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XI

Karola gab Wendelin keinen Augenblick Gelegenheit, allein mit ihr zu sprechen. Auf der Treppe ging sie mit der Freo voran. Im Auto saß er beiden gegenüber, und während Karola aus dem Fenster sah, neigte sich Fancy zu ihm und fragte nach Jutta und dem alten Schloß zu Schilleninken. Ob er sie nicht einmal dahin mitnehmen könne? »Ich möchte auch mit der Kerze in die Kemenate geleuchtet bekommen und richtig auf Jagd gehn. Als Försterkind bin ich faktisch und durch Vaters ›Pengpeng‹-Geschichten an das Knallen gewöhnt. Muß ich nun erst einen Grafen heiraten, damit die Schröderschen mich schätzen? Oder sind Sie Manns genug, ein Kind aus dem Volke dort einzuführen? – Wir haben übrigens einen Anschlag auf Sie vor, aber davon sprechen wir noch nicht.«

Im Vorraum des Kabaretts standen Wendelin und Karola einen Augenblick allein nebeneinander. Aber da kam auch schon der Hausdichter und hinter ihm Sebald, Sebald, dessen Gesicht Wendelin an einen lieben Schulkameraden erinnerte, mit dem er sich leidenschaftlich im Trapper- und Indianerspiel gejagt hatte.

»Wollen Sie noch schnell das letzte Lied unseres Schilfkrot hören? Er ist heute besonders gut aufgelegt.« Der Dichter faßte beide Damen unter und ging voran. Sebald legte Wendelin den Arm um die Schulter und folgte. Diese Vertraulichkeit war überraschend. Er kannte Sebald kaum, hatte ihn nur selten bei Margot oder Donath gesehen, wußte nichts Genaues von ihm. Man sagte, er sei Theater- oder Filmkritiker; er sollte in den Tagen der Revolution eine Rolle gespielt haben; es wurde von ihm behauptet, er sei früher einmal wie ein Handwerksbursche auf der Walz gewesen. Und gestern bei Margot – wie lange das schon her war! – erschien er mit der Unbekannten, der mit dem weißen Federhelm und dem Jünglingsgesicht, dem schönsten Menschengesicht, das Wendelin je gesehn. Jetzt wäre der Augenblick gewesen, nach ihr zu fragen. Vielleicht war sie hier, vielleicht konnte er sie kennenlernen.

»Morgen wird Schilfkrot bei Perls vor wenigen Erwählten seine Verse sprechen, die besten, die für das große Publikum hier zu schade sind. Kommen Sie doch auch hin. Wir werden uns alle freuen, Sie bei uns zu haben.« Wendelin war betroffen von einem Blick voll heimlicher Verheißung, die jenseits der Worte lag, welche der blasse Mund sprach. Es wäre unzart gewesen, was hier zwischen ihm und dem Geheimnisvollen begann, durch die Frage nach einer Frau zu trüben.

Sie traten in den Saal, blieben unter den seitlichen Säulen stehen und sahen von weitem die kleine Gestalt in der Matrosenbluse, aus der auf schmalem Halse das wehmütig lächelnde Gesicht mit den scharf gekerbten Zügen vogelhaft vorstieß, indes die Hände, zwei irre Trunkenbolde, die Linie des grotesken Gedichtes nachzeichneten, das Schilfkrot wie widerstrebend hergab.

Die letzten Worte verklangen im Beifall der Menge, die weiterklatschend aufbrach und zum Ausgang drängte. Wendelin spähte nach Karola und der Freo: sie waren verschwunden. Fremde begrüßten im Vorübergehn seinen Nachbarn, und er stand daneben und kannte niemanden. Plötzlich fragte ihn Sebald leise, ob er Lust habe, mit in eine Kneipe im Norden zu kommen, wo es denn doch andre Gesichter zu sehen gebe als hier.

»Ich soll zu der Nachtprobe bleiben mit der Fancy Freo.«

»Ein nettes Mädchen, aber ihr Bruder, der Taugenichts, ist origineller, und den treffen wir heut nacht mit andern guten Jungen.«

Ehe Wendelin antworten konnte, kam Schilfkrot in der Matrosenbluse, wie er aufgetreten war, durch die Menge auf Sebald zu: »Ich bitte dich, Georg, bring mich heim. Mir ist so elend zumut, daß ich sonst in den nächsten Rinnstein rolle und heule. Und gib acht, daß ich heute nichts mehr trinke. Gehn wir nur schnell fort, da drüben kommt schon der käsige Hausdichter, und wenn der wieder von seinem Paris anfängt, setze ich mich aufs Parkett.«

»Ja, lieber Domrau«, sagte Sebald, »da bekomme ich Mutterpflichten, und aus unserm Ausflug wird heut nichts mehr. Bis ich dies Kind glücklich in sein Bettchen gebracht habe, wird man da oben die letzten Lichter auspusten. Aber morgen, nicht wahr?«

Der Saal war fast leer. Wendelin mußte den abräumenden Kellnern ausweichen und kam sich überflüssig und unbefugt vor. Da erschien auf der Bühne Margot neben der rundlichen Direktrice, die lebhaft auf sie einredete. Wendelin näherte sich langsam, bis Margot ihn sah, herbeiwinkte und vorstellte. Das bläuliche, von roten Haarbüscheln umstarrte Gesicht nickte ihm flüchtig zu und sprach dann weiter zu Margot: »Im Reitkostüm müßten Sie ankommen, und unser Willychen soll Ihnen was Derbes dichten, wo Sie beim Refrain mit der Gerte knallen, daß den Bürgersleuten bange und wonnig wird.«

»Ich würde mir höchst lächerlich vorkommen. Wenn ich schon auftreten soll, dann im Zirkus, Hohe Schule oder Springen.«

»Ich überrede Sie doch noch, Kindchen«, sagte die Kleine und tätschelte Margot den Rücken. »Jetzt muß ich nach meinen Kücken sehen. Bei der Fancy ist wieder die ganze Garderobe voll Mannsvolk, das muß ich verjagen.«

Als sie fort war, sprang Margot von der Bühne herunter Wendelin in die Arme, faßte seine Schultern und schüttelte ihn: »Morgen nachmittag kommst du auf die Reitbahn, Domrau! Da ist meine Fabrikantin, die auf dem Pferd sitzt wie ein Mehlsack auf dem Esel. Das brauchst du ihr aber nicht zu sagen, sondern hast ihr den Hof zu machen, was gestern bei mir versäumt wurde. Ich bin sehr unzufrieden mit dir, verstanden!«

»Ich möchte viel lieber mit dir ausreiten, Margot.«

»Unsinn, dazu haben wir keine Zeit.«

»Und dann muß ich überhaupt fort, aufs Gut.«

»Daraus wird nichts.« Sie stampfte mit dem Fuß. »Folge doch mir, Junge, ich bin der einzige praktische Mensch von der ganzen Bande. Lauf nun nicht wieder mit dem Sebald davon, ich habe euch vorhin gesehn, das ist auch so ein schlimmer Rattenfänger, der kleinen Jungen was vorpfeift. Ich gehe jetzt heim, den dummen Rausch auszuschlafen, den mir Kestners Engländer beigebracht hat, der übrigens ein sehr nützlicher Fall ist. Bring mich doch nach Haus, statt hier hinter der Freo und Karola herzuzuckeln.«

»Ich muß noch Eißner sprechen.«

»So? Mußt du das? Darauf kann ich nicht warten. Atjö.« »Auf Wiedersehn, Margot«, sagte Wendelin und hatte das Gefühl eines großen Abschieds. Er faßte nach ihren Händen.

Sie sah ihn erstaunt an. Dann hob sie sich zu ihm und küßte ihn schnell.

Er sah ihr nach, wie sie straff und eilig an den leeren Tischen entlangging und, ohne sich noch einmal umzusehn, hinter den Säulen verschwand.

 

Inzwischen hatte sich der Klavierspieler eingefunden und phantasierte ein schauriges Potpourri. Dann erschien die Direktrice mit ihrer Schar und nahm mit dem Conférencier, dem Maler, dem Hausdichter und Mister Russell an einem Tisch mitten im Zuschauerraum Platz. Wendelin kam an einen Seitentisch zwischen Eißner und den berühmten Hamburger, der von seinen Intimen Hannchen genannt wurde und den jungen Nachbarn mit derselben komisch zarten Höflichkeit anredete und unterhielt, mit der er vorzutragen pflegte. Karola und die Freo waren noch abwesend.

Auf der Bühne erschien ein junges flachshaariges Personellen in rührendem Schulmädchenkleid mit breitem weißem Umlegekragen. Sie sang Wedekinds ›Ilse‹ mit dünner Stimme und schüchternen Gesten. Der Conferencier applaudierte lebhaft: »Also das Fräulein Hartmann, die find ich einfach großartig.«

»Dann sollten wir sie vielleicht nicht als erste Nummer geben«, sagte die Direktrice.

»Doch, Geliebteste, doch. Und ich sag dann zu dem Publikum: Meine Herrschaften, jetzt kommt eine Debütantin, und da passens auf, die ist noch nicht verdorben von unserer Patronin, die tut Ihnen das Herz umrühren ohne die mindeste Hysterie, und da heutzutag das Schlichte die höchste Sensation ist, so werdens schon merken, daß es das Fräulein faustdick hinter den Ohren hat wie das selige Gretchen. Hast noch ein paar Liedl, Meta Hartmann?«

»Der Name gefällt mir nicht«, wandte der Hausdichter ein. »Kann sie sich nicht einen Bühnennamen geben?«

»Du sei still und dichte. Meta Hartmann find ich grade schön neben all den Lis, Lus und Gabys.«

Und Meta sang ihre beiden andern Lieder im frommen Mädchenton, dann bat sie, heimgehn zu dürfen, weil ihre Mutter immer aufbleibe und der Weg lang sei bis in die Frankfurter Allee.

»Eine raffinierte Person«, meinte der Conférencier.

Die nächste Nummer war ein kreideweiß geschminkter Pierrot in Schwarz, für den eine Mondlandschaft aufgestellt werden mußte. Der Maler ging in die Saalecke zum Maschinisten, um ihm Anweisungen für die Beleuchtung zu geben.

»Was wollten Sie mir denn heut früh telephonieren?« wandte sich Eißner an Wendelin.

»Ich soll zu meiner Mutter aufs Land.«

»Ich weiß schon, sie hat mir geschrieben.«

»Und da wollte ich vorher noch eine kleine Reise machen.« »Weiß ich auch schon, zu meiner Frau. Jutta hat mir ebenfalls geschrieben. Mein lieber Wendelin, daraus wird nichts. Ich habe nichts dagegen, wie Sie wohl denken können, Sie müssen aber eine ganz andere Reise unternehmen.«

»Ich wollte auch von einer andern sprechen.«

»Nun und?«

»Für die brauche ich Geld und Paß.«

»Aber, liebes Kind, das überlassen Sie doch mir, wir fahren ja zusammen.«

»Wir zusammen –?«

»Sind Sie denn noch nicht über Ihr Schicksal unterrichtet?«

Das Gespräch wurde unterbrochen durch die Musik und die ersten Grimassen des Weißschwarzen auf der Bühne. Wendelin konnte nicht auf die Mondlieder achtgeben, so erschrocken und gespannt war er. Er starrte auf die Stufen der kleinen Treppe neben der Bühne. Hinter erledigten Kulissen, die den Garderobenzugang verbauten, tauchten jetzt die Freo und Karola auf. Die Freo war in einem schuppigen Goldhemd. Sie winkte ihm aufmunternd zu. In Karolas geneigtem Gesicht war nichts zu lesen.

Der Pierrot klagte über die Beleuchtung und stritt mit dem Maler.

»Ihr mit euren Faxen«, rief der Conférencier. »Bitt schön, Mister Russell, macht man bei euch in Europa im Kabarett so viel Umstände?«

Mister Russell erinnerte an die neapolitanische Piedigrotta, die ihre Mondscheinlieder vor einer einfachen, altertümlich bemalten Leinwand ohne weitere Lichteffekte singe.

»Kinder«, sagte die Direktrice, »wir sind nicht in Neapel und nicht in Paris, wo alles so aussehn darf, wie es ist, und auf der Straße gerade so viel Komödie gemacht wird wie auf den Brettern. Wir müssen chargieren, damit unsere armen Berliner überhaupt etwas merken.«

»Wendelin weiß ja noch gar nicht Bescheid«, sagte Eißner zu den beiden Frauen, die an den Tisch traten. Fancy blickte schnell zu Karola hin: »Ich werde ihn unterrichten.« Wendelin mußte aufstehn und ihr in den Hintergrund folgen. Er lehnte an einer der Säulen, und sie legte rechts und links von ihm die Arme auf die Balustrade. Klirrend umglitzerten und streiften ihn die kühlen Pailletten.

»Wir haben uns etwas Schönes für Sie ausgedacht, Karola und ich. Wir wollen in Eißners Auto gen Süden, von dem Gewaltigen und Ihnen behütet. Sind Sie auch so entzückt, wie sich's gehört?«

»Ich muß mich erst an den Gedanken gewöhnen«, sagte Wendelin verlegen.

»Ja, tun Sie das. Und durchkreuzen Sie nicht unsre raffinierte Diplomatie. Wir werden dafür sorgen, daß Sie bald nicht mehr wissen, wen Sie lieben und wer Sie liebt.«

»Fancy«, rief die Direktrice laut durch den Saal. »Willst du nicht gefälligst auftreten? Du bist dran.«

»Nur keine jüdische Hast.« Fancy ging bedächtig auf die Bühne.

Während sie sang, blieb Wendelin an seiner Säule stehn und versuchte vergeblich, sich in all dem, was über ihn hereinbrach, zurechtzufinden. Die Freo sang das Lied vom kleinen Mann, das der Hausdichter nach dem französischen Kinderlied in ein zwinkerndes und oft recht unzweideutiges Deutsch übertragen hatte. Ihr engelreines Gesicht, die raschen, scheinbar harmlosen Gebärden ihrer Hände, die an den Goldschuppen empor- und herabglitten, die gesprochen angefangenen und getragen zu Ende gesungenen Verse hatten großen Beifall. Wendelin hörte fast nichts, er sah nur eine gespenstische Pantomime.

Als das Lied aus war, ging er auf Zehenspitzen an den Tisch und setzte sich neben den Hamburger, der ihn so ansah, als wäre er eingeweiht. Karolas Profil war ihm durch Eißners massige Gestalt verdeckt.

»Ich habe da noch zwei harmlose Wiegenlieder aus Mutters Zeiten«, sagte die Freo auf der Bühne.

»Nur zu! Mutters Zeiten waren recht schlimm, so mit Chahut und ›Vater siehts ja nicht‹.« Die Patronin lüpfte seitlich mit heftigem Ruck ihre Seidenmassen.

»Schlaf holder Engel, sanft und mild,
Du deines Vaters Ebenbild.
Das bist du, zwar dein Vater spricht,
Du habest sei–eine Na–ase nicht.«

Schon die erste Strophe begeisterte die Kunstrichter.

Das zweite, noch ältere Lied schien ganz aus Unschuld und Sternenschein gewoben. Die meisten kannten es nicht. Nur Eißner summte mit und erklärte: »Das hat meine selige Mutter gesungen.«

Als dann aber gegen Ende die koketten Zeilen kamen:

»Aus der Zofe Gemach
Tönt noch ein schmerzliches Ach.
Was für ein Ach mag das sein?
Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein«

wandte sich der Hamburger mit feinem Lächeln zu Wendelin und sagte: »Da sehen Sie, verehrter Herr von Domrau, wie früh die hinterlistige Verführung beginnt. Schon unsere Amme verlangt, daß wir auf die besondern Seufzer des andern Geschlechtes aufpassen.«


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