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Nachwort des Herausgebers

Herodots »Geschichten« sind ein Denkmal der Glanzzeit Athens. Baukunst und Plastik, Philosophie und Dichtung blühten zugleich. Das attische Reich, das als Frucht der Perserkriege entstanden war, wurde von dem bedeutendsten Staatsmanne geleitet, den Griechenland überhaupt hervorgebracht hat. Seit dem Jahre 443 v. Chr. war Perikles Führer der attischen Wehrmacht, Leiter der Beschlüsse der Volksversammlung, die er durch seine glänzende Beredsamkeit beherrschte, und Vorsteher der öffentlichen Bauten. Unter ihm schufen Iktinos und Mnesikles den Parthenon, die Propyläen, das Theseion und das große Dionysostheater. Phidias schmückte die Bauten mit seinen Standbildern und Skulpturen, und Sophokles dichtete seine Tragödien. Wie sehr die Kunst im Mittelpunkte stand, beweist der Bericht, daß Sophokles nach der Aufführung der »Antigone« von dem begeisterten Volke mit der Aufgabe betraut wurde, als Feldherr Perikles auf seinem Zuge gegen Samos zu begleiten. Der Philosoph Anaxagoras und der Sophist Protagoras gehörten zu dem Denkerkreise, den Perikles um sich versammelte. Während die religiösen Vorstellungen des Volkes in Kunstwerken, die Jahrtausende überdauern sollten, ihre Verkörperung fanden, regte sich in der Oberschicht bereits die Skepsis, die am Dasein der Götter zweifelte und den überlieferten Anschauungen die eigene Meinung und das persönliche Weltbild gegenüberstellte. Als diese geistig ungeheuer reiche Kultur in den Flammen des Peloponnesischen Krieges, der für Griechenland dasselbe bedeutet wie für Deutschland der Dreißigjährige Krieg, zu versinken drohte, kam in Athen das erste große Geschichtswerk zum Abschluß: die »Geschichten« des Herodotos von Halikarnassos.

Diese Hafenstadt im kleinasiatischen Karien erlebte ihre eigentliche Blüte allerdings erst im vierten Jahrhundert v. Chr., als Artemisia II. ihrem Gatten Mausolos das prächtige Grabmal errichtete, nach dem noch heute die Mausoleen in aller Welt benannt werden. Im fünften Jahrhundert war Halikarnassos eine der vielen Griechenstädte, die zum Perserreiche gehörten, bis Athen über das Ägäische Meer vordrang und sie dem Attischen Seereiche einverleibte. Herodot ist zwischen den Schlachten bei Marathon und bei Salamis, zwischen den Jahren 490 und 480, geboren. Genauer läßt sich das Datum nicht festlegen. Jedenfalls war Herodot im aufnahmefähigsten Alter, als der Seeheld Kimon im Jahre 465 seinen großen Sieg über die Perser an der Mündung des Eurymedon in Pamphylien erfocht. Der Kampf der Hellenen gegen die Barbaren, den Herodot in der Einleitung zu seinem Geschichtswerke als sein Thema bezeichnet, ist ihm durch seine Jugendeindrücke zum wesentlichen Inhalt alles Geschehens geworden. Trotzdem hat er für die riesige Organisation des persischen Weltreiches, in dem er als Auslandsgrieche geboren wurde und aufwuchs, immer staunende Bewunderung gehegt und sehr wohl erkannt, daß die Griechen keine Organisatoren waren. Die Stammesfehden, in denen sie sich gegenseitig aufrieben, wenn nicht die äußerste Not sie vorübergehend zum Zusammenhalten zwang, mußten ihn gerade als Auslandsgriechen, der auf die Hilfe des Mutterlandes angewiesen war, verstimmen. Am festesten wurzelte der »Kantönligeist«, der im nächsten Nachbarn den eigentlichen Feind sah, in Sparta. Die Athener brachten wenigstens in Miltiades und Themistokles, Kimon und Perikles Männer hervor, die für eine weiträumige Politik Sinn und Verständnis hatten. Spartas größte Persönlichkeit aber war der tapfere Haudegen Leonidas. Die Spartaner betrachteten gerade die Kriege im Peloponnes und in Mittelgriechenland als solide Unternehmungen und witterten in allem, was weit darüber hinausführte, eine ungesunde, phantastische Abenteurerpolitik. Das gemeingriechische Fühlen wurde von Athen geweckt und gedieh unter athenischem Schutze. Sparta stellte sich dem Anwachsen der athenischen Macht jedoch eifersüchtig in den Weg und verhinderte die griechische Einigung. So hat Herodot die Dinge gesehen, und so mußte er sie sehen, weil sie in der Tat so lagen. Der Vorwurf, daß er aus blinder Athenliebe einseitig und ungerecht gegen Sparta gewesen sei, ist schon von Plutarch (46 bis 125 n. Chr.) erhoben und bis in die neueste Zeit hinein wiederholt worden, ohne neu begründet zu werden. »Herodot vergaß keinen Augenblick, daß er ein Grieche war«, sagt Leopold von Ranke. Dagegen zieht der Altertumshistoriker Eduard Meyer (1855 bis 1930) viel zu weitgehende Folgerungen aus dem Fehlen einer begeisterten Schlußrede Herodots über das in den Kämpfen gegen die Perser Erreichte: »Offenbar hätten die Ionier nach seiner Meinung viel besser getan, wenn sie sich in das Unvermeidliche gefügt hätten und getreue Untertanen der Perser geblieben wären; dann wäre es zu den Perserkriegen nicht gekommen.« Daran ist nur so viel richtig, daß Herodot im Alter eine ähnliche Stimmung durchmachte, wie sie im Jahrzehnt nach den Befreiungskriegen gerade die besten Deutschen überfiel. Er fragte sich, wozu die Perserkriege eigentlich geführt worden seien, als er sah, wie Athen und Sparta sich im Peloponnesischen Kriege gegenseitig zerfleischten.

Wir wissen nicht, in welchem Sinne über den ionischen Aufstand, über die Schlachten bei Marathon, Salamis und Platää in Herodots Elternhause gesprochen wurde; denn wir kennen von diesen Eltern nichts als die Namen. Der Vater hieß Lyxes, die Mutter Dryo. Etwas mehr wissen wir von Herodots Oheim Panyasis. Er war Wunderzeichendeuter, dichtete ein Epos »Herakleia« und besang in den »Ionika« die Wanderungen der Ionier nach Attika, Samos, Chios, Lydien und Karien. Diese Wanderungen, die angeblich im elften Jahrhundert v. Chr. stattfanden, werden auch in Herodots Geschichtswerk erwähnt. Von den Heraklesmythen spricht er häufig. Vor allem aber hat ihn Panyasis in die Welt der Wunder eingeführt. Herodot ist in einem Grade orakelgläubig, wie es von den Gebildeten des Perikleïschen Zeitalters nur noch ganz wenige gewesen sind. Er glaubt an die volkstümlichen Sehersprüche, die unter den Namen des Bakis und Musaios umliefen, an die delphischen Orakelsprüche und an die prophetische Bedeutung unwillkürlicher Äußerungen jedes Menschen, sobald sich ihnen ein Hinweis auf die Zukunft entnehmen läßt. Er hält es für sträflichen Leichtsinn, weissagende Träume oder Unheil kündende Himmelserscheinungen unbeachtet zu lassen. Selbst auffällige Mißgeburten seien nicht als Naturspiele, sondern als göttliche Mahnungen aufzufassen. Von diesen Vorstellungen, die man jetzt unter dem Namen des magischen Weltbildes zusammenzufassen pflegt, hatten sich im Zeitalter des Perikles zwar noch nicht die Massen, wohl aber die Denker bereits gelöst. Der Philosoph Anaxagoras wurde von den Athenern als Gotteslästerer eingekerkert, weil er sich mit ihren willkürlich waltenden Göttern nicht abzufinden vermochte, die Vernunft für das Wesen der Welt erklärte und behauptete, die Sonne sei eine glühende Metallmasse, nicht das Rad am Wagen eines Gottes. Mit Mühe befreite Perikles den kühnen Philosophen aus dem Kerker. Die Stadt mußte dieser aber doch verlassen, weil sie sonst von der Rache der Götter mit ihm hätte getroffen werden können. Ebenso wurde der Sophist Protagoras aus Athen verbannt, weil er sagte, von den Göttern wisse er weder, ob sie seien, noch wie sie etwa beschaffen seien. Das Maß aller Dinge sei der Mensch. Die Götter waren bisher die Hauptsache gewesen. Sie hatten das Menschengeschlecht, die staatlichen Einrichtungen und die sittlichen Gebote geschaffen. Jetzt aber forderten Protagoras und die andern Sophisten für jeden einzelnen das Recht, sich selbst zu überlegen, ob ein Gebot des Staates oder der Sitte vernünftig sei, ob es sich mit Notwendigkeit oder durch Zufall eingebürgert habe, ob man es ohne Scheu übertreten dürfe, wenn man nur sicher sei, die darauf gesetzten Strafen zu vermeiden. Die sophistische Moral lief auf den Satz heraus: »Tu, was du willst, aber achte auf den Schein!« Diese Lebenshaltung galt als erlernbar. Die Kunst, andern eine Sache in einem ganz neuen Lichte zu zeigen, sie ihnen so erscheinen zu lassen, wie das einem aus bestimmten Gründen erwünscht ist, die Überredungskunst, galt in den antiken Republiken als die wichtigste Eigenschaft des Politikers. Wer Staatsmann werden wollte, konnte die dazu erforderlichen Künste gegen hohes Honorar in den Rednerschulen der Sophisten lernen. Ihr Kunstausdruck lautete, man müsse es verstehen, durch eine gute Rede »die schwächere Sache zur stärkeren zu machen«.

Man vergleicht gern die Sophistik mit der Aufklärung, die der Französischen Revolution vorausging, darf dabei aber nicht vergessen, daß die Aufklärer, namentlich die deutschen und die englischen, nichts höher schätzten als das pflichtgemäße Handeln nach den sittlichen Geboten und über nichts lieber sprachen als über Moral. Die Aufklärung verdankt ihren Ruf, langweilig zu sein, vor allem ihrer Vorliebe für moralphilosophische Betrachtungen, mit denen die Reden Robespierres genau so durchtränkt sind wie Nicolais Romane oder Schillers Dramen. Die Bewegung lief eigentlich darauf hinaus, die Religion durch Moralphilosophie zu verdrängen. Der Moralist Sokrates ist diesen Aufklärern des achtzehnten Jahrhunderts viel näher verwandt als die Skeptiker Protagoras und Gorgias. Die Sophisten stehen in ihrer rücksichtslosen Kritik der überlieferten Moralbegriffe eher den Denkern der italienischen Renaissance, namentlich Machiavelli, oder Friedrich Nietzsche nahe. Nur unter Berücksichtigung dieser Schattierungen des Begriffs kann man sagen, daß Herodot in einem Aufklärungszeitalter aufwuchs, aber sich nicht einig mit ihm fühlte. Es handelt sich noch nicht um den bewußten politischen Kampf, wie ihn der scharf blickende Spötter Aristophanes in seinen geistvollen Komödien gegen Sophisten und Demagogen geführt hat. Es ist auch nicht eine so bewußte Verteidigung der heiligen Begriffe, wie Plato sie in seinen Dialogen unternahm. Bei Herodot ist alles mehr instinktiv. Er kann sich den Einflüssen der kritischen Zweifelsucht, die das ganze Zeitalter erfüllt, nicht völlig entziehen, aber er wehrt sich gegen sie. Er ruft sich selbst zur Ordnung, wenn er sich beim Grübeln über verbotene Dinge ertappt. Er bleibt sein ganzes Leben lang der Verehrer des Sehers Panyasis, der den andächtigen Knaben gelehrt hat, überall in der Welt das Walten der Götter zu erkennen, mit Ehrfurcht vor jeden Altar zu treten und in jeder erfüllten Weissagung eine Widerlegung vermessener Zweifler zu begrüßen. Herodot berichtet in seinem Werke immer wieder – man kann das in unserer Ausgabe leicht an Hand des Registers verfolgen – von Orakeln und Traumerscheinungen. Er hat sich in alle Geheimkulte einweihen lassen, die überhaupt Nichteinheimische aufnahmen, und hat sich zu unserm großen Leidwesen streng an die Schweigepflicht gehalten, die ihm von den Mysterienpriestern auferlegt wurde. Seine Ehrfurcht endet auch nicht bei den griechischen Gottheiten, sondern erstreckt sich auch auf die ägyptischen, babylonischen, persischen, überhaupt auf alle. Was irgendeinem Menschen auf der Welt heilig ist, gehört zur Welt des Heiligen, an die nicht gerührt werden darf. Die Religion ist für Herodot nicht eine staatliche Einrichtung, die respektiert werden muß, – so haben Aristoteles, Thukydides und die meisten Römer über sie gedacht. Herodots Seele lebt in der mythischen Welt. Er ist innerlich völlig mit ihr verwachsen. Er betrachtet Lästerer und Spötter mit tiefem Grauen. Sie erscheinen ihm als Geisteskranke, über die ein Gott dieses entsetzliche Schicksal verhängt hat; denn alles, was geschieht, ist das Werk der Götter. Wer das leugnet, ist ihr Opfer, ohne es zu wissen. Herodots Welt ist die, deren Untergang Schiller in den »Göttern Griechenlands« beklagt:

Da der Dichtung zauberische Hülle
Sich noch lieblich um die Wahrheit wand –
Durch die Schöpfung floß da Lebensfülle,
Und was nie empfinden wird, empfand.

An der Liebe Busen sie zu drücken,
Gab man höhern Adel der Natur,
Alles wies den eingeweihten Blicken,
Alles eines Gottes Spur.

Auch Herodot sagt einmal, Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre Götterwelt gedichtet. Aber trotzdem ist sie für den »frommen Ionier«, wie ihn Platen nennt, nicht eine Schöpfung der Phantasie, sondern die gegebene Wirklichkeit. Seine schönen Geschichten von Kroisos, der den Orakelspruch gründlich mißverstand, oder von Astyages, der die Traumoffenbarungen zu vereiteln suchte, würden jeden Reiz verlieren, wenn Herodot sie mit Bemerkungen im Geschmacke seines Aufklärungszeitalters durchsetzt hätte. Sobald man nicht mehr an diese Dinge glaubt, verlohnt es sich nicht mehr, davon zu reden, und man hat gar nicht das Recht dazu.

Die Einheitlichkeit in dem von Wundern erfüllten Weltbilde Herodots bewirkt der Grundgedanke, daß den Göttern das überragend Große verhaßt ist. Der Neid der Götter verfolgt alle, die das menschliche Maß überschreiten. Alles Kleine darf hoffen, einmal groß zu werden, aber alles Große muß wissen, daß es zum Sturze reif ist. Das ungeheure Perserreich ist vom Verhängnisse dem Untergange geweiht, aber auch die großen griechischen Führer, Miltiades, Themistokles, Pausanias, müssen in die Tiefe stürzen, wenn sie auf den Gipfel gelangt sind. Dann fehlt ihnen die Ehrfurcht, und es ist die Bestimmung des Menschen, in Ehrfurcht vor den Schicksalsmächten zu leben. Vermessener Trotz ist die sichere Ankündigung des Unterganges. Wir dürfen nicht daran zweifeln, daß Herodot auch in dem Kreise kühner Denker, unter denen sich Perikles wohlfühlte, oft von ähnlichen Befürchtungen ergriffen worden ist. Er wird dann die Stadtgöttin Athene angefleht haben, dem großen Staatsmanne die Besonnenheit zu bewahren. Wenn der prächtige Ausbau der Akropolis Herodot keine Beklemmungen verursachte, sondern er es ertrug, die Goldelfenbeinstatuen zu betrachten, so war das nur möglich, weil alles Große hier den Göttern geweiht war und sich in ihren Dienst stellte. Genau so hat Sophokles gedacht, in dessen Tragödien immer der Priester recht behält, niemals der König.

Die vermessene Überheblichkeit fand Herodot besonders in den griechischen Tyrannen verkörpert, den Machthabern, die sich in oft recht kleinen Gemeinwesen der Gewalt bemächtigten und sie mit Hilfe ihrer Söldner durch einen Ausrottungskrieg gegen alle Aristokraten behaupteten. Die Tyrannen der kleinasiatischen Griechenstädte hielten meist zu Persien, ihre Gegner suchten Unterstützung in Athen. So lagen die Verhältnisse auch in Halikarnassos. Der Enkel der Artemisia, die sich in den Seeschlachten am Artemision und bei Salamis ausgezeichnet hatte, Lygdamis, wurde von den Persern wieder eingesetzt. Herodot wurde mit seinem Oheim Panyasis vertrieben und flüchtete nach Samos, wo er die Geschichte des Polykrates an der Quelle studierte, wieder eine Erzählung von Aufstieg und Untergang, besonders reizvoll durch einen vergeblichen Versuch, den Neid der Götter abzukaufen. Außerdem hat sich Herodot in Samos die Kenntnis des Ionischen angeeignet. Sein Geschichtswerk ist in ionischem Dialekt geschrieben, während in Halikarnassos dorisch gesprochen wurde. Als neue Parteikämpfe in der Heimatstadt ausbrachen, kehrten Panyasis und Herodot zurück. Panyasis fand in diesen Kämpfen den Tod, und auch Herodot konnte sich nicht lange in Halikarnassos behaupten, sondern mußte nochmals auswandern. Diesmal wandte er sich nach Thurii, der unteritalischen Kolonie, die Athen im Jahre 444 v. Chr. begründete. Dort scheint er im Jahre 424 v. Chr. gestorben zu sein. Er hat aber die letzten zwanzig Jahre seines Lebens nicht restlos in Thurii verbracht, sondern lebte jahrelang in Athen und auf Reisen, die er in unermüdlichem Forschungsdrange immer wieder unternahm.

Herodot hat zunächst Kleinasien, dann die weiter östlich gelegenen Provinzen des Perserreiches bis zu dem Dorf Arderikka in der Nähe von Susa, aber nicht Baktrien und Indien bereist. Griechenland und Mazedonien kannte er genau. Sein größtes Erlebnis, das in seiner Entwicklung eine ähnliche Rolle spielt wie die italienische Reise in der Goethes, war die Durchforschung Ägyptens, des Wunderlandes, dem er ein ganzes Buch seines Geschichtswerkes gewidmet hat. Gerade in diesem, dem zweiten, tritt die ungeheure Vielseitigkeit Herodots hervor, der nicht nur Tempel, Paläste und Bewässerungsanlagen, sondern auch seltene Pflanzen und Tiere studierte und die Sittengeschichte der Völker bis ins einzelne kennenzulernen suchte. Herodot ist nicht nur »der Vater der Geschichte«, sondern vor allem der erste Vertreter der vergleichenden Völkerkunde. Eine Reise an den Gestaden des Schwarzen Meeres begründete seine Kenntnis der szythischen Völkerschaften, deren urzeitliche Gebräuche sein Interesse in besonderem Maße fesselten. Schließlich hat er von Thurii aus Unteritalien, das damals gern Großgriechenland genannt wurde, vielleicht auch Sizilien, bereist. Von unendlich vielen Dingen würden wir ohne Herodot überhaupt nichts wissen. Nicht nur in den historischen, sondern auch in völkerkundlichen Werken findet man sehr häufig Sätze, die mit »Schon Herodot« beginnen. Sogar eine thrazische Pfahlbausiedlung wird in seinem Geschichtswerke beschrieben. Nietzsche preist in »Menschliches, Allzumenschliches« (Band II, S. 109) die ewige Wahrheit, »daß man die lebendigen Überreste geschichtlicher Epochen aufsuchen müsse – daß man reisen müsse, wie Altvater Herodot reiste, zu Nationen – diese sind ja nur festgewordene ältere Kulturstufen, auf die man sich stellen kann«. In der gewaltigen Weitung des Blickes besteht der Fortschritt, der die Geschichtsschreibung Herodots von der seiner Vorgänger, der sogenannten Logographen (Geschichtenerzähler), scheidet. Sie schrieben Lokalgeschichte, Herodot Weltgeschichte. Nur Hekataios von Milet (um 500 v. Chr.) hat vor Herodot auf großen Reisen seine Kenntnisse erweitert und eine »Erdbeschreibung« verfaßt. Sie ist uns nicht erhalten. Herodot scheint namentlich Nachrichten über Babylon aus den Schilderungen des Hekataios übernommen zu haben. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß er in ganz anderem Maße als Hekataios »Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat«, um ihn mit einem Verse aus Homers »Odyssee« zu charakterisieren.

Trotzdem ist Herodot durch seine weiten Reisen keineswegs zu einem universalen Skeptizismus gelangt, der je nach Stimmung und Laune alles gleich gut oder alles gleich schlecht findet. Vertiefte Ehrfurcht war das Ergebnis jeder Erfahrung, die Herodot machte. Er stand vor den Pyramiden und vor dem Labyrinth mit derselben frommen Scheu wie vor den heimatlichen Tempeln in Halikarnassos, Delphi und Athen. Jede Art von Blasiertheit blieb ihm fremd und unverständlich. Wie wenig hatten diese Sophisten, die alles mit überlegener Miene kritisierten, überhaupt gesehen, und über wie vieles redeten sie! Herodots Erklärung, es sei zwar seine Pflicht, alles zu berichten, nicht aber, alles zu glauben, wird meist mißverstanden. Sie bedeutet gerade eine Ablehnung aller vorlauten Kritik. Herodot meint, es sei unfruchtbar, an alles einen Zweifel anzuhängen und vor lauter Zweifeln gar nicht zum wirklichen Berichten und Erzählen zu kommen. Deshalb schiebt er mit dieser Erklärung die Kritik aus seinem Buche heraus. Es ist ihm gleichgültig, ob man ihn für naiv hält; denn der Ruf, nicht naiv zu sein, ist viel leichter zu haben, als der, ausgebreitete Kenntnisse zu besitzen. Man muß reisen, fragen, forschen, aufzeichnen, ordnen, darstellen: das ist die schöpferische Tätigkeit, bei der etwas herauskommt. Bemerkungen in zustimmendem oder ablehnendem Sinne kann der Vortragende selbst machen oder seinen Zuhörern überlassen, es kommt nicht viel auf sie an. Sie sind nicht die Hauptsache, sondern Beiwerk. Ganz anders steht es mit sachlichen Abschweifungen. Sie sind eine Bereicherung, weil in ihnen wieder etwas Positives mitgeteilt wird. Herodot sagt einmal, sein Werk gehe grundsätzlich auf Abschweifungen aus, wieder eine von den Stellen, die sich mit einem gewissen Stolze gegen die richten, die vor Abschweifungen sicher sind, weil sie so wenig wissen, daß ihnen bei nichts etwas anderes einfällt. Herodots Geschichtswerk hält dasselbe Verfahren ein, das eines der schönsten Werke unseres sechzehnten Jahrhunderts, die »Zimmerische Chronik«, zu einer unerschöpflichen Fundgrube der Volkskunde hat werden lassen: Wenn eine Erzählung oder die Beschreibung einer Sitte die Erinnerung an eine andere weckt, die Herodot ebenfalls kennt, teilt er sie mit. Niemand hat das Recht, sich darüber zu beschweren und Herodot ein gröblich mahnendes: »Zur Sache!« zuzurufen. Jeder soll sich vielmehr freuen, daß er auf diese Weise noch mehr zu hören bekommt. Der Faden, an dem alles aufgereiht wird, sind die Kämpfe der Hellenen gegen die Barbaren. Das Kernstück des Geschichtswerkes bilden die letzten Bücher. Sie behandeln die Perserkriege vom Aufstande der Ionier bis zur Schlacht bei Mykale. Diesen Teil hat Herodot zuerst geschaffen. Sein Vorbild war ein Dichter, war Homer. Wie dieser in der »Ilias« den Kampf um Troja geschildert hatte, so schilderte Herodot die Kämpfe der Perser und Griechen um die Randländer des Ägäischen Meeres. Aber das Weltreich der Perser hatte eine Geschichte, die ihm einverleibten Staaten hatten vorher eine eigene Entwicklung durchgemacht, und die kleinen griechischen Einzelstaaten hatten auch schon vieles hinter sich, ehe die Perserkönige ihre Heere ausschickten, um sie zu unterjochen. Daher schoben sich vor das Hauptwerk einleitende Partien, und drängten sich in dasselbe immer neue Episoden ein, bis der Tod dem unermüdlichen Erzähler die Feder aus der Hand nahm. Wenn Herodot nicht sechzig, sondern achtzig Jahre alt geworden wäre, würden seine »Geschichten« doppelt so umfangreich sein, wie sie sind.

Herodot schrieb für den mündlichen Vortrag. Er reiste von Stadt zu Stadt, um das Hauptstück seines Werkes oder auch Teile, für die er am Orte besonderes Interesse erwarten durfte, vorzulesen. Darin glich er doch wieder den Sophisten, die als Wanderlehrer ihren Unterhalt erwarben. Ausdrücklich bezeugt sind uns Vorlesungen Herodots in Athen, Korinth, Theben und Olympia. In Athen soll ihm dafür sogar ein Riesenhonorar, zehn Talente, also fünfundvierzigtausend Mark, bewilligt worden sein. Wenn die Geschichte wahr ist, löst sie zugleich die Frage, wie Herodot die ungeheuern Kosten seiner ägyptischen Reise aufgebracht hat. Die Annahme, daß er zugleich Kaufmann gewesen sei, also Forschungs-, Vortrags- und Handlungsreisender in einer Person, hat wenig für sich. Herodot hat sich in seinen Rechnungen über die Stärke der Heere, die Kosten ihrer Verpflegung, die Höhe der Steuereinkünfte, überhaupt in allen Angaben statistischer Natur so häufig verrechnet, daß man ohne weiteres den Zahlensinn für die schwächste Seite seiner Begabung erklären muß. Man kann sich ihn also kaum als erfolgreichen Kaufmann, der mit kunstvoll bemalten Töpfen und Metallwaren ausfährt, um Säcke voll orientalischer Gewürze einzuhandeln, vorstellen. Sein ererbter Grundbesitz in Halikarnassos wird in den Parteikämpfen, in die Herodot verwickelt war, auch gründlich gelitten haben. Er war kein reicher Mann, der sich die Zeit mit Reisen und Schriftstellern vertrieb, sondern sein Leben geht in der Abfassung seines Geschichtswerkes auf, das er immer wieder bereicherte, ergänzte und abrundete.

An Herodots Vorlesungen schlossen sich naturgemäß Gespräche, in denen er neue Mitteilungen empfing: Berichte über besondere Heldentaten bei Marathon, Platää oder Salamis, Lokalsagen, Gründungsgeschichten, Abstammungsmythen, Wundererscheinungen, Weihgeschenke usw. Oft waren es Erzählungen, die eine lange Überlieferung schon gerundet und geglättet hatte. Dann nahm sie Herodot mit leichten Änderungen, die der Verknüpfung dienten, nahezu wörtlich in sein Geschichtswerk auf. Er muß einen ähnlichen Sinn für Volksüberlieferungen gehabt haben wie Herder oder die Brüder Grimm. Die Ehrfurcht, die ihn vor allem Alten erfüllte, hinderte ihn, an allem zu ändern und herumzubessern, als ob es erst durch ihn zu etwas Wertvollem gemacht werden müsse. Der Grundsatz Jakob Grimms, »das Alte als Altes stehenzulassen«, beherrschte auch Herodot. Die Erzählungen von Kroisos und Solon, von Polykrates oder vom schlauen Stallmeister des Dareios haben einen ganz andern Klang wie die Geschichte von Herakles und der Schlangenjungfrau im Szythenlande oder das echte Volksmärchen vom ersten Mazedonierkönig Perdikkas, der die Herrschaft gewann, weil er den Sonnenschein in seinen Busen schöpfte. Diese Geschichte könnte in den »Kinder- und Hausmärchen« der Brüder Grimm stehen, und trotzdem hat man das Gefühl, daß Herodot ganz in seinem Fahrwasser ist, wenn er im Märchenstil erzählt. Als Schiller Tschudis »Chronicon Helveticum« las, fiel ihm beim »Märchen mit dem Hut und Apfel« und ähnlichen Erzählungen sofort die Verwandtschaft mit den »Geschichten« Herodots auf. Er schrieb am 9. September 1802 über Tschudi an Gottfried Körner: »Dieser Schriftsteller hat einen so treuherzigen Herodotischen, ja fast Homerischen Geist, daß er einen poetisch zu stimmen imstand ist.«

Man geht von einem ganz falschen Gesichtspunkte aus, wenn man den Fortschritt Herodots gegenüber den Logographen in einer kritischeren Haltung des Geschichtsschreibers sucht. Dieser Schnitt liegt bei Thukydides, der Wissenschaftler sein wollte, nicht bei Herodot, der auf nichts weniger stolz war als auf die kritischen Bemerkungen, die auch ihm gelegentlich entschlüpften. Aber er hatte unendlich viel mehr zu erzählen als die Logographen, und er wußte, daß er gut erzählte, gewandt verknüpfte, fesselnd anordnete. Er war stolz auf die Gespräche, in denen er die handelnden Personen seine eigenen Gedanken vortragen ließ. Er wechselte bewußt zwischen Berichten und Dialogen, erzählenden und schildernden Partien, furchtbaren und heiteren Geschehnissen. Er hat Kroisos zunächst als Helden volkstümlicher Erzählungen in sein Werk aufgenommen, ihm dann aber die Rolle des ernsten Mahners gegenüber der Vermessenheit der persischen Könige zugeteilt, da er eine solche Persönlichkeit in seinem welthistorischen Drama brauchte. Er liebt es überhaupt, die Helden, die er einmal in den »Geschichten« hat auftreten lassen, bei den verschiedensten Gelegenheiten wieder erscheinen zu lassen. Er wetteifert nicht nur mit dem Epos Homers, sondern auch mit dem Drama des Sophokles und stilisiert nach künstlerischen Erfordernissen historische Einzelheiten, die ihm viel weniger heilig sind als die Mythen von Göttern und Heroen. Das fühlte Goethe, als er am 16. Dezember 1797 an Schiller schrieb: »Ich lese, um mich im Guten zu erhalten, den Herodot und Thukydides, an denen ich zum erstenmal eine ganz reine Freude habe, weil ich sie nur ihrer Form und nicht ihres Inhalts wegen lese.«

Zur Form gehört auch der Satzbau. Die Vorliebe Herodots für Einschiebsel und Abschweifungen zeigt sich nicht nur im Aufbau des Gesamtwerkes, sondern auch in seiner Schreibweise. Zuweilen packt er zuviel in einen Satz hinein, bricht dann ab und fängt den Satz wieder von vorn an. So spricht ein Redner, während Schriftsteller solche Sätze durch sorgfältiger gebaute zu ersetzen pflegen oder, wie die Kunstausdrücke lauten, die Anakoluthe in Perioden verwandeln. Herodot tut das nicht. Nach unserer Meinung erweist man ihm durchaus keinen Dienst, wenn man seinen mündlichen Vortragsstil in den fürs Auge geschriebenen umsetzt. Deshalb wählten wir nicht eine glatte, aber aller charakteristischen Eigentümlichkeiten beraubte Herodotübersetzung, sondern die von Adolf Schöll (1805-1882), die nicht unverdient von 1826 bis 1890 sechs Auflagen erlebt hat. In ihr ist gerade diese Stileigentümlichkeit Herodots sehr sorgfältig gewahrt, so daß man ihn so reden hört, wie ihn seine Zeitgenossen in Olympia und Athen reden hörten. Schölls Text ist aber in unserer Ausgabe Zeile für Zeile mit dem griechischen Original verglichen und überall da verbessert, wo wir ein Versehen oder auch einen heute nicht mehr ohne weiteres verständlichen Ausdruck in der Übersetzung fanden. Schöll hat sich in seinen Anmerkungen um die Entwicklung der Herodotforschung aus antiquarischem Gebiete außerordentlich verdient gemacht. Wir mußten diese Anmerkungen aber auf eine kürzere Form bringen; denn sie sind oft so ausgedehnt, daß vom darüber stehenden Texte nur zwei Zeilen übrigbleiben, man also weit mehr Schöll liest als Herodot. Außerdem waren Ergänzungen notwendig. Das große Zeitalter der Ausgrabungen in Ägypten, Kleinasien und Griechenland hat Schöll nicht mehr erlebt. Hier waren viele Hinweise nachzutragen. Ferner haben wir für das Volkskundliche und alles, was ins Gebiet der Urgeschichte hinüberweist, heute geschärftere Sinne. Endlich waren Schopenhauer und Nietzsche, Ranke und Burckhardt sehr eifrige Herodotleser und haben viele Stellen glücklicher beleuchtet als Schöll. Wir glauben, daß durch die Umgestaltung der Anmerkungen nichts Wertvolles verlorengegangen und manches Gute hinzugekommen ist.

Berlin-Charlottenburg, den 15. November 1940.
Oskar Weitzmann.

 

Druck von Fischer & Kürsten in Leipzig

 

Anmerkungen eingearbeitet. joe_ebc für Gutenberg

 


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