Alexander Herzen
Wer ist schuld?
Alexander Herzen

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Sechstes Kapitel.

Wir wissen bereits, daß Beltoffs Vater kurz nach seiner Geburt starb und daß seine Mutter eine exaltirte Dame war, der man die schlechte Aufführung Beltoffs Schuld gab.

Leider müssen wir sagen, daß sie eine der Hauptursachen war, daß ihr Sohn in seiner Carrière stets Unglück hatte. Die Geschichte dieser Frau ist an und für sich sehr merkwürdig. Sie war ein Bauernkind. Mit fünf Jahren wurde sie in das Herrenhaus aufgenommen. Ihre Herrin hatte zwei Töchter und einen Mann. Der Mann baute Fabriken, machte agronomische Versuche, und endete damit, daß er sein ganzes Gut verpfändete.

Wahrscheinlich glaubte er, damit sei seine ökonomische Sendung hier auf Erden erfüllt und starb. Seine Witwe gerieth über die Zerrüttung des Vermögens in großen Schrecken; sie weinte und weinte; endlich jedoch trocknete sie ihre Thränen und begann mit dem Muthe eines großen Mannes ihre Vermögensverhältnisse wieder zu ordnen.

Nur der Verstand einer Frau, nur das Herz einer zärtlichen Mutter, welche ihre Töchter auszustatten wünscht, vermag all' die Mittel zu erdenken, die sie zur Erreichung ihres Zieles anwendete. Von dem Einsammeln der Pilze und Himbeeren bis zum Fällen von Holz in fremden Wäldern und den wiederholt geglückten Versuchen, die Bauernburschen als Soldaten zu verkaufen – jedes Mittel war recht (es ist dies schon lange Zeit her, und was jetzt nur noch selten vorkommt, geschah damals noch sehr oft) – und man muß gestehen, die Besitzerin von Sassjekino stand allgemein in dem Rufe einer unvergleichlichen Mutter.

Unter allerlei Papieren des verstorbenen Agronomen fand sie auch einen Wechsel, den ihm die Directrice irgend eines Pensionats in Moskau ausgestellt hatte. Sie schrieb an diese Dame. Als sie aber sah, daß es schwer sein würde, das Geld zu bekommen, beredete sie dieselbe, drei oder vier Töchter ihrer Hof-Leibeigenen zu sich zu nehmen – sie wollte dieselben zu Gouvernanten für ihre eigenen und für fremde Töchter ausbilden lassen.

Nach einigen Jahren kehrten die selbstgezüchteten Gouvernanten zu ihrer Herrin mit glänzenden Zeugnissen zurück, worin ihnen bekundet wurde, daß sie in der Religion, in der Arithmetik, in der vaterländischen und Weltgeschichte, in der französischen Sprache u. s. w. bewandert seien und bei der Prüfung als Belohnung ihres Fleißes die Erzählung »Paul und Virginie« in prachtvollem Einband mit Goldschnitt erhalten hätten.

Ihre Herrin ließ ihnen ein besonderes Zimmer anweisen und wartete auf die Gelegenheit, sie unterzubringen.

Eine Tante des Vaters unsers Beltoff suchte gerade um diese Zeit eine Erzieherin für ihre Töchter, und als sie hörte, ihre Nachbarin habe Gouvernanten vorräthig, die ihr persönliches Eigenthum seien, so wandte sie sich an dieselbe. Die Damen feilschten wegen des Preises, stritten und erhitzten sich, wurden jedoch schließlich handelseinig.

Die Gutsbesitzerin gestattete der Tante sich diejenige auszuwählen, welche ihr zusagte, und die Wahl fiel auf die zukünftige Mutter unseres Helden.

Zwei, drei Jahre später kam Wladimir's Vater auf seinem Gute an. Er war jung, ausschweifend, spielte und trank gern, spazirte mit der Flinte umher, bewies eine unnütze Kühnheit und machte allen Frauenzimmern, die jünger als dreißig Jahre waren und ein einigermaßen hübsches Gesicht hatten, den Hof. Trotzdem kann man nicht sagen, daß er ein durchaus nichtsnutziger Mensch gewesen: Müßiggang, Reichthum, Mangel an Bildung und schlechte Gesellschaft hatten ihm, wie einer meiner Freunde sich auszudrücken pflegte, sieben Pfund Schmutz aufgeladen; allein zu seiner Ehre muß gesagt werden, daß der Schmutz durchaus nicht mit ihm zusammenwuchs.

Selten war Beltoff mit etwas beschäftigt und darum machte er seiner Tante oft einen Besuch; sein Gut lag fünf Werst von der Besitzung der Tante. Sofie – so hieß die Gouvernante – gefiel ihm: sie zählte zwanzig Jahre, war von hohem Wuchs, brünett, mit dunklen Augen und jugendlich üppigem Haar.

Lange zu überlegen fand Beltoff lächerlich: dem üblichen System zuwider machte er nicht lange Annäherungsversuche; sondern als er einmal mit ihr allein im Zimmer war, umfaßte er ihre Taille, küßte sie und bat sie sehr dringend, am Abend in den Garten zu kommen.

Sie riß sich aus seinen Armen los und wollte schreien; aber ein Gefühl der Scham und die Furcht vor Gerede hielten sie davon ab; besinnungslos stürzte sie in ihr Zimmer, und dort ermaß sie zum ersten Male in seinem ganzen Umfange, in seiner ganzen Tiefe ihr zweideutiges Verhältnis.

Durch seine Zurückweisung gereizt, begann Beltoff sie mit seiner Liebe zu verfolgen, schenkte ihr einen Brillantring, den sie nicht annahm, versprach ihr eine Brequetuhr, die er nicht besaß, und konnte sich nicht genug wundern, wie seine Schöne zu einer solchen Sprödigkeit komme; gern wäre er eifersüchtig geworden, aber er wußte nicht auf wen. Endlich nahm Beltoff in seinem Aerger zu Drohungen und Scheltworten seine Zuflucht – auch das hatte keine Wirkung.

Da ging ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf: der Tante eine große Geldsumme für Sofie anzubieten – und er war überzeugt, daß der Geiz über ihre geheuchelte Frömmigkeit den Sieg davontragen würde. Aber als ein Mann, der gewohnt war, stets ohne Ueberlegung zu handeln, gab er dem armen Mädchen vorher zu verstehen, welchen Schritt er vorhabe. Selbstverständlich erschreckte sie das mehr als alles andere; sie warf sich ihrer Herrin zu Füßen; unter Thränen erzählte sie ihr alles und bat um die Erlaubnis, nach Petersburg reisen zu dürfen.

Ich weiß nicht, wie es zuging, aber sie überrumpelte ihre Herrin; die Alte, welche Talleyrand's Grundsatz nicht kannte, niemals der ersten Regung des Herzens zu folgen, weil diese stets gut sei, ließ sich durch ihre Bitte rühren und machte ihr den Vorschlag, ihr für das bescheidene Sümmchen von 2000 Rubeln einen Freibrief auszustellen.

»Ich selbst,« sprach sie, »habe diese Summe für dich gezahlt; und was habe ich seitdem an Beköstigung und Kleidung für dich aufgewendet. Nun, bis du das Geld zahlst, schicke mir jährlich einen kleinen Obrok (Jahreszins), etwa 120 Rubel, und ich will Platoschka befehlen, dir einen Paß auszustellen; er ist zwar ein Dummkopf, er könnte vielleicht einen Bogen Papier verderben, und jetzt ist das Stempelpapier so theuer – –«

Sofie willigte in alles, dankte ihrer Herrin, wobei sie fast in Thränen zerfloß, und beruhigte sich einigermaßen wieder.

Nach acht Tagen schrieb Platoschka einen Paß, in welchem er bemerkte, daß sie ein gewöhnliches Gesicht, gewöhnliche Nase, mittlere Statur, regelmäßigen Mund und keinerlei besondere Kennzeichen habe, außer daß sie französisch spreche.

Einen Monat später bat Sofie die Frau des Verwalters eines benachbarten Gutes, welche nach Petersburg reiste, um dort Geld in die Bank zu legen und ihren Sohn auf das Gymnasium zu bringen, sie mit sich zu nehmen.

Die Kibitke wurde mit Pilzen, Kuchen, Mehl, eingemachten und getrockneten Beeren, die zu Geschenken bestimmt waren, vollgeladen; die Frau des Verwalters ließ nur für sich selbst einen Platz übrig. Sofie setzte sich auf ein Fäßchen, das sie während einer Reise von 900 Werst daran erinnerte, daß sie nicht auf Eiderdunen saß. Der Gymnasiast mußte auf dem Bock Platz nehmen; er war ein lang aufgeschossener Bursche von vierzehn Jahren, der sehr viel rauchte und weit entwickelter war, als es schien.

Auf dem ganzen Wege machte er Sofie den Hof, und wenn ihn nicht die spühlichtfarbenen Augen seiner Mutter angeblinzelt hätten, so würde er wahrscheinlich Beltoff noch übertroffen haben.

Apropos, Beltoff hatte den Versuch gemacht, Sofie zu entführen, als sie von der Tante zu der Verwaltersfrau fuhr, und wahrscheinlich würde es ihm auch geglückt sein, wenn der Kutscher nicht sinnlos betrunken gewesen und einen verkehrten Weg eingeschlagen hätte. In seinem Aerger und da er im ersten Augenblick das bittere Geständnis des Fuchses machte, daß die Trauben sauer gewesen, schwatzte Beltoff in Gesellschaft von Spielbrüdern seinen Roman aus – doch stimmte seine Erzählung durchaus nicht mit der Wahrheit überein. Er behauptete, daß seine Tante, die, wie alle alten Weiber, eifersüchtig sei, Sofie, die bis über die Ohren in ihn verliebt wäre, mit Gewalt fortgeschickt; im übrigen sei er im Grunde froh, daß sie abgereist sei, nachdem sie gewisse Zeichen seiner Aufmerksamkeit empfangen habe.

Wie man weiß, führen in Europa die Zigeuner und Spieler stets ein Wanderleben, und darum darf es nicht Wunder nehmen, daß einige Tage nach Beltoffs Erzählung einer seiner Zuhörer bereits in Petersburg war. Er stand im engsten Freundschaftsverhältnis mit einer Französin, Namens Joucour, der Inhaberin einer Pension. Die Joucour, welche sich bis zu ihrem 40. Jahre täglich schnürte und aus Schamhaftigkeit ein Kleid mit hohem Kragen trug, war unerbittlich streng in Bezug auf die Sittlichkeit ihrer Nebenmenschen. Von diesem und jenem plaudernd, erzählte sie ihrem Freunde, daß ein sehr seltsames Wesen Lehrerin an ihrer Anstalt geworden: es sei eine Leibeigene der Frau Soundso und spreche ausgezeichnet französisch.

Der nomadisirende Freund lachte hell auf.

»Bah, das ist ja eine alte Bekannte! Das ist ja herrlich, ausgezeichnet – hahahaha! Ich bitte Sie, die habe ich tausendmal bei Beltoff gesehen, den sie des Nachts besuchte, wenn im Hause seiner Tante alles schlief.«

Dann machte er Madame Joucour, welche auf die Reputation ihrer Anstalt eifersüchtig war, auf den Zustand Sofien's aufmerksam. Die Joucour war vor Entsetzen außer sich und kreischte:

»Quelle démoralisation dans ce pays barbare!«

In ihrem Zorne vergaß sie alles auf der Welt, ja sogar den Umstand, daß bei einer privilegirten Hebamme an der nächsten Straßenecke zwei Kinder erzogen wurden, die gleichzeitig zur Welt gekommen waren, und von denen das eine der Jungfrau Joucour, das andere dem nomadisirenden Freunde glich.

In der ersten Hitze wollte sie zum Polizeiinspector schicken, dann zum französischen Consul fahren; aber sie überlegte sich die Sache und fand, daß dies durchaus nicht nöthig sei: sie jagte Sofie einfach ohne weiteres in der rohesten Weise aus dem Hause, wobei sie in der Eile vergaß, ihr das Geld auszuzahlen, das sie ihr schuldig geworden.

Jungfrau Joucour erzählte noch drei andern Pensionsinhaberinnen die schreckliche Historie, diese theilten dieselbe allen andern Pensionsmüttern in Petersburg mit. Wohin das arme Mädchen sich auch wandte, überall wurde ihr die Thür gewiesen. Sie suchte eine Stelle in einem Privathause – aber wo eine solche finden? Bekannte hatte sie nicht; da bot sich ihr eine Privatstelle und zwar eine recht vortheilhafte; aber die Mutter erkundigte sich erst, bevor sie sich band, bei Madame Joucour – und da dankte sie der Vorsehung für die Rettung ihrer Tochter.

Sofie wartete noch eine Woche und überzählte ihr Geld – sie hatte noch 35 Rubel und gar keine Hoffnung auf ein Unterkommen; das Zimmer, das sie gemiethet, war viel zu theuer für ihre Verhältnisse, und nachdem sie lange gesucht, zog sie endlich in den fünften, wenn nicht sechsten Stock eines ungeheuren Hauses am Ende der Erbsenstraße. Man mußte durch zwei schmutzige Höfe gehen, die aussahen wie der Boden eines noch nicht ganz ausgetrockneten Sees, um zu einer kleinen, kaum bemerkbaren Thür in einer ungeheuren Mauer zu kommen. Von dort führte eine feuchte, finstere Treppe mit morschen Stufen eine unendliche Treppe hinauf, zu welcher an jedem Absatz zwei, drei Thüren führten. Ganz oben, unter dem finnischen Himmel, wie die Petersburger Witzbolde sich ausdrücken, bewohnte eine alte Deutsche ein kleines Stübchen. Sie war an beiden Beinen gelähmt, kauerte, halb eine Leiche, seit vier Jahren am Ofen, strickte an den Wochentagen Strümpfe und las Sonntags in Luther's Bibelübersetzung.

Das Stübchen war drei Schritte lang. Davon glaubte die arme Deutsche zwei Drittel noch vollständig übrig zu haben, die sie denn auch nebst dem Fenster, an welches bis auf anderthalb Fuß die ziegelrothe Seitenwand des Nachbarhauses grenzte, zu vermiethen pflegte.

Sofie unterhandelte mit der Deutschen und nahm dieses Boudoir. Es war darin schmutzig, dunkel, feucht und dunstig. Die Thür ging auf einen kalten Corridor, auf welchem jammervoll aussehende, zerlumpte, bleiche, rothaarige Kinder mit skrophulös entzündeten Augen sich tummelten; rings umher war alles dicht voll trunksüchtiger Handwerksgesellen; die beste Wohnung in diesem Stock hatten Schneiderinnen inne. Niemals, wenigstens am Tage, bemerkte man, daß sie arbeiteten; aber an ihrer Lebensweise sah man deutlich, daß sie keine Noth litten. Die Köchin, welche sie bei sich hatten, eilte täglich mit einem lädirten Kruge fünfmal hinüber in die Schenke . . .

Alle Bemühungen Sofien's, eine Stelle zu finden, waren vergebens; die gute Deutsche war ihr behilflich und bemühte sich für sie mittels ihrer einzigen Bekannten, einer Landsmännin, welche irgendwo als Kinderwärterin diente. Diese versprach, sich nach irgend einer Stellung für sie umzuthun, aber es wollte sich nichts finden.

Sofie entschloß sich zum Aeußersten, sie suchte eine Stelle als Stubenmädchen; und sie fand auch eine solche, man einigte sich über den Preis. Aber die »besonderen Kennzeichen« in dem Reisepaß setzten die Dame so in Erstaunen, daß sie sagte:

»Nein, liebes Kind, ich bin nicht im Stande, mir ein Stubenmädchen zu halten, das französisch spricht.«

Sofie entschloß sich Näherin zu werden. Die Directrice war sehr mit ihr zufrieden, bezahlte ihr fast alles, was sie ihr schuldig war und lud sie zu sich zum Thee, statt dessen sie ihr starkes Bier vorsetzte.

Sie versuchte das arme Mädchen zu überreden, zu ihr zu ziehen; aber ein gewisser innerer Schrecken hielt Sofie davon ab und so schlug sie es aus. Das beleidigte die Directrice aufs Empfindlichste, und als Sofie ging, warf sie stolz die Thür ins Schloß und sagte:

»Du wirst schon selbst darum bitten; du thust ja gerade, wie ein Fräulein! Bei uns wohnt eine Deutsche aus Riga, und die ist ebenso hübsch wie du!«

Abends äußerte sich die Directrice mit beißender Ironie über das arme Mädchen gegen den Commissar, der manchmal des Abends zu ihr kam, um in angenehmer Gesellschaft von den Mühen des Tages auszuruhen, und sie flößte ihm ein solches Interesse ein, daß er sich sofort in das Stübchen der Deutschen begab und sie fragte:

»Nun, Frau Madame, wie geht's? Wie steht's? Es wäre doch wohl Zeit, daß Sie sich auch mal auf die Beine machten.«

Die Deutsche setzte sich hastig eine Haube auf, welche für unvorhergesehene Fälle stets neben ihr lag, und antwortete:

»Was soll man machen? Gott hebt mich nicht auf!«

»Aber wo ist denn das Mädel, diese Sofie, die bei Ihnen wohnt?«

»Hier,« antwortete Sofie.

»Wo hast du denn Französisch gelernt, he? Verflixtes Mädel; na, so rede doch mal französisch.«

Sofie schwieg.

»Na, es scheint, du kannst gar nicht? Nun, so sprich doch mal was!«

Sofie bewahrte Schweigen und ihre Augen füllten sich mit Thränen.

»Frau Madame, na, versteht sie auch Ihre Sprache?«

»Sehr gut.«

»Kann man bei Ihnen nicht ein Gläschen Branntwein bekommen? . . . Ich bin ganz durchfroren.«

»Nein,« antwortete die Deutsche.

»Das ist schlimm, – na, wem gehört denn dieser Apfel?«

(Diesen Apfel hatte der alten Frau ihre deutsche Bekannte gebracht, und sie hob ihn sich auf, um ihn am Sonntag bei der Lectüre von Luther's Bibelübersetzung zu essen.)

»Mir,« antwortete die Deutsche.

»Na, aber du kannst ihn doch nicht aufessen, die Französin da würde ihn dir essen; na, adieu!« sagte der Commissar, der im übrigen keinerlei Unheil anrichtete und sehr mit sich zufrieden fortging, sich den Apfel in die Tasche steckte und die Schneiderinnen aufsuchte.

Trübe und schrecklich vergingen die Tage. Durch alles und alle beleidigt und gedemüthigt, verkam das unglückliche Mädchen in diesem Schmutz. Wäre sie weniger gebildet gewesen, so hätte sie vielleicht auch hier einen Ausweg gefunden, aber ihre Erziehung hatte in ihr ein so außerordentliches Zartgefühl entwickelt, daß alles, was sie umgab, zehnfach mächtiger auf sie einwirkte.

Es gab Augenblicke, wo sie so ermattet, so von ihren Geisteskräften gelähmt war, daß sie wahrscheinlich tief gesunken wäre, wenn nicht die schmutzige, widerwärtige Gestalt, in welcher das Laster sich ihr zeigte, sie vor dem Fall bewahrt hätte. Es gab Augenblicke, wo der Gedanke ihr durch den Kopf ging, Gift zu nehmen, um so aus ihrer schrecklichen Lage herauszukommen. Sie gab sich umsomehr der Verzweiflung hin, da sie sich nichts vorwerfen konnte. Es gab Augenblicke, in welchen bitterer Haß ihr Herz erfüllte, und in einem solchen Augenblicke griff sie zur Feder und schrieb ohne sich erst Rechenschaft darüber zu geben, was und warum sie das that, in einem gewissen feierlichen Zorn einen Brief an Beltoff.

Derselbe lautete:

»Ich kann und will nicht länger an mir halten. Ich schreibe Ihnen – schreibe Ihnen nur, um mir eine, vielleicht die letzte Freude in meinem Leben zu gönnen, die Freude, Ihnen meine ganze Verachtung auszudrücken. Gern gebe ich die letzten Kopeken, welche für Brot bestimmt waren, der Post für diesen Brief hin; der Gedanke wird mich beleben, daß Sie ihn lesen werden. Ihr Benehmen gegen mich im Hause Ihrer Tante bewies mir, daß Sie ein sitten- und zügelloser Mensch, ein herzloser Wüstling sind. – Noch entschuldigte ich Sie – natürlich aus Unerfahrenheit – mit Ihrer schlechten Erziehung, mit der Umgebung, in der Sie Ihr Leben verbringen; ich entschuldigte Sie damit, daß meine seltsame Stellung Sie zu Ihrem Benehmen gleichsam herausgefordert habe. Aber die Verleumdung, mit der Sie derselben die Krone aufgesetzt, die niedrige, elende Verleumdung zeigte mir die ganze Gemeinheit Ihrer Gesinnung. Ich sage nicht einmal Bosheit, sondern eben Gemeinheit. Aus Rachsucht, aus kleinlicher Eigenliebe beschlossen Sie, ein schutzloses Mädchen zu Grunde zu richten, sie mit Lügen zu verfolgen. Warum? Haben Sie mich etwa wirklich geliebt? Fragen Sie doch Ihr Gewissen . . . Freuen Sie sich doch, es ist Ihnen geglückt: Ihr Freund hat mich hier angeschwärzt, ich bin fortgejagt, mit Verachtung behandelt worden, ich mußte die schrecklichsten Beleidigungen anhören; – endlich habe ich keinen Bissen Brot mehr; darum sage ich Ihnen, daß ich Sie verachte, daß Sie ein kleinlicher, verächtlicher Mensch sind; das sagt Ihnen das Stubenmädchen Ihrer Tante . . . Wie wohl thut mir der Gedanke an den ohnmächtigen Zorn, an die Wuth, mit der Sie diese Zeilen lesen werden; man hält Sie ja wohl für einen anständigen Menschen, und wahrscheinlich würden Sie, wenn Ihnen das einer Ihresgleichen sagte, ihm eine Kugel durch den Kopf jagen.«

Beltoff wälzte sich gerade, nachdem er alles verspielt, in ärgerlicher Stimmung in Erwartung des Thees auf dem Sopha, als der nach der Stadt gesandte Diener ihm unter anderem Sofien's Brief brachte. Er kannte ihre Handschrift nicht, und da er somit aus der Adresse nicht errathen konnte, von wem der Brief war, so brach er ihn gleichmüthig auf.

Bei der ersten Zeile begann seine Hand zu zittern, aber er las den Brief ruhig zu Ende, stand auf, faltete ihn sorgfältig wieder und setzte sich dann an den Tisch und wandte den Kopf dem Fenster zu.

Zwei Stunden brachte er in dieser Haltung zu. Der Thee stand schon längst auf dem Tisch; noch immer hatte er sein Glas nicht angerührt; seine Pfeife war schon längst ausgeraucht, und doch rief er seinen Diener nicht herbei.

Als er wieder vollständig zur Besinnung gekommen war, war es ihm, als hätte er eine lange schwere Krankheit überstanden; er empfand eine Schwäche in den Beinen, er war müde, es sauste ihm in den Ohren; mehrmals faßte er sich mit der Hand an den Kopf, wie um zu fühlen, ob er denn seinen Kopf auch noch habe: es fror ihn, er war kreidebleich, begab sich ins Schlafzimmer, schickte seinen Diener hinaus, und warf sich vollständig angekleidet aufs Sopha . . .

Nach Verlauf einer Stunde klingelte er und am andern Morgen, fast noch vor Tagesanbruch, rasselte über den Damm neben der Mühle ein Reisewagen, der von vier kräftigen Pferden bergauf gezogen wurde. Die Müller kamen heraus um nachzusehen, und fragten:

»Wohin reist denn unser Herr?«

»Man sagt nach Petersburg,« antwortete einer von ihnen.

Ein halbes Jahr später rasselte derselbe Wagen wieder über den Mühlendamm zurück: der gnädige Herr kehrte mit der gnädigen Frau heim. Der Dorfgeistliche, der zu Beltoff gekommen war, um ihm zu gratuliren, sagte, als er wieder zu Hause angelangt war, mit dem allergrößten Erstaunen zu seiner Gattin:

»Frau, Frau, weißt du, wer die gnädige Frau ist? Die ehemalige Lehrerin, welche Wera Wassiljewna, die gnädige Frau von Sassjekino hatte. Wunderbar, o Herr, sind deine Wege!«

»Nicht wahr,« antwortete die Popenfrau, »jetzt darf man ihr wohl gar nicht mehr nahe kommen?«

»Nein, ich will nicht falsches Zeugnis ablegen,« antwortete der Geistliche, »sie ist gesprächig und freundlich.«

Die Tante, welche auf Beltoff wegen seines ersten Streiches mit der Gouvernante nur zwei Tage erzürnt gewesen, konnte Zeit ihres Lebens die nichtsnutzige eheliche Verbindung ihres Neffen nicht vergessen, und starb, ohne daß er ihr je wieder unter die Augen hatte treten dürfen. Sie pflegte zu sagen, sie würde hundert Jahre alt werden, wenn dieser unglückliche Zwischenfall ihr nicht Schlaf und Appetit raubten.

So ist einmal das weibliche Herz beschaffen: Frau Beltoff selbst konnte die schrecklichen Erfahrungen, die sie vor ihrer Verheirathung gemacht, nicht verwinden. Es giebt zarte, feine Organismen, welche eben wegen ihrer Zartheit vom Gram nicht zerstört werden, demselben anscheinend nachgeben, aber das, was sie erfahren, tief, furchtbar tief in sich aufnehmen und während ihres ganzen Lebens sich dem Einfluß derselben nicht entziehen können: die erlittene Unbill bleibt als eine schadhafte Materie zurück, lebt im Blute, in ihrem innersten Lebensmark, bald verbirgt sie sich, bald offenbart sie sich plötzlich mit furchtbarer Macht und zerstört den Körper. Just eine solche Natur hatte auch Frau Beltoff: weder die Liebe ihres Mannes, noch der wohlthätige Einfluß, den sie auf ihren Mann übte und der sichtlich zu Tage trat, vermochten die Bitterkeit aus ihrer Seele zu bannen. Sie fürchtete sich vor ihren Mitmenschen, war träumerisch, scheu geworden, verschloß sich in sich selbst, ward hager, bleich und mißtrauisch, hatte immer Angst vor irgend etwas, brach leicht in Thränen aus und saß ganze Stunden schweigend auf dem Balkon.

Drei Jahre später erkrankte Beltoff und starb fünf Tage nachher. Sein durch das frühere Leben erschöpfter Körper hatte nicht mehr Kraft genug, das Fieber zu besiegen; er starb besinnungslos. Sofie brachte ihm ihren zweijährigen Knaben: er blickte ihn wild an und das erschreckte Kind streckte die Händchen nach dem andern Zimmer aus.

Dieser Schlag erschütterte Frau Beltoff bis ins Innerste; sie hatte diesen Mann seiner leidenschaftlichen Reue wegen geliebt; sie hatte erkannt, daß sich unter dem Schmutz, den seine Umgebung ihm angeklebt, eine edle Natur barg; sie wußte seine Besserung zu würdigen. Ja, sie hatte sogar die manchmal wiederkehrenden Ausbrüche ausgelassenster Fröhlichkeit seines wilden, ungebändigten Charakters an ihm geliebt.

Frau Beltoff widmete sich nach dem Tode ihres Mannes mit ihrer krankhaften Reizbarkeit der Erziehung ihres Kindes, und wenn es des Nachts nicht schlafen konnte, so schlief sie gar nicht, wenn es unwohl schien, war sie krank; kurz sie lebte, athmete nur in ihm, war seine Wärterin, seine Amme, seine Puppe, sein Pferdchen.

Aber auch diese fieberhafte Liebe zu ihrem Sohn war mit dem finstern Element ihrer Seele verwandt. Fast unablässig quälte sie der Gedanke, sie könnte ihr Kind verlieren, und oft betrachtete sie verzweiflungsvoll den schlafenden Knaben; und wenn er ganz ruhig war, hielt sie ängstlich ihre bebende Hand an seine Lippen. Aber trotz ihrer inneren Stimme, wie sie ihre krankhafte Einbildung nannte, wuchs der Knabe heran, und wenn er auch nicht sehr gesund war, so war er doch auch nicht krank.

Niemals verließ sie Bjeloje-Pole. Der Knabe war vollständig allein, und, wie alle allein aufwachsenden Kinder, entwickelte er sich sehr früh. Uebrigens zeigten sich auch, abgesehen von äußeren Einflüssen, an dem Knaben gar bald unzweideutige Zeichen tüchtiger Begabung und eines energischen Charakters.

Es kam die Zeit zum Lernen. Frau Beltoff reiste mit ihrem Sohn nach Moskau, um einen Hauslehrer für ihn zu suchen. In Moskau wohnte ein Oheim ihres verstorbenen Mannes, ein sehr origineller Mensch, der von seiner ganzen Verwandtschaft gehaßt wurde, ein launenhafter, sehr kluger, müßiggängerischer Hagestolz, der wegen seiner Eigenheiten in der That unerträglich war.

Ich kann mich nicht enthalten, auch über diesen Sonderling einiges zu sagen. Ich habe nun einmal ein sehr großes Interesse für die Lebensgeschichte aller Menschen, die ich kennen lerne. Dem Anschein nach ist das Leben gewöhnlicher Menschen einförmig – aber nur dem Anschein nach. Nichts auf der Welt ist origineller und mannigfaltiger als die Lebensgeschichte unbekannter Menschen, namentlich da, wo nicht zwei Menschen durch dieselben gemeinsamen Ideen vereint sind, wo jeder Jüngling sich in seiner Weise entwickelt und bildet, ohne irgendwie daran zu denken, was einmal aus ihm werden könnte!

Wenn ich die Fähigkeit dazu besäße, würde ich ein biographisches Wörterbuch herausgeben, und etwa in alphabetischer Ordnung zunächst alle die zusammenstellen, welche keinen Bart tragen. Der Kürze wegen könnten die Lebensbeschreibungen der Gelehrten, Literaten, Künstler, ausgezeichneten Krieger und Staatsmänner, – überhaupt all der Menschen, welche vom allgemeinen Interesse in Anspruch genommen werden, wegfallen; ihr Leben ist einförmig, langweilig; Erfolge, Talente, Verfolgungen, Beifall, ein Leben im oder außer dem Hause, der Tod auf halbem Wege, Armuth im Alter – das alles gehört nicht dem Betreffenden, sondern seiner Zeit. Darum vermeide ich keineswegs biographische Abschweifungen: sie offenbaren den ganzen Reichthum der Schöpfung. Wer Lust hat, mag daher diese Episoden überschlagen, aber damit überschlägt er auch zugleich die Erzählung selbst.

Also die Lebensgeschichte des Oheims.

Sein Vater, ein Gutsbesitzer in der Steppe, gab sich immer für einen ruinirten Mann aus, ging Zeit seines Lebens in einem Schafspelz ohne Ueberzug umher, fuhr selbst nach der Gouvernementsstadt, um Roggen, Gerste und Hafer zu verkaufen, wobei er, wie das so Sitte und Brauch, falsches Maß gab und dafür manchmal eine harte Lehre einstecken mußte.

Allein trotz seiner ruinirten Verhältnisse brachte er seinen Sohn in die Garde und gab ihm acht Pferde, zwei Köche, einen Kammerdiener, einen Riesen von Lakai und vier kleine Burschen als hors d'oevre mit.

In Petersburg fand man, daß der junge Offizier eine ausgezeichnete Erziehung genossen, d. h. ein Jüngling sei, der acht Pferde, eine ebenso große Anzahl Diener, zwei Köche u. s. w. besitze. Anfangs ging alles herrlich. Der zukünftige Onkel wurde Gardefähnrich, – da plötzlich ereignete sich in seinem Leben ein wichtiger Vorfall: es war das in den siebziger Jahren. An einem schönen Wintertage kam er auf den Gedanken, im Schlitten über den Newskiprospekt zu fahren. Hinter der Anitschkoffschen Brücke holte ihn ein großer dreispänniger Schlitten ein, welcher mit ihm eine Wettfahrt begann und ihn überholen wollte. – Ihr kennt ja doch das russische Herz: der Fähnrich rief dem Kutscher zu: »Vorwärts!«

»Vorwärts!« rief mit Donnerstimme ein hoher, stattlicher Mann, der in einen Bärenpelz gehüllt war und in dem andern Schlitten saß.

Der Fähnrich gewann einen Vorsprung. Athemlos vor Wuth versetzte beim Umlenken der Herr in dem Bärenpelz dem Kutscher des Fähnrichs mit der Peitsche, die er in der Hand hielt, einen Schlag, wobei er absichtlich dessen Herrn streifte.

»Nicht überjagen, Bestie!«

»Sind Sie verrückt?« fragte der Offizier.

»Ich will's Ihrem Dummkopf da abgewöhnen, mich wieder zu überjagen.«

»Das hatte ich ihm befohlen, mein geehrter Herr, und Sie begreifen, daß ich die Uniform des Kaisers zu sehr achte, um sie entehren zu lassen.«

»Bah, ein solcher Held – wer bist du denn?«

»Und wer bist du?« fragte der Fähnrich, der sich wie ein wildes Thier auf ihn stürzen wollte.

Der stattliche Mann sah ihn verächtlich an, zeigte ihm seine Riesenfaust und sagte:

»Ein Faustkampf? Nein, Freundchen, das laß bleiben!«

Darauf rief er seinem Kutscher ein Vorwärts zu.

»Ihm nach!« schrie der Fähnrich seinem Kutscher zu, und dann setzte er ein paar Worte hinzu, die aller Welt so bekannt sind, daß sie sich nicht einmal im Wörterbuche finden.

Der Offizier erfuhr wirklich, wo dieser Herr wohnte, stattete ihm jedoch keinen Besuch ab; er beschloß, ihm einen Brief zu schreiben und hatte bereits recht glücklich angefangen, als er wie absichtlich gestört wurde: der General ließ ihn in Arrest stecken; darauf ward er in die Garnison Orsk versetzt. Die Festung Orsk liegt ganz auf einem Jaspisfelsen, was jedoch nicht verhindert, daß es dort sehr langweilig ist.

Der Offizier nahm ein Exemplar von Crébillons Romanen mit sich und mit dieser Erbauungslectüre begab er sich nach der Grenze der Ufimschen Provinz.

Nach drei Jahren wurde er in die Garde zurückversetzt, aber er kehrte, wie seine Bekannten bemerkten, etwas angerissen aus der Festung Orsk zurück. Er nahm seine Entlassung und begab sich auf die Besitzungen, die ihm sein ruinirter Vater hinterlassen, der, obgleich er immer ächzend im Schafpelz ohne Ueberzug umhergegangen, doch, um seine Besitzungen abzurunden, noch anderthalb tausend Seelen hinzugekauft hatte.

Dort gerieth der neue Gutsbesitzer mit all seinen Verwandten in Streit und reiste ins Ausland. Drei Jahre brachte er auf englischen Universitäten zu, dann bereiste er fast ganz Europa, Oesterreich und Spanien ausgenommen, die er nicht leiden konnte, knüpfte mit allen Berühmtheiten Verbindungen an, brachte ganze Abende mit Bonnet zu, mit dem er über organisches Leben sich unterhielt, und plauderte ganze Nächte beim Wein mit Beaumarchais über dessen Prozesse; unterhielt einen freundschaftlichen Briefwechsel mit Schlözer, der damals seine berühmte Zeitschrift herausgab; reiste extra nach Ermenonville zu dem sterbenden Jean Jacques Rousseau, und fuhr stolz an Ferney vorbei, ohne Voltaire einen Besuch zu machen.

Nach zehn Jahren kehrte er aus dem Auslande zurück und versuchte es in Petersburg zu leben.

Das Petersburger Leben war nicht nach seinem Geschmack und er ließ sich in Moskau nieder. Erst fand er alles seltsam, dann fanden alle ihn seltsam. Und in der That gab er dazu Grund genug. – Er las nur medicinische Bücher, ließ sich sichtlich gehen, wurde verbittert, launenhaft, und gegen jedermann kalt und fremd . . .

Um die Zeit, als Frau Beltoff einen Hauslehrer suchte, kam ein von seinen Schweizer Freunden empfohlener Mann aus Genf zu ihm, der eine Erzieherstelle suchte.

Dieser Genfer war ein Mann von 40 Jahren, grauköpfig, hager, mit jugendlich blauen Augen und einem Ausdruck strenger Rechtlichkeit auf dem Gesicht. Er besaß eine vorzügliche Bildung, war ein tüchtiger Kenner der lateinischen Sprache und ein guter Botaniker. Die Sache der Erziehung betrachtete der Schwärmer mit jugendlicher Gewissenhaftigkeit als die Erfüllung einer Pflicht, als eine schreckliche Gewissenssache. Er hatte alle möglichen Abhandlungen über Erziehung und Pädagogik gelesen: nicht blos Rousseau's Emil und Pestalozzi's Schriften, sondern auch Basedow und Nikolai; doch eines hatte er aus seinen Büchern nicht herausgelesen, daß das Wichtigste der Erziehung darin bestehe, den Geist des jungen Mannes mit seiner Umgebung in Harmonie zu bringen, daß die Erziehung eine klimatologische sein müsse, daß es für jede Zeit, für jedes Land, und noch mehr für jeden Stand, ja vielleicht gar für jede Familie eine besondere Erziehung geben müsse.

Das konnte der Genfer nicht wissen; er hatte das Menschenherz nach Plutarch studirt, er kannte seine Zeit aus Malte Brun und den Statistikern; trotz seiner 40 Jahre konnte er noch nicht ohne Thränen Schillers Don Carlos lesen, glaubte noch aufrichtig an Aufopferungsfähigkeit, konnte es Napoleon nicht verzeihen, daß er Corsika nicht befreit und trug Paoli's Porträt mit sich herum.

Allerdings war er mit der praktischen Welt vielfach bitter zusammengestoßen; Armuth und Mißerfolge drückten ihn sehr; aber gerade darum lernte er die Wirklichkeit noch weniger kennen. Schwermüthig wanderte er an den wunderbaren Gestaden des Genfer Sees umher, unwillig über sein Geschick, unwillig über Europa. Da plötzlich wies ihn seine Phantasie nach Norden: nach dem neuen Lande, das in moralischer Beziehung – wie Australien in physischer – ihm etwas Eigenartiges, Neues, Entstehendes im großen Maßstabe zu bieten schien . . .

Unser Genfer kaufte sich Levesque's Geschichte, las Voltaire's Peter I., und reiste nach acht Tagen zu Fuß nach Petersburg.

Bei all seiner jungfräulichen Weltanschauung besaß der Genfer eine gewisse unerschütterliche Gründlichkeit, ja sogar eine eigentümliche Kälte. Ein kalter Schwärmer ist unverbesserlich, – er bleibt Zeit seines Lebens ein Kind.

Frau Beltoff lernte ihn bei ihrem Oheim kennen. Sie hatte kaum zu hoffen gewagt, daß sie das Ideal von Hauslehrer finden würde, das sie sich in ihrer Phantasie gebildet. Aber der Genfer kam ihrem Ideal nahe. Sie bot ihm – was damals sehr viel war – viertausend Rubel jährlich an. Der Genfer sagte, er brauche nur eintausendzweihundert und damit sei er zufrieden. Frau Beltoff gab ihr Erstaunen zu erkennen, aber er erwiderte gelassen: er wolle nicht mehr und nicht weniger haben, als er brauche; er habe sein Budget einmal auf achthundert Rubel festgesetzt und für unvorhergesehene Fälle bestimme er noch vierhundert.

»An Luxus«, fügte er hinzu, »will ich mich nicht gewöhnen, und ein Kapital zu sammeln halte ich für eine ehrlose Handlung.«

Diesem Narren vertraute die Mutter die Erziehung des zukünftigen Besitzers von Bjeloje-Pole an.

Nur der alte Oheim war, wie mit allem in der Welt, so auch hiermit nicht zufrieden, und während Frau Beltoff außer sich vor Freuden darüber war, sagte der Oheim – der einzige von allen Verwandten ihres Mannes, der mit ihr verkehrte:

»Ach, Sofie, Sofie! Welche Dummheit begehst du da! Der Genfer sollte ruhig mein Vorleser bleiben, was befähigt ihn denn zum Erzieher? Er braucht ja noch eine Wärterin, und was wird er aus Wladimir machen – einen Schweizer. Da wäre es meiner Ansicht nach besser, du brächtest deinen Sohn gleich nach Vevey oder Lausanne . . .«

Sofie sah in diesen Worten eine gewisse Selbstsucht des Alten, der den Genfer liebgewonnen hatte, und da sie ihn nicht erzürnen mochte, schwieg sie.

Vierzehn Tage später begab sie sich mit ihrem Sohne und dem vierzigjährigen Jüngling auf ihr Gut zurück.

Es war im Frühling. Der Genfer begann damit, daß er Wladimir eine leidenschaftliche Liebe zur Botanik einflößte: schon früh Morgens gingen sie aus, um Pflanzen zu sammeln. Und eine lebensvolle Unterhaltung trat an die Stelle langweiliger Lectionen. Jeder Gegenstand, der ihnen in die Augen fiel, bildete ein Thema, und WolodjaDiminutiv von Wladimir, Woldemar. hörte mit der größten Aufmerksamkeit den Erklärungen des Genfers zu.

Nach Tisch saßen sie gewöhnlich auf dem Balkon, der auf den Garten ging, und der Genfer erzählte ihm von dem Leben und Wirken großer Männer, schilderte die weiten Reisen, und gestattete Wolodja bisweilen, wie zur Belohnung, selbst im Plutarch zu lesen . . .

Die Zeit schwand dahin, und endlich kam auch die Zeit, da Wolodja auf die Universität geschickt werden mußte. Die Mutter hatte wenig Lust dazu. Sie hatte sich in diesen Jahren mehr an ein stilles Glück als an das volle, laute Leben gewöhnt; es war ihr so wohl in diesem ungestörten, harmonischen Leben, daß sie sich vor jeder Veränderung fürchtete: es war ihr zur lieben Gewohnheit geworden, auf ihrem traulichen Balkon Wolodja zu erwarten, wenn er von weiten Spaziergängen heimkehrte; wie freute sie sich über ihn, wenn er, sich den Schweiß vom Gesicht wischend, erröthend und froh ihr um den Hals fiel; sie betrachtete ihn mit solchem Stolz, mit solchem Glück, daß sie hätte weinen mögen.

Und in der That, Wolodja's Erscheinung hatte etwas Rührendes: sie war so edel, es sprach sich darin etwas so Gerades, Offenes, Vertrauensvolles aus, daß jedem, der ihn ansah, wohl ums Herz wurde, während ihn doch zugleich eine gewisse traurige Empfindung wegen dieses Jünglings ergriff. Wie klar sah man, daß diesem schlanken, wohlgestalteten Knaben mit den hellen Augen das Leben noch keine einzige Bürde auferlegt, daß noch kein Gefühl der Angst diese Brust heimgesucht, keine Lüge über diese Lippen gekommen, daß er noch gar nicht wußte, was die Zeit ihm vorbehalten. Der Genfer war seinem Schüler fast ebenso zugethan, wie die Mutter. Manchmal, wenn er ihn lange betrachtete, senkte er die thränengefüllten Augen und dachte:

»Auch mein Leben ist kein verlorenes, ich habe genug, genug an dem Bewußtsein, daß ich die Entwickelung eines solchen Jünglings gefördert – mein Gewissen wird mir keine Vorwürfe machen!«

Wie verwirrt, wie seltsam ist doch alles auf dieser Welt! Weder die Mutter noch der Erzieher dachten natürlich daran, wieviel Kummer, wieviel Schmerz sie Wolodja durch diese einseitige Erziehung bereiten würden. Sie thaten alles, damit er die wirkliche nicht kennen lerne; vorsichtig verbargen sie ihm, was in der trüben Welt vorging; und statt ihm die bittere Wirklichkeit zu erklären, hielten sie ihm glänzende Ideale vor Augen; statt ihn auf den Markt zu führen und ihm die hungrige Gier der Menge zu zeigen, die dem Gelde nachjagt, ließen sie ihn ein wunderschönes Ballet besuchen und versicherten dem Knaben, diese Grazie, diese musikalische Vereinigung von Bewegung und Tönen sei das gewöhnliche Leben. Sie machten aus ihm eine Art moralischen Kaspar Hauser . . .

So war auch der Genfer; aber welcher Unterschied! . . . Er, der arme Gelehrte, der sich nicht scheute, von einem Ende der Welt bis zum andern zu wandern, mit einem kleinen Ränzel auf dem Rücken, dem Porträt Paoli's, seinen Lieblingsträumereien und seiner Gewohnheit, sich mit Wenigem zu begnügen, mit seiner Verachtung des Luxus und seiner Liebe zur Arbeit, was hatte er gemein mit Wolodja's Beruf und seiner gesellschaftlichen Stellung? . . .

Aber so sehr Frau Beltoff sich auch an ihr einsames Leben gewöhnt hatte, so schmerzlich es ihr auch war, sich von dem stillen Bjeloje-Pole loszureißen, sie entschloß sich dennoch nach Moskau zu reisen.

Dort angelangt, brachte sie ihren Wolodja sofort zu dem Oheim. Der Greis war sehr schwach; sie fand ihn in halb liegender Stellung in einem Sessel; die Füße waren in wollene Tücher gewickelt, das graue, spärliche Haar hing in langen Büscheln über den Schlafrock herab; um die Augen hatte er einen grünen Schirm.

»Nun, womit beschäftigst du dich, Wladimir Petrowitsch?« fragte der Greis.

»Ich bereite mich auf die Universität vor, lieber Onkel,« antwortete der Jüngling.

»Auf welche?«

»Auf die Moskauer.«

»Was willst du denn dort? Ich bin selbst mit dem Matthiae und dem Heym bekannt gewesen, – aber ich glaube doch, du gingst besser nach Oxford; was meinst du, Sofie? Ja, ja, es wäre wirklich besser. Und was willst du denn studiren?«

»Jurisprudenz, lieber Onkel.«

Der Onkel machte eine verächtliche Miene.

»Na, und wenn du wirklich le droit naturel, le droit des gens, le code de Justinien studirt hast, was dann?«

»Dann,« antwortete die Mutter lächelnd, »dann wird er zu Petersburg in den Staatsdienst treten!«

»Hahaha, da ist es sehr nothwendig, die Pandekten und all diese Glossen zu kennen; oder wollen Sie vielleicht, Wladimir Petrowitsch, Juris consulatus werden? . . . Hahaha! . . . Oder Advocat? . . . Mach's wie du für gut hältst, aber meiner Ansicht nach, Freundchen, wäre es besser, du studirtest Medicin; ich vermache dir meine Bibliothek – eine große Bibliothek; – habe sie in bester Ordnung erhalten, und alles neue verschrieben; die medicinische Wissenschaft ist jetzt die beste; na, da kannst du dich deinen Mitmenschen nützlich machen, nicht für Geld curiren, du wirst's umsonst thun – und hast ein ruhiges Gewissen.«

Da sie wußten, mit welcher Hartnäckigkeit der Onkel an seinen Meinungen festhielt, so widersprach weder Wolodja noch seine Mutter; aber der Genfer konnte nicht an sich halten und sagte:

»Allerdings ist die Laufbahn eines Arztes eine sehr schöne; aber ich wüßte nicht, warum Wladimir Petrowitsch sich nicht dem Staatsdienste widmen sollte, da man doch alle Mittel anwendet, um gebildete junge Leute in den Staatsdienst zu ziehen.«

»Er will euch und auch mich belehren, und ich war in Genf, als er noch auf allen Vieren kroch,« antwortete der launenhafte Greis. »Mein lieber Citoyen de Genève, wissen Sie auch,« fügte er etwas weicher hinzu, »wir haben eine russische Übersetzung des Jean Jacques unter dem Titel: Die Werke des Genfer Bürgers Rousseau.«

Und der Greis schüttelte sich vor Lachen. Hundertmal sprach er von dieser Übersetzung, und immer glaubte er seinem Zuhörer etwas Neues zu erzählen.

»Wolodja,« fuhr er jetzt in heiterer Stimmung fort, »machst du vielleicht auch Verse?«

»Ich hab's versucht, lieber Onkel,« antwortete Wladimir und erröthete.

»Ich bitte dich, schreib keine, mein Lieber; nur Hohlköpfe schreiben Verse, das ist weiter nichts als Futilité, man muß sich mit etwas Solidem beschäftigen.«

Nur den letzteren Rath befolgte Wladimir: er machte keine Verse mehr. Die Universität aber besuchte er nicht in Oxford sondern in Moskau, und er studirte nicht Medicin sondern Staatswissenschaften. Die Universität vollendete Beltoffs Erziehung: bisher war er allein gewesen; jetzt gerieth er in die geräuschvolle Gesellschaft seiner Studiengenossen. Hier lernte er ganz seine Kraft kennen, hier begegnete er der warmen Theilnahme jugendlicher Freunde, und allem Schönen erschlossen, widmete er sich mit Eifer den Wissenschaften; selbst der Decan blieb nicht gleichgültig gegen ihn, er fand, daß er nur kürzeres Haar tragen und mehr Ehrerbietung gegen seine Lehrer beweisen müsse, um ein ausgezeichneter Student zu sein.

Endlich waren die Studien beendet und die Jünglinge erhielten ihren Paß fürs Leben. Frau Beltoff war im Begriff nach Petersburg zu reisen; sie wollte den Sohn vorausschicken und dann, nachdem sie ihre Angelegenheiten geordnet, nachfolgen. Bevor die Universitätsfreunde sich in alle Winde zerstreuten, kamen sie bei Beltoff am Abend vor der Abreise noch einmal zusammen; alle waren noch voller Hoffnungen, die Zukunft breitete ihnen ihre Arme aus und lockte sie, zum Theil gleich Kleopatra sich das Recht vorbehaltend, für die herrlichen Genüsse zu strafen. Die jungen Leute entwarfen sich ungeheure Pläne . . . Keiner ahnte, daß der eine seine Laufbahn als Bureaudirector beenden würde, nachdem er sein ganzes Vermögen im Preferencespiel verloren; daß der andere im Provinzleben verknöchern und sich unwohl fühlen würde, wenn er vor dem Essen nicht drei Gläschen Branntwein trinken und nach dem Essen drei Stunden schlafen könnte; daß der dritte später ewig in Zorn darüber sein würde, daß Jünglinge nicht Greise sind, daß sie in Manieren und sittlicher Haltung nicht einem Executor gleichen, sondern ewig schwärmen und träumen.

In Beltoffs Ohren tönten noch immer die Schwüre der Freundschaft, Versicherungen der Freundschaft, das Klirren der anstoßenden Gläser, als der Genfer ihn in Reisekleidern weckte.

Entzückt fuhr unser Schwärmer nach Petersburg. Thätigkeit, Thätigkeit! . . . Dort werden seine Hoffnungen in Erfüllung gehen; dort wird er seine Pläne ausführen, dort die Wirklichkeit kennen lernen, – in diesem Centralpunkt, von welchem das ganze neue Leben Rußlands ausgeht! Moskau, dachte er, hat seine Mission erfüllt, zu ihm führen, wie zu einem heiß schlagenden Herzen, alle Pulsadern des Reiches; es schlägt für dasselbe; aber Petersburg, Petersburg – das ist Rußlands Gehirn, das von einem Schädel aus Eis und Granit umschlossen ist – das ist der Sitz der Gedanken des Reiches . . . Eine Reihe ähnlicher Gedanken und Metaphern schwirrte ihm ganz ungesucht im Kopf herum, und er gab sich ihnen mit heiliger Aufrichtigkeit hin.

Und mittlerweile rollte die Postkutsche von Station zu Station und führte außer unsern Träumern auch noch einen Cavalleriehauptmann a. D. mit grauem Schnurrbart, einen Beamten aus Archangelsk, der einen versteinerten Fetthering, Kamillen – für etwaige Krankheitsfälle – und einen Diener bei sich hatte, der einen ganz abgeschabten Schafpelz trug, – ferner reiste mit dem Postwagen noch ein hellblonder Fähnrich, dessen Wangen dunkler waren als sein Haar und der mit seinem Einfluß auf den Conducteur prahlte.

Für Wladimir hatten all diese Personen etwas Neues; das war ihm ein ganz ungewohnter Anblick. Gutmüthig lachte er über den Mann aus Archangelsk, als dieser sich an dem fossilen Fetthering labte, und er lächelte über seine Ungeschicklichkeit, als er kein passendes Geldstück finden konnte für eine Portion Kohlsuppe, so daß der ungeduldige Hauptmann für ihn bezahlte; es machte ihm das größte Vergnügen, daß der Bürger aus Archangelsk den Hauptmann mit Excellenz titulirte, und daß der Hauptmann keinen einzigen Gedanken aussprechen konnte, ohne dabei von Anfang bis zu Ende Worte zu gebrauchen, die weit weniger ehrerbietig waren. Das alles hörte, sah und beobachtete der Jüngling in aufgeräumter Stimmung.

Seine Ankunft in Petersburg, sein erstes Erscheinen in der Gesellschaft waren von ungewöhnlichem Glück begleitet.

Er hatte einen Empfehlungsbrief an ein altes Fräulein von großem Ansehn; als das alte Fräulein den schönen Jüngling gewahrte, gab sie das Urtheil ab, daß er sehr gebildet und ein guter Sprachkenner sei. Ihr Bruder war Director bei irgend einer Abtheilung in der Civilverwaltung. Sie stellte ihm Wladimir vor. Derselbe sprach einige Augenblicke mit ihm, war überrascht von seiner einfachen Sprechweise, von seiner vielseitigen Bildung und seinem lebhaften, feurigen Geiste. Er machte ihm den Vorschlag, ihn in seine Kanzlei aufzunehmen und sorgte selbst dafür, daß sein Chef ihm seine besondere Aufmerksamkeit zuwandte.

Eifrig widmete Wladimir sich den Geschäften; er fand Gefallen an der Büreaukratie – an dieser Büreaukratie, wie sie in dem Prisma eines neunzehnjährigen Jünglings erscheint – an diesem mühsamen, geschäftigen Treiben mit all den Nummern und Registraturen, mit den sorgenvollen Mienen und den Actenstößen unter den Armen; er sah in der Kanzlei ein Mühlrad, das die Massen von Menschen, welche über die halbe Erdoberfläche zerstreut sind, in Bewegung setze, – er betrachtete alles mit poetischem Blicke. –

Endlich kam auch seine Mutter nach Petersburg. Der Genfer wohnte noch immer bei ihnen; in der letzten Zeit hatte er die Beltoffs mehrmals verlassen wollen, allein es war ihm nicht möglich gewesen: er hatte sich so sehr in diese Familie hineingelebt, seinem Wladimir so viel von sich selbst mitgetheilt, und er schätzte dessen Mutter so hoch, daß es ihm schwer wurde, ihr Haus zu verlassen; er wurde mürrisch und kämpfte mit sich selbst – wie wir bereits bemerkten, war er ein kalter Schwärmer und folglich unverbesserlich.

Eines Abends, kurz nachdem Wladimir in den Staatsdienst getreten war, saß die kleine Familie am Kamin. Der junge Beltoff, bei dem sowohl die Eigenliebe wie das jugendliche Bewußtsein seiner Kraft und Opferfreudigkeit stark entwickelt waren, träumte von der Zukunft. Allerlei Hoffnungen, Pläne und Entwürfe gingen ihm im Kopf herum. Er träumte von einer großen Wirksamkeit im Civildienst und davon, wie er derselben sein ganzes Leben widmen wollte . . . Und von dem Bilde der selbstgeschaffenen Zukunft entzückt, fiel der feurige Jüngling plötzlich dem Genfer um den Hals.

»Und wie vieles habe ich dir zu danken, du unser wahrer, guter Freund,« sagte er zu ihm, »daß du mich zum Manne gemacht hast, dir und meiner Mutter habe ich alles zu danken, du bist mir mehr als ein leiblicher Vater!«

Der Schweizer bedeckte die Augen mit der Hand, dann sah er die Mutter an, von der Mutter blickte er auf den Sohn, wollte etwas sagen, vermochte aber kein Wort hervorzubringen, stand auf und ging aus dem Zimmer.

In seinem kleinen Cabinet angekommen, verschloß der Schweizer die Thür, zog unter dem Sopha sein bestaubtes Köfferchen hervor, wischte es ab und begann langsam seine Kostbarkeiten einzupacken, wobei er sie mit besonderer Liebe betrachtete. Diese Kostbarkeiten offenbarten die ganze Zärtlichkeit dieses Mannes. Er bewahrte sorgfältig eine eingeschlagene Mappe. Diese Mappe hatte der zwölfjährige Wolodja für den Genfer heimlich in der Nacht schlecht und recht als Neujahrsgeschenk zusammengekleistert; ferner ein aus irgend einem Buche herausgerissenes Portrait Washingtons; dann hatte er noch ein Aquarellbild des vierzehnjährigen Wolodja: er war da mit offenem Halse, verbranntem Gesicht, mit aufblitzendem Geist in den Augen und mit jener zuversichtlichen, hoffnungsvollen Miene dargestellt, die ihm noch fünf Jahre lang eigen war und später nur in seltenen Augenblicken bei ihm aufblitzte – wie die Sonne in Petersburg, wie etwas Vergangenes, das zu all den anderen Gesichtszügen nicht paßte.

Dann besaß er noch einige silberne medicinische Instrumente, welche der greise Onkel zu Moskau ihm geschenkt hatte; ferner eine ungeheure Schildpattdose, auf welcher ein Schweizer Bundesfest eingravirt war und die stets neben dem Greise gelegen hatte. Nach dem Tode desselben hatte sie der Schweizer von seinem Kammerdiener gekauft.

Zu all diesen Schätzen legte er noch einige andere von derselben Art und wählte dann fünfzehn Bücher aus; die übrigen schob er bei Seite. Dann ging er ganz früh und mit großer Behutsamkeit nach der Seestraße, holte sich einen Lohndiener mit einem Handkarren, und trug mit Hilfe eines Dieners den kleinen Koffer und die Bücher hinaus auf das Gefährt, und beauftragte diesen zu sagen, er sei für einige Tage aufs Land gegangen, zog sich seinen langen Ueberrock an, nahm Stock und Regenschirm, drückte dem Lakaien, der ihn bedient hatte, die Hand und entfernte sich zu Fuß mit dem Lohndiener. Helle Thränen fielen ihm auf den Ueberrock.

Zwei Tage später erhielt Frau Beltoff, welche über die Abreise des Genfers im höchsten Grade erstaunt war, aber erwartet hatte, daß er zurückkehren würde, folgenden Brief:

»Hochgeehrte gnädige Frau! Gestern Abend erhielt ich den vollen Lohn für meine Mühen. Glauben Sie mir, dieser Moment bleibt mir ewig unvergeßlich. Er wird mich bis an mein Lebensende als Trost, als meine Rechtfertigung vor mir selbst geleiten, – aber gleichzeitig hat er in feierlicher Weise mein Werk abgeschlossen, hat mir deutlich gezeigt, daß der Lehrer jetzt den Schüler seiner eigenen Entwicklung überlassen müsse, daß er durch seinen Einfluß seiner Entwicklung eher schaden als nützen könnte. Der Mensch muß zwar sein ganzes Leben lang an seiner Erziehung arbeiten; aber es giebt eine Epoche, in welcher er nicht mehr von fremder Hand geleitet werden darf. Und was könnte ich jetzt auch noch für Ihren Sohn thun? Er hat mich überflügelt.

»Schon lange wollte ich Ihr Haus verlassen; aber meine Schwäche, meine Liebe zu Ihrem Sohne verhinderten mich daran; wäre ich jetzt nicht geflohen, niemals hätte ich die Kraft besessen, diese Pflicht, welche mir die Ehre gebietet, zu erfüllen. Sie kennen meine Grundsätze: ich konnte schon darum nicht bleiben, weil ich es für eine Erniedrigung halte, umsonst fremdes Brot zu essen und, ohne daß ich arbeite, Ihr Geld anzunehmen, um meine Bedürfnisse zu befriedigen. Sie sehen also, ich mußte Ihr Haus verlassen. Trennen wir uns als Freunde und sprechen wir nicht mehr davon.

»Wenn Sie diesen Brief erhalten, werde ich auf dem Wege nach Finnland sein. Von dort bin ich entschlossen, mich nach Schweden zu wenden. Ich werde so lange reisen, als meine Geldmittel reichen; dann will ich wieder arbeiten: an Kraft dazu wird es mir noch nicht fehlen.

»In der letzten Zeit habe ich kein Geld von Ihnen angenommen; machen Sie nicht den Versuch, es mir zu schicken, sondern geben Sie die Hälfte dem Manne, der mich bedient hat, und die andere Hälfte den übrigen Dienern, die sie freundschaftlich von mir grüßen wollen: ich habe diesen armen Leuten oft viel Mühe gemacht.

»Die zurückgebliebenen Bücher möge Woldemar als Geschenk von mir annehmen. Ich schreibe ihm noch einen besonderen Brief.

»Leben Sie wohl, leben Sie wohl, edle, hochverehrte Frau! Möge Ihr Haus gesegnet sein; übrigens, was kann ich Ihnen noch wünschen, da Sie einen solchen Sohn haben? Noch eines wünsche ich: daß Sie und er lange, recht lange leben mögen! Ich drücke Ihnen die Hand.«

Sein Brief an Wladimir begann also:

»Nicht Ratschläge eines Lehrers sondern Freundesrath soll mein letztes Wort an dich sein, Woldemar. Du weißt, ich habe keine Verwandten, welche mir nahe stehen, und auch von den fremden Menschen steht mir keiner so nahe wie Du, trotz des großen Unterschiedes der Jahre.

»Auf Deinem Haupte ruhen meine Zuversicht und meine Hoffnungen. Ich habe mir, Woldemar, das Recht erworben, Dir bei meinem Fortgange einen freundschaftlichen Rath zu geben. Wandle die Straße, welche das Geschick Dir gewiesen: sie ist schön; ich befürchte nicht, daß Unglück und Mißerfolg dich heimsuchen könnten: sie werden bei Dir auf kräftigen Widerstand stoßen, – aber ich fürchte Erfolg und Glück. Du stehst auf einer schlüpfrigen Bahn. Diene der Sache, aber siehe wohl zu, daß dies Verhältnis nicht in ihr Gegentheil verkehrt werde: daß die Sache nicht Dir diene. Verwechsle die Mittel nicht mit dem Zweck, Woldemar. Nur die Liebe zum Nächsten, nur die Liebe zum Guten darf Zweck sein. Wenn die Liebe in Deiner Brust erloschen ist, so wirst Du nichts Gutes wirken, Du wirst Täuschungen über Täuschungen erfahren; nur die Liebe vollbringt Bleibendes und Lebendiges, aber der Stolz ist unfruchtbar, weil er nichts braucht außer sich« . . .

Den ganzen Brief können wir nicht abschreiben: er war drei Bogen lang.

So schwand aus Wladimirs Leben dieses helle, gute Bild seines Erziehers.

»Wo mag doch unser Monsieur Joseph sein?« sagten oft Mutter und Sohn, und beide versanken in Nachdenken und vor ihrer Phantasie schwebte seine sanfte, ruhige, ein wenig mönchische Gestalt in langem Reiserock, die einsam zwischen den stolzen freien Bergen Norwegens umherwanderte.


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