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5

Im Tal war es unruhig. Seit einigen Tagen waren die Wirtschaften überfüllter als sonst. Man sah unter den Arbeitern finstere und erhitzte Gesichter, und in den Fabrikräumen standen oft während der Arbeitszeit heftig gestikulierende Gruppen zusammen, die der Aufforderung der Werkmeister, auseinanderzugehen und die Hände zu rühren, nur widerwillig folgten. Man wußte, daß große Warenbestellungen aus London, Paris und Amerika eingelaufen seien, daß die Fabrikanten sich zu einer goldenen Ernte rüsteten, und man wollte auch seinen Teil an der reichen Konjunktur. Die Arbeiter formulierten ihre Forderungen. Höhere Löhne, verkürzte Arbeitszeit und ausgiebigere Bezahlung der Überstunden wurden verlangt. In einigen Betrieben Elberfelds kam es zu Arbeitseinstellungen, Betriebe in Barmen folgten. Streikluft lastete über dem Tal.

Ewald Wiskotten lief seit dem Tage, an dem die Hand der Mutter die Auseinandersetzung seiner Wünsche so rasch unterbrochen hatte, verstockt umher. Aber in ihm gärte es, und in seinem Kopfe arbeitete es fieberhaft. Es war, als ob die aufreizende Stimmung im Tal den Revolutionsprozeß in ihm beschleunigte. Dort, hinter den Bergzügen, breitete sich die niederrheinische Tiefebene. Dort lag Düsseldorf, die Stadt der Künste. Dort lachte die Freiheit.

Es war Mittag. Im Herzen der Stadt, auf dem alten Markt, sammelten sich Arbeitergruppen. Ruhig und ernst standen sie da, nur durch ihre Zahl demonstrierend. Ewald Wiskotten bemerkte ein junges Mädchen, das ohne Scheu den menschenerfüllten Platz überquerte. Man rief ihr Scherzworte nach, man machte ihr, wie einer Dame, mit übertriebener Höflichkeit die Bahn frei. Sie achtete nicht auf das eine und nicht auf das andre und verfolgte ruhig ihren Weg. Der junge Mann eilte hastig auf sie zu und bot ihr den Arm. Das gab der Ansammlung Stoff zu Gelächter und einigen anzüglichen Redensarten.

»Aber Anna«, sagte Ewald Wiskotten, »an solchen Tagen bleibt ein junges Mädchen zu Haus.«

»Mir tun sie nix«, antwortete sie.

»Aber wenn dich einer angefaßt hätte«, beharrte er.

»Davon wär' ich auch nicht gestorben. Nur, daß er seine Ohrfeige weggehabt hätte.«

»Das paßt sich aber nicht für ein Fräulein.«

Sie zog ruhig ihren Arm aus dem seinen. »Hast du Furcht?«

»Pah!« machte er. »Ich wollt' nur, dich hätt' einer angefaßt. Dann hätt'st du was erleben können.«

»Hätt'st du dazwischengehauen?«

»Und ob ich gehauen hätt'! Dich aber nachher extra.«

»Mich – –?« Dann gab sie ihm die Hand. »Bist doch der brave Jung' geblieben.«

»Wieso: geblieben? Hast du denn geglaubt, ich hätt' mich geändert?«

»Nein«, lachte sie auf, »du trübst kein Wässerchen. Du hattest nur so arg viel für dein Examen zu tun, weil du gar nicht mehr kamst, um – um dich nach Ernst zu erkundigen.«

»Geht's ihm gut?« fragte er verlegen.

»Danke«, erwiderte sie trocken. »Ich will gerad' nach Düsseldorf fahren, um nachzusehen.«

»Grüß ihn von mir. Hörst du? Und sag ihm, ich käm' auch bald.«

Er stieß es so schnell und heimlich hervor, daß sie ihn überrascht ansah. Seine lange Gestalt hatte sich gereckt. Sein Knabengesicht, das sie so gern mochte, hatte einen fremden Zug.

»Du willst fort?« fragte sie hastig. »Und – nach Düsseldorf? ... Dann kommst du nicht wieder.«

»Freiwillig nicht! Ach, du, wie kann man nur an dieser schwarzen Wupper, unter diesen stumpfsinnigen Menschen leben, die von höherer Kultur ja keine Ahnung haben.«

»Wir leben auch hier«, sagte sie und beschleunigte ihren Schritt.

»Du, Anna, das ist auch der einzige Lichtblick, den ich gehabt hab'. Wenn ich zu euch in den Garten kam und balgte mich mit dir im Gras, oder wir saßen, wenn es kalt wurde, in der Küche bei deiner Mutter und sahen gierig zu, wenn sie uns ›Äpfel im Schlafrock‹ briet. Das ist eine Ewigkeit her.«

»Ein paar Jahr' ist's her. Red doch nicht so albern, als ob du ein Greis wärst.«

»Du«, sagte er ärgerlich über ihren Ton, »ich bin nicht mehr auf der Schule.«

»Nee«, erwiderte sie, »man hat dich zu früh herausgelassen. Das hört man.«

»Gott«, sagte er mit dem Bemühen, obenhin zu reden, »du bist auch so eine waschechte Wuppertalerin. Das besagt alles.«

»Und du? Du bist wohl im Himmel geboren? Und wenn du dich mit Luhns Kernseife wäschst, das Wupperwasser von der Taufe her kriegst du auch nicht herunter.«

»Das werden wir ja sehen«, meinte er hochfahrend. »Wenn meine liebe Familie glaubt, sie kann mit mir machen, was sie will, dann irrt sie sich. Meinetwegen mag der August umsatteln und Theologe werden. Ich werd' Maler.«

»Tu's nicht, Ewald«, bat sie, und ihr Ton war ein ängstlicher.

»Ich werde ein großer Figurenmaler.«

»Ernst meint, es reicht nicht aus.«

»Euer Ernst! Der soll sich mit seiner Weisheit begraben lassen. Der bummelt doch nur.«

»Aber er kann was!«

»Und ich will's euch schon zeigen! Und wenn ihr alle zusammen Zetermordio schreit. Ich hab' den Wiskottenschen Dickkopf.«

»Ja«, sagte sie, »den hast du.«

Sie standen vor dem Barmer Bahnhof, und sie reichte ihm, ohne ihn anzusehen, die Hand zum Abschied. Aus ihrem Mädchenherzen waren ihr ein paar Kindertränen in die Augen gestiegen. Und sie empfand plötzlich mit rätselhaft schwerem Gefühl, daß es die letzten Kindertränen seien. Ihr fröhlicher Kindheitskumpan war er nun nicht mehr.

»Adieu, Ewald.«

»Adieu, Anna.«

Er sah ihr nach, wie sie schlank und jugendfrisch die Halle betrat. Eine Beklemmung kam über ihn. Nun wandte sie sich um. »Viel Glück«, rief sie ihm zu und versuchte ein Lächeln. Da machte sich der große Mensch aus dem Staube. Er hätte heulen mögen wie ein Schulbub' und wußte nicht warum. – –

Am Nachmittag saß Gustav Wiskotten im Privatkontor seinem Bruder August gegenüber. Sie lasen die englische Post.

»Alle Achtung!« brummte Gustav und strich sich erfreut den Schnurrbart.

»Was meinst du?« fragte August und blickte von der Korrespondenz auf.

»Der Wilhelm versteht's. Ich muß ihm die englischen Bartkoteletten vergeben. Eben ist er drüben, und er geht mit den Inglischmen ins Zeug, daß ich vom Lesen der Orders schon Schwielen an die Hände kriege. Na, jetzt heißt's: Überstunden, Nachtschicht, daß die Heide wackelt.«

»Wenn die Arbeiter nur mittun.«

»Was –? Du denkst doch nicht daran, daß unsre Kerls sich der Streikbande anschließen? Nee, mein Junge, da kennst du Buchholzen schlecht.«

»Die Art Leute ist immer unzufrieden. Wo sie glauben, im Trüben fischen zu können, da tun sie es.«

»Man soll eben dafür sorgen, daß nix Trübes da ist. Dann hört die Fischerei von selbst auf. Bei uns ist klar Gewässer.«

»Wenn du dir nur nicht mit deinem klaren Gewässer die Augen klar waschen mußt.«

Gustav Wiskotten erhob sich und öffnete die Tür zum großen Kontor. »Paul, gib mal die Lohnlisten her. Danke. Nun kannst du mal eben den Fritz aus dem Laboratorium rufen.«

Als die Brüder das Privatkontor betraten, hatte er die Lohnlisten durchgesehen und sich Notizen gemacht.

»Hör mal einen Augenblick mit deiner Schreiberei auf, August. Setz dich, Fritz. Paul, du kannst auch bleiben.«

»Um es kurz zu machen: Wir haben in der Textilbranche eine Hausse wie seit Jahren nicht. Und wie die Anzeichen lauten, wird sie sich noch ganz beträchtlich auswachsen. Unterdes wird auch der Neubau zum Betrieb herangezogen werden können. Einstweilen heißt es, mit Todesverachtung arbeiten, Tag und Nacht, damit wir mitkommen. Ich werde meinen Stammtischschoppen einstellen, August wird die Güte haben, sich von seinen Presbytern zur beurlauben, Fritz wird sein Reitpferd in Pension geben, und Paul wird das Dichten vertagen. Es hat also jeder auf sein Privatvergnügen Verzicht zu leisten, da es sich um den Mammon handelt. Unsre Arbeiter haben während der Zeit ebenfalls auf ihr Privatvergnügen Verzicht zu leisten, und damit sie ebenso wissen, daß es sich um den Mammon handelt, schlage ich vor, die Löhne wie die Überstundengelder um zehn Prozent zu erhöhen. Seid ihr einverstanden?«

»Um zehn Prozent gleich?« meinte August mißbilligend.

»Ja, mein Jung', an einer alten Hose zu Weihnachten wird ihnen nix gelegen sein.«

»Könnten wir nicht erst mal ihre Forderungen abwarten?« riet Fritz. »Vielleicht machen sie's billiger.«

»Forderungen? Was für Forderungen? Wer hat denn von mir was zu fordern? Das wäre eine nette Wirtschaft, wenn ich meine Leute so hungern ließ', daß sie was zu fordern hätten. Ich bin nicht nur ihr Arbeitgeber, ich bin auch ihr Versorger. Und das wissen sie. Und so soll's bleiben. Wenn wir verdienen, sollen auch sie verdienen. Den Deubel auch, wie wollt' man sonst verlangen können, daß sie Pol halten, wenn mal schlechte Jahre kommen? Und freiwillig muß man's den Leuten geben. Damit sie allezeit das Vertrauen behalten. Dann gibt's auch keine Streiks.«

»Zehn Prozent!« – – wiederholte August Wiskotten kopfschüttelnd.

»Du wirst auch zehn Prozent Kirchensteuer mehr zahlen müssen, wenn dein Einkommen steigt.«

Fritz und Paul lachten, und August hielt es für richtig, wenn auch griesgrämig, einzustimmen.

»Also ihr seid einverstanden?« Gustav Wiskotten blickte von einem zum andern. »Schön. Dann will ich's gleich unter die Liste setzen. So: meine Unterschrift. Bitte, August, du zeichnest wohl gegen. Danke. Bei Feierabend soll es den Leuten in allen Fabrikräumen vorgelesen werden. Ich werde Kölsch Order geben, damit er sorgt, daß sie zusammenbleiben. Und nu: mit Gott, für König und Vaterland an die Gewehre!«

Es klopfte.

»Herein!«

Kölsch stand auf der Schwelle. »Kann ich Sie sprechen, Herr Wiskotten?«

»Was machen Sie denn für ein belämmert Gesicht? Wo brennt's?«

»In der Färberei, Herr Wiskotten.« Der Werkmeister war eingetreten und hatte die Tür hinter sich ins Schloß gezogen. Die Wiskottens sprangen auf.

»In der Färberei? Was heißt das –?«

»Kaum, daß der Herr Fritz heraus war, legte der Polacke, der Wisczkowski, die Transmission still, weil er reden wollte.«

»Himmelherrgott!« brauste Gustav Wiskotten auf. »Finger an meine Transmission?«

»Weiter, weiter, Kölsch!«

»Ich hörte sofort, daß da was nicht in Ordnung war, und lief hin. Der Polacke forderte gerade die Färber auf, die Arbeit einzustellen, um dadurch auf die Herren einen Druck auszuüben. Jetzt wär' gerad' die rechte Zeit. Heute nachmittag legten sämtliche Färber in Barmen die Arbeit nieder. Wer nicht mittäte, hätte kein Solidaritätsgefühl, und wer zu solchen Zeiten kein Solidaritätsgefühl hätte, sei ein Verräter und ein Schuft.«

»Haben Sie dem Halunken nicht sofort sein Arbeitsbuch zugestellt?« schrie Gustav Wiskotten.

»Im selben Moment, Herr Wiskotten.«

»Und was war dann?«

»Die Färber protestierten und verlangten die Zurücknahme oder auf der Stelle ebenfalls ausgezahlt zu werden.«

Gustav Wiskottens Stirn lief dunkelrot an, die Augen traten hervor, und sein Gesicht verzerrte sich.

»Herr Wiskotten! Ruhe! Sie müssen sich beruhigen! Geben Sie ein Glas Wasser her, Herr Paul!«

Gustav Wiskotten schlug dem Bruder das Glas Wasser aus der Hand, daß es gegen die Wand flog. »Laßt die Albernheiten! Ich bin doch kein Frauenzimmer, das Zustände kriegt?!« Er ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. »Ich kann's mir gar nicht denken. Gerad' die Färber, gerad' die alten Leute ...«

»Sie sind aufgewiegelt, Herr Wiskotten. Das liegt in der Luft und macht wie betrunken.«

»Gerad' die Färber – –«

August Wiskotten ging bleich und gefaßt zur Tür. Gustav vertrat ihm den Weg. »Wo willst du hin?«

»Ich will ihnen ins Gewissen reden, ich will, wenn es sein muß, ihnen mit der Bibel an den Kopf.«

»Damit sie dich auslachen und du ein für allemal deine Autorität verlierst! Nee, mein Junge, auf die Autorität kommt jetzt alles an. Jetzt helfen keine Bibelsprüche, jetzt hilft nur das Einsetzen der persönlichen Überlegenheit. Und nun bin ich ganz ruhig. Ich danke dir, August, hast es gut gemeint, aber das, was jetzt folgt, ist mein Geschäft. Bleibt ihr da, damit die Geschichte nicht zu wichtig aussieht. Kommen Sie, Kölsch.«

»Wir müssen uns beeilen«, sagte draußen der Werkmeister, »damit der Funke von der Färberei nicht auf die Bandwirkereien und Haspelstuben überspringt.«

»Keine Angst. Da sitzt die Mutter.«

Ohne Erregung und übermäßige Eile zu verraten, schritt Gustav Wiskotten über den Fabrikhof. An den Fenstern zeigten sich die neugierig starrenden Gesichter der Fabrikmädchen. Erschreckt fuhren die Köpfe zurück, als der Fabrikherr stehenblieb und mit erkünsteltem Staunen sie betrachtete. Aus dem Heizraum tauchte Christian auf.

»Soll ich mit, Herr Gustav?«

»Halt's Maul und heiz deine Kessel.«

Gustav Wiskotten klinkte die Tür zur Färberei auf und trat ein. Kölsch folgte und klinkte wieder zu.

Es war sonntäglich still in dem weiten Raum. Kein Schnauben des Dampfes, kein Klappern der Färberknüppel über den Bottichen. Nur eine dünne weiße Dampfschicht schwebte wie eine Spinnwebe durch die Halle und lag wie ein feiner Schleier über den Gesichtern der Männer, die feiernd an den Wänden standen, daß die Menschen blaß und unruhig erschienen.

Gustav Wiskotten ließ seinen Blick in die Runde gehen. Auf jedem einzelnen blieb er eine Sekunde lang haften.

»Wer hat hier Feierabend geboten?« fragte er.

Keine Antwort.

»Also: Wenn hier nicht Feierabend geboten ist, weshalb arbeitet ihr nicht?«

Verlegenes Schweigen. Dann rief eine Stimme: »Weil wir nicht wollen!«

Wiskotten blickte rasch hin. Es war der Polacke, der Rädelsführer.

»Wenn ihr nicht wollt, so ist das eure Sache«, sagte er kalt. »Aber meine Sache ist, dafür zu sorgen, daß mir die Partien in den Bädern nicht verderben. Das ist eine Pflichtvergessenheit, die ich euch nicht zugetraut hätte. Eure Arbeitskraft gehört euch, aber die Ware gehört mir und ist euch nur anvertraut. Und ich würd' doch lieber verrecken, als einen Vertrauensbruch begehen.«

Einer der Färber trat vor. Seine Stimme war ganz belegt vor innerer Aufregung.

»Herr Wiskotten, das würden wir auch. Anvertraut Gut ist heilig. Die letzte Partie ist vor einer halben Stunde herausgenommen und hängt auf den Stöcken.«

»Und was soll jetzt damit geschehen? Sollen die Heinzelmännchen kommen und schlagen und wringen?«

Der Mann zuckte die Achsel, warf einen hilfesuchenden Blick hinter sich und trat zurück.

»Also mit einem Wort: Ihr wollt nicht mehr arbeiten. Und den Grund? Den darf ich doch wohl erfahren?«

Ein Räuspern unter den Leuten, ein Ansetzen zum Sprechen, und wieder Schweigen.

»Ja, bin ich euch nicht mal wert, den Grund von euch zu erfahren? Oder soll ich etwa annehmen, ihr habt gar keinen ...«

»Wir haben schon einen Grund, Herr Wiskotten.«

»Aber wohl nicht den Mut, ihn zu nennen?«

»Auch den, Herr Wiskotten.«

»Na, dann laßt mal den Barthelmes vortreten. Der hat doch sonst immer ein gut geschmiert Maul gehabt, wenn es Bierreden galt. Nu soll er seine Kunst beweisen.«

Ein verstohlenes Lachen ging durch die Reihe der Leute. Dann schob man einen älteren Färber vor, mit vom Schwaden der Färberei gelichtetem Haar und hängendem Schnauzbart. Er protestierte, aber man schob ihn vorwärts: »Red, Barthelmes, du kannst et.«

»Ich hör' zu, Barthelmes.«

»Herr Wiskotten, et is – wie gesagt, et is wegen die vielen Aufträge, die doch nu mal da sind.«

»Wir haben auch früher nicht gefaulenzt. Wenn nix zu tun gewesen wär', wärt ihr auch nicht hier.«

»Dat stimmt, Herr Wiskotten, tat stimmt wie et Amen in de Kirche. Aber nu is mehr zu tun.«

»Gott sei Dank! Und dafür macht ihr Überstunden und verdient um so mehr. Stimmt das auch?«

»Nu wat dann?« schrie Barthelmes seinen Kameraden zu. »Hab' ich euch dat nich akkurat so gesagt?«

»Ja, wenn ihr das einseht«, meinte Gustav Wiskotten verwundert, »weshalb arbeitet ihr denn nicht?«

Der Pole Wisczkowski trat vor.

»Weil wir uns nicht mehr dumm machen lassen, Herr Wiskotten. Daß wir mit Überstunden verdienen, wissen wir selber. Aber daß wir in guten Zeiten Anrecht haben, mehr zu verdienen als in schlechten, und daß die Fabrikanten nicht allein den Profit einzustecken haben, das wissen wir nun auch.«

Gustav Wiskotten sah den Mann fest an.

»Hab' ich Sie gefragt, Wisczkowski? Oder hat irgendein Mensch Sie zum Reden aufgefordert? Warten Sie ab, bis die Reihe an Sie kommt. Ich werd' Sie schon nicht vergessen.«

»Ich kann hier reden wie jedermann.«

Gustav Wiskotten ging dicht an ihn heran und sah ihm in die Augen. Dann drehte er ihm den Rücken zu.

»Barthelmes!« rief er.

»Ja, Herr Wiskotten?«

»Denken Sie mal gefälligst nach. Für die andern, die Sie zum Sprecher ernannt haben, mit. Mit wieviel Lohn haben Sie angefangen? Und wieviel Lohn beziehen Sie jetzt? Nun –? Ist nicht in einem fort gesteigert worden, seitdem es mit der Fabrik und der Färberei vorwärtsgeht? Ist es auch nur ein einziges Mal dagewesen, daß ihr die Wiskottens um Zulage habt trietzen müssen? Oder sind die Lohnaufbesserungen immer von selber erfolgt? Wie –? Ja, es sind gute Zeiten gekommen, und die sollen, weiß Gott, nach Kräften ausgenutzt werden. Aber glaubt ihr denn, die guten Zeiten wären mit nix und wieder nix auszunutzen, und es schneite einem Brei in den Mund, wenn man ihn nur weit genug aufriß? Da! Schaut mal durch die Fenster! Da wird eine neue Färberei, da werden neue Fabrikräume gebaut. Da stecken wir das Geld hinein, damit es Zinsen trägt für uns und für euch. Jawohl, für euch ebenso. Denn wenn wir jetzt das Geld nicht riskierten, um durch ausgedehnteren Betrieb leistungsfähiger zu sein, würd' uns die Konkurrenz Hals über Kopp an die Wand drücken. Das sind die Vorarbeiten für die gute Zeit. Wieviel wir nachher auf die hohe Kante legen können, das richtet sich jetzt nach unsrer Arbeit. Ob wir anpacken oder ob wir nur in die Hände spucken. Ist einer unter euch, der sagen kann, die Wiskottens hätten sich ihren Mitarbeitern gegenüber je lumpen lassen? Ist einer da, der Angst hat und Vorschuß möcht'? Dann nur heraus mit der Sprache! Es ist ein Aufwaschen.«

Barthelmes hatte sich unruhig rückwärts bewegt. Es war ein erregtes Raunen unter den Leuten. Dann schob man den Mann von neuem vor. Diesmal zeigte er ein sicheres Auftreten.

»Herr Wiskotten«, sagte er ehrlich, »dat mit den vielen Aufträgen un den höheren Löhnen deswegen, überhaupt dat, wat ich da vorhin vorgebracht hab', dat war natürlich en hanebüchenen Unsinn. Wir sind immer zufrieden gewesen und sind auch jetzt zufrieden. Dat Zeugnis müssen wir Ihnen ausstellen. Wir waren nur ganz benebelt, als der Wisczkowski uns vorhin vorrechnete, wat für ein Geldspiel nu über Barmen käm', und dat wir et Fingerlecken hätten. Und dann – Herr Wiskotten – dat Solidaritätsgefühl, dat muß doch im mal sein.«

Gustav Wiskotten nahm die Lohnliste vor, die er mitgebracht hatte.

»Ich dank' Ihnen, Barthelmes, für das gute Zeugnis. Und damit ihr alle hört, daß wir euer Vertrauen wohl auch ein klein bißchen verdienen, möcht' ich mitteilen, daß wir, bevor ihr die Arbeit niederlegtet, also aus freien Stücken, sämtliche Löhne und Überstundengelder um zehn Prozent erhöht hatten. Hier, Barthelmes, Sie können hineinsehen. Da steht der Vermerk, von der Firma unterschrieben, in der Lohnliste.«

Barthelmes wehrte ab. »Herr Wiskotten«, stammelte er, »Donnerkiel, Sie müssen uns für 'ne nette Schwefelbande halten. Zehn Prozent!« Er wandte sich zu seinen Kameraden. »Aus freien Stücken ... O verdeck, ek wöll, ek wär' im Musloch ...«

Wisczkowski konnte nicht länger an sich halten.

»Seid ihr alte Weiber?« schrie er wütend. »Dann küßt doch dem Herrn die Hand und bedankt euch für gnädige Straf'! Oder seid ihr zielbewußte Männer! Hier handelt es sich nicht um uns, hier handelt es sich um die allgemeine Bewegung, um die Regelung der Machtfrage, um das Solidaritätsgefühl!«

»Wisczkowski«, rief Gustav Wiskotten hart, »Sie haben hier nix mehr zu suchen. Sie sind entlassen.«

»Was Sie nicht sagen, Herr Wiskotten! Wir entlassen uns selber, wir alle, und wir kommen erst wieder, wenn von sämtlichen Färbereien des Wuppertals der neue Lohntarif angenommen ist. Ohne Maßregelungen! Die gibt's nicht mehr.«

»Wisczkowski, verfügen Sie sich unverzüglich an die Kasse und lassen Sie sich Ihren Lohn auszahlen.«

»Hat Zeit, Herr Wiskotten, wir gehen alle zusammen. Die schönen Worte von ›freiwilligen‹ Lohnerhöhungen verfangen jetzt nicht mehr.«

Gustav Wiskotten wurde totenblaß. In seiner breiten Brust arbeitete es, daß es ihm den Atem benahm.

»Wa–as? Will mich der Halunke zum Lügner machen? 'raus!« donnerte er, »'raus, oder ek schmiet deck ruf, dat du Hals und Beene breeken sollst!«

Der Mann rührte sich nicht von seinem Platz.

»Kölsch! Tür auf!«

Der Färber grinste über das ganze Gesicht.

Da verlor Gustav Wiskotten die Besinnung. Mit einem Sprung war er vor und packte mit einem Griff den vierschrötigen Gegner bei der Kehle und mit dem andern beim Hosengurt. Seine Brust keuchte, die Adern liefen ihm wie blutrote Stricke über die Stirn. Es war ein furchtbares, lautloses Ringen um das Fußbreit Boden, auf dem man stand. Dem Polen traten die Augen aus dem Kopf, in seine Mundwinkel lief Schaum, er stemmte sich mit wilder Kraft gegen den Angreifer und versuchte, ihm die Handgelenke zu zerbrechen.

»Zurück!« schrie Kölsch, als die Färber Miene machten, die Ringenden auseinanderzureißen. Wie der Waffenmeister seines Herrn stand er neben ihm, jetzt wirklich ein graubärtiger Hagen. Er wußte, was es galt. Daß es hier um die Autorität des Herrn ging.

Gustav Wiskotten schloß die Augen. Einen Moment lockerte er seinen Griff, als sei er ermüdet. Der Gegner machte eine aufatmende, triumphierende Bewegung. Mit losbrechender Wildheit stieß Gustav Wiskotten zu, warf den Überrumpelten mit Ungestüm aus seinem Kreis, packte den nicht mehr Standhaltenden fester, daß die Füße des Gegners den Boden verloren, und warf ihn mit Anspannung aller Kräfte durch die offene Tür, daß der Körper des Mannes in dem vorgelagerten Aschenberg dumpf aufschlug.

Gustav Wiskotten drehte sich um. Sein Aussehen war schrecklich. Alle Muskeln seines Gesichts arbeiteten. Vom Schweiß verklebt, hing ihm das Haar in die Augen. Er nahm sein Taschentuch heraus, wischte sich die Stirn und rieb die Hände ab. Draußen liefen ein paar Arbeiter herbei, um dem Gestürzten aufzuhelfen. Aber der schwarze Christian stand neben ihm mit der Schippe.

»Dat keiner den gottverdammten Kerl anpackt! De kann gar nich besser liegen ...«

Und plötzlich begann in der Färberei Gustav Wiskotten zu lachen. Er stützte die Arme in die keuchenden Seiten und lachte mit stoßendem Atem, immer heftiger, immer schallender. Da gab es für die Färber kein Zurückhalten mehr. Sie drängten vor, sie streckten die Hände aus, ihre Augen leuchteten, ihre Gesichter lachten. »Herr Wiskotten – Donnerkiel, Herr Gustav!« Einer machte dem andern vor, wie der Polack gflogen wär. »Zu – hupp!« Und inmitten des Tumults schrie der Färber Barthelmes: »Unser Herr Gustav Wiskotten, und der soll leben: Vivat hoch! Und zum zweiten Male: Vivat hoch! Und zum dritten Male: Vivat hoch!« Das brauste durch die offene Tür über den Fabrikhof und drang in alle Räume, und im Privatkontor lachte den Brüdern das Herz im Leib.

»So«, sagte Gustav Wiskotten, »nun wären wir ja unter uns. Da werden wir uns auch wegen der Solidarität schnell verständigen. Barthelmes, wie lange sind Sie jetzt hier?«

»Werden im Mai fünfundzwanzig Jahre, Herr Wiskotten.«

»Und der Friedrich? Und der Karl Schlieper?«

»Ebenso lang.«

»Seht ihr! Und dann kommen ein paar mit zwanzig Jahren, und ein Dutzend zählen fast alle. Als meine Eltern anfingen, da war schon der Stamm von euch vorhanden, und ebenso in der Garnerei und Wirkerei. Keiner fehlt, oder der Tod hat ihn abgerufen. Dafür sind neue wackere Männer angetreten, die sich bald mit uns eins fühlten. In guten und schlechten Zeiten haben wir zusammengestanden; wenn ein faules Jahr kam, wir haben es getragen und euch nicht darunter leiden lassen, und wenn dann wieder ein gesegnetes Jahr kam, habt ihr gesorgt, daß der Segen auch hereinkam und der Fehlbetrag gedeckt wurde. So ist einer hier für den andern eingestanden, wir haben uns ineinander eingelebt wie eine Familie, und der Vatter und die Mutter waren auch euch Vatter und Mutter. In der Fabrik und bei euch zu Haus. Ob's da eine fröhliche Taufe galt oder ein ernstes Begräbnis, wir haben uns zusammen gefreut und haben zusammen getrauert. Und haben – zusammen gearbeitet! Ja, ist das Solidarität, oder ist das keine? Oder ist das Solidarität, wenn ihr plötzlich auf die alte treue Freundschaft pfeift und lauft mit dem großen Haufen, den ihr gar nicht kennt und der euch gar nix angeht, nur weil ein paar Schreier und Tagediebe das für die neueste Mode erklären? Ihr wißt, bei mir kann jeder eine Politik haben oder eine Religion, wie er will. Ich respektiere jede ehrliche Gesinnung, ob rot oder schwarz oder blau. Aber über das alles hinaus gibt es noch etwas Höheres: das ist die Politik der gemeinsamen Arbeit und des gemeinsamen Vertrauens! Das ist die wahrhaftige Solidarität! Und es war einmal ein Stolz, daß nicht nur wir sagten: wir sind Wiskottens, sondern daß auch ihr sagtet: Wir sind die Wiskottenschen!«

»Wird auch so bleiben, Herr Gustav!«

»Wir wissen, wat richtige Solidarität ist, und die Unsern zu Haus auch!«

»Nu lassen Sie mal dat Schimpfen, Herr Gustav!«

»Platz da! Riemen auf!«

Der Triebriemen flog über die Transmissionsscheibe, ein Hebeldruck, und fauchend und sausend, zischend, dampfend und klappernd wirkte der Geist der Arbeit durch den Raum, als wäre eine Pause gar nicht gewesen. Die Farbbäder kochten und brodelten, die Färberknüppel ratterten im Takt auf den Bottichrändern, und an den Pfosten war ein klatschendes Schlagen und Recken. Man tat, als hätte man die Anwesenheit des Fabrikherrn vergessen, als wäre die Arbeit so dringend, daß man ihm beim besten Willen nicht mehr Red' und Antwort stehen könnt'. Neben Gustav Wiskotten ließ ein Mann ein gebrauchtes Bad aus der Kufe laufen, daß dem Ahnungslosen die Brühe über die Stiefel spritzte. »Achtung«, sagte der Mann, als es zu spät war, kurz angebunden, und hantierte weiter. Und dicker weißer Schwaden verschlang langsam wieder das ganze Bild.

»War's recht so?« fragte Gustav Wiskotten seinen Stabschef draußen.

Der graubärtige Werkmeister sah ihn mit leuchtenden Augen an.

»Hätt's nich besser machen können, Herr Wiskotten.«

»Der Polack hat sich verkrümelt«, schrie der schwarze Christian aus seiner glühenden Hölle. »Bis auf das Gequetschte ganz heil, nur der Hosenboden futsch!« –

»Schwere Zeiten im Tal, Kölsch. Wenn die Konkurrenz nicht vorgesorgt hat, wird sie ihr Kratzen haben.«

»Wer leistungsfähig bleibt, hat gewonnen. Von morgen an muß Nachtschicht heran.«

»Ich verlass' mich auf Sie, Kölsch. Da darf kein Muskel geschont werden.«

»Nu gehen uns die Streikversammlungen der Färber und Wuppertaler Farbarbeiter nix an. Wir werden die Zeit ausnutzen.«

Gustav Wiskotten ging aufs Privatkontor. Er war ganz Kaufmann. Die Brüder schüttelten ihm die Hand.

»Haben schon gehört! Hast reinen Tisch gemacht –«

Er unterbrach sie: »Laßt das bis nachher. Wir haben zu tun. Wir werden vielleicht die einzigen sein, die noch den Betrieb aufrecht halten können. Also nu den Schlachtplan!«

Sie saßen zusammen, berieten und rechneten. Mit heißen Köpfen. Dann kam die Mutter.

»Wat war dat vorhin für en Gedöhns?«

»Der Polack is aus der Färberei herausgeflogen«, erwiderte Gustav kurz. »Er machte sich mausig und predigte den Streik.«

»Wat? Wo is der donnerwettersche Kerl?«

»Bereits erledigt, Mutter, läßt sich die Buxe flicken. Hinten, weißt du. Und nun hör mal, Mutter, wir wollten dich gerade rufen lassen. Von morgen an is Nachtschicht. Kölsch wird wegen der Haspelstuben alles mit dir besprechen. Du sorgst wohl, dat die Leute während der Nacht 'nen Seelenwärmer kriegen.«

»Die Emilie kann mir wohl eure Minna leihen?«

»Selbstverständlich. Schick nur gleich hin, oder besser, geh eben selbst. Das tut der Emilie gut, wenn sie mit beraten darf.«

Es war zehn Uhr abends, als Gustav Wiskotten die Fabrik verließ. Jetzt erst kam die Aufregung über das Erlebte nachträglich über ihn. Die mußte er auslaufen. Und er schritt durch die Straßen, kreuz und quer.

Die Stadt war lebendig wie an einem Sonntag. Aus allen Kneipen scholl Lärm und Wortgefecht. Vor den Wirtshaustüren standen bleich und abwartend die Frauen der Streikenden. Hin und wieder schuf sich eine Resolute Bahn und holte aus dem Schwarm der Feiernden den Gatten hervor. Dann brachen selbst die von eigner Angst gequälten Weiber in ein tobendes Gelächter aus.

»Gib ihm en Lutsch in den Mund, Hulda!«

»Achtung, Stufe!«

Und das Gelächter ebbte ab, und wieder herrschte unter den fröstelnden Frauen beklommene Stille.

Beim Wirt Oweram Schulte war das Gedränge am stärksten. Hier hielten die Rittershauser Färber Streikversammlungen ab. Schulte hatte den Saal hergegeben. »Aber keinen Radau. Sonst dreh' ich et Licht ab.« Er selbst stand hemdärmelig in der Nähe der Rednertribüne und sorgte für Ordnung. Gustav Wiskotten geriet ins Gedränge und ließ sich in den Saal schieben. Ein Redner stellte fest, daß alle Betriebe am Nachmittag die Arbeit niedergelegt hätten, mit Ausnahme des Wiskottenschen.

»Bande!« schrie eine heisere Stimme.

Abraham Schulte hob sich verdächtig auf den Zehenspitzen.

»Ruhe!« riefen ein paar andre. »Weitersprechen!«

Der Redner sprach über die soziale Frage und die Lösung, die sie alle erstreben müßten. Er sprach ruhig und sachlich. Er verwies auf die Wuppertaler Farbenfabriken und die Großbetriebe in der Färbereibranche, auf die hohen Einnahmen und die geringen Löhne. Er stellte fest, wie viele Familien gezwungen wären, mit Kind und Kegel in einer Stube und in einer Küche zu hausen. Er rief die Pastoren des Tals auf, ihre soziale Fürsorge und ihre Sittlichkeitsbestrebungen werktätiger dort einzusetzen, wo die Wurzel des Übels wäre, statt mit den Fabrikanten im Presbyterium zu sitzen, bis diese auf dem andern Ohr taub seien. Er verlangte gründliche Abhilfe, kein Flickwerk, und eine durchgreifende Besserung sei nur zu erzielen durch das solidarische Vorgehen der Gesamtheit.

»Hört, hört!«

»Wo sind die Wiskottenschen?«

»Ich beantrage, den Wiskottenschen die Verachtung der Versammlung –«

»Hast du das Wort?« rief der Wirt Oweram und zog die Augenbrauen hoch.

»– die Verachtung der Versammlung –«

»Du kanns wohl nich hören? Ob du das Wort hast?!«

»Nee, aber –«

»Dann wart'st du gefälligst, bis du an die Reih' kömmst. Et wird nur von der Tribüne aus gesprochen.«

Auf der Tribüne erschien die verwitterte Gestalt des Färbers Barthelmes. Vereinzelte Pfiffe ertönten; Ruhegebote.

»Ich wollt' euch nur eins sagen. In meinem Namen und im Namen meiner Kameraden. Wir sind keine Streikbrecher. Weshalb nich? Weil wir gar keinen Streik brauchen.«

»Verräter! Hund!«

Oweram Schulte patrouillierte den Saal ab.

»Wenn de Schreihals noch ens dat Muhl opdöht –! Hier is gleiches Recht für alle. Aber auf de Tribüne und ordnungsgemäß. On wer sin Bier betahlt!«

»Und weshalb brauchen wir keinen Streik, wir bei Wiskottens? Weil wir uns über nix zu beklagen haben, weil die Firma uns seit fünfundzwanzig Jahren als anständige Menschen und Mitarbeiter behandelt, weil sie immer treu zu uns und unsern Familien gehalten hat, und da soll doch Gott den Deubel frikassieren, wenn wir dat durch Unanständigkeit und Gemeinerei beantworten wollten. Solidarität is, wenn man eine Familie bildet. Die Wiskottens und wir tun dat seit altersher. Dat is die einzig richtige Auffassung von die Sache. En Jammer is, dat nich alle Fabrikanten so sind wie die Wiskottens. Dat sehen wir ein. Und weil wir dat einsehen, werden wir unsre kämpfenden Genossen aus den andern Fabriken von unserm Wochenlohn unterstützen. Unsre Ehre gehört den Wiskottens, unser Geld euch!«

»Judasgroschen, Judasgroschen!« brüllte eine Stimme.

Nun hatte Oweram Schulte ihn erspäht. »Aha, der Polack, der Herr Wisczkowski! Hast du et Wort?«

»Nee!«

»Woß du et Muhl hollen?«

»Nee!«

»Na, Jöngsken, dann komm ens mit. Du paßt nich in die feine Gesellschaft.«

Er packte ihn, wie er ein Bierfaß zu schroten pflegte, und drückte ihn durch die Menge. Man wollte zugreifen, aber der stiernackige Wirt wehrte. »Loten Sie man, de versteht dat Herutfliegen ut dem Effeff. Hopplah – –!«

Der Pole sauste die Stiege hinab und fuhr zwischen die draußen Harrenden. Da erwachte der Volkshumor.

»Donnerkiel, du häs et aber eilig!«

»Platz – da mot ens eener ganz rasch die soziale Frage lösen!«

»Dat is en zerstreuten Professer, de hät sinne Buxe vergehten.«

»Scham dek wat, hie sinn Fraulütt!« – –

An diesem Abend kam Gustav Wiskotten spät in der Nacht heim. Seine Färber hatten ihn nicht losgelassen. Und er hatte nach alter patriarchalischer Sitte unter ihnen gesessen, wie einst sein Vater unter ihnen gesessen hatte.


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