von ihm, erhob sich ein gewaltiger Termitenbau auf der kahlen Fläche. Gebilde dieser Art, die manchmal eine Höhe von vier und einen Umfang von dreissig Metern erreichen, sind eine häufige Erscheinung im tropischen Afrika. Geformt aus der sorgfältig zerkrümelten, tief rot gefärbten afrikanischen Erde, die mit einem Sekret der Insekten vermischt wird, nehmen sie unter der Glut der Sonne allmählich die Härte von gutgebrannten Ziegelsteinen an. Die Verwitterung gibt ihnen nach und nach ganz phantastische Formen. Mit ihren Zinnen, Türmen und Bastionen sehen sie oft aus der Ferne alten Burgruinen ganz verblüffend ähnlich.

Ich erblickte den einsamen Zottelbart vom Saume eines lichten Steppenhaines aus. Wenn ich noch etwas nach links und dann geradeaus auf das Tier zuging, so dass der Termitenbau zwischen ihm und mir blieb, konnte es meine Annäherung nicht wahrnehmen und sich dann von da oben aus kaum einem überraschenden Schnappschuss entziehen. Einen Augenblick überlegte ich noch, ob ich nicht vorher auf einen der Bäume steigen sollte, um mich zu vergewissern, dass jenseits im Schatten der Termitenburg, sich nicht irgendein Stück Wild niedergetan hatte. Es würde mein Herankommen natürlich hören, daraufhin flüchtig werden und auch meinen Klienten mit in die Flucht jagen – ich hatte schon etliche trübe Erfahrungen dieser Art gesammelt! Aber kopfschüttelnd stellte ich fest, dass alle Bäume hier sehr abweisende Dornen trugen. Wäre ich dennoch auf einen gestiegen, so hätte ich mir allerdings einen der grössten Schrecken meines Lebens erspart.

Anfangs ging alles nach Wunsch. Ich kam ungesehen, und dank der dicken Gummisohlen meiner Pürschstiefel auch ungehört bis zum Fusse des Termitenbaues. Aber auf ihn hinaufzukommen war schon schwieriger, denn er ragte gerade an der Stelle, wo ich ihn, um nicht bemerkt zu werden, ersteigen musste, steil wie eine Mauer auf. Nur drunten an der Basis hatte er zwei niedere Absätze. Um aber auf die anscheinend ganz flache Kuppe hinauf zu gelangen, musste ich einen Klimmzug machen. Ich konnte mit den Händen gerade den oberen Rand erreichen. Glücklicherweise war er scharf genug, um Halt zu geben. Sehr, sehr behutsam – denn wenn ein Stück ausbrach, würde es der alte Patriarch da vorn bestimmt hören! – begann ich mich emporzuziehen. Als ich die Augen in Höhe meiner Hände hatte, hielt ich erst einmal inne, um einen vorsichtigen Blick hinunterzuwerfen, ob mein Freund da unten überhaupt noch da war. Aber – »Was zum Teufel ist!? ...« flüsterte ich konsterniert vor mich hin.

Die Kuppe des Baues war nicht eben, sondern wannenartig ausgehöhlt, und in der Wanne lag, genau mir gegenüber, flach dem Boden angeschmiegt und völlig reglos, irgend ein grösseres Tier. War es tot? ... Ich konnte nur ein Stückchen seines fahlfarbenen Rückens sehen, aber ich roch es allmählich, und dieser Geruch ... »Um Gottes willen!« hauchte ich, und da regte es sich. Ein Kopf erhob sich, ein riesiger, von dunkler Mähne umwallter Kopf und wendete sich mir zu.

Mir wollte das Herz still stehen, der Körper zu Eis erstarren. Ich fühlte, wie sich der Griff meiner Hände lockerte. Doch diesmal überwand ich die Panik, eben weil ich wusste, dass eine einzige hastige Bewegung den Tod bedeutete. Doch will ich zugestehen, dass ich immerhin die Augen schloss als ich, alle, alle Willenskraft zusammenreissend, mich langsam wieder heruntersinken liess – ich wollte die Pranke wenigstens nicht auf mich herunterfallen sehen. Die Hände allerdings hielten nicht bis zuletzt durch und liessen vorzeitig los. Das letzte Stück fiel, taumelte und kollerte ich rücklings herab. Und drunten war nochmals ein gewaltiger innerer Ruck notwendig, um nicht sofort blindlings davonzustürzen.

Halb aufgerichtet und kaum fähig zu atmen, spähte ich hinauf, lauschte ich um mich. Droben war nichts zu sehen, aber von der linken Seite des Baues vernahm ich deutlich das Rieseln abbröckelnder harter Erde. Wie ein Schatten huschte ich daraufhin nach rechts, trat hinter die pfeilerartig aufstrebende Ecke des Bauwerks, lugte mit vorgebeugtem Kopfe zurück und da – guckte am anderen Ende in gleicher Weise der herabgestiegene Simba herum!

Ich will es nicht beschwören, aber mir war, als ob daraufhin sein Kopf ebenso schnell wieder verschwand wie meiner. Anscheinend hatte er also keine Angriffsabsichten, aber dennoch dauerte es eine ganze Zeit, bis ich endlich wagte, mich rückwärtsgehend von dem Termitenhügel zu entfernen. Ich hatte bis jetzt die, wahrscheinlich verrückte Idee gehegt, dass ich in höchster Not immerzu um das Bauwerk im Kreise herumrennen könnte, denn so klein die Strecke bis zu den rettenden Bäumen auch war, hätte er mich doch dabei spielend eingeholt. Galoppierende Löwen können, wenn auch nur auf kurze Entfernungen, eine erstaunliche Geschwindigkeit entfalten.

Auf einmal sah ich ihn wieder; er entfernte sich in der entgegengesetzten Richtung. Zwar nicht rückwärts wie ich, aber immerhin wendete er alle paar Schritt den Kopf nach mir, den mächtigen, mähnengeschmückten Kopf. In der tiefstehenden Nachmittagssonne sah ich deutlich, dass er viele graue Strähnen in seiner dunklen Mähne zeigte. Es musste ein sehr bejahrter Simba sein, und wie ich heute noch überzeugt bin, war es auch der grösste, den ich je gesehen habe.

In ruhiger Würde ging er seines Weges, ich ging den meinen. Was dort zwischen jenem alten Löwen und mir schweigend abgeschlossen und innegehalten wurde, war genau das, was die Engländer ein »Gentlemenagreement« nennen.

Unter den Bäumen angekommen fühlte ich dann aber doch das dringende Bedürfnis, mich erst eine Weile hinzusetzen; mir waren auf einmal die Knie bedenklich weich geworden und die Hand, die das Zündholz an die unvermeidliche Zigarette hielt, zitterte ein bisschen.

Heftig rauchend und immer wieder in stummer Verwunderung den Kopf schüttelnd, hockte ich da und dachte über diese erstaunliche Begegnung und das ganze Löwenproblem überhaupt nach. Uns war beiden die Jagd verdorben worden, denn auch »Bwana Simba – Der Herr Löwe« hatte sich natürlich nur aus Interesse für den Gnubullen da oben niedergetan. Allerdings aus viel materiellerem Interesse! Offenkundig war er von meinem plötzlichen Auftauchen ebenso überrascht gewesen wie ich und sichtlich auch beunruhigt. Bei mir hatte freilich mehr als blosse Beunruhigung vorgelegen. Immerhin gewann ich nach diesem zweiten, oder eigentlich schon dritten Falle nahen Aneinandergeratens allmählich die Überzeugung, dass Löwen durchaus nicht die stets und ständig mordlustigen und angriffsbereiten Bestien sind, die ich mir vorgestellt hatte. Gerade dem Menschen gegenüber schienen sie eher misstrauisch und unsicher zu sein, zumindest hier in dieser einsamen Wildnis, wohin vielleicht manchmal jahrelang kein einziger Mensch kam. Von ihrem Standpunkt aus war dieses Verhalten auch zu begreifen, denn wie konnte solch ein Simba wissen, welch gefährlicher Gegner dieses grotesk und höchst verdächtig aussehende Zweibein vielleicht war, das sich mit allerlei buntem und blinkendem Zeug behing und dauernd mit dem Unheimlichsten was es gibt, mit Feuer, herumhantierte? Tiere, mit deren Fleisch man sich den Bauch füllen konnte, liefen hier massenhaft herum, warum also sich mit diesem seltsamen Geschöpf auf Streit einlassen?

Das ungefähr waren die Erwägungen, die ich anstellte und, wie mich recht zahlreiche Erlebnisse mit Löwen in den folgenden Jahren lehrten, waren sie auch im allgemeinen richtig und deckten sich mit denen fast aller anderen Menschen, die viel mit Löwen zu tun gehabt haben. Wie überall, gibt es selbstverständlich auch hierbei Ausnahmen, denn gleich allen anderen Geschöpfen besitzen auch Löwen individuelle Charakterzüge, gibt es auch unter ihnen einzelne ausgesprochen bösartige Exemplare.

Ganz erheblich anders ist in den meisten Fällen das Verhalten solcher Löwen, die in besiedelten Gegenden leben, und es war mir bestimmt, dass ich auch jene Vertreter der Familie »felis leo« kennen lernen sollte, – näher kennen lernen als mir lieb war.

Jedenfalls hat mir jene besinnliche Stunde dort unter der Schirmakazie geholfen die übertriebene Angst zu besiegen, die mich bis dahin vor den gewaltigen Katzentieren beherrscht hatte. Die nächste Gelegenheit, die sich mir bot, besagte Katzentiere bei Tageslicht zu erblicken, nahm ich, wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen, wirklich wahr, um sie zu photographieren. Das heisst, einen dahingehenden Versuch zu machen. Denn was ich dann beim Entwickeln der Platte nach langem Grübeln endlich rekognoszierte, war – der Schweif des siebenten Löwen, er verschwand gerade im Grase! Um sieben Stück auf einmal hatte es sich nämlich dabei gehandelt, mindestens vier von ihnen hatten uns fünf Menschen sehr wohl bemerkt, und das auf eine Distanz von höchstens zwanzig Metern; aber wie der erwähnte Schweif bewies, waren sie trotzdem alle miteinander so schnell wieder verschwunden, dass ich nicht einen einzigen von den sieben hatte vollständig auf die Platte bekommen können.

In den insgesamt achtzehn Monaten, die ich dort im Wildreservat verbrachte, habe ich manche Nacht allein und völlig schutzlos draussen in der Steppe zubringen müssen. Das gleiche taten auch mehrere meiner Leute. Da es dort im grössten und wundervollsten Tierparadies der Erde überall Wild gibt, gibt es auch überall Löwen, und dennoch ist keiner von uns jemals von einem angegriffen worden. Dann und wann nahm einmal einer, dem ich mit der Kamera näher rückte oder nicht aus dem Wege gehen wollte, eine drohende Haltung an, doch es blieb stets bei blosser Drohung. Eine meiner schönsten Aufnahmen machte ich, kurz bevor ich mein Paradies für immer verliess, auf acht Meter Entfernung von einem Simba, der auf einem niedergeschlagenen Ochsen stand. Nebenbei bemerkt, war es mein Ochse, und zwar mein einziger gewesen! Und so unwahrscheinlich es klingt, einmal habe ich erlebt, dass zwei erwachsene Simbas, noch dazu bei Nacht, lediglich vor dem Geheul meiner beiden Wandorobbo-Gefährten ihr soeben erlegtes Gnu im Stich liessen und einfach ausrissen ...

Als ich mich dann an einem Julitage des Jahres 1914 mit einer hartnäckigen Malaria in den Knochen auf den Weg machte, um von meinem nächsten weissen Nachbarn, dem Distriktskommissar von Taveta, Rat und Hilfe zu erbitten, ahnte ich nicht, dass ich Ol Matun, mein Ol Matun, nie wiedersehen sollte. Mein Freund riet mir als beste Kur an, einfach so hoch wie möglich auf den Kilimandscharo hinaufzugehen und eine Zeitlang still da droben hocken zu bleiben. Er könne mir aus eigener Erfahrung sagen, dass mir vier Wochen Aufenthalt in viertausend Meter Höhe ebenso gut tun würden wie ein ganzes Jahr Europa-Urlaub. Die Sache leuchtete mir ein, am 27. Juli überschritt ich, ahnungslos von allem Weltgeschehen, die nahegelegene Grenze des ehemaligen Deutsch-Ostafrika, stieg drei Tagesmärsche weit auf den Riesenberg hinauf und quartierte mich droben auf dem Sattelplateau in der Petershütte ein.

Erst am 10. August brachte mir ein Bote von einer deutschen Amtsstelle in Moschi die Nachricht vom Ausbruch des grossen Krieges und die gleichzeitige Einladung in meine Bergeinsamkeit hinauf, unverzüglich herunterzukommen, um über meine Staatsangehörigkeit und noch verschiedene andere interessante Punkte Auskunft zu geben. – Es gehört zu den unratsamsten Dingen dieser Welt, derartigen Einladungen nicht Folge zu leisten; teils verstört und teils immer noch ungläubig ob dieser Botschaft, brach ich also auf, und zu meiner unsäglichen Verblüffung steckte ich schon zwei Tage darauf in der Uniform der kaiserlichen Schutztruppe von Deutsch-Ostafrika und kurze Zeit später im dicksten Tumult eines Buschkrieges, der von Anfang an mit beispielloser Härte und Wildheit geführt wurde.

Sein Schauplatz lag in Gebieten, die viel mehr von Tieren als von Menschen bevölkert sind, und das Kriegsgeschehen übte natürlich seinen Einfluss auch auf das Leben der Kreatur aus. Wie fast alles, was mit diesem blutigen Wahnsinn zu tun hat, war es ein überwiegend unheilvoller Einfluss.

Am auffälligsten machte er sich bei den Raubtieren und Aasfressern bemerkbar, bei den Krokodilen, Schakalen und Hyänen, Leoparden und besonders stark bei den Löwen. Solchen, die in menschenleeren Steppen gelebt hatten, wurde durch das Kriegsgetümmel das Wild verjagt, und jene aus Gegenden mit viehzuchttreibenden Eingeborenenstämmen sahen sich durch die freiwillige oder erzwungene Abwanderung der Herdenbesitzer ebenfalls ihrer bisherigen »Ernährungsgrundlage« beraubt. Ungewohnt und unfähig die jetzt äusserst wachsamen und flüchtigen Wildnistiere zu erlegen, trieben sich diese Simbas mit knurrenden Mägen herum und – allüberall in der weiten Wildnis fanden sie jetzt verirrte, verschmachtende oder verwundete Soldaten! Nachdem sie erst einmal die Wehrlosigkeit dieser bisher so gescheuten Menschen festgestellt hatten, wurden diese Löwen in wachsender Anzahl zu gewohnheitsmässigen und immer kühneren Menschenjägern und Menschenfressern. Zusammen mit den Hyänen, die scharenweise aus den entferntesten Gegenden Afrikas herbeiströmten, folgten zuletzt ganze Löwenrudel den kämpfenden Truppen, wurden zur Landplage selbst in jenen Eingeborenensiedlungen, die nie zuvor eine Löwengefahr gekannt hatten.

Solch ein menschenfressender Löwe ist zum Unterschiede von der relativen Harmlosigkeit seiner Genossen draussen in den Wildgebieten eines der gefährlichsten Tiere, die es auf der Erde gibt. Er hat alle Gewohnheiten und Eigenschaften, alle Waffen und Schutzmassnahmen seiner zweibeinigen »Beutetiere« kennen und überwinden gelernt. Er weiss sehr wohl zwischen bewaffneten Männern und wehrlosen Frauen und Kindern zu unterscheiden. Er versteht sogar das sonst doch so sehr gescheute Feuer einfach zu überspringen, Umzäunungen und Hüttentüren aufzubrechen, aufgestellte Fallen zu vermeiden und Verfolger zu überlisten.

Welch furchtbarer Gegner solch ein alter Menschenfresser sein kann, wurde mir klar, als ich im November des ersten Kriegsjahres zur Vertretung eines erkrankten Kameraden auf einen Küstenposten südlich der Küstenstadt Tanga abkommandiert wurde. Gleich nachdem das Eintreffen eines neuen weissen »Bwana« bekannt geworden war, kamen aus allen umliegenden Dörfern angstschlotternde Negerlein herbei und flehten mich an, doch den »Simba mkali sana – den sehr bösen Löwen« zu schiessen, der seit einigen Wochen eine wahre Schreckensherrschaft in der dortigen Gegend ausgeübt hatte.

Sie erzählten Geschichten von ihm, dass sich einem die Haare sträubten, aber nachdem ich die üblichen fünfundsiebzig Prozent Übertreibungen abgezogen und den Rest nachgeprüft hatte, blieb wirklich noch Grund genug, diesen Simba sobald wie möglich unschädlich zu machen. Wie ich feststellte, hatte er im Laufe des letzten Jahres allein in der unmittelbaren Umgebung meines Postens sechs Menschen getötet, zwei weitere waren nur durch Zufall mit dem Leben, aber schwer verstümmelt davon gekommen; und von den Schafen, Ziegen und Rindern der unglücklichen Schwarzen fiel dem Raubritter fast alltäglich eins zur Beute.

Wie mir der alte »Jumbe«, der Vorsteher des nahegelegenen Dorfes Geta berichtete, der in Begleitung seines kleinen Enkels herbeikam und mir der Sitte gemäss ein Antrittsgeschenk in Gestalt eines Huhnes und einer Flasche Milch mitbrachte, war der gelbe Würger erst vergangene Nacht wiederum in ein Gehöft des Dorfes eingedrungen und hatte eine Ziege herausgeholt. Die zwei alten Leute, denen sie gehörte, hatten nicht einmal gewagt, Lärm zu schlagen, geschweige denn aus ihrer Hütte herauszukommen und einen Versuch zu machen, den Räuber zu verjagen, und so sei er bei Morgengrauen zurückgekehrt und habe den beiden auch noch ihre zweite und letzte Ziege fortgeschleppt.

»Bwana, ich bitte Dich sehr, töte dieses Tier! Ich glaube es ist gar kein Löwe, sondern ein, von einem bösen Geist besessener Dämon. Vielleicht will Allah, dass es Dir gelingt, denn Du bist jünger und stärker als Bwana Kolbe, der immer krank war, und wie ich sehe, hast Du ein sehr grosses schweres Gewehr!« – Er meinte damit meine Neunkommadrei-Büchse, die ich von einem Kameraden geschenkt erhalten hatte und mit Einwilligung meines Kompagniechefs als Dienstgewehr benutzte.

Ich versprach dem kummerbeladenen Gemeindeoberhaupt mein möglichstes zu tun, machte noch mit ihm aus, dass mir sein Enkelkind jeden Tag eine Flasche Milch herüberbringen sollte und ging dann auf meine vorgeschriebene Revision der ausgestellten Wachtposten. Als Führer diente mir dabei der Bootsmann, der den Fährdienst über den Geta-Fluss versah und der, wie ich glaube, der älteste Neger war, den ich in Afrika jemals zu Gesicht bekommen habe. Seine lange Gestalt schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen, und sein schlohweisses krauses Haar sah aus, als ob er sich ein Lammfell als Perücke auf den vertrockneten Schädel geklebt hätte.

Der ausnehmend gescheite und überdies auch humorbegabte alte Bursche war voll glühenden Eifers, mich an das Raubtier heranzubringen. Obgleich das, wie er mit einem feinen Lächeln auf dem verschrumpften Gesicht bemerkte, eigentlich sehr undankbar von ihm wäre. Auf meinen fragenden Blick nahm er erst eine Prise und fuhr dann nachdenklich fort:

»Hm, Bwana, Du musst wissen, dass der Simba vor ungefähr Jahresfrist meine Frau beim Arbeiten auf dem Mohogofelde gepackt und weggeschleppt hat. Bis ich hinzu kam, hatte er sie schon halb aufgefressen. Da es überhaupt sehr gefährlich und in diesem Falle ja auch völlig nutzlos gewesen wäre, ihn zu stören, bin ich still beiseite gegangen und habe die Barmherzigkeit Allahs gepriesen, der selbst einem so bösen alten Teufel wie meine Frau einer war, solch ein rasches, leichtes Ende gewährt hatte.«

Meine Antwort auf diese erstaunliche Darlegung bestand ebenfalls in einem nachdenklichen »Hm ...!«

Wir kreuzten auf unserem Wege gerade eine sandige Landzunge zwischen den Mangrovenwäldern, als der Alte mich auf einmal am Arm fasste, stehen blieb und auf ein paar flache, vom Flutwasser halb verwischte Eindrücke am Boden wies.

»Da, Bwana, das ist er! Und da – das war Ndafus Ziege!« sagte er und zupfte ein Büschel Haare von einem Zweig.

»Heute morgen bei Ebbe ist er, mit seinem Frühstück im Maul, hier durchgegangen, und dort oben, in dem Gebüsch von Borassuspalmen wird er es verspeist haben. Wollen wir hingehen und nachschauen?«

»Wieso meinst Du, dass es gerade der Menschenfresser und nicht irgend ein anderer Löwe war?« fragte ich.

»Oh, Bwana, diesen Sünder hat Allah gezeichnet! Kannst Du sehen, dass hier an seiner linken Vorderpranke zwei Zehen fehlen? Die hat er in einer Falle gelassen, die ihm einst der Bwana von der Sisalpflanzung drüben gestellt hat. Er hat das Eisen allerdings wieder abschütteln können und ist seitdem nur um so schlimmer und schlauer geworden.«

Unser Rückweg führte uns an der kleinen baufälligen Hütte meines Begleiters am jenseitigen Flussufer vorbei und hier blieb der Alte wiederum mit einem Ruck stehen und zeigte stumm zu Boden. Dicht vor der Tür und an dem Rain des anstossenden kleinen Erdnussfeldes entlang waren klar und scharf, und auch für meine Augen als ganz frisch erkennbar, die gewaltigen Pranken des Verfolgten eingedrückt. Er musste unmittelbar vor uns hier gewesen sein.

»Bwana, ich glaube er hat nunmehr mich in seine Mörderaugen gefasst«, sagte der Alte leise. »Erlaubst Du, dass ich das Fährboot hinüberbringe und von heute abend an nicht mehr hier, sondern drüben vor Deinem Postenhause schlafe?«

Selbstverständlich stimmte ich zu. Ich sass dann am Abend, mit Schreibarbeiten beschäftigt, noch lange auf, doch von dem Löwen war, bis ich schlafen ging und auch die ganze Nacht hindurch nichts zu sehen und zu hören. Was das Nichthören betraf, mochte der Alte allerdings recht haben, als er mir am anderen Morgen sagte, dass dieser Simba niemals brülle und seine Angriffe immer lautlos und blitzschnell ausführe.

Kurz vor Mittag wurde mir gemeldet, dass der Läufer, der alltäglich den Postsack von Pangani bis zu meinem Posten brachte, von wo ihn dann ein frischer Läufer nach Tanga weitertransportierte, heute noch immer nicht eingetroffen war. Auf meine telefonische Anfrage in Pangani erhielt ich die Antwort, dass der Mann wie üblich heute früh um sieben dort abgegangen wäre und längst bei mir angekommen sein müsste. Der am Telefon diensttuende Offizier gab mir Befehl, sofort nachzuforschen, wo er geblieben sei. Das gleiche werde auch von Pangani aus veranlasst.

Mir ahnte nichts Gutes, als ich mich daraufhin, zusammen mit den beiden dem Posten zugeteilten schwarzen Soldaten, auf den Weg machte. Und als ich jenseits des Flusses dann neue, anscheinend am späten Abend getretene Fährten direkt in die verlassene und offenstehende Hütte des Fährmannes hinein-, wieder heraus- und in Richtung Pangani den Mangrovendickichten des Strandes zuführen sah, war ich mir völlig über das Schicksal des armen Kerls von Postläufer im klaren. Etwa sechs Kilometer weiterhin erschienen die gewaltigen Stapfen, aus den Mangroven herauskommend, plötzlich wieder vor uns im Staube der Küstenstrasse. Sie liefen genau in der Mitte, eine ganze Strecke lang vor uns her, an einer Krümmung aber bogen sie dann auf einmal scharf nach links ab und auf ein Palmgebüsch am Strassensaume zu. Auch sie waren ziemlich frisch und auf jeden Fall erst heute morgen getreten.

Mit schussbereitem Gewehr und angehaltenem Atem folgte ich den unheilkündenden Spuren vorsichtig bis hinter die Büsche. Hier endeten die scharfen Eindrücke in einer flachen langgestreckten Mulde. Der Wegelagerer hatte sich an dieser Stelle niedergelegt, war auf dem Bauche noch etwa zwölf Schritt bis in den Schatten eines alten Mangobaumes hart am Wegrand weiter gekrochen und dann – direkt auf den ahnungslos Herankommenden gesprungen. Das ganze Drama war deutlich wie mit Buchstaben in den Strassenstaub hineingeschrieben.

Mit einem kalten Gefühl auf dem Rücken starrte ich die einzelne Sandale, die von der Tragschnur abgerissene und beiseitegekollerte Kalebasse, die von schwarzem Blut verkrustete und dicht mit Fliegen bedeckte kurze Wurfkeule, die ein Stück weiterhin lag, die dunklen Flecken im Staub der Strasse an. Dann folgte mein Blick der Schleifspur, die über ein abgeerntetes Ackerstück weg und in die tiefe grüne Dämmerung eines Bananenhaines führte.

Die Tragödie hatte sich schon vor mehreren Stunden abgespielt; für jenen unglücklichen Menschen kam jede Hilfe längst zu spät ...

Die Mittagssonne hatte zwischen heraufziehenden Gewitterwolken mit schier höllischer Glut herabgebrannt; ich war von dem zweistündigen Marsch, in dem mir noch ungewohnten schwülen Küstenklima ziemlich mitgenommen, dennoch tat ich nur hastig einen Zug aus der Feldflasche, befahl den beiden Askari ihre Gewehre zu laden und drang, meine schwere Büchse schussfertig in der Hand, in die Bananen ein. Vielleicht traf ich das Raubtier noch hier bei seinem Mahle an!

Hier zwischen den Bäumen waren Schwüle und Mittagsstille noch lastender und atembeklemmender, und das Singen ganzer Schwärme von Moskitos erfüllte die dumpfe Luft. Trotz der tiefen Schatten konnte ich auf dem schwarzen feuchten Boden die Doppelspur deutlich erkennen, die die nachschleifenden Fersen des Überfallenen gerissen hatten. Alle Sinne aufs äusserste gespannt, schlich ich den ominösen Furchen behutsam nach, bis mir auf einmal die völlige Stille hinter mir auffiel, und ich, mich umdrehend, sprachlos feststellte, dass meine beiden Askari verschwunden waren! Statt ihrer tauchte unter den Riesenblättern das kecke Gesicht eines jungen Trägers auf, den ich für alle Fälle auf den Marsch mitgenommen hatte. Leise lachend flüsterte er mir zu: »Die Askari haben beide ›austreten‹ müssen, Bwana ...! Aber der Simba ist gar nicht hier in den Bananen, denn siehst Du die helle Stelle da vorn, wo die Blätter abgerissen sind? Dort ist er durchgebrochen und da draussen, wo der alte schlaue Teufel freie Sicht auf die Strasse hatte, wird er den Mann aufgefressen haben. Aber ich glaube nicht, dass er noch dort ist, Bwana.«

Der Bursche hatte in allem recht. Draussen unter den letzten Stauden des Bananenhaines fanden wir endlich die Stätte. Ausser der ledernen Posttasche, die wie in Blut getaucht erschien, lagen lediglich noch ein paar Fetzen von der Khakihose des Unglücklichen und einige Knochen herum. Der Schädel fehlte. Anscheinend hatte ihn die Hyäne weggeschleppt, die, wie ihre Spuren bewiesen, nach dem Löwen noch dagewesen war.

Dessen eigene unverkennbare Fährte lief von hier schnurgerade auf einen sumpfigen Bachlauf zu; dort hatte der Räuber nach seinem Mahle einen Trunk genommen und war dann landeinwärts in die so gut wie undurchdringlichen Dornendickichte der Steppe gegangen, wohl um in ihrem Schutze einen ungestörten Schlaf zu tun. Ihm dahinein jetzt in der flammenden Mittagshitze, müde und durstig wie ich war, und ganz allein zu folgen, wäre Wahnsinn gewesen.

Wie ich schon erwartet hatte, weigerte sich der Träger, die Posttasche am Wasser abzuwaschen; er war, wie die meisten Küstenneger, überzeugter Mohammedaner und fürchtete, durch solche Handlung »unrein« zu werden. Da von meinen beiden schwarzen Waffenbrüdern unglaublicherweise auch jetzt noch nichts zu entdecken war, säuberte ich die sonst unversehrte und festverschlossene Tasche selber. Dann stöberte ich die zwei Helden auf, beantwortete ihre Ausrede, dass sie mich »verloren« hätten mit zwei stummen und blitzschnellen Siebenpfundwatschen, trieb die Tiefbeleidigten dann zu der grausigen Stätte unter den Bananen und zwang sie hier, die kargen Reste des Unglücklichen an Ort und Stelle zu begraben.

Zu Hause angekommen, brachte ich als erstes die Post nach Tanga auf den Weg und erstattete darauf telefonisch Bericht über das Geschehene an meine Vorgesetzten. Sie ordneten an, dass bis auf weiteres den Postläufern zwei Askari als ›Bedeckung‹ mitzugeben seien. An die Qualitäten meiner zwei Kämpen denkend, grinste ich daraufhin still ins Telefon hinein.

Der Nachmittag und auch die folgende Nacht vergingen ohne weitere Kunde von dem gelben Würgeengel. Die Regenzeit war im Anzug, die Luft zum Ersticken schwer und schwül. Die ganze Nacht hindurch hatte unaufhörliches Wetterleuchten über der See geflackert und dumpfer Donner gegrollt. Am nächsten Tage fühlte ich mich in zunehmendem Masse matt und gliederschwer, und als dann gegen Abend auch noch ein bohrendes Kopfweh dazukam, wusste ich, dass ich wieder einmal eine Malariainfektion erwischt hatte.

Dann kam die Nacht, sie war noch stickiger als die vergangene, unsäglich drückend, wolkenschwarz und totenstill und wie von einer furchtbaren Drohung erfüllt. Ich werde diese Nacht nie in meinem Leben vergessen.

Gegen zehn Uhr hatte ich noch einen Blick nach der »Banda«, dem auf vier Pfählen ruhenden Dach geworfen, das in ungefähr zehn Schritt Entfernung rechts vor meiner Hütte stand und nach dem Wachtposten für die Fähre. Das Wachtfeuer hatte vorschriftsmässig gebrannt, der Posten hockte, zusammen mit dem alten Fährmann, der ja jetzt obdachlos war, daneben. Dann hatte ich mich im Pyjama auf mein Feldbett ausgestreckt. Doch ich konnte keinen Schlaf finden. Unter dem herabgelassenen Moskitonetz rann mir der Schweiss in Bächlein am Körper herab und machte ich es auf, so stürzten sich sofort ganze Wolken von Moskitos auf mich. Lange Zeit hörte ich noch das halblaute Sprechen der beiden unter der Banda draussen, das Knistern und Prasseln ihres Feuers, dann und wann das Blöken eines Stück Viehes im nahegelegenen Dorf; zuletzt erstarb jeder Laut und alles war nur noch beklemmendes, unheimliches Schweigen.

An Einschlafen war nicht zu denken. So zündete ich schliesslich resigniert meine Sturmlaterne wieder an, stellte sie auf die Kiste neben dem Bett, nahm ein Kopfwehmittel und dann ein Buch – es war Vischers »Auch Einer« – mit unter das Netz, und versuchte zu lesen. An der Kiste lehnte mein Gewehr, und zwar wie immer im Hause, ungeladen, ein Rahmen Patronen lag griffbereit daneben. Doch auch zum Lesen war mein glühender Schädel unfähig, meine Gedanken irrten ab und wanderten wieder dahin, wo sie eigentlich immer waren – in mein verlorenes Paradies Ol Matun. – Da drang ein dumpfer schwerer Schlag und ein gellender Aufschrei durch die brütende Finsternis draussen, unmittelbar vor meinem Hause!

In jähem Entsetzen fuhr ich hoch, ergriff Gewehr und Patronen, stiess dabei unversehens die Laterne hinunter und sprang zur Türe hinaus.

Ein tiefes Aufgrollen, voll von wilder Drohung schlug mir aus der Dunkelheit entgegen, vor der Banda loderten die Flammen hoch empor, die lange weissgekleidete Gestalt des Fährmannes sprang dahinter auf die Füsse; mit einem brüllenden »Nini? – Was ist?« lief ich auf ihn zu – da wuchs unmittelbar vor mir eine dunkle, mächtige Form auf, ein heisser Atem traf mich ins Gesicht, und die Reflexe des Feuers spiegelten sich in einem Paar wildflammender Augen, dicht vor den meinen. Einen einzigen Schritt noch – und ich wäre direkt mit dem Löwen zusammengeprallt.

Alles was darauf folgte, hat nur Sekunden gedauert; in meinen Fieberträumen kurz darnach und heute noch in meiner Erinnerung sind es Ewigkeiten gewesen, in denen ich dem Löwen dort bei der Mtangata-Fähre gegenüberstand, den entsetzensstarren Blick auf die wimmernde Menschengestalt unter seinen Pranken geheftet, und unfähig mit meinen vor Fieber bebenden Händen den Patronenrahmen in das Magazin zu setzen.

Im nächsten Augenblick geschah etwas vom Grossartigsten, das ich je miterlebt habe: Mit einem schrillen Schrei sprang plötzlich der alte Fährmann herzu und schlug dem riesigen Löwen mit aller Macht einen Feuerbrand über den Schädel, so dass Funken und glühende Holzstücke herumspritzten!

Wie der Maler Goya könnte ich unter das Hiergeschilderte schreiben: »Ich habe es gesehen.«

Funkenumsprüht fuhr der massige Schädel sofort nach dem Angreifer herum, schlug mit der wuchtigen Pranke zu, doch sie erfasste nur noch eine Falte des weissen Kanzus, riss ihn dem zurückspringenden Alten vom Leibe herunter und – blieb ihm in den Krallen hängen! Mit wütendem Aufgrollen peitschte er das flatternde Tuch wie eine Flagge über seinem Kopf herum. Nun endlich hatte ich mein Gewehr schussbereit. Noch im Emporreissen gab ich Feuer. Der Rückstoss der schweren Waffe liess mich gegen die Wand meiner Hütte taumeln, doch im Augenblick war ich wieder auf den Knien, repetierte, und drückte nochmals auf den mähnenumwallten Kopf dicht vor meiner Gewehrmündung ab. Aber noch im Moment des Abziehens wusste ich, dass ich gefehlt hatte. Mit unfassbar schneller Wendung hatte sich der Simba herumgeworfen und war mit weitem flachen Sprunge in der tiefen Schwärze unter den Bananen verschwunden.

Jetzt stürzten von allen Seiten meine Leute mit Laternen und Fackeln herzu. Bei ihrem Licht untersuchte ich den blutüberströmten Menschenkörper zu meinen Füssen. Er war fürchterlich zugerichtet, zwischen herabhängenden Fleischfetzen schauten zersplitterte Schulter- und Oberarmknochen hervor, und aus einer Bisswunde am Schenkel rann das Blut in Bächen; er hatte es nur dem Kragen seiner Khakijacke zu verdanken, dass die Zähne des Raubtieres, als es ihn zum Wegschleppen packte, nicht bis auf die Halsschlagader durchgedrungen waren.

Es war der Wachmann. Wie der Alte zugab, waren sie beide zuletzt eingenickt, und er war erst durch den Aufschrei seines Kameraden und mein Gebrüll erwacht. Mir war gar nicht bewusst, dass ich beim Herausstürzen gebrüllt hatte. Splitternackt, wie er noch immer war, bemühte sich der tapfere alte Mann zusammen mit meinen Leuten vorerst, die Blutung bei dem Überfallenen zum Stillstand zu bringen. Ich läutete währenddem die unweit gelegene Pflanzung Kigombe an und bat, sofort den dortigen schwarzen Heilgehilfen samt einer Tragbahre herüber zu schicken.

Dann kam die Reaktion bei mir, ich fiel aufs Bett, das Thermometer, das mir mein Boy unter die Achsel steckte, zeigte neununddreissig Grad.

Am anderen Tage wurde mir ein weisser Kamerad als Assistent während meiner Krankheit zugeteilt. Er nahm die Verfolgung des Löwen, den ich, wie Blutspuren in den Bananen andeuteten, anscheinend mit meinem ersten Schuss irgendwo am Schädel getroffen hatte, sogleich mit soviel Schneid und jugendlicher Unbedenklichkeit auf, dass mir bei seinen Berichten angst und bange wurde. Doch auch er kehrte, nachdem er fünf Tage lang dem angeschossenen Raubtier unentwegt durch die dicksten Dickichte nachgekrochen war, schliesslich ergebnislos und nun auch seinerseits in den urchigsten Ausdrücken auf sein Pech fluchend – er war ein kriegsfreiwilliger Schweizer – zurück. Auch er legte sich mit fieberglühendem Kopf zu Bett und begann Chinin zu schlucken.

Der »Geister-Simba« aber, wie wir ihn jetzt nannten, hatte unterdessen in der Nähe Panganis ein gesatteltes Maultier geschlagen, wobei er allerdings durch die Schüsse eines hinzukommenden Askari verjagt worden war. Daraufhin brach er zweimal hintereinander in den Viehkraal der Sisalpflanzung ein, wobei ein Viehhüter einen bösen Prankenhieb an der Hüfte davon trug, und am gestrigen Tage hatte er in unserem Nachbardorfe Geta einen Angriff auf ein wasserholendes Weib gemacht. Die Frau war ihm um Haaresbreite noch in ihre Hütte entronnen, worauf der freche Unhold mitten am hellen Tage am Dorfplatz erschien und im Handumdrehen mit einer Ziege wieder verschwunden war. Und das, während mein Kamerad keine hundert Meter davon entfernt, auf den frischen Fährten des Räubers ahnungslos durch einen Bananenhain kroch! Die furchtgelähmten Schwarzen hatten ihm erst eine gute Stunde später, als der Simba längst im Dornbusch der Steppe verschwunden war, Botschaft von diesem neuen Stücklein zu bringen gewagt.

Da es natürlich nicht anging, dass wir beide auf dem Krankenbett lagen, rappelte ich mich auf, und ging, noch erheblich wacklig, meinerseits wieder auf Löwenjagd. In der Hoffnung, dass die in Geta so leicht erbeutete Ziege den Banditen zum Wiederkommen verlocke, gebot ich den Dorfleuten, heute mit keinem Schritt ihre Hütten zu verlassen. Dann band ich eine Ziege im Viehkraal an und legte mich mit meinen beiden zweifelhaften Mitstreitern in den Hinterhalt. Doch er kam nicht, wahrscheinlich hatte der abgefeimte Schuft längst gemerkt, was los war.

Bei einem tobenden Gewitter und von Moskitos zum Wahnsinnigwerden gepeinigt, hielten wir bis nach Mitternacht in unserem Versteck aus, dann konnte ich einfach nicht mehr und ging heim. Die Ziege wurde daraufhin von ihrem Besitzer vorsorglich mit ins Haus genommen – wäre sie draussen geblieben, so hätte sich wahrscheinlich das folgende zweite Drama nicht ereignet!

Ich war eben erst eingeschlafen, als mich mein Kamerad wieder wachrüttelte.

»Horchen Sie! – Horchen Sie!«

»Naja, zum Teufel, es donnert halt wieder! Was ist dabei?«

»Nein, das ist kein Donner! Hören Sie doch! Es ist die Dorftrommel!«

Er hatte recht, es war ein Trommelsignal, ein Hilferuf!

»Bestimmt ist wieder was mit dem Chaib, dem Leuen los«, murmelte er und griff, vor Fieber mit den Zähnen klappernd und nur mit einem schweissnassen Pyjama angetan, nach seinem Schiesseisen.

»Mann, Sie sind wohl nicht recht beieinander! Machen Sie, dass Sie wieder in Ihr Nest kommen!« fauchte ich ihn an, pfiff dann meinen Leuten, riss ihm das Gewehr weg und drückte es dem Alten, der ungerufen ebenfalls mit herbeigekommen war, in die Hand. Dann hasteten wir bei Laternenlicht durch die stockfinstere und wieder totenstill gewordene Nacht dem Dorfe zu.

Doch kein Mensch wurde sichtbar; auf unser Rufen hin erklangen wohl angstbebende Stimmen aus den festverschlossenen Hütten heraus, aber jeder erwiderte auf unsere Frage nur: »Sijui, Bwana. Simba! ... – Ich weiss nichts, Herr. Der Löwe! ...« Auf meine energische Aufforderung hin erschien zuletzt wenigstens der Mann, der die auf seinem Hof stehende Signaltrommel geschlagen hatte, und er erklärte heiser vor Aufregung, dass der Löwe im gegenüberliegenden Hause des Jumbe gewesen sein müsse. Es hätte dort etwas gekracht und der Jumbe habe geschrien.

Sofort wendeten wir uns dem Hause zu, äusserlich schien jedoch alles daran in Ordnung zu sein, die Tür war zu, und von innen mit einem Pfahl blockiert, doch unser Rufen fand keinerlei Antwort. Verblüfft starrte ich die Tür an, da schrie der Fährmann hinter der Hausecke auf: »Bwana, tazama hapa juu! – Herr, schau hier herauf!« und hielt seine Laterne hoch empor.

Dort, wo er stand, lag ein Haufen herabgerissener Belag am Boden und über ihm gähnte ein grosses Loch im Dach! Im gleichen Moment wurde mir von anderen meiner Leute zugerufen, dass sie soeben hinten im Hofe die wegführenden Fährten des Löwen und eine Schleifspur entdeckt hätten.

Mein Boy Fundi beleuchtete, eine Laterne in der einen, einen Speer in der anderen Hand, vor uns die Spur. Aber wir waren kaum bis an die letzten Hütten gekommen, als plötzlich ein drohendes Aufgrollen vor uns erscholl. Fundi liess vor Schreck die Laterne fallen und hieb blindlings mit seinem Speer um sich. Ich sprang beiseite, feuerte ebenso blindlings mehrere Schüsse in die Finsternis hinein und auch der Alte und die Askari knallten wie wild drauf los. Mir war, als ob ich noch ein Aufrauschen in den Büschen gehört hätte. Zunächst überzeugte ich mich, dass bei der wüsten Herumschiesserei in der Dunkelheit keiner von uns selber etwas abgekriegt hatte. Da es nicht der Fall war, drangen wir behutsam weiter vor und schon nach wenigen Schritten standen wir vor einem Haufen menschlicher Überreste und besudelter Kleiderfetzen. Es war der kleine Junge gewesen, der Enkel des Jumbe, der mir täglich meine Flasche Milch gebracht hatte ...

Dann sass ich neben seinem Grossvater, dem Dorfvorsteher, auf dem Bett und bemühte mich vergeblich, ihn zu trösten. Doch er hörte mich gar nicht; die Hände vors Gesicht geschlagen, wiegte er nur unter monotonem Lallen unaufhörlich den Kopf hin und her.

Aus dem schreckverwirrten Gestammel zweier alter Weiber, die wir in einem Nebengemach noch vorfanden, entnahm ich, dass der Simba erst erfolglos gegen die aus härtestem Holz gezimmerte Tür geschlagen, dann aufs Dach gesetzt, und, nachdem er mit Prankenhieben sich durch den Belag von dürren Bananenblättern gearbeitet hatte, in die Schlafkammer des Jumbe herabgesprungen war. Das unglückliche Kind, das mit dem Grossvater das Lager teilte, hatte in seiner Angst gerade unters Bett kriechen wollen, als es von dem Raubtier gepackt und auf der Stelle getötet wurde. Mit seinem mageren kleinen Körper im Rachen war der Simba dann mit Leichtigkeit durch die Öffnung im Dach wieder hinausgesprungen.

Als ich am darauffolgenden Morgen, körperlich und auch seelisch wie zerschlagen, am Telefon stand und Meldung nach Tanga erstattete, kamen zwei Offiziere an, die nach Pangani unterwegs waren. Sie hörten meinen Bericht mit an, und nachdem sie sich mit ihrem Vorgesetzten verständigt hatten, forderten sie mich auf, mit ihnen zusammen sofort loszugehen, »um diese unglaubliche Löwenbestie endlich zu erledigen«.

Bei mir ersetzte der gleiche Wunsch das, was meinem von der Malaria geschwächten Körper noch an physischer Kraft fehlte. Bis zum späten Abend spürten wir fast pausenlos dem Tiere nach, und kurz vor Sonnenuntergang bekam ich es, zum ersten- und allerdings zugleich auch zum letztenmal in volle Sicht bei Tageslicht. Von dem zwischen schwarzblauen Gewitterwolken durchbrechenden grellgelben Licht der Sonne wie von den Scheinwerfern einer Bühne angestrahlt, trabte der Löwe, den struppig bemannten Kopf herausfordernd nach uns erhoben, quer über eine schmale Zunge weissen Seesandes hinweg. Doch noch ehe ich das Gewehr erhoben hatte, war er bereits drüben im Dunkel der Mangrovendickichte wieder untergetaucht, und gleichzeitig war auch, wie mit einem Schlage, der Sonnenglanz erloschen.

Von Stund an wurde, solange ich den Posten Mtangata-Fähre noch innehatte, nichts mehr von dem gelben Würger gehört und gesehen. Auch in der weiteren Umgebung hat er sich nicht mehr bemerkbar gemacht; vielleicht ist er von irgend einem Jäger, der gar nicht wusste, welch gefährliches Geschöpf er vor sich hatte, durch Zufall erlegt worden.


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