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3

Wie ausgestorben lagen die Straßen. Die Fenster an den Häusern waren geschlossen, die Türen fest in den Klinken. Kaum daß ein spielend Kind den Bürgersteig betrat. Eine seltsame, feierliche Ruhe, eine abgeklärte Stille hatten allen Lärm der Woche, alle Hast des Werktags schweigend aufgesogen. Kalt und vergessen ragten die hohen Schornsteine in den Märzmorgen, als seien sie die überflüssigsten Dinge der Welt. Es war Sonntagsfrühe.

Ein leiser Glockenklang zitterte durch das Tal. Ein paar Frauenköpfe erschienen an den Fenstern, schon im Schmucke des Sonntagshutes. Ein vollerer Glockenschlag dröhnte hinterher. Dann ein Zweiklang, ein Dreiklang. Die Männer in den Häusern, die in Hemdärmeln am Tische saßen, legten die Zeitung beiseite und zogen die Röcke an. Draußen wogten die Harmonien des Geläutes. Die Kinder bekamen ihr Gesangbuch zugeteilt und den Pfennig für den Klingelbeutel, die Erwachsenen steckten sich ein Nickelstück für die Tellerkollekte an der Kirchentür zurecht. Kein Wort wurde dazu gesprochen. Der Vorhof der Kirche reichte am Sonntagmorgen bis in die Häuser.

In der Luft rangen die Glockengesänge der Kirchen miteinander zum höheren Lob des Herrn. Es waren eifrige Gemeinden, die aneinander strenges Maß legten, weil sie nicht duldsamer gegen sich selbst waren. Lutheraner und Reformierte trafen sich auf dem Plan, und auch die lutherisch-reformierten Unierten behaupteten ihren Platz. Die Katholiken hatten ihre geringere Zahl durch den Bau eines Gotteshauses wettgemacht, das mit Stolz einen der höchsten Türme des Rheinlandes aufwies. Die wenigen israelitischen Kaufleute kamen nur politisch in Betracht. Unzählige Sekten aber, denen der evangelische Gottesdienst aus formellen Gründen nicht behagte, waren über das ganze Tal verstreut.

Streng hielt jeder zu seiner Fahne. Die Reformierten machten wenig Unterschied zwischen Lutherischen und Katholischen, die Lutheraner ebensowenig zwischen Katholiken und Reformierten. Aus dem Gewoge der Töne erhorchte ein jeder nur seine Glocken, die Klänge der andern gingen spurlos an seinem Gehör vorbei.

An allen Enden des Tals schwoll jetzt der Kirchenruf an. Die Haustüren öffneten sich. Einzeln, zu zweit, zu ganzen Familien erschienen die Menschen. Immer aber wortlos. Es war ein ernsthaft Schreiten, talauf, talab. Ein stummes Neigen des Hauptes, ein steifes Lüften des Hutes, wo sich Bekannte trafen. War etwas an den Begegnenden zu bemängeln, so tauschte man unter sich einen langen Blick und kniff die Lippen. Erörtert wurde der Fall erst nach der Kirche. Hin und wieder machte man auf den engen Steigen entgegenkommend Platz. Dann entstand eine Stockung in der langen schwarzen Linie. Die Familie eines Presbyters schritt vorüber mit in sich gekehrten Augen.

Eine halbe Stunde dauerte der Gesang der Glocken, eine halbe Stunde das ernsthafte Schreiten blasser Arbeiter mit verschleierten Augen, kräftiger Handwerker mit zufriedenem Gesichtsausdruck, geradeaus blickender Fabrikanten, der Frauen und Mädchen aus allen Klassen der Bürgerschaft, hier hagere, abgerackerte, mit roten Flecken auf den Backenknochen und straffgezwungenem Haar, dort behäbige mit selbstzufriedenen Mienen, andre frisch und kernig, echter lebenskräftiger, bergischer Schlag, andre mit stumpfen Blicken. Trabend zwischen ihnen die Schar der Konfirmandenschüler. Noch ein weithinklingender Glockenschlag, von allen Kirchtürmen zurückgegeben, und es war still in der Luft, still auf den Straßen. Ein paar Nachzügler eilten, schamrot, durch die Kirchentür. Dann schlossen sich die schweren Pforten. Und wieder lag wie ausgestorben das Tal. – –

Im Hause der alten Wiskottens, das, von einem Gärtchen umrahmt, wenige Straßen weit von der Fabrik gelegen war, herrschte sonntägliche Stille. Nur aus der blanken Küche drangen leisbrodelnde Geräusche, und der Duft von kräftiger Fleischbrühe zog angenehm durch das Haus. Im Wohnzimmer, dessen Fenster nach der Straße gingen, saßen sich an langem Tische in bequemen Korbsesseln die beiden Alten gegenüber, jedes an seinem Fensterplatz. Das Dienstmädchen war zur Kirche, die Alten waren allein.

Behaglich drückte der alte Wiskotten den Rücken gegen die buntbestickte Schlummerrolle, ein Geschenk Emiliens, und führte ein Glas angewärmten Rotweins zum Munde. Seine blauen Augen, zwei frohe Leuchten der Treue, blickten stillheiter aus dem faltigen Gesicht, das von dichtem, schneeweißem Haupthaar und einem schneeweißen Halskragenbart umgeben war, und verliehen dem schönen Greisenkopf den Abglanz der Jugend. Er war etwas gichtig geworden in den letzten Jahren. Bevor er durch seine Heirat mit der Bandfabrikation vertraut geworden war und auf Anraten seiner Frau die Wirkerei seiner verstorbenen Schwiegereltern übernommen hatte, um später frischwagend einen neuzeitlichen Betrieb aufzubauen, war er durch eine harte Färberlehre gegangen, und bis zu dem Augenblick, da sein Ältester, Gustav, die Zügel übernahm, hatte er wie dieser tagein, tagaus, vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf dem Posten gestanden. Dafür durfte er jetzt, wohl oder übel, ausruhen. Seine Beine wollten nicht anders. In kleinen Schlückchen schlürfte er den dünnen Rotwein und lächelte in sich hinein.

Frau Wiskotten, die bis dahin durch das Fenster die Beteiligung der Nachbarn am Kirchgang festgestellt hatte, wandte sich jetzt dem Tische zu und griff nach dem Brillenfutteral. Sie trug ein bauschiges schwarzes Kleid, das wie eine Glocke um sie stand, und auf dem trotz ihrer sechzig Jahre noch immer braunen Haar ein schwarzes Spitzenhäubchen. Die widerspenstige Brille kam aus dem Futteral und wurde hinter den Ohren befestigt.

»Na, Mutter –?«

»Wir haben heut Sonntag Judika.«

»Soll wohl sein, Mutter.«

»Dat solltest du aber doch wissen, Vatter.«

»Du weißt et ja, Mutter, und so wissen wir et alle beide.«

Frau Wiskotten nahm die Hausbibel vor, die auf den Zeitungen lag.

»Das Evangelium des Sonntags Judika steht geschrieben Johannes 8, Vers 46 bis 59.«

Der Alte blickte ruhig über den Tisch auf seine Lebensgefährtin.

»Hör zu, Vatter ... ›Welcher unter euch kann mich einer Sünde zeihen? So ich euch aber die Wahrheit sage, warum glaubet ihr mir nicht? Wer von Gott ist, der höret Gottes Worte; darum höret ihr nicht, denn ihr seid nicht von Gott. Da antworteten die Juden und sprachen zu ihm: Sagen wir nicht recht, daß du ein Samariter bist und hast den Teufel? Jesus antwortete: Ich habe keinen Teufel, sondern ich ehre meinen Vater, und ihr unehret mich. Ich suche nicht meine Ehre; es ist aber einer, der sie suchet und richtet. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: So jemand mein Wort wird halten, der wird den Tod nicht sehen ewiglich.‹«

Die Leserin unterbrach sich, schob die Brille nach vorn und blickte auf ihren Lebensgefährten.

»Vatter, dann bleiben wir zusammen.«

»Gewiß, Mutter.«

»Aber fragen muß ich mich doch, ob ich immer sein Wort gehalten und seine Ehre über meine Ehre gestellt hab'.«

»Na, Mutter, wenn du nich, wer denn?«

»Dat sagst du so. Aber unser Herr Jesus denkt vielleicht anders darüber.«

»Unser Herr Jesus kennt dich ebensogut, wie ich dich kenn'.«

»Ja, Vatter –« eine mädchenhafte Röte lief über das alte Gesicht – »du siehst dat mit andern Augen an.«

»Ach wat, Mutter, ich hab' dich lieb gehabt, und du hast mich lieb gehabt, un unsre Kinder sind tüchtige Bengels geworden.«

»War et aber auch immer ein christlich Eheleben?«

»Hm, Mutter – mit so 'nem kleinen Einschlag von Donnerwetter. Aber et waren christliche Donnerwetters.«

»Erzieh du mal sechs Junges –«

»Un en Mann –«

»Un dazu noch dat Aufpassen auf die Haspelmädches. Wenn einem da mal die Zunge durchgeht oder die Hand –«

»Ja, alles wat recht is, Wichse haben die Junges genug gekriegt.«

»Ach, davon sprech' ich nich. Davon werden die Junges groß. Aber ob ich nich mal im Hochmut gewesen bin und hab' so 'nem armen geplagten Mensch unrecht getan? Dat is dat, wovon im Johannes steht: ›Ich suche nicht meine Ehre; es ist aber einer, der sie suchet und richtet!‹«

»Mutter, wenn du da zweifelhaft bist, kannst du ja mal mit 'em Gustav sprechen wegen Erhöhung der Löhne.«

»Wat soll dat nu? Dat hat doch mit 'em Evangelium des Sonntags Judika gar nix zu tun. Unsre Haspelweiter kriegen so viel Lohn, dat se aus lauter Hoffart schon mit Federhüten in de Fabrik kommen. Dat heißt, ich darf et nich sehen. Nich zweimal!«

»Sprich dich mal aus, Mutter.«

»Ich mein' nur, ob wir in unsrer Ehegemeinschaft nich zuviel an Erwerbung irdischer Güter gedacht haben, sondern auch an den Schatz im Himmel?«

»Ja, Mutter, dat mußt du nu wissen. Ich hab' immer vor mich weg gearbeitet. Die Kasse hast du geführt.«

»Un wenn ich et nich so zusammengehalten hätt'? Wenn ich nich zu Haus un in de Fabrik so für Ordnung gesorgt hätt' wie en Inspektor? Wär' dat dann nu besser?«

Der alte Wiskotten beugte sich über den Tisch und streckte die Hand aus nach der Hand der Unermüdlichen. So blieben sie eine Weile. Die Uhr tickte durch das Zimmer, und der Zeiger eilte weiter. Da sagte die alte energische Frau: »Heutzutag sagen so viele, sie suchen den lieben Gott. Aber sie scheuen sich, ihn zu finden. Denn der liebe Gott ist nicht im Müßiggang, Gott ist in der Arbeit. Wer arbeitet, der bekennt Gottes Wort; und wer Gottes Wort bekennt, der wird den Tod nicht sehen ewiglich, sagt das Evangelium des Sonntags. Daher mein' ich, Vatter, du un ich, wir werden den Tod nich sehen.«

So legte sich die starkgeartete Frau den Text aus, und der Gatte erkannte ihre kräftige Lebensweisheit und nickte mit dem weißen Kopf. Bedächtig nippte er an dem leichten roten Wein und blickte hinaus in den durchsichtigen Märzmorgen. Lange sah er hinaus. Und er sah den hohen Schornstein seiner Fabrik, die er ein Menschenalter hindurch, Stein für Stein, zusammengetragen hatte, und sah seine sechs Söhne breit und fest auf dem Erbe stehen, seinen ältesten, seinen Gustav an der Spitze, alle bereit, auch an ihrem Teil Stein für Stein zusammenzutragen. Und er spürte den starken Segen dessen, von dem die Mutter gesagt hatte: Gott ist in der Arbeit! Er spürte ihn von seinen Söhnen, die seine Art weiterführten, auf sich zurückfließen. Nein, er würde den Tod nicht sehen ewiglich.

Dann dachte er an seinen jüngsten, den Ewald. Er war stolz auf ihn, denn der hatte das ganze Gymnasium absolviert. Mutter hatte ihn geboren, als sie schon vierzig zählte. Schade, daß der Junge nicht auch in die Fabrik eintrat. Heute, wo man auf dem Weltmarkt arbeitete, wäre Gelehrsamkeit kein Hindernis. Er überlegte, ob er einmal mit Gustav darüber sprechen sollte. Mutter zwar hatte mit dem Jungen ihre eignen Gedanken. Na ja – ein Wiskotten auf einer Wuppertaler Kanzel war auch nicht schlecht. Trotzdem – so ein Jung! Schade – –

Durch das Vorgärtchen kam Gustav Wiskotten mit den Kindern. Die kleine Emilie winkte den Großeltern, die sie am Fenster erspäht hatte, entgegen, die Hand wie eine Wetterfahne hoch in der Luft drehend. Der kleine Gustav nahm auf einen Stupser des Vaters steif die Mütze ab. Nun polterten sie die Treppe hinauf.

»Mama läßt grüßen«, rief der Junge und drängte sich vor. »Sie is in de Kirche«, rief das Schwesterchen, ängstlich, mit seiner Nachricht zu spät zu kommen. Dann gaben sie den Großeltern einen Kuß und ließen sich streicheln. Großmutter hatte immer Berliner Brot mit Mandeln im Kasten.

»Du bist nicht in der Kirche?« sagte Frau Wiskotten nach der Begrüßung.

»Nee, Mutter, ich hatte in der Fabrik zu rechnen und zu messen. Da ist mir der ruhige Sonntag gerade recht.«

»Ich weiß schon gar nich, wie ich dich immer beim Pastor entschuldigen soll.«

»Sag ihm nur, ich sorgte dafür, daß die Kirche im Dorf blieb«, und er zeigte lachend seine Hände. Auch der Alte lachte mit. Aber die Mutter nahm's ungnädig.

»Dat sind so Redensarten. Sonntagsarbeit, dat is wie Kalbfleisch, Halbfleisch! Die rechte Bouillon steckt da nich drin.«

»Na, Mutter, ich werd' dich nachher mal schmecken lassen.«

Der Unmut der alten Frau verflog. Die andern waren ja in der Kirche. Da durfte wohl einer das Haus besorgen.

»Alles in Ordnung?« fragte sie.

»Ich laß nächste Woche ausschachten. Morgen erfolgt die Eintragung ins Grundbuch. Ich hab' gestern noch das Grundstück abtaxieren lassen, damit ich weiß, was der Kölsch kriegt.«

»Dat wird uns doch arg in Anspruch nehmen, den bar auszuzahlen.«

»Den Kölsch? Auszahlen? Der läßt das Geld zu vier Prozent auf der Fabrik stehen. Ohne mit der Wimper zu zucken, schlug er selbst den Modus vor. Ein Prachtkerl. Wenn er nich selber so mit der Fabrik verwachsen wär, als wär's die seine, müßt ich mich beinahe schämen. Von der Stadt hätt' er das Doppelte haben können. Aber da hilft keine Sentimentalität. Fabrik is Fabrik. Wenn sie leben soll, muß sie atmen können.«

»Un dat Baugeld?« fragte die Mutter, ohne sich über den Edelmut Kölschs weiter zu beunruhigen. »Wird der alte Scharwächter zuschießen?«

Gustav Wiskotten kraulte sich das dichte Haar.

»Er macht noch Spajitzen. Redete mir allerhand vor von seinem Tod und daß Emilie dann alles kriege, aber daß er sich nich gern auszög, bevor er zu Bett ging. Ich mag den trockenen Kerl nich leiden. Aber nach meinen persönlichen Neigungen und Abneigungen fragt die Fabrik nix. Davon raucht der Schornstein nich. Ich hab' also nich locker gelassen. Als ich ihm zwei Flaschen Zeltinger ausgetrunken hatte, kriegte er Angst, ich tränk' die dritte. Da hat er sich denn schließlich bereit erklärt, das Baugeld auf Widerruf von Monat zu Monat herzugeben. Wie er's hergibt, kann mir ja ganz egal sein. Dat is sein Pläsier!«

»Großmutter, ich möcht' auch Pläsier haben.« Die Kinder wurden ungeduldig.

»Wat möchtst du haben?«

»Berliner Brot«, erklärte der Großvater und zwinkerte seinen Lieblingen zu. Da erhielt ein jedes sein Mandelstangendeputat. »Aber mäuschenstill sein, wenn große Leute reden.«

»Mutter, die Kirche is aus«, sagte der alte Wiskotten und beobachtete den Menschenstrom, der, lebhafter als am Morgen, zurückwogte. Die Rücken waren straffer, der Gang aufrechter, der Blick heiterer. Es war, als hätten alle diese Menschen in der Frühe eine Last Sorgen und schwerwiegender Gedanken ins Gotteshaus getragen und sie dort gelassen.

»Da kommen die Jungens.«

»Der August ist nicht dabei.«

»Wird wohl den Klingelbeutel oder den Kollektenteller gehalten haben«, meinte Gustav.

Die übrigen vier Wiskottens erschienen und begrüßten die Eltern und den Bruder. Wilhelm und Fritz behielten den Paletot an und den Hut in der Hand.

»Trinkst du einen Frühschoppen mit, Gustav?«

»Soll mir recht sein. Du, Vatter, wie wärs?«

»Wenn die Pedale erst wieder in Gang sind. Trinkt eins für mich mit."

»Du sollst den Junges auch lieber wat andres sagen«, brummte Frau Wiskotten. »Aus der Kirche und in et Wirtshaus, dat gehört sich nich.«

»Wir haben eine geschäftliche Verabredung, Mutter, im Hotel Vogeler. Adieu einstweilen.«

»Punkt ein Uhr wird gegessen.«

Paul und Ewald Wiskotten kamen aus ihrem Zimmer, wo sie Mantel, Hut und Gesangbuch abgelegt hatten. Der Vater schob ihnen die Rotweinflasche hin. Sie holten sich Gläser aus dem Schrank und setzten sich zu ihm.

»Wovon hat denn der Pastor gepredigt?« fragte Frau Wiskotten ihren Jüngsten.

»Vom lieben Gott.«

»Dat kann ich mir wohl denken. Hast du denn sonst nix behalten?«

»Neben mir, oben auf der letzten Bank, saßen zwei kleine Bengels, die tauschten Briefmarken.«

»Hättst ihnen 'ne Ohrfeige geben sollen. Et is en Elend, wie heutzutag die Kinder erzogen werden. Da is immer die Mutter schuld. Keinen Ernst, nix wie Fladusen im Kopp, die Frauenzimmer.«

Emilie Wiskotten kam, um die Kinder zu holen. Sie sah sehr hübsch aus in ihrem strammen Jakett und dem breitrandigen Hut, aber sie war ärgerlich, daß sie ihren Mann nicht traf.

»Die Minute konnt er auch warten. Aber die Angst, dat et Bier wegläuft! Sagt adieu, Kinder. Wenn ich nich mach', daß ich nach Haus komm', kriegen wir alle zusammen nix zu essen.«

Wieder schlug die Hausschelle an, als sie gegangen war. Auf der Treppe ertönte respektvoll Augusts Stimme und eine lautere, sonorere.

»Der Herr Pastor!«

»Guten Morgen, meine liebe Frau Wiskotten, guten Morgen, mein lieber Herr Wiskotten. Wie ist das Befinden? Der Rotwein mundet wohl nicht recht? Ja, ja, womit man in der Jugend sündigt, damit wird man im Alter gestraft.«

Der kurze runde Mann mit dem grauen Backenbart sagte es humoristisch väterlich.

»Ne, Herr Pastor«, erwiderte der alte Wiskotten, »dat stimmt nu nich ganz. Rotwein hab' ich in meiner Jugend nich mal dem Namen nach gekannt. Höchstens mal en festen Schnaps.«

»Dieses Getränk wollen wir nicht einmal als Wort in den Mund nehmen. Nein, Frau Wiskotten, ich setze mich nicht. Ich habe noch Krankenbesuche in der Gemeinde. Der Sonntag gehört den Armen. Nur nach Ihrem lieben Mann wollte ich sehen. Ich freue mich, daß ich ihn so wohl finde. Ah, das ist ja auch der Herr Studiosus – exitus acta probat, der Ausgang krönt das Vollbrachte, sagte der alte Heide Ovid. Und nun soll's in die Theologie?«

Ewald Wiskotten wurde feuerrot. Er stotterte.

»Der alte Heide Ovid«, stieß er hervor, »sagt aber auch: › Disce bonas artes, moneo, romana juventus.‹«

»Versteh' ich nich«, meinte Frau Wiskotten und sah den Pastor an.

»Das Kind zitiert: ›Lerne die schönen Künste, ich mahne dich, römische Jugend‹«, erklärte der Pastor. »Aber das hat doch, Gott sei Lob und Dank, nichts mit der Theologie zu tun?«

Paul Wiskotten stieß den jüngeren Bruder an. »Sei still«, raunte er ihm zu.

»Nun, Frau Wiskotten«, fuhr der Pastor fort, »ich komme an einem Nachmittag der Woche. Dann wollen wir den Studiengang unseres Jüngsten besprechen. Recht schönen Sonntag allerseits! August will mich noch ein Stück zu meinen Kranken begleiten.«

»Ich will nicht, Vater«, sagte Ewald Wiskotten rasch, als die Mutter den Pastor hinausgeleitete, und er faßte krampfhaft die Rechte des Alten. »Ich will nicht, und ich kann nicht zur Theologie.«

»Pßt ... Dat Mutter dich nich hört. – Kann nich! Wer so viel gelernt hat, dem steht die Welt offen! Kuck mich mal an. Als ich ausgelernt hatt', in Elberfeld beim Färber Frowein, da kriegt' ich en Lehrbrief, un mein Meister und zwei Wirte, zwei Freunde von ihm, gingen mit als Zeugen zum Oberbürgermeister. Der stempelte den Lehrbrief eigenhändig ab, un mein Meister schlug mir dabei auf die Schulter un sagte stolz: ›So! Domet kanns du nu dörch de ganze Welt!‹ – Ich hatt' et bloß auf'm Papier, du aber hast et auch im Kopp! Prost, Jung'!«

*

Gegen Abend fuhren Paul und Ewald Wiskotten mit der Straßenbahn nach Elberfeld. Auf der langen Alleestraße, dem Stolz der Barmer, war es schwarz von Menschen, die hier allsonntaglich ihre Promenade machten. Die Bäume der Allee hatte Napoleon der Erste gepflanzt, so ging die Legende. Die alten Bürger der Schwesterstädte Barmen und Elberfeld bewahrten aus den Erzählungen ihrer Väter her in einem Winkelchen ihrer Phantasie noch eine kleine Schwäche für den großen Korsen, der das alte Herzogtum Berg zum Großherzogtum erhoben hatte und mancherlei praktisches Interesse für das Wuppertal bekundet haben sollte. Auch verlieh es Ansehen, wenn der Vater den Kindern den Boden mit historischen Erinnerungen tränkte und von dem gewaltigen Napoleon sprach wie von einem alten Duzbruder der Familie.

Ewald Wiskotten konnte es kaum erwarten, bis der Wagen am Elberfelder Rathausplatz hielt. In einem Zimmer des alten Hotels zur Post sollte er die künstlerischen Intelligenzen des Wuppertales treffen, vielleicht von ihnen als künftiger Kollege gewürdigt werden. Sein Herz schlug hoch, als Paul Wiskotten die Tür öffnete.

An einem langen Tisch saßen eine Anzahl älterer und jüngerer Männer bei Bier- und Weinschoppen. Einer las ein Stück aus einem Epos vor, die andern horchten gespannt. Es lag etwas Weihevolles, Weltentflohenes über der kleinen Gesellschaft. Ein paar Alte hatten den Kopf aufgestützt und blickten lächelnd zur Decke, als erblickten sie dort den Olymp ihrer Jugendträume. Ein paar Jüngere, bleich, mit aszetischem Gesicht und funkelnden Augen, tranken die Worte des Vorlesenden wie berauschenden Wein. Vom Neide frei war ihnen die Bewunderung. Ein Dichter sprach. Sie wußten, was Dichter sein heißt, daß es das Glück bedeutete, das den Unterschied verwischt zwischen Mansarde und Prunksaal. Zu dieser Stunde waren sie alle im Prunksaal. Mit Rittersporen und klirrendem Schwert schritten sie Fürsten gleich hindurch.

Der Vorlesende hatte geendet. Die Jüngeren stürmten auf ihn ein und beglückwünschten ihn, während die Älteren weiter träumten. Ein Durcheinander von Stimmen. Man stritt mit Begeisterung. Über Jamben, Daktylen und Trochäen. Über das Historische im Dienste der Kunst. Über die poetische Lizenz.

»Aber famos war's, Herrgott, famos!«

Paul Wiskotten stellte seinen Bruder vor. Man sah ihn einen Moment prüfend an und begeisterte sich weiter. Ein alter Weißbärtiger bot ihnen Plätze neben dem seinen an. »Mein Bruder Ewald«, stellte Paul Wiskotten vor, »Herr Dichter Korten, der Nestor der Wuppertaler Kunst.«

»Ja«, sagte der alte gesprächige Herr im langen fadenscheinigen Gehrock, »der Nestor! Das ist nun der Ruhmestitel für meine achtzig Jahre. Ich möchte lieber der Benjamin heißen. Wie schön ist doch die Welt, wenn man sie sich sogar noch mit der Dichtung schmücken darf. Nein, irdische Schätze tun's nicht allein. ›Die Welt ist fortgegeben‹, sagte Zeus zum Poeten, aber ›Willst du in meinem Himmel mit mir leben, sooft du kommst, er soll dir offen sein.‹ So sind wir Dichter denn gewissermaßen Helfershelfer vom lieben Gott.«

»Sie müssen gewiß viel erlebt haben, Herr Korten«, sagte Ewald Wiskotten begierig.

»Erlebt? Achtzig Jahre habe ich erlebt, mein junger Freund! Achtzig! Andre haben die drei Kriege erlebt, 64, 66 und 70. Wer hat noch das Sturmjahr 48 erlebt? Ich meine: Wer hat noch mit auf der Barrikade gestanden? Der alte Korten! Und wer hat noch den großen Napoleon erlebt? Wieder der alte Korten! Aber Sie trinken nicht.«

Paul Wiskotten ließ vom Kellner eine Flasche Rheinwein bringen. »Bitte, schenken Sie uns die Ehre, Herr Korten.«

Der Greis nahm an. Er hielt das gefüllte Glas gegen das Licht, dann beschnüffelte er mit vorgestreckter Nase die Blume. Als tränke er tagaus, tagein den edeln Rebensaft, den er so oft, darbend, besungen.

»Meine Herren, die Kunst! Nicht leben wollt' ich, wenn ich nicht ein Dichter wär'! Denn der Dichter, der Künstler – Prost, meine Herren, Prost!«

Auf einen Zug trank er aus. »Danke, danke. Bemühen Sie sich nicht. Oh, wenn Sie mir das Amt des Schenken überlassen wollten! Das hat so etwas Feierliches, Freudiges – so eine große Linie. Man kommt sich wie ein Krösus vor, der flüssiges Gold verteilt. Mein Wort darauf. ›Der Wein erfindet nichts, er schwatzt nur aus‹, sagt Schiller. Ja, dieser Schiller! Er mußte zu früh dahin, wie Napoleon ...«

Er trank gedankenvoll. »Früh stirbt, wen die Götter lieben – – Sollten sie mich nicht geliebt haben – –?«

»Sie sagten ›Napoleon‹, Herr Korten ...«

»Ja, Napoleon ...«

»Haben Sie ihn noch gekannt?«

»Gekannt? Gewiß!« erklärte der Greis. »Nicht gesehen, leider nein. Aber gekannt! Ich war vier Jahre alt, als die Völkerschlacht bei Leipzig geschlagen wurde, und fünf, als die Sonne von Waterloo sank. Wir im Bergischen, im alten Herzogtum, lebten mittendrin in der Franzosenzeit. Bis in die Fünfzigerjahre, ja kurz bis vor dem Kriege 64 gegen die Dänen, sang man hier im Tal die Napoleonslieder und die Lieder seiner Getreuen. Ja, ja, ja, gestorbene Größe wirft noch lange einen Schatten.«

»Sagen Sie uns eins der Lieder.«

Des Alten Augen strahlten in neuer Jugendlust.

»›Wer ist der Held, der dort bei fernen Fahnen
In Jugendkraft einhergeht, stolz und kühn?
Sein graues Haupt will wundersam mich mahnen.
Wer ist der Held mit solchem Kriegersinn?
O Feldherr, spricht mit Lust der Offizier,
Es ist Latour, dein bester Grenadier.‹

Und Napoleon lobt ihn, den alten Edelmann, der wieder als Gemeiner eingetreten ist, im Leben und im Sterben:

›Zu Straßburg stand in langen, weiten Reihen
Das Regiment. Der Kaiser tritt heran.
Wo ist Latour? Da schluchzten all die Treuen,
Und ernsten Schritts tritt vor der Flügelmann.
O Kaiser du, die Adler huldigen dir,
Für Frankreich starb dein bester Grenadier.‹«

»Aber im Jahre 1800«, wagte Ewald Wiskotten einzuschalten, »als Latour d'Auvergne fiel, war ja Bonaparte noch gar nicht Kaiser.«

»Was war er nicht? Nun wohl, das ist poetische Lizenz. Sehr berechtigte. Für das Volk ist er zu allen Zeiten der Kaiser Napoleon. Das ist das spürende Gefühl, der Instinkt, den das Volk für die Großen aller Zeiten hat. Glauben Sie, man hätte nach Waterloo hier am Rhein über den gestürzten Kaiser gejubelt? Über Preußens Sieg hat man gejubelt in echt deutscher Gesinnung. Nicht über den gestürzten Kaiser, dessen Regiment man um so mehr Ehre angedeihen ließ, als unsre Verbündeten, die Russen, im Jahre 1813 durch ihre Kosaken, Kalmücken und Baschkiren unsre Bürger mißhandeln, unsre Frauen vergewaltigen und die Stadt auspressen ließen. Hören Sie nur das Lied von Waterloo oder Belle-Alliance, das hier Jahrzehnte noch gesungen wurde:

›Als früh der andre Morgen graute,
Der Donner der Kanonen schwieg,
Aurora aus dem Osten schaute,
Die stolzen Preußen riefen Sieg,
Und Frankreichs Heldensöhne lagen
Dahingestreckt aufs weiche Moos:
Ihr toter Mund schien noch zu sagen,
Sieg oder Tod sei unser Los!‹

So ehrt das Volk seine großen Gegner! Das Volk kennt keine Geschichtsfälschung, das Volk nicht. Weil es seine Dichter hat, seine Volksdichter! Prosit, meine Herren!« Er trank und schenkte mit der Grandezza eines gastfreien Edelmannes die Gläser der jungen Spender ein. »Vielleicht, weil nach den Freiheitskriegen die Reaktion kam und die Demagogenriecherei, die Untreue von oben, die zum Jahre 48 führte. Vielleicht sang man deshalb bei uns so laut die Lieder von französischer Treue. Um denen in Berlin zu zeigen: so denkt das Volk über Treue! Blücher war ein Volksheld, und General Bertrand, der Napoleon nach Sankt Helena folgte, wurde auch zum Volkshelden. Nun gerade! Ich kann Ihnen sagen, meine Herren, ich selber habe mich als junger Mann heiser daran geschrien, an ›Bertrands Abschied‹, in dem er seinen Kaiser ansingt:

›Ein nackter Fels, fern von Europas Küsten,
Ward zum Gefängnis ewig ihm bestimmt.
Kein Freundestrost dringt je in diese Wüsten,
Kein Wesen ist, das teil am Schmerz hier nimmt.
Doch wenn ich Tröster meinem Kaiser werde,
Dann wird mein Schicksal dennoch selig sein.
Ich war in Ruhm und Glück stets sein Gefährte,
Ich will es auch im Unglück ihm nun sein!‹«

Ewald Wiskottens Augen funkelten. Das war etwas andres als ein Sonntag daheim. Hier war Pulsschlag, Feuer, Farbe. Er bestelle eine neue Flasche.

Längst saßen die andern Mitglieder der Gesellschaft wieder auf ihren Plätzen und horchten den funkensprühenden Erinnerungen des Greises. Der Ependichter stieß aufgeregte Rufe aus. Als sporne er ein edles Streitroß an. In seinem Kopfe konzipierte er aus des Alten Lebensbuch eine neue Epopöe. Vergessene Heldenlieder wurden ausgegraben, von seltenen historischen Bilderbogen und Karikaturen wurde berichtet, von berühmten Schlachtenbildern und Porträts in alten vornehmen Familien. Und immer, als Schlußreim und Kehrreim, priesen diese Männer, die tagsüber den Kontorstuhl drückten oder den Volksschulkatheder, die Kunst, die alles schaffende, die alles erhaltende.

Dann sagte eine fremde, hüpfende Stimme: »Was? Veritablen Rheinwein? Talerwein aus Rüdesheim? Als Quelle? Als unversiegbare? Ich fordere den Mann auf, sich zu erheben, der den Juden totgeschlagen hat. Mit dem Ruf des freien Mannes: Teilen, teilen!«

»Der Maler Weert«, flüsterte Paul Wiskotten seinem Bruder zu, und Ewald Wiskotten erhob sich schnell und nannte dem Neuhinzugekommenen seinen Namen.

Der nickte herablassend und strich seinen grauen Heckerbart und seinen blauen Künstlerschlips.

»Schon gut, schon gut. Lassen Sie sich porträtieren, oder lassen Sie sich nicht porträtieren? Erst dann gewinnt Ihr Name für mich an Bedeutung. Eventuell

Ewald Wiskotten lachte verlegen.

»Ich glaube«, stammelte er, »ich möchte –«

»Sich porträtieren lassen?«

»Selber Maler werden.«

Weert sah aus geröteten Augen sein Gegenüber verächtlich an. Dann knurrte er kurz: »Wie kann ein junger Mann schon so unangenehme Angewohnheiten haben!« und setzte sich ein paar Stühle weiter. Die Gesellschaft lachte, und Ewald Wiskotten war klug genug, einzustimmen. Von der Seite blickte er bewundernd auf den Mann, von dessen früheren Streichen er so viel gehört hatte, daß er seine Grobheit für Künstlertum nahm.

Es wurden noch einige Gedichte verlesen. Und mit derselben inneren Bewegung, mit der sie vorgetragen wurden, wurden sie angehört. Dann lichtete sich der Kreis, und Ewald Wiskotten saß neben seinem rauhen Idol. Krampfhaft suchte er nach einem Unterhaltungsstoff.

»Darf ich Sie etwas fragen, Herr Weert?«

»Junger Mensch, Sie wollen Maler werden. Also bieten Sie für mich nicht das geringste Interesse.«

»Würden Sie mir gestatten, Sie zu besuchen, um Ihnen einige Zeichnungen vorzulegen?«

»Ich verstehe nichts von fremden Zeichnungen.«

»Raten Sie ab, Maler zu werden?«

»Wie kann ich das sagen? Ich kenne Ihren Geldbeutel nicht.«

»Muß man denn sehr reich sein, um Maler zu werden?«

»Um Maler zu sein! Reich oder sehr schlecht erzogen. Ich habe das letztere gewählt.«

»Aber es haben doch auch arme Maler hervorragende Bilder gemalt und sind berühmte Meister geworden. Lenbach, Böcklin, Defregger –«

»Junger Mann, Sie beleidigen mich mit Ihren Vergleichen. Ich kenne nur Bilder, die ich gemalt habe. Und nun hören Sie: Ich bin hierhergekommen, um zu trinken, nicht um zu fachsimpeln. Wenn Sie einen Arzt konsultieren oder einen Rechtsanwalt, so müssen Sie blechen und finden das natürlich. Ich lasse mir ebensowenig meine kostbare Zeit stehlen. Prosit! Das ist das einzige, was ich noch zu Ihnen sage.«

Er umfaßte mit gehöhlter Hand seinen Schoppen und ließ das Naß langsam durch die Kehle gleiten.

»Prosit, Herr Weert!«

»Prosit, Herr Kollege. So ist's recht. Sich beschwipsen. Wer sich die Ehre antut, in diesem schwarzen, rauchigen Muckertal als Maler zu vegetieren, der muß entweder verrückt oder betrunken sein. Ich bin für das letztere. Prosit.«

»Sie waren weit in der Welt, Herr Weert?«

»Ich war in allen den Ländern leibhaftig, in denen die armen Teufel um Sie herum ihre künstlich erhitzte Phantasie spazierenfahren. Aber sie haben Vorstellungsvermögen, die Kerls. Wenn sie von Italien deklamieren, fällt es mir wie eine Zitrone auf die Nase, und besingen sie Sevillas Stiergefechte, stößt mich der Bock.«

»Ha«, rief Ewald Wiskotten begeistert, »es muß doch herrlich sein, alles das malen zu können!«

»Malen – –? Herrlich – –? Bummeln zu können, bummeln, bummeln, wo Sonne ist, das ist herrlich. Malen!«

»Prosit, Herr Weert!«

»Prosit. Na, nu haben Sie's erfaßt.«

Um elf Uhr erhob sich der alte Dichter. Paul Wiskotten sprang auf, um ihn nach Hause zu geleiten. Da mußte auch der Junge mit. Er war wie berauscht. Sie fuhren mit der Straßenbahn bis zu der Wohnung des Greises und beschlossen, von der Haspelerbrücke, welche die Schwesterstädte verbindet, über die Berge nach Hause zu wandern.

Ewald Wiskotten sang in einem fort. Schweigsam schritt der Bruder neben ihm her. Er genoß das Erlebte wie ein Feiertagsglück. Unter ihnen lagen die Städte im engen Tal. Aber es war Leben in ihnen, Leben und Licht. Es war Sonntag im Tal, Sonntag bis Mitternacht. Wie Girlanden zogen sich die Lichter der Häuser die dunkeln Berglehnen hinauf, wie Tausende von Leuchtkäfern tanzten sie auf der Sohle des Tals. Ein Bild wie aus dem Märchenreich.

»Die Arbeit illuminiert«, sagte Paul Wiskotten. »Da brennt selbst das kleinste Licht noch einmal so hell.«

»Paul, Paul! Was für Menschen!«

»Tapfere Menschen«, sagte Paul Wiskotten. »Sie arbeiten werktags im Schweiße ihres Angesichts fürs Leben, für Frau und Kinder, um sich doppelt und dreifach auf ihr Sonntagslicht zu freuen, das ihnen die schwersten Wochen festlich illuminiert. Du, ich habe eine Achtung vor den Leuten – –!«

»Stubenhocker, Stubenhocker«, spottete der Bruder. »Keine Courage habt ihr! 'raus aus dem Nest und hinein in die Welt! Und wenn ich als Handwerksbursch los sollte.«

»Du hast eine zu gute Erziehung, mein Junge.«

»Ich schaff' mir eine schlechte an, wenn's sein muß! Nur 'raus aus diesem Räucherkasten! Draußen ist die Sonne!«

»Wenn du durchaus nicht Theologe werden willst, so werde Fabrikant. Das wird die Mutter zuletzt zugeben. Lach nicht so kindisch. Ein Fabrikant ist auch ein Stück Künstler.«

»Mit 'nem Sonntagslicht!« spottete der übermütige Junge und lachte ausgelassen von der Höhe ins Tal. Das lag von leuchtenden Girlanden umkränzt, funkelnde Sterne im Schoß. Die ausruhende Arbeit, mit dem Sonntagsgedanken im Haupt ...


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