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IX

Wendelin stand auf der Brücke und sah übers Geländer. Streifen von Mond- und Laternenlicht glitten auf dem Kanal. Er glaubte im Wasser seinen Schatten zu sehen, Hut, Schultern und Umriß eines düsteren Gesichts. ›Ach, wegwerfen das kaum begonnene, das Leben?‹ Ihm war so alt zumute und heimatlos. War er denn wirklich dieser junge Zimmermieter und Student, dieser Kost- und Schlafgänger von Berlin? Lag er nicht längst in einer Familiengruft oder unter alten Kirchenfliesen? Wo kam er jetzt noch her?

Von der ersten Kinderzeit wußte er nur noch Bäume und Rasen eines Parkes in Hannover, die sich aber längst mit Bäumen und Rasen anderer Parks vermischt hatten. Der Name war ihm geblieben, schön und unverständlich: Eilriede. Dann kam das Berliner Schulknabenzimmer und die Hoffnung, auch bald ein Leben in fernen Ländern zu führen wie der Vater. Er ließ sich gar nicht auf viel Heimat ein, und die Güter der Vetternschaft im nahen und ferneren Osten waren nur Ferienglück. Als er seine ersten lateinischen Vokabeln lernte, starb der Vater, und als er vierzehn Jahre alt war, verschloß der Krieg die fremden Länder.

Aber warum war denn heute die viele schöne Gegenwart mit Freunden und Frauen wie verloren? Er brauchte ja nur zu dem Gegenwärtigsten von allen, zu Donath, zu gehen, der ihm helfen konnte, der ihn liebte, nicht so unbegreiflich und grundsätzlich wie Clemens, nicht so schicksalhaft wie Karola. Karola – hätte er sie doch nicht fortgelassen, wäre sie doch gleich mit ihm weggereist ohne Plan und Gepäck hinein in das Verhängnis! ›Ich muß zu ihr, ich muß Entscheidung haben.‹ Keine hundert Schritt von hier war ihr Zimmer, und wenn sie auch gesagt hatte, sie werde ihn erst morgen wiedersehen, sie erwartete vielleicht von ihm, daß er sich nicht gedulde, daß er einfach komme.

Er ging in das Restaurant zurück und telephonierte.

Odas Stimme: »Wendelin, eben hat Eißner bei uns angefragt, ob wir wüßten, wo du bist. Du sollst zu den andern. Komm doch gleich herauf, Karola wird dich abholen.«

»Wo ist sie denn?«

»Sie ist mit Eißner –«

»Mit Eißner?«

»Ja, und mit vielen andern. Komm schnell, ich mache dir auf.«

Karola mit Eißner! Ihm war grausig. Er hatte gedacht, sie läge in ihrem Zimmer und wartete auf ihn.

Durch die Glasscheibe der Haustür sah er ein helles Pünktchen herniederkommen wie ein Irrlicht, und dann erschien Oda mit der Kerze. Wie rührend und eigen sie war in dem weichfaltigen Hauskleid, gebrechlich und üppig zugleich, nicht straff und geschmeidig wie Karola und Margot, nicht trag verlockend wie Magda. Während sie, am Treppengeländer tastend, Kerze und Profil ihm zugewandt, vor ihm ging, mußte er an seine kleine Mutter denken und hatte Lust, das weiche Wesen da in seine Arme zu nehmen und hinaufzutragen, wie er es manchmal mit der Mutter auf der Freitreppe im Haus des Onkels getan hatte. Er fragte sie nicht weiter nach Karola, sondern nur nach dem Erwin und ihren Puppen, und als sie in die Wohnung traten, war er fast betrübt, daß sie ihn gleich zu Clemens führte und beide allein ließ. Im langen Schlafrock erhob sich Clemens, überließ dem Wendelin seinen Sitz am Schreibtisch und stellte sich an den Ofen.

Wendelin sah vor sich den Homer aufgeschlagen und daneben ein Schulheft.

»Du übersetzt?«

»Das ist zu viel gesagt, ich denke nach und notiere Möglichkeiten. In der alten Welt gab es etwas, das hieß Gewicht der Worte. Die Längen und Kürzen wurden bestimmt durch eine Schwere oder Leichtheit. Quantität war ein Gesetz. Heut ist ihre Beachtung nur noch fakultativ wie vieles, was einst Prinzip war; wir zählen und betonen. Das Ablösbare, Zahl und Bedeutung, hat das leibliche Wesen verdrängt. Ich denke manchmal, es wäre besser um uns bestellt, wenn wir noch Quantität der Silben hätten, nicht nur um unsere Verse, sondern auch um Staat und Kirche und Volkswirtschaft, ja sogar um die privaten Gefühle. Ich habe nie verstehen können, daß das Wort ein leerer Schall sei. Füllt nicht jeder Schall? Ein Zauber ist das Wort, und wer eines zitiert, sollte sich der Gefahr und Gnade bewußt sein. Zitieren heißt Geister beschwören. Siehst du, nun sitze ich hier und will das Unwägbare wägen, scheingläubig, wie es dem Lehrling der Heiden geziemt.«

»Kannst du nicht auch mir wägen und wählen helfen?«

»Was denn?«

»Meine Fähigkeiten und Chancen für einen Beruf.«

»Dein Beruf ist, schön zu sein. Damit ist alles gesagt. Die Schönen sind zugleich die Guten, oder die Welt wird immer wieder ein armer Zank zwischen dem braven Gott und dem schlimmen Teufel, ein immer wieder abgebüßter Sündenfall. Schön sein ist eine Gabe. Jede Gabe ist eine Aufgabe. Schönheit ist auch Verzicht und kann Opfer werden. Täglich mußt du dich für sie zusammennehmen und gehenlassen, leicht und fest, wie der Starke seine Muskeln lockert und spannt. Aushalten mußt du es, geliebt zu werden. Du mußt die Bildsäulengeduld der Götter haben und kindliche Demut. Immer arm mußt du sein, weil du immer alles gibst, immer reich, weil alle immer von dir haben wollen. Du darfst nur zu den Menschen gehn, wenn du beglücken kannst, denn du bist ihnen ein erlesenes Fest oder du bist nichts. Laß dich schaffen von ihnen, die andern sind klüger, dich erbauen wie ein Heiligtum, dein Geist ist nur deines Leibes Tempelhüter. – Mein liebes Kind, wenn du wüßtest, wie einfach und nüchtern alles ist, was ich dir kompliziert und pathetisch auszudrücken scheine, würdest du nicht so erschrocken dreinschauen. Du wunderst dich vielleicht, daß ich dir früher nie so etwas gesagt habe. Es war noch nicht nötig, erst jetzt bist du in Gefahr. Bisher konntest du, was man dir brachte, hinnehmen und zurückschenken, reicher, als du es bekamst. Jetzt aber ist ein Wesen in dein Leben getreten, das dich bedroht, weil es besitzen und besessen sein will, gib acht, gleich wird alles um dich her Besitz und Besessenheit.

Nach deinem Beruf fragst du. Dein Beruf ist, nichts zu haben für dich, nicht einmal dich selbst. Ein Königs- oder Kirchenlehen ist aller adlige Besitz. Der echte Edelmann gehört seinem Hörigen, wie der Befehlende dem gehört, der das Befohlene tut. Einen Beruf wählen? Du hast nicht zu wählen, du bist erwählt. Berufswahl – wo las ich doch zuletzt dies törichte Wort? Richtig, auf einer Zigarrenkiste. Es ist eine billige Sorte. Ich erinnere mich auch, wer die Kiste öffnete und von Berufswahl anbot. Es war ein Müllkutscher, den ich vor seinem Wagen auf der Straße traf. Er war mit mir in dem Allerweltskriege zusammen auf einer Landsturmwache gewesen und freute sich über das Wiedersehn. Er fragte, wie es mir gehe, was ich verdiene; ihm ging es gut, er konnte mir eine Zigarre anbieten aus seiner Kiste ›Berufswahl unsortiert‹.

Solltest du etwa mit Beruf einfach Geldverdienen meinen, so wirst du wohl bessere Berater finden als mich. Ich bin ein Beamter und werde vom Staate dafür bezahlt, daß ich aus jungen Menschen Philologiekandidaten mache. Es fragt sich, ob ich meinen Posten gut ausfülle, ich erzähle meinen Schülern zu viel von Dingen, die sie nicht zum Examen brauchen; zu einem Ordinariat werde ich es höchstens durch Anciennität bringen. Zum Glück gibt es noch ein paar Wohlhabende, die mir ihre Kinder zu Nachhilfestunden anvertrauen. Ich verdiene nicht viel; da ich aber keinen Hecktaler finde, habe ich beschlossen, das Leben zu genießen.«

»Genießen?«

»Ich fand einmal auf einem Abreißkalender den Spruch: ›Genieße froh, was du nicht hast.‹ Diese Fassung war vermutlich durch Auslassen einer verständigen Mitte entstanden, es sei denn, daß da jemand schon so witzig war, wie ich gewitzt werden sollte. Seit ich diese Moral aufgefaßt habe, kann mir die Armut nichts mehr antun. Ich brauche nicht in Läden zu treten, mir genügen Schaufenster, Auslagen, die riesigen Stilleben von Würsten und Weintrauben, rosa Lachs, Melonen und Bananen, gespreitete Stoffe, schlängelnde Krawatten, schmiegende Pelze, lastende Lederjacken. Mir genügt das Schauspiel der Aus- und Eingänge. Drehtüren schaufeln mir Diplomaten und Herzoginnen, junge Boxer und Dollartöchter zu. Ich brauche nicht in den großen historischen Film zu gehen, mir genügen die Renaissancebausche, Koller und Trikots der bunten Bilder am Eingang. Reklamen an Hinterhauswänden längs der Stadtbahn, in Wartehallen und auf Glasscheiben der Untergrundwagen, Titel, Aufschriften, Gebrauchsanweisungen, Abkürzungen, da hast du ja das ganze Gegenwartsleben, ablesen kannst du es im Vorübergehn, brauchst nichts anzufassen, es zerfiele dir doch nur in den Händen zu grauer Asche der Vergangenheit. Nimm nichts, sonst mußt du es wegwerfen wie neulich der rasend gewordene Dielenbesitzer, der allen Schmuck seiner Geliebten, Perlen, Ohrringe, brillantenbesetzte Uhren, in großem Bogen, Stück um Stück, in den Kanal warf.«

»Du bist schon frei, Clemens, schon jenseits. Aber ich –« »Nicht jenseits, ich bin mittendrin, nur weiß ich, daß alles Gegebene schon Erinnerung ist; darüber zu trauern oder zu frohlocken, bleibt uns überlassen, aber wir müssen es hinnehmen und können es genießen. Auch du! Geh doch um die Dämmerzeit durch die Straßen, sieh die blassen heimkehrenden Geschäftsmädchen, Burschen, die nebeneinander radeln und dabei ihre Arme kreuzen, Kinder beim letzten seligen Spiel, ehe sie ins Haus gerufen werden. Spüre das Abendfieber der wunderlich kleinstädtischen Großstadt in dem späten Rot hinter den Hochbahnbögen. Lerne spielend das Grausen von Inschriften an Hauseingängen: Zimmer für Tage, Monate und Wochen, Institut für funktionelle und seelische Störungen, Suggestion von zehn bis sechs, Haarwuchs, Lebensversicherung, Beinleiden, Frachtverwertung, Höhensonne in Kräuterbädern Seitenflügel rechts giftfreies Verfahren, Leichentransport an alle Orte der Welt, Preßluft, Briefmarkenexpertise, Müllereibedarf. Ist das nicht Quintessenz? Geh in die Vorstädte, sieh Väter säen neben dünnen Lauben, Kinder auf braunem Sand. Geh mit Bahnsteigbillett zu den Fernzügen: Wieviel Pracht und Elend und Schicksal von Warschau nach Paris, von Stockholm nach Rom. Und die Züge mit Ferienkindern, am Fenster die mageren Girlanden der Ärmchen. Rede berlinisch mit Trambahnschaffnern über Politik und Gewerkschaften, geh in die Abendversammlungen der Heilsarmee. Das Leben ist überall für dich da, gratis zu jeder Tageszeit, nur laß dich nicht ein, genieße alles, besitze nichts. Besitz beraubt.«

»Wenn ich aber liebe, begehr ich doch. Wie kann man lieben, ohne besitzen zu wollen?«

»Du fragst erschütternd. Ist hier meine Schwäche? Ich habe es wohl nie begriffen, daß zum Lieben Besitzen gehört. Da müßte man sich ja das geliebte Wesen aneignen und also enteignen, und was man mit sich vereint, das ändert man. Ich aber möchte alles erhalten, wie es mir erst erschien.«

Er lächelte etwas verlegen. »Karola sagt, ich sei im Tiefsten träge. Jede Möbelumstellung im Zimmer, auch die sinnvollste, ist mir schmerzlich. Und sie selbst richtet alle Vierteljahr eine andre Dame in ihren Räumen ein. Ich habe langsam alle die neuen Frauen, in die sie sich verwandelte, nachgelernt, meine Liebe trottet hinterdrein, aber sie eignet nicht an. Erst hat Karola es mir leicht oder doch selbstverständlich gemacht, sie zu lieben. Sie kam zu mir in einer Schar von jungem Volk, das ein freundliches Vergnügen daran hatte, meine Stille zu überfallen. Aber während mich die andern mehr als wunderlichen Einsiedler behandelten, hatte sie in Blick und Gebärde eine Vertrautheit mit mir und meiner Welt, die mich überraschte. Trotzdem fiel es mir nicht ein, sie allein zu mir zu bitten. Da führte sie eines Tages Zufall oder vielleicht Absicht ohne die andern her, und dann kam sie oft. Als sie einmal ausblieb, war mir der Gedanke unerträglich, es könne eine Zeit kommen, da ich nicht mehr in den seltsamen Zusammenklang von dunkelblonder Haut und mattblondem Haar, nicht mehr den großaushaltenden Blick der Augen, nicht mehr die milde und trotzige Wucht der geraden und wunderbar abgerundeten Nase mit den kleinen Nüstern sehen sollte. Das begreifst du?«

»Sehr«, sagte Wendelin und hatte das Gefühl, daß auch er nie von Karola lassen könne.

»Obwohl ich wußte, daß sie viele Freunde hatte, die sicher für Liebe und Ehe geeigneter waren als ich, obwohl alle Umstände und Verhältnisse eher ungünstig waren, sagte ich ihr einmal in dem ruhigen Ton all unserer Gespräche – wie sollte ich auch einen andern finden? –, ich könne mich nicht von ihr trennen, worüber sie sich gar nicht wunderte. Schon zwei Monate nach diesem merkwürdigen Morgengespräch saßen wir Hand in Hand in dem schönen Vorderzimmer dort, wo jetzt ein fremder Mann wohnt. Wir blieben Tag und Nacht zusammen, manchmal ist sie sogar in mein Kolleg gekommen. Ich arbeitete viel besser, wenn sie nahe bei meinem Tisch auf dem Diwan lag, es war stiller im Zimmer. Es kam die Zeit, da sie ihre Kleider ändern mußte. Sie war herrlich anzusehn in einer Brokatweste und weitem Rock. Sie trug große altertümliche Ohrringe. Wie eine Zarin war sie, die ihr Fürstenkind erwartet. Ich bekam eine scheue Andacht. Mein Lager wurde in einem andern Zimmer aufgeschlagen. – Zu dem Kinde hatten Karola und Oda dann eine Zärtlichkeit, sanft und ungestüm, vor der ich staunend stand, ohne sie mitmachen oder nachahmen zu können. Ich liebte den kleinen Erwin sehr und sah ihm zu, wie er sich mit Würde und Eifer in der Welt zurechtfand, ich machte auch gern den Helfer und Zureicher bei seinen ersten Spielen, aber eben nur wie der sogenannte Partner im Variete dem auftretenden Spezialisten behilflich ist. Das Kind an mich zu pressen, mit mir herumzutragen, zu liebkosen, das war mir nicht natürlich und blieb bei zaghaften Versuchen, über die Oda und Karola lachten. ›Es ist doch dein Kind‹, sagten sie dann fast vorwurfsvoll und fanden es empörend, wenn ich gestand, daß ich mit fremden Kindern leichter spielen könne.

Nun folgten die Wirtschaftskrisen, in denen auch wir das Ererbte einbüßten und von Verdienst leben mußten, ein zweites Kind konnten wir nicht haben, wir waren kaum imstande, das eine so zu pflegen und zu kleiden, wie es seine holde Babymajestät verlangte. Wir mußten lernen, einander scheu auszuweichen in dem, was sonst seligste, vertrauendste Hingabe war, und diese Entwöhnung, Einschränkung, Vorsicht hat etwas in mir vereinsamt und mich fremd gemacht, nicht nur dieser einen Frau gegenüber, sondern dem ganzen Geschlecht. Es ist ein Grausen in der Lust, die zerschellt, verbrandet, statt zu münden. Töten möchte sie, da sie nicht Leben geben kann. Und wo er nicht vernichtet noch vernichtet wird, bleibt der Betrogene seines eigenen Übermaßes in einem Gemisch von Haß und matter Zärtlichkeit zurück.

Seit ich mit der Lieben, deren Wärter ich bin, nicht mehr die große unbewußte Gemeinsamkeit des Schlafes habe, gehn auch unsere Tageswege nicht mehr im gleichen Schritt. Aber ich sehe ihr zu von nah und weit. Sie ist mir wieder ganz Erscheinung wie im Anfang. Sie spielt und tanzt und weint mir das Leben vor. Und würde sie einen andern lieben, so müßte ich auch ihrer Liebe zuschauen. Ach, vielleicht liebt der Zuschauer noch in weiterem Umfange als der Liebhaber. Er wird eins mit allen Dingen, die die Geliebte berührt, er ist ihr Lager, ist die Luft, die sie atmet, ist alles, was der Liebhaber begehrend verdrängt. Und am Ende liebt er den Liebenden mit und fängt, ein seltsamer Polyphem, beide, Acis und Galathea, in seinem Netz.«

»Dann könntest du doch auch mich, mein Gefühl für Karola, dulden, segnen –.«

»Nein, du darfst nicht Liebender sein, du bist ein Geliebter.«


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