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. Fritz Eisner war aber nun gerade der Meinung, daß es nötig wäre, daß er sich über einen Maler ausführlich vernehmen ließe, über den sich zu äußern damals noch nicht so die Pflicht eines jeden Kunstschreibers war, wie sie das heute ist. Überhaupt muß daran erinnert werden, daß Anno ehedem in Berlin die Kunst noch keineswegs so Mode war wie in unseren Zeiten, wo an jeder Ecke eine Ausstellung einer anderen Richtung ist und täglich dreimal an jeder Straßenbahnhaltestelle eine Versteigerung stattfindet. Trotzdem fühlte man sich ohne Kunst damals in Berlin wohler als heute mit ihr. Denn die Kunst war in Berlin zur Zeit noch durchaus keine Sache, die sich aufdrängte, sondern ein stilles, bescheidenes Blümchen war sie, das man suchen mußte, ein Reservat eines kleinen Hümpels von Menschen, die sich untereinander kannten, und die sich überall dort wiedertrafen, wo die Kunst in Berlin ihre paar Schlupfwinkel hatte. Die anderen Menschen ignorierten die Kunst völlig, hatten eine berechtigte Verachtung für sie und kamen nur in Harnisch, wenn sie sich etwa erfrechte, nicht das »Edle und Schöne« darzustellen, um das sie sich sonst den Teufel scherten, von dem sie auch nur sehr unklare Vorstellungen hatten, das sie aber zu diesem Behuf in Erbpacht genommen hatten.

Fritz Eisner hatte also beschlossen, über diesen Maler, den die Erbpächter des »Edlen und Schönen« noch ganz besonders in Verruf erklärt hatten, sich vernehmen zu lassen, nicht nur, weil er empfand, daß in diesem noch viel angefeindeten Manne einer der stärksten Maler der Gegenwart steckte, sondern auch ferner, weil er eingesehen hatte, daß Verlobtsein zwar ein äußerst angenehmer, aber auf die Dauer kein ausreichender Beruf sei. Und endlich, um den Leuten jetzt gerade zu zeigen, was er könne. Und außerdem war er überzeugt, daß die Menschheit auf ihn und diese seine Arbeit ganz besonders warte.

Er hatte sich also wider seine Art früh erhoben und diesen Mann aufgesucht. Der hatte ihn sehr freundlich empfangen, Bilder gezeigt, ihm Rede und Antwort gestanden – denn ein Künstler ist stets freundlich, wenn jemand über ihn schreiben will, und es mag der bescheidenste Anfänger sein. (Kleinvieh, sagt er sich, macht auch Mist.) Und durch diese Freundlichkeit irregeleitet, hatte Fritz Eisner sich bewogen gefühlt, dem Maler einen Einblick in seine persönlichen Verhältnisse zu gewähren und ihm strahlend zu erzählen, daß er sich versprochen, ja mehr als das: verlobt hätte. Und er war nun der Meinung gewesen, daß der andere sein Entzücken über diese Tatsache teilen würde. Aber der hatte ihm nur erzählt, wie er sich seinerzeit verlobt hatte. Der erste, dem er es gesagt hätte, wäre Menzel gewesen, aus der Promenade in Kissingen. Die kleine Exzellenz hätte wütend geknurrt, sich umgedreht und ihn ganz verdutzt stehen lassen. Darob enttäuscht, wäre er nach München gefahren und hätte von seinem Glück gleich brühwarm an Lenbach berichtet. »Zu solchen Sachen pflege ich nach zehn Jahren zu gratulieren,« hätte Lenbach gesagt. Sonst nichts. Und er, der Sprecher, hätte, durch Erfahrung gewitzigt, sich hierin jetzt Lenbachs Manier zueigengemacht.

Fritz Eisner beschloß bei sich, doch in der Würdigung des Malers – der Gerechtigkeit wegen! – eine gewisse Gemütskühle, die sich auch in der Tongebung seiner Bilder deutlich aussprach, nicht zu vergessen.

Und Fritz Eisner hatte sich weiter die Linden herunter in die schönen, still-feierlichen Räume des Kupferstichkabinetts begeben, um sich mit dem graphischen Werk seines Opfers noch mehr vertraut zu machen, das dort, in Mappen wohl verwahrt, in Schränken gut verschlossen, seiner harrte.

Dort aber saß an dem Pult der Assistent. Mit mächtigem, hängendem Schnauzbart unter einer gebogenen, amüsant beweglichen, großen und schmalen Nase. Kahl geschoren, mit dem kleinen Schädel auf dem großen Körper; ein Raunzer, ewig hilfsbereit dabei, unermüdlich für alle, die in irgendeinem Eckchen des großen Gebietes der von ihm betreuten Sammlungen etwas suchten; ein sarkastischer Herr, berühmt wegen seiner witzigen Grobheit.

Und da Fritz Eisner mit ihm gut stand, so konnte er sich nicht beherrschen, den anderen – gelegentlich einer Anfrage – von der letzten und neuesten Wandlung seines Zivilstandes in Kenntnis zu setzen. Wie gesagt, es war ganz still im Saal, der ziemlich voll war. Es war wie immer Kirchenstimmung. Und warum sollte das nicht sein, wo junge Adepten die Blätter Schongauers, Dürers, Rembrandts und Goyas zum erstenmal mit klopfendem Herzen in der Hand halten durften? Man flüsterte nur, wandte Blätter, trat verzückt einen Schritt zurück. Selbst die Diener, uralt und freundlich, bewegten sich in Moderatissimo und schoben die auf Gummirädern leise gleitenden Wägelchen mit Mappen und Werken langsam und feierlich durch den langem Raum.

Aber der Herr am Pult da oben liebte es, diese Stimmung hm und wieder zu zerreißen. »Zum Donnerwetter!« brüllte er wie ein Waldesel, daß es von einem Ende des Raumes zum anderen dröhnte, und sah über die Gläser seines Kneifers von seinem erhöhten Sitz auf den armen Fritz Eisner, halb zornig, halb mit tiefem Mitleid, herunter. »Zum Donnerwetter, junger Mann, überlassen Sie derartige Dummheiten doch uns alten Eseln!«

Die Adepten aber blickten mit tiefem Mißmut nach Fritz Eisner, der durch offen verkündete Dummheiten ihre Andacht störte, so daß der es vorzog, alsbald ziemlich vertattert sich zu empfehlen.

Aber da es für seinen Zug noch zu früh war, so beschloß er vorerst noch einmal einen ihm wohlgesinnten Herrn, Kunstfreund, Sammler und Kunstschriftsteller aufzusuchen, der ihn gern bevaterte und mit seinen Kenntnissen und Büchern unterstützte, um bei ihm den neuen Monet zu betrachten und an seinen wohlgemeinten Glückwünschen sich von den Schicksalsschlägen des Vormittags zu erholen.

Er hätte es nicht tun sollen. Denn der Herr, der es liebte, Leuten den Kopf zurechtzusetzen, es sozusagen bei seinen jüngeren Freunden und Bekannten, die er unter seine Fittiche genommen hatte, beruflich betrieb, putzte – er war auch gerade ein wenig nervös, denn er hatte selbst etwas auf den Tag abzuliefern, und so etwas macht nervös – putzte Fritz Eisner herunter, als ob er silberne Löffel gestohlen hätte, als dieser ihm so nebenbei und hintenrum mit der Neuigkeit kam.

Hatte der vorher nur von einer Dummheit gesprochen, so erklärte er es für einen glatten Wahnsinn, der seine Existenz, sein Künstlertum, seine Entwicklung, alles zunichte mache und ihm Sorgen aufbürde, denen er nicht gewachsen sei.

Das einzig Schmeichelhafte für Fritz Eisner war, daß der andere auf Goethe exemplifizierte, der sicher nicht Goethe geworden wäre, wenn er in einem so lächerlichen Alter wie Fritz Eisner daran gedacht hätte, sich für sein Leben zu binden.

Und ehe Fritz Eisner es sich versah, stand er mit ein paar Zigarren in der Hand, die ihm von dem etwas cholerischen Herrn gleichsam als Trostpreis schnell zugesteckt worden waren, wieder vor der Türe.

Und als Fritz Eisner nun langsam durch die sonnige Straße zwischen Kindern, die Murmeln spielten und Kreisel schlugen und Himmel und Hölle sprangen – denn dadurch macht sich in Berlin der Frühling bemerkbar – zum Bahnhof schob, hatte er genugsam Muße, darüber nachzugrübeln, warum kluge ältere Männer doch ganz anders über manche Dinge dächten als die zunächst Beteiligten.

Der Zug war ziemlich überfüllt, und im Abteil war ein wenig Familienstimmung. Der schöne Tag – viel hatte es noch nicht davon gegeben – hatte die Menschen mitteilsam gemacht.

Fritz Eisner saß einem jungen Mädchen gegenüber, irgendeinem schlichten, blonden, lachenden Ding, das reichlich mit den Augen nach ihm blitzte und ihrer Nachbarin mit dem Marktkorb – auch einer Bekanntschaft von eben – in lauter Absichtlichkeit erzählte, daß sie heute einen freien Tag habe, nach Schlachtensee führe und sich Kaffeekuchen schon mitgenommen hätte. »Na und das andere,« meinte die Nachbarin mit dem Marktkorb und mit einem ermunternden Blick auf Fritz Eisner, »wird sich auch noch finden.«

Und der Zug brauste und ratterte an grauen Hinterhäusern vorüber, fuhr über Brücken mit Gepolter, daß unten in den Straßen die Kutscher ihre Pferde fest an die Kandare nehmen mußten, damit sie nicht hochgingen, tippte sich wie lichtblind in dem Schatten einer breiten Senkung hin, ließ Gasometer und qualmende Schornsteine hinter sich und begrüßte über Möbelwagen und Stätteplätze fort mit freudigem Gewieher Felder und Äcker, auf denen sich die Wintersaat hob, und über denen sich das weite Halbrund des Himmels wölbte ... eines blauen Himmels, zu dessen Höhen, wie Stufen einer Riesentreppe, ein Dutzend weißer Wolken vom Horizont emporführte – jede über der anderen, jede alleinstehend und für sich, und jede unten scharf und schnurgerade wie mit einem Messer abgeschnitten. In der Stadt vergißt man so leicht, daß der Himmel ein Ganzes ist und seine Launen hat: schöne, rosige, lächelnde, wilde, stürmische, graue, melancholische, lockere, lichte, dunkel-sinnliche wie Blutwellen und nachtschwarze; daß er Lieder trällern kann und in Orgelfugen dröhnen.

Und dann kamen Vororte mit kleinen Häuschen, grauen, altmodischen Bauten, einzelstehend, von hastiger, gelber Sonne beschienen, zwischen Bäumen, die noch kahl waren, aber doch schon ganz leicht grünlich überflogen, und von denen allerhand Kätzchen im Luftzug des vorübersausenden Zuges pendelten; Gärten, wo Leute den schwarzen Boden umgruben oder mit Kennerblick den lichtgrünen Kegel eines Stachelbeerbusches betrachteten, als wollten sie seine paar Blättchen zählen – Gärten schossen vorbei. Und in einem zwischen vier Beeten von Stiefmütterchen saß auf dem Starkasten, der an einer Stange hing, ein Starenpaar, sonnte sein metallisch-schimmerndes Gefieder und ließ es sich wohl sein. Von dem Gerüst eines riefenhohen Neubaues aber, der kündete, daß hier die bescheidene Zeit des Landhauses ein Ende hätte und der Mietskaserne die Zukunft gehörte, winkten johlend Arbeiter herab, dem Zuge nach.

Es war Frühling. Richtiger Frühling, ganz anders als in der Stadt.

Und dann kamen Stationen. Alte Fahrgäste bröckelten ab; die Frau mit dem Marktkorb stieg aus, wünschte (wieder mit einem verständnisvollen Blick auf Fritz Eisner) dem blonden, lachenden Ding viel Vergnügen. Neue stiegen ein. Und das junge Mädchen suchte vergeblich mit den Augen, wen sie mit ihrem freien Tag, mit Schlachtensee und ihrem Kuchenpaket wieder ins Vertrauen ziehen könnte. Und ihre Blicke blieben immer häufiger und immer länger an Fritz Eisner hängen, der – als ob es nichts Interessanteres auf der weiten Welt gäbe als den Taubenschwarm, der da oben am Himmel exerzierte und jetzt wie eine zerstäubende Rakete lichter silberner Funken erschien, um im nächsten Augenblick schon wie auf Kommando sich zu drehen und schwarz wie ein Flug schwarzer Dohlen die Kreisschwenkungen zu vollenden – ... der mit der Miene Josephs bei Madame Potiphar von seinem Ecksitz aus zum Fenster hinausstarrte.

Und immer größer wurden die Flächen der Felder die Ort von Ort trennten, und hinten zogen schon bläuliche Wälder in breiten und doch zarten Pinselstrichen vorüber. Und ehe man es sich versah, war man mitten drin im Wald. Erst hatte es noch so kleine Kuscheln auf Sand- und Heideboden zwischen dürren und gelben alten Gräsern gegeben – man wußte nicht so recht: wollte das schon Wald sein oder noch nicht – und dann ließ der Zug das braune Stangenholz vorüberschnellen. Wie die Zähne eines Kammes, wenn man mit den Fingern darüberstreicht, die sich leicht umlegen und wieder zurückfedern, so tanzte es am Auge vorbei. Nur hie und da ragte eine Birke mit mondscheinfarbenem Stamm und roten Hängezweigen, in ihren ersten lichten, zartgrünen Musselin gehüllt, aus dem toten, vorweltlichen Dunkel der Kiefern auf und hob ihren graziösen Kopf über das Nadelgewirr. Denn die Birke ist ein sehr ehrgeiziger Baum, will immer die erste und höchste sein und gibt nicht eher Ruhe, bis sie die anderen um Haupteslänge überragt. Hie und da huschte auch ein einsames Häuschen, ein Türmchen, das in die Waldstille eingesprengt war, vorüber; und ein rotes Dach winkte von ferne. Und schon glänzte von unten her das blanke, bläuliche Metall des Schlachtensees durch die Kiefernstämme, die kräftiger und bizarrer wurden und weiter auseinanderwichen, als wollten sie ja nicht zu viel von dem schönen Bild des Sees verdecken.

Eine ganze Strecke vorher begann der Zug zu bremsen, als wünsche er Fritz Eisner Zeit zu lassen, es ja sich noch einmal genau zu überlegen, ob es nicht doch besser, ratsamer und angenehmer für ihn wäre, zusammen mit dem jungen Ding mit dem Kuchenpaket sich zu erheben.

Aber Fritz Eisner blieb fest. Trotzdem es ganz verdammt an ihm zerrte. Er wandte nur den Kopf und erwiderte mit halb entschuldigenden, halb streichelnden Blicken die letzte stumme Aufforderung. Und als das junge Ding mit seinem Kuchenpaket draußen auf dem Bahnsteig etwas langsam und unschlüssig – denn was macht man an solch einem Frühlingsnachmittag allein?! – zum Ausgang strebte, da nickte ihm Fritz Eisner wie zum Abschied zu. Und plötzlich kam ihm zum Bewußtsein, als ob er sich doch ohne Not ziemlich viel von der Buntheit dieser Welt verschüttet hätte. Es war ihm, als ob seine Jugend dort eben aus dem Zug gestiegen wäre und er ihr nachwinkte.

Aber die Preußisch-Hessische Eisenbahn nimmt auf Sentimentalitäten ihrer Fahrgäste wenig Rücksicht. Sie geht ratata ratata immer weiter, genau nach dem Fahrplan auf die halbe Minute.

Fritz Eisner sah im Abteil sich um: keins der alten Gesichter mehr. Solche Eisenbahnfahrt – sagte er sich, wie er sich zum Fenster zurückdrehte – ist doch genau wie das Leben. Einer nach dem anderen von den ersten Mitreisenden verläßt uns; neue steigen dafür zu, und zum Schluß sitzt man zwischen lauter fremden Leuten.

Und wieder kamen Kiefern, Stangenholz, dicht, dunkel, tot. Wieder grünumsponnene Birken; und über den Schutzstreifen neben den Gleisen, in denen erstes Leben durch die welke vorjährige Grasnarbe sich zum Licht quälte, taumelten ein paar gelbe Falter, ganz trunken von der neuen Sonne. Dann flog ein Leuchten über den Wald. Ein weißes Aufblitzen ferner Wasserbahnen kam; und jetzt öffnete der Wannsee seine Buchten, blinkte das blaue Parkett seiner stillen, besonnten Flächen auf.

Die Segelschiffe waren noch nicht draußen. Sie lagen noch – angepflockt an ihre Bojen – gleich Möwen, die mit eingezogenem Gefieder vorerst auf dem Wasser sich treiben lassen, und in denen doch schon die Sehnsucht zuckt, die Flügel zu breiten und, die Brust gegen den Wind, dahinzuschießen. O welche schönen Schwingungen heute die Ufer hatten, und wie sie ganz fern nach Kladow und Schwanenwerder hin im Duft des ungetrübten Himmels sich verloren.

Fritz Eisner mußte an den alten Fontane denken, der einmal über ein Theaterstück geschrieben hatte, es käme ihm vor wie eine Fahrt von Berlin nach Potsdam. Der erste Teil wäre öde, und der Schluß wäre öde. Aber in der Mitte läge: der Wannsee.

Der Zug aber gestattete nicht, daß man lange bei einzelnem verweilte. Er brauste wieder in die schwarzen Wälder hinein und duldete kaum einen sekundenlangen Blick auf die Ecke am Kleinen Wannsee, wo Heinrich von Kleist den einzig möglichen Ausweg von dem Dilemma dieses Daseins fand. Die Birke, die erst nur zu Besuch bei den Kiefern war, wurde nun Herrin. Rechts und links der Bahn in nicht breiten, aber schönen hohen Schlägen. Und was gibt es Anmutigeres als Birken im ersten Frühling! Diese neunzehnjährigen Nordlandsmädchen unter den Bäumen; ganz kühl, ganz blond, sehr schlank, sehr gesund, und doch voller Seele und Sehnsucht. Und dann kamen weite Sumpfwiesen, halb überschwemmt noch, mit spitzen Grashalmen wie Florettklingen aus dem Wasser, und mit gelben Sumpfdotterblumen, die sich spiegelten wie Irrlichter. ( Caltha palustris! sagte sich Fritz Eisner.)

Merkwürdig, daß die meisten aus der Schule den Namen Caltha palustris mitgebracht haben, und daß damit aber auch ihre Wissenschaft sich erschöpft! In Sexta haben sie sie durchgenommen, in der ersten Botanikstunde. Und es ist gerade, als ob einer aus einem ganzen Alphabet, das er einmal auswendig gelernt hat, nur das A behalten hätte. An das L kann er sich nicht mehr erinnern und an das Z erst recht nicht.

Und Weberkaten tanzten vorbei; und in einem Gärtchen, eingeengt zwischen Hinterhaus und grauen Lattenzäunen, über Primel- und Aurikelbeeten winkte der erste blühende Kirschbaum, weiß über und über, ein vielarmiger Korallenstock an Blüten. Ach, hier war ja schon Frühling, richtiger Frühling.

Und wie vorhin Fritz Eisner bei dem lächelnden Ding mit dem Kuchenpaket fast wehmütig empfunden hatte, daß eine alte Zeit von ihm Abschied genommen; so kam es ihm jetzt vor ... als die Kuppeln Potsdams, Stadtschloß, Deutscher Dom, Garnisonkirche und weit unten zwischen niederen braunen Dächern der schlanke und doch so mächtige Turm der Heiligen-Geist-Kirche ihn grüßten in dem vollen Licht des Tages, unter einem Himmel wie ein klingendes Becken, das sich vom Pfingstberg zum Brauhausberg hinübergelegt hatte ... als der Stadtgarten mit Hermen und Gruppen vorbeiflog, schon ganz anders grün in Baum- und Buschwerk als die kalte öde der Vororte, die er durchschnitten ... als, sich dehnend und in die Fernen verlierend, am Tornow und Kiwit die Sattel sich auftat, die ein munteres Dämpferlein furchte, die Havel, breit, spiegelnd, eine Sache für sich, doch ein ganz ander Ding als die Bucht des Wannsees ... als in schwarzerdigen Gärten sich stets und ständig die weißen Korallenstämme mehrten ... und als rosige gleichfalls vorübertanzten ... und als Felder, richtige Felder von einer breiten Chaussee durchschnitten, und Wiesen, richtige Wiesen, sich da zu dem Wasser hinausstuften ... und als Fritz Eisner nun empfand, das alles würde ihm gehören für die Zukunft, einen Sommer lang, nicht jeden Tag zwar, aber doch so oft er wolle ... da kam es ihm jetzt vor, als ob eine neue Zeit ihn lächelnd begrüßte, und er war freudig erregt, als er endlich »bei« Potsdam aus dem Zug kletterte.

Frau Luise Lindenberg jedoch stand auf dem Bahnhof und empfing Fritz Eisner händeringend und schon ziemlich verzweifelt. Der Möbelwagen wäre noch nicht da. Die Leute müßten nach ihrer Aussage schon über eine Stunde hier sein. Wenn nur nichts passiert wäre! Vielleicht ein Radbruch in Zehlendorf! Oder ein Zusammenstoß mit der Straßenbahn. Über einen Eisenbahnübergang brauchten sie gottlob nicht, so daß ganz schwere Katastrophen kaum zu erwarten seien.

Fritz Eisner bemerkte begütigend, daß es geschäftlich unklug wäre, die Zusagen von Ziehleuten für eidesstattliche Versicherungen zu nehmen. Sie müßten unterwegs die Pferde füttern und tränken und sich selbst auch. Und man könne versichert sein, daß sie beides öfters, ausgiebig und langwierig tun würden. Er zweifle, daß sie vor Spätnachmittag kämen. Aber er wäre fest überzeugt, daß sie eine bis zwei Stunden vor Sonnenuntergang schon wieder abgefahren wären. Denn nach Hause ginge es im Karriol.

Ob sie etwa dann noch rasch etwas essen könnten?!

Gewiß! Soweit er die Psychologie der Möbelleute kenne, könnten sie noch ein Diner von fünfzehn bis achtzehn Gängen nehmen, ehe die sich blicken ließen.

Und sie setzten sich beide in die Wirtschaft am Bahnhof unter die Bäume, und der Zug fuhr ein paar Schritt davon vorbei, und man konnte vom Kupeefenster aus einem, wie man sagt, direkt in die Suppe spucken.

Durch dünne, sich belaubende Äste – das heißt, ein paar fingen damit eben an, die anderen trauten dem Frieden noch nicht recht – fielen die Sonnenstrahlen in Goldmustern auf das weiße Tischtuch, und die Schatten, die sich daneben noch scharf von Zweigen und Zweiglein auf dem hellen Leinengrund abhoben, waren schön blau und wundervoll durchsichtig.

Fritz Eisner suchte an Hand dieser Schatten Frau Luise Lindenberg in das Wesen des Impressionismus einzuführen; sprach von Manet und Monet; setzte absolutes Weiß mit Eins, reines Schwarz mit Hundert an, und versuchte nun Frau Luise Lindenberg zu belehren, daß man bisher fälschlich ... während man jetzt »richtig« eingesehen ... und das wäre eben das Verdienst jener Pariser Malergruppe, die in Deutschland noch keineswegs ...

Aber sehr weit kam Fritz Eisner damit nicht. Denn erstens war Frau Luise Lindenberg zwar unendlich kurzsichtig, aber nichtsdestotrotz war sie eine enragierte Erbpächterin des »Edlen und Schönen«; und zweitens interessierte sie dieser Manet mit seiner blöden Neuerungssucht keine Spur; und sie hüllte nun ihrerseits – wie eine Spinne die Mücke – Fritz Eisner in die Fäden eines Gespräches ein.

Sie erzählte mit schöner Bestimmtheit der Voraussetzung von lauter Menschen, Männern und Frauen ihrer Verwandtschaft und ihrer Bekanntschaft, die Fritz Eisner genau so gleichgültig waren wie Frau Luise Lindenberg dieser französische Pinseler, dessen Namen man nie gehört hatte. Lauter Leute waren das – in Berlin oder anderswo; in Oranienbaum, Nakel, oder in Melsungen, oder in Burg – die sehr bekannt, sehr tüchtig, sehr geistreich und berühmt schön und vor allem sehr reich waren; und die doch, wie Fritz Eisner sich sagte, kein Luder kannte. Und die fürder (was das Bestimmende!) den Weg zwischen Windel und Sterbehemd sang- und klanglos und beträchtlich stumpfsinnig zurücklegten oder zurückgelegt hatten.

Da Fritz Eisner aber schon über das erste Stadium des Photographien-Erklärens – Frau Luise Lindenberg hatte drei Alben, eines sogar mit Spielwerk, wenn man es aufmachte; aber es war entzwei und klimperte gottlob nicht mehr; und außerdem hatte sie noch einen großen Kasten voll mit kunstvoller Laubsägearbeit – da er über das Photographien-Erklären schon hinaus war: Das ist Tante Trautchen aus Melsungen. Die ist noch heute berühmt in ganz Melsungen, so schön war sie. Zwei Leutnants und ein Assessor haben sich ihretwegen umgebracht. Und das Unglück! man denke: Diese göttliche Person ist später bucklig geworden, deutlich schief und bucklig. (Erstens also war es gar keine Tante, sondern eine Verwandtschaft linker Hand, undefinierbare Nebenlinie; und zweitens brauchte sie gar keinen Buckel mehr, sondern hatte schon von Anfang an Glupschaugen und ein Mopsgesicht gehabt) – – Also ... da Fritz Eisner für Frau Luise Lindenberg schon als ziemlich eingeweiht galt, so exemplifizierte Frau Luise Lindenberg von eben dieser Tante Trautchen wieder auf alle möglichen anderen Menschen, von deren Existenz er ebenso wenig eine Ahnung hatte. Er verstände doch: das wäre ein Halbbruder von dem aus Burg bei Magdeburg.

Und Frau Luise Lindenberg war erfreut, wie schweigsam und aufmerksam Fritz Eisner ihren Berichten folgte. Aber Fritz Eisner, der das erstemal Frau Luise Lindenberg so im rücksichtslosen Licht des hellen Tages gegenübersaß, betrachtete eigentlich nur nachdenklich ihre Züge. Und er fand, daß Frau Luise Lindenberg doch im Grunde älter aussah, als sie war. Vergnittert, etwas versorgt, unfroh, klein, hastig im Wesen, ohne Zentrum, wie vor sich selbst fliehend. Ein selbständiger, tüchtiger, aber ein beschränkter und kein angenehmer Mensch. Doch im letzten noch ganz Provinz. Und nicht einmal gute Provinz. Keine Spur von diesem breiten behaglichen In-sich-ruhen, das seiner alten großstädtischen Familie eigentümlich war und die Marke gab.

Wie Frau Luise Lindenberg das alles herausbrachte – ohne eine eigen geprägte Wendung! ohne Anschauung! Ödester, kleinlichster Tatsachenstil! Kein Hauch jenes seelischen Blütenstaubs, der mit Jugend und Alter ja gar nichts zu tun hat, sondern eine sympathische Erscheinung ist, die wir wie Moschus noch in der allerwinzigsten, kaum nachweisbaren Dosierung verspüren. Eigentlich war sie doch das – Fritz Eisner wurde es das erstemal klar – das, was er immer einen »seelischen Miesnick« nannte. Na gottlob, sein Annchen war nicht so. Und unter seiner Ägide würde sie sich ja noch ganz anders entwickeln!!

Und man brachte Schnitzel, dick und groß und schön paniert, als ob sie mit einer Moosdecke überzogen wären. Und Frau Luise Lindenberg berechnete, daß es billiger wäre, Sonntags hier zu essen, und daß das auch die häßliche Kocherei spare. Und Fische kamen, die behaupteten, Karpfen zu sein, aber sich aßen, als ob man versehentlich ein Nadelkissen gekocht hätte, so voll spitziger Gräten steckten sie. Die Tunke jedoch – so sagt man wohl jetzt – (nebenbei: warum und weshalb eigentlich: Tunke? Ein feiner Mann tunkt nicht) – die Tunke jedoch war vorzüglich, und Frau Luise Lindenberg beschloß, in die Küche zu gehen, um der Wirtin, die natürlich selbst kochte – sie hätte schon mit ihr geplaudert – das Rezept abzuluchsen.

Fritz Eisner aber sagte, er wolle einmal sehen, ob der Möbelwagen denn noch nicht käme.

Schön, meinte Frau Luise Lindenberg, dann träfen sie sich nachher Nummer achtzehn, eine Treppe.

In Wahrheit aber wußte Fritz Eisner ganz genau, daß an den Möbelwagen noch nicht zu denken war. Er hatte nur Sehnsucht, sich einmal hier umzuschauen, den ersten Gang allein durch das zukünftige Königreich seiner Liebeswege zu machen. Und zweitens wußte er aus den Photographiealben und dem Kasten mit der kunstvollen Laubsägearbeit doch gerade schon so viel, daß erst die eine Seite, die ihres verstorbenen Gatten, bisher von Frau Luise Lindenberg durchgenommen war, und daß die andere, die ausgiebigere und größere Hälfte, jede Minute zu befürchten sei. Und so zog Fritz Eisner seinen Hut und trollte sich.

Nach verschiedenen Seiten gabelten sich die Wege, und Fritz Eisner stand einen Augenblick unschlüssig. Da drüben über die Bahn fort ... da hatte er jetzt gar nichts zu suchen. Er wußte: erst kam ein schmaler Streifen Wald, dann bog der Fahrweg ab und ging außen am Gatter entlang; hinter dem man das Damwild, in Nudeln langsam vorrückend und mit den schaufelschweren Köpfen pendelnd, das Gras zupfen sah; und hinter dem auch – aber scheuer und stolzer und tiefer im Watdinnern, weit hinten, wo die Bäume dichter wurden – manchmal ein mächtiger Rothirsch, selbst still und starr aufragend wie ein Baum, dem spähenden Auge sichtbar wurde.

Auf der anderen Seite aber kamen Hecken, Wiesen, Felder. Man fühlte, daß die Welt weiter ging, die Begrenztheit aufhörte. Weit, weit drüben war sogar ein Hügel, und dann bog die Straße wieder und suchte sich die Havel.

O, dort würde Fritz Eisner überall noch entlanggehen, und zwar nicht allein! Und den anderen Weg nach Geltow zu auch. Aber ihn liebte er nicht.

Überhaupt seltsam, dachte Fritz Eisner, die Bahn trennt doch eigentlich hier zwei Welten. Sie ist wie eine Mainlinie. Alles, was links ist, kann überall sein; aber das, was rechts ist, auf seiner Seite, das ist eben auch im kleinsten und bescheidensten ein Ding ganz eigener Art. Ein Haus, ein Weg, ein Mensch, eine Kutsche, von den Parks zu schweigen; aber selbst die Bäume und das Buschwerk sind hier anders – Potsdamer Luft!

Fritz Eisner wandte sich und ging ruhig und vor sich hinträllernd vorerst einmal nicht dem Möbelwagen entgegen, sondern einen breiten Lindenweg hinunter mit himmelhohen Bäumen, die noch fast kahl waren, aber in der Sonne doch nichts weniger mehr als winterlich dreinschauten. Von drüben her roch es nach Veilchen; und der ganz leise Aprikosenduft der Himmelschlüssel mischte sich drein. In dem schon voll begrünten Rasen aber, zwischen gelben Tuffs von Primeln, hielten ein paar goldige Fasanen Mittagsrast; und andere zogen mit langen nachschleifenden Schwänzen, den Kopf leise von links nach rechts drehend, von dem einen runden Haselbusch zum anderen hinüber.

Und dann lockte so ein kleiner ausgetretener Seitenpfad abseits durch ein Wäldchen.

Hier müßte es sehr hübsch sein, wenn erst alles ganz grün wäre – und es Abend wäre, meinte Fritz Eisner. Aber er ging ihn nicht hinunter, notierte ihn sich nur im Kopf, wie ein Heerführer für alle Fälle einen Weg in eine Karte einzeichnet.

Langsam belebte sich die Straße mit allerhand sehr vornehm aussehenden Lakaien; und mit Soldaten in nagelschweren Stiefeln, immer im Tempo eins zwei, eins zwei, automatisch gehend wie Maschinen, die, einmal angekurbelt, nun von selbst weiterlaufen. Drüben brannte der grelle Fleck einer roten Husarenuniform; und eine Hofkutsche – ein Traber davor, ganz dünn und langgezogen und hochbeinig, als ob er versehentlich unter eine Pflanzenpresse geraten sei, und ein paar Hofdamen darin, die sehr spitz und kühl aussahen – glitt vorüber.

Richtig! Richtig! Das war ja alles hier geheiligt durch die Nähe des preußischen Hofes, der mit vielen kleinen Anzeichen in Erscheinung trat, wenn er auch selbst in seinen höchsten und reinsten Kristallisationen meist unsichtbar blieb, da er ähnlich wie Goethe von sich sagen konnte: Wenn die Leute noch denken, ich bin in Weimar, bin ich schon in Jena.

Dann kam ein alter Paradeplatz mit roten Ziegelwegen und mit tänzelnden Bronzepuppen auf Kuppeln hüben und drüben, von Schloß und Kavaliersbauten, zu denen hohe, geschwungene Freitreppen hinanführten. Eine ganze Welt erstarrter Sandsteinfiguren sonnte sich auf Dächern und an Rampen und Gartenmauern.

Fritz Eisner trällerte immer noch vor sich hin. Er achtete nicht viel auf seine Umgebung; er hatte nur einmal, als er nun rechts abbog und am Schloß entlangschritt, die schöne Empfindung von hohen, kühlen Räumen mit weißen Decken, über die sich das Licht silbrig und mild verteilt. Aber er ging ihr nicht nach. Das war heute nicht seine Welt.

So! Nun war doch endlich Einsamkeit und Park, und geschwungene Wege und Buschwerk und Rasenflächen und Baumgruppen darauf gestellt, wechselnd in Form und Mächtigkeit; Koniferengruppen, die wie steile Basaltkegel tagten; und Laubholz, das noch in tausend Zweige zerfasert war, aber schon ahnen ließ, welche große ruhige Formen es bald haben würde, wenn es seinen grünbunten Mantel erst übergeworfen hätte. Da zog es ihn schon ganz anders hin. Jede Bank streichelte und liebkoste Fritz Eisner mit den Blicken: hier könnte man sich wohl mal hinsetzen! Aber diese wäre schöner – weil sie noch abseitiger wäre.

Wenn der Frühling in Berlin nur eine verarbeitete Fabrikarbeiterin im Sonntagsstaat gewesen war (morgen um sieben Uhr gellt die Dampfpfeife wieder, und das verwischt sich nicht in einmal vierundzwanzig Stunden!) ... wenn er in den Vororten selbstgefällig und doch armselig war wie eine Frau Rechnungsrat, die nachmittags in ein Gartenlokal Kaffee kochen geht ... so war er hier wie eine junge Schloßherrin. Hier arbeitete man nicht und verdiente nicht mehr, man besaß, war etwas kühl, etwas unnahbar, aber sehr wohlgepflegt und lächelnd und von den schönen Farben unerschütterter Gesundheit.

O, da waren ja ganze Maiblumenfelder. Sie blühten noch nicht, aber sie würden blühen für Fritz Eisner und Annchen Lindenberg. Und vor einem bescheidenen Schlößchen aus der Schinkelzeit standen mit krummem Gehörn auf scheuen Köpfen, mit nervösen Streichholzbeinen ein paar amüsante Bronzegazellchen, auf die er früher nie so geachtet hatte. Aber für Gazellenaugen hatte Fritz Eisner jetzt den Sinn bekommen. Und als er sich überzeugt hatte, daß niemand es sehen konnte, ging er heran und tätschelte eins von den kalten Tierchen ganz vorsichtig. Eine Bronze, sagte er – sich vor sich selbst entschuldigend – muß man nicht nur sehen, sondern fühlen.

Und dann kam ein Gartenpförtchen, gußeisern und abscheulich, das wundervoll quietschte ... und wieder lag die lange Straße, die zum Bahnhof führte, vor Fritz Eisner. Sie lag da, gerade, in Licht und Schatten wie durch einen Schwerthieb gespalten, ganz still, auch nicht von fernster Ferne noch vom Rumpeln eines Möbelwagens erfüllt. So weit Fritz Eisner sah, kein Mensch, keine Seele, nichts Lebendes. Nur ein Hund stand mitten auf dem Fahrdamm, ein undefinierbarer Hund, weißgrau über und über, und dabei mit braunen, rehbraunen Ohren, die wie angenäht aussahen und von dem ganzen Tier, das kein Glied rührte, den Eindruck des Spielzeughundes noch verstärkten. Fritz Eisner suchte ordentlich nach Nähten und Stichen mit den Augen, und er sah noch einmal genau hin, ob der Hund nicht etwa doch Räder unter den Füßen hätte oder auf ein Brett aufgenagelt sei. Aber er war – wie wir später noch sehen werden – ein durchaus und in allem natürlicher Hund!

Die Straße war auf der einen Seite vom Park begrenzt, der mit uralten Bäumen über hohes Gitter und Buschwerk auf die bescheidenen kleinen Häuser und altmodischen grauen Villen der anderen Seite hinabsah. Eine davon war sehr vornehm, hatte Säulen und eine breite Freitreppe, über die auf Bildern immer die Königin Luise herunterkommt. Aber da die Villa sehr klein war, so bestand sie eigentlich nur aus Säulen und Freitreppe.

Und dann gab es ein paar Häuser, die sicherlich von einem Maurermeister erbaut worden waren, der eine Fachschule frequentiert und nun versucht hatte, architektonisch eine komprimierte Taschenausgabe von Dohm und Lübke: »Die Baustile aller Zeiten und aller Länder« zu edieren. Und es war ihm überraschend geglückt.

Sogar ein paar Läden hatten sich auch hier hinaus gewagt, die einzigen weit und breit. In dem einen hatte sich eine Putzmacherin angesiedelt, und sie bewies wieder einmal die traurige Tatsache, daß die Männer meist vor den Frauen sterben; denn das ganze Fenster war über und über mit Trauerhüten in wehenden Schleiern dekoriert. Es sah aus, als ob ein Witwenkongreß da abgehalten würde. Der andere Laden aber war von einem Materialwarenhändler belegt, keinem modernen mit Chicorée und Brüsseler Trauben und Tomaten in Sägespänen; nein, von einem altmodischen, einem aus vergangenen Tagen mit einer heimtückischen Klingel unter der Schwelle und knirschendem Sandfußboden. Solch einem, bei dem noch alles, was man kaufte, Mehl, Kartoffeln, Zucker und Suppengrün, nach Petroleum schmeckte; und nur die Äpfel nicht, weil sie nach Zwiebeln schmeckten ... oder nach Heringen. Solch ein Laden war es. Und Fritz Eisner betrachtete ihn mit Mißtrauen.

Aber wo mochte nur Nummer achtzehn sein?! Nach den Schilderungen der Frau Luise Lindenberg mußte sich hier drüben ein Landhaus erheben – inmitten wohlgepflegter gärtnerischer Anlagen – von so stolz-einfacher Vornehmheit, als ob die Perponchers und die Radziwills sich gemeinsam ein Sommerschloß erbaut hätten. Und gerade – was die Sache noch reizvoller gestaltete! – neben einigen noch richtig ländlichen, ja beinahe dörflichen Baulichkeiten. Also da war ja eine breite Einfahrt, die sich dann zum Hof weitete ... einem Hof mit Hühnern, Trippeltauben und Enten, der von ein paar niederen, langgezogenen Kästen flankiert war, vor denen man sich nicht klar wurde, was nun die menschlichen Wohnungen und was die Ställe waren. Es wurde aber für Eingeweihte nach den Bewohnern unterschieden. Frau Luise Lindenberg nannte so etwas idyllisch.

Und daneben stand ja ein sehr bescheidenes graues Haus, eigentlich nur zwölf Fenster (nach Frau Luise Lindenberg waren es zwanzig gewesen; sie hatte wie die meisten für Zahlen ein pleonastisches Gedächtnis), zwölf Fenster mit etwas herum und einem Dach darüber. Und oben im ersten Stock mit einem eisernen Nistkorb von Balkon, der durch eine dünne hölzerne Scheidewand mit Milchglasscheiben in zwei halbe Nistkörbe gespalten war. Das Gärtchen vor dem Haus bestand aus Sonne, Buchsbaumeinfassung und Kieswegen, die sich symmetrisch um eine Wasserkunst gliederten, an der ein kleines bunttönernes Wichtelmännchen hockte und angelte. Es schien wie die meisten Angler nicht viel Glück zu haben.

Fritz Eisner blieb einen Augenblick stehen und suchte nach dem Eingang. Denn er sagte sich, die Leute, die in dem Haus wohnten, müßten doch irgendwie in das Haus hineinkommen; und wenn man auch unten leicht in die Fenster hineinklettern konnte, so wäre das doch im ersten Stock immerhin für Damen schwierig und peinlich. Es wohnten aber sicher Damen drin; denn da sang ja zum Klavier eine weibliche Stimme. Sie war recht ungeschult. Sie hatte nicht viel Metall. Sofern man nicht Blech auch zu den Metallen rechnen will. Schön war sie keineswegs, die Stimme. Sehr bescheiden und ungeschult. Annchen sang anders. Was war das nur für ein Lied? Ein bißchen trivial, aber ganz einschmeichelnd. Fritz Eisner horchte scharf hin, aber er hörte nur immer wieder:

»Fliegenschmalz, Fliegenschmalz, lülüü, lalaa. Fliegenschmalz lülü. Fliegenschmalz lala.«

Ein neckisches Lied, sagte sich Fritz Eisner. Na, Annchen wird es schon kennen, die kennt alle solche Lieder.

Aber wirklich, da war ja doch eine Gartentür, und an der Seite war solche Art Hof mit Sandboden, auf dem Bäume standen, sechs Bäume. Und unter den sechs Bäumen waren vier Lauben. Für jede Sommerpartei eine. Und da von der Rückseite aus war auch ein Eingang, eine Treppe mit ausgelaufenen Stiegen und ein Glasdach, auf dem die schönste Sammlung vorjähriger Insekten, Dipteren, Coleopteren, Lepidopteren lag, die ersonnen werden kann. Nur in einem Hotel in Neubrandenburg erinnerte sich Fritz Eisner auf einem Glasdach – nirgends in der Welt gibt es so viel Glasdächer wie in Kleinstadthotels – eine Insektensammlung von ähnlicher Schönheit und Vollkommenheit liegen gesehen zu haben.

Fritz Eisner klopfte, und Frau Luise Lindenberg öffnete und bemerkte gebrochenen Herzens, sie könnten nicht die Nacht über hier bleiben, wenn der Möbelwagen nicht käme.

»Warum denn nicht?« meinte Fritz Eisner mit einem Blick auf die Betten, die weiß herüberglänzten.

»Man kann eben so nicht bleiben.«

Aber es wäre doch sehr gemütlich, meinte Fritz Eisner, und er identifizierte sehr absichtlich »gemütlich« und »eingewohnt«.

Den Möbeln sah man nämlich durchaus an, daß sie schon manche Sommerkampagne durchgemacht hatten. Und überall, im Schlafzimmer und im Wohnzimmer und im »Salon«, schien stets die Schlacht mit gleichmäßiger Heftigkeit getobt zu haben. Die Wände waren mit einer großgemusterten, braungrauen Tapete beklebt; was ja, wenn niemand hier wohnte – an Winterabenden, so im Lichtkreis der Lampe – eine ganz behagliche Stimmung geben mochte, aber an einem hellen Frühlingstag wie diesem recht trübselig machte.

Das einzig Auffallende war auf einer Konsole in der Ecke ein ausgestopftes kleines Äffchen, grau mit braunen Pfoten, von der Größe einer kleinen Katze, das aufrecht neben einem Baumstamm stand und mit Engländerzähnen an einer verstaubten Haselnuß herumknackte, von der man die Empfindung hatte, daß sie hohl sein müßte.

»Ei, sieh doch mal,« sagte Fritz Eisner, »der ›Lar‹ von Wilhelm Raabe!« Wilhelm Raabe hat nämlich ein Buch nach einem ausgestopften Affen benannt, den ein alter Arzt als seinen Hausgott, als seinen »Lar« verehrt.

»Rabe?« sagte Frau Luise Lindenberg, die nur das letzte Wort aperzipiert hatte (denn in ihrem Hirn war gerade der Möbelwagen verbrannt), und kiekelte mit ihren kurzsichtigen Augen herüber. »Ich hatte es für ein Eichhörnchen gehalten!«

»Nein, es erinnerte mich an etwas von Raabe – es ist ja ein Äffchen.«

»Ach, dann hat das der Kapitän gewiß mitgebracht,« meinte Frau Luise Lindenberg, nicht ohne Stolz, im Hause der Witwe eines so hochgestellten Mannes gemietet zu haben.

Die Aussicht vom Balkon vorn war wirklich hübsch. In Bäume hineinblicken ist stets hübsch, ob sie kahl oder belaubt sind. Aber die Nachbarin sang immer noch das merkwürdige Lied: »Fliegenschmalz, Fliegenschmalz ... lülü, lalaa ... Fliegenschmalz lülü ... Fliegenschmalz lalaa!«

Frau Luise Lindenberg kannte es auch nicht.

Und von dem kleinen Hinterbalkon – zwei Stühle konnte man auf ihn stellen, und der dritte mußte schon halb in der Tür stehen – hatte man einen Blick über die ländlichen Nachbarbaulichkeiten, dann über die Eisenbahn fort – (ein Zug machte gerade Fensterpromenade, und man glaubte auf einem Erdbeben zu sitzen) – und endlich verlor er sich – der Blick – durch Wiesen, Gärten und Felder nach der Havel hinunter. Unter dem Balkonchen aber, eingeklemmt zwischen Brandmauern, war ein Drahtkäfig. Und als Fritz Eisner heruntersah, da stand doch da unten auf einer Kiste der Spielzeughund von vorhin, ganz still, regte kein Glied, hob nur den Kopf und sah starr zu ihm hinauf.

Und dann, ja dann war da noch irgendwo ein ganz kleines Gartenhäuschen unter den Bäumen, höchstens von zwei Zimmern am Ende des Grundstücks, wo es zu dem schwarzen, umgegrabenen, von Dung rauchenden Gemüseland einer Gärtnerei hinüberging.

»Weißt du,« meinte Frau Luise Lindenberg, »wir könnten mal herunter zu der Frau Kapitän gehen und sagen, daß wir da sind, und sie begrüßen; und ich habe auch verschiedenes mit ihr noch zu besprechen, und bei der Gelegenheit kann ich dich ihr gleich vorstellen. Das ist wohl notwendig. Der Möbelwagen kommt heute doch nicht. Aber ich bin das letztemal mit Lehmann gezogen!« Denn Frau Luise Lindenberg war eine von den Frauen, die da meinen: Was brauche ich mir das Leben leicht zu machen, wenn ich es schwer haben kann?

»Ach ja,« rief Fritz Eisner, »solche Kapitänswitwe muß nette Sachen haben. Indische Muscheln und Schiffsmodelle. Und malaiische Kris! Sind vergiftete Pfeile! Ich hatte einen Kapitänssohn als Mitschüler, und bei dem hingen sogar unter Glas und Rahmen noch von seinem Großvater her Blumen vom Grabe Napoleons auf Sankt Helena. Mit der Kapitänswitwe freunde ich mich an. Vielleicht hat sie auch Japansachen.«

Von den Photographien, die Südseemädchen, nur in ihre braune Haut gehüllt, gleich gruppenweise zeigen, und die ebenfalls einem Kunstkenner nicht unerfreulich erscheinen, erwähnte er vor den keuschen Ohren der Frau Luise Lindenberg nichts.

Und bang und klopfenden Herzens, denn die Aussicht auf fremde Schätze elektrisierte Fritz Eisner stets – ihm floß eigentlich Sammlerblut in den Adern – ging er mit herunter.

Also es war nichts, absolut nichts, nicht die Spur, nicht die kleinste Negerarbeit, kein Pfeil, keine Muschel, an ein Schiffsmodell schon gar nicht zu denken. Nicht der geringste Exotismus; nicht mal ein Elefant aus Ebenholz, wie ihn jeder Weltreisende einfach sich mitbringen muß. Das sah Fritz Eisner auf den ersten Blick.

Das eigentlich Bemerkenswerte in den Zimmern der Kapitänswitwe war neben ein paar Photographien über dem Sofa ein Stück modernen Kunstgewerbes, eine riesige Brandmalerei. Ein Meter zwanzig zu achtzig mindestens. Mit einem schönen rotgrünen Mohnblumenkranz und dem Spruch in reichverzierten Majuskeln:

»Ein Heim, von Liebe warm durchglüht,
Wo wandellose Freude blüht,
Und Frohsinn sich zu Glück gesellt
Das ist das Schönste auf der Welt.«

Fritz Eisner hatte sich auch eine richtige Kapitänswitwe als eine liebe alte Dame vorgestellt mit Silberhaar und glattem Scheitel und einer großen, gediegen funkelnden Granatbrosche, schwarzgekleidet, etwas schwerfällig, am liebsten am Fenster sitzend und, die Hände auf dem Leib, leise und freundlich lächelnd. Also die Kapitänswitwe hier war von allem das Gegenteil. Sie war noch keineswegs alt, aber sie wollte bedeutend jünger scheinen, als sie war. Eine statiöse Person war sie, mit hübschem, aber nicht gerade feinem Gesicht, kanarienblond, nach letzter Mode frisiert und schick in eine Art Reitkleid gepreßt; sehr freundlich, aber von der unwiderleglichen Freundlichkeit der Aufsichtsdame in einem Warenhaus (»Fräulein Puphal – bitte kommen Sie einmal zu mir!«). Und Kinder hatte sie ... vier Stück, immer so ungefähr eine Olympiade auseinander. Alles Mädchen, wohl so vier-, acht-, zwölf-, sechzehnjährig. (Der Kapitän, reimte sich Fritz Eisner zusammen, muß eigentlich nach den Zeiträumen, die zwischen den Kindern liegen, sehr umfassende Weltreisen auf Segelschiffen gemacht haben.) Sie sollten sofort herausgejagt werden; aber Frau Luise Lindenberg bat, sie möchten bleiben, sie störten gar nicht und wären doch so reizend.

Und das waren sie auch! Bildhübsch! Jedes auf seine Art. Keins dem anderen ähnlich. Sie erinnerten eigentlich in der Abstufung an die Haarwellen in den Auslagen der Friseure, die von Blond über Rot zu Braun und dann zu Schwarz laufen.

Ja, es schien hier noch weiter – wie Fritz Eisner staunend feststellte – eine ganz merkwürdige, biogenetisch geradezu verblüffende Tatsache in diesen Kindern in Erscheinung zu treten. Nämlich, eines war zweifellos etwas mongoloider Typ; eines Wikinger, reines Nordlandsblut; eines Mittelmeertyp; und das Kleinste ganz klar mit der olivfarbenen Haut, der breiten Nase, diesen großen, schönen, dunklen Augen, die ein wenig an die eines Leonbergers erinnerten: den leichtgewulsteten Lippen, diesen starren schwarzen Haaren, Südseetyp ... Es hatte also hier sicherlich der jeweilig-vorhergegangene Aufenthalt des Kapitäns durch seine Fülle von Erinnerungsbildern abweichend auf den sonst zu erzeugenden Normaltyp der beiden Eltern gewirkt. Etwas, was wohl bisher vermutet, aber in so reiner Erscheinungsform kaum je beobachtet worden ist, sagte sich Fritz Eisner.

Frau Luise Lindenberg stellte Fritz Eisner vor. »Der Bräutigam meiner älteren Tochter Annchen, Frau Kapitän,« sagte sie. »Meine jüngere Tochter ist auch verlobt mit ...« – Frau Luise Lindenberg machte eine Pause – »mit einem Doktor der Jurisprudenz« (das klang doch besser).

Fritz Eisner fühlte, wie die Frau Kapitän ihn mit einem nicht ganz unwohlgefälligen Blick einhüllte, und schloß daraus, daß der Kapitän doch schon vor längerer Zeit mit seinem Schiff untergegangen sein müßte. Ein richtiger Kapitän ertrinkt.

»Er ist Schriftsteller,« sagte Frau Luise Lindenberg, nicht ganz ohne Stolz, als ob sie damit aussprechen wollte: er treibt zwar etwas, was eigentlich nichts einbringt; – aber es kann doch nicht jeder.

Ein Schriftsteller jedoch schien der Frau Kapitän wenig zu bedeuten. Sie war wohl mehr für abgehärtete Freiluftmenschen, braunrote, grogtrinkende Seebären ... Und da Frau Luise Lindenberg von ihr auch tausend Dinge über Wirtschaft, Bäcker, Schlächter, Milchmann, Gemüsefrau, Wäsche wissen wollte und ferner bat, ob sie ihr nicht noch ein halbes Dutzend mittlerer flacher Teller für die Küche hinaufstellen könnte, so wandte Fritz Eisner sich den kleinen Mädchen zu.

Die Sechzehnjährige – frühreifer Mittelmeertyp, schon ganz damenhaft gekleidet – las plötzlich wie verbiestert »Des Doktors Töchterlein« von der Helmuth. Das heißt, sie hatte ein anderes aufgeschlagenes Buch noch darunter liegen.

Die Zwölfjährige – das blonde Wikingermädchen – schrieb mit schiefem Kopf langsam und schwungvoll und schräg in das Schönschreibeheft eine Seite nach der Vorschrift: »Müßiggang ist aller Laster Anfang – Emil.« Emil stand nämlich noch besonders da, weil man das große E gar nicht genug üben kann. Die wenigsten Menschen schreiben es schön.

Die Achtjährige – der mongoloide Typ – ohne Zweifel die netteste von dem Vierblättrigen (solche Art von Kind, das sich mit einem Ball und einer Mauer ganz still für sich drei Stunden lang beschäftigen kann) saß ruhig da und kniff abwechselnd das eine und dann das andere Auge zu.

»Was machst du denn da, Lottchen?« fragte Fritz Eisner nach einer Weile.

»Ach, ich habe mir ein Spiel erfunden, Onkel.«

»Wie heißt es denn, Lottchen?« fragte Fritz Eisner.

»Ich nenn's: die Nase rutschen lassen, Onkel.«

Das ewige »Onkel« machte Fritz Eisner stutzig. Es gibt so Häuser, wo die Kinder zu all und jedem »Onkel« sagen.

»Ja – wenn ich nämlich das Auge zumache, Onkel, rutscht die Nase hier 'rüber; und wenn ich das hier zumache, geht sie wieder auf die andere Seite.«

Das Kleinste aber – der Südseetyp – kümmerte sich um gar nichts und malte ganz seelenruhig mit roter Schneiderkreide ein Männchen an den schwarzen eisernen Ofen.

»Wie lange ist denn Ihr Herr Gemahl schon tot?« fragte drüben Frau Luise Lindenberg.

Die Frau Kapitän sah zu Frau Luise Lindenberg mit tränenschimmerndem Blick hinüber. »Über sechs Jahre,« sagte sie.

»Mein armer Mann ist schon viel länger tot,« bemerkte Frau Luise Lindenberg beiläufig.

»Das Schiff kann Anfang September ... es braucht aber auch erst Ende Oktober gesunken zu sein – ach ja!«

»Und wie alt bist du denn, Lieschen?« fragte Fritz Eisner die Kleine, als sie gerade dem Männchen noch ein paar Arme an die Nase malte.

»Vorjte Woche bin ich vier Jahr jeworden,« piepste Lieschen und zeichnete dem Mann einen Vollbart.

Seltsam, dachte Fritz Eisner, die Kapitänswitwe muß sich wohl, ganz in ihre traurigen Erinnerungen verloren, versprochen haben.

Frau Luise Lindenberg holte nun plötzlich einen Bruder aus der Versenkung, der nicht recht gut getan, zur See gegangen und verschollen war, und der Fritz Eisner bisher unterschlagen worden war. Fritz Eisner nahm das nicht weiter übel. Er wußte genau: jede Familie hat so einen Bruder oder Vetter oder eine Tante oder eine Schwägerin, die mal unterschlagen wird – sie brauchen nicht mal immer zur See gegangen zu sein.

Oben begann es plötzlich wieder: »Fliegenschmalz, Fliegenschmalz lülü, lalaa.«

»Ach, das ist die Frau Baumeister,« sagte die Kapitänswitwe, »sie ist sehr musikalisch.«

»Meine Tochter Annchen auch.«

»O, da werden sie sich sicher anfreunden. Sie ist eine entzückende Frau. Der Mann kann leider nur ein paarmal die Woche zu ihr herauskommen. Er baut in Berlin.«

»Und was wohnen sonst ...?«

»Unter meinen Mietern ist immer das beste Verhältnis. Sie sind eigentlich nachher stets wie eine große Familie. Ich sehe mir meine Leute vorher sehr genau an. Ich nehme nicht jeden. Hier unten wohnt noch eine Frau Direktor mit ihren Kindern. Wissen Sie, der Mann ist so etwas ganz bedeutendes Kaufmännisches, so Direktor einer großen Sache. Aber er ist jetzt überarbeitet – diese Herren sind ja heute alle nervös – mein Mann war nie nervös ...«

»Meiner auch nicht,« rief Frau Luise Lindenberg.

»Und deshalb ist er in einem Sanatorium. Und da hat nun die Frau Direktor ihre Wohnung am Kurfürstendamm einfach zugeschlossen und ist hier herausgezogen. Man weiß ja auch nicht, wie sie sich verhalten soll. Zurückziehen aus der Gesellschaft will sie sich nicht. Das schadet ihr. Und wenn sie wieder ohne ihren Mann alles mitmacht, reden die Leute auch.«

»Und sind sonst ...?«

»O nur über Sonnabend, Sonntag kommt immer ein junges Ehepaar aus Berlin – ein Doktor Martini und seine reizende junge Frau – und die übernachten hier in dem Gartenhäuschen. Sie sind leidenschaftliche Angler, und da fahren sie mit dem letzten Zug 'raus; denn, wenn die Sonne erst hoch ist, beißen die Fische nicht mehr.«

»Doktor Martini?« meinte Frau Luise Lindenberg nachdenklich, »aber der kann es nicht sein?! Erstens ist er unverheiratet, und zweitens angelt er nicht.«

»Hallo,« rief Fritz Eisner. »Ich glaube, jetzt kommt der Möbelwagen, man hört ihn schon rumpeln.«

»Da hinten ist er, Onkel,« rief Lottchen, die ans Fenster gelaufen war.

Gott sei Dank, das war er! Man konnte schon deutlich den Namen »Lehmann« lesen. Die beiden Pferdchen zuckelten gemächlich Kopf bei Kopf und nickten einander zu.

Die zwei Damen waren aufgesprungen, und die Frau Kapitän klopfte der Kleinsten tüchtig auf die Finger, daß sie aufbrüllte und das Stückchen roter Schneiderkreide durchs Zimmer flog.

Man schlägt keine Kinder, sagte sich Fritz Eisner. Wenn man schon mal die Rücksichtslosigkeit besessen hat, welche in die Welt zu setzen, hat man zum mindesten die Pflicht, sich ihnen gegenüber anständig zu benehmen.

»Ich muß leider auch noch in die Stadt,« meinte die Frau Kapitän. »Ich muß mir ein Korsett kaufen und anprobieren gehen. Denn mit meinem alten Korsett kann ich mich vor meiner Schneiderin nicht mehr sehen lassen.«

Die Frau Kapitän war nämlich eine echte Frau, die sich nie ein Korsett kauft, weil sie es braucht oder weil das alte ausgedient hat, sondern nur unter dem Vorwand, daß sie anprobieren und sich dabei vor ihrer Schneiderin schämen muß, wie sie sagt. Eine echte Frau aber muß sehr oft im Jahr anprobieren.

Frau Luise Lindenberg warf einen ängstlichen Blick auf Fritz Eisner. Wenn er auch so halb schon zur Familie gehörte, so konnte die Frau Kapitän eigentlich doch mehr Rücksicht auf sie und ihre Stellung zu ihm nehmen.

Alle, besonders aber die Kinder, für die ist so etwas immer ein Erlebnis, wollten zu dem Möbelwagen hinaus – der jetzt grün und groß sich aufgestellt hatte, und von dem drei stierbreite und baumlange Kerle herunter kletterten und sich reckten – als von draußen ausgeschlossen wurde und ein etwas erstaunlicher Herr mit einem mächtigen Kalabreser in der Tür erschien.

»Ach, Onkel Fischer,« brüllten die Kinder und hüpften um ihn herum und fuhren ihm mit den Händen nach Groschen und Zuckertüten in die Taschen des dicken, alten, langen Friesmantels, der ziemlich vernachlässigt an ihm herunterhing und, da er vorn offen war, eine braunkarierte Sammetweste, aber keinen Rock – er schien wirklich keinen zu tragen – sehen ließ.

Und der erstaunliche Herr hob die Kleinste (Südseetyp), die immer noch schluckte und schluchzte, vom Boden auf und nahm sie auf den Arm, ohne sich um die Kapitänswitwe oder gar um den fremden Besuch zu kümmern. Sommergäste schien er für etwas durchaus Minderwertiges zu halten.

»Was hat man Lieschen getan, meiner zarten Blumenseele?« sagte er und steckte ihr ein Stück Schokolade in den Mund. »Komm, begießen wir dich wieder! So, nochmal,« und er schob ihr ein zweites nach. »Seht ihr, nun hebt die kleine Sammetgloxynie den Kopf schon wieder. Daß Frauen nie lernen, wie man Blumen behandeln muß. Ach ja – wer das nicht in der Hand hat – da hilft kein Nägelpolieren.«

Lieschen jedoch patschte dem Onkel Fischer ins Gesicht und zerrte vergnügt und krähend ihm in den langen, starren, schwarzen oder richtiger schwarz und weiß durchwirkten Haaren, die ihm bis auf die Schultern herunterhingen. Wenn sich aber ein Mann die Haare lang wachsen läßt, ist immer irgend etwas mit seinem Verstand nicht in der Richte, hat's einen Zusammenstoß mit der Welt gegeben. Das Gesicht von Onkel Fischer war sehr brünett, fast violettschimmernd brünett, etwas exotisch mit leicht gewulsteten Lippen, breiter Nase und mit sehr großen, schönen, dunklen Augen, die ein wenig an die eines Leonbergers erinnerten, aber von einem eigentümlichen Feuer waren, das nach innen glimmte. Man hatte den Eindruck eines Sonderlings – aber eines geistigen Menschen.

»Darf ich bekanntmachen?« rief die Kapitänswitwe mit einem Klang, der sehr freundlich schien, aber einen Unterton hatte: Wir werden noch darüber reden! »Mein neuer Mieter, Frau Lindenberg – Herr Doktor Fischer, ein Freund unseres Hauses,« (man stellt doch den Herrn zuerst vor, dachte Frau Lindenberg) »und Herr??? ...«

»Fritz Eisner, mein zukünftiger Schwiegersohn,« fiel Frau Lindenberg ein.

Onkel Fischer setzte die Kleine vorsichtig auf den Boden und verbeugte sich linkisch vor Frau Luise Lindenberg.

»Was sind Sie?« fragte er Fritz Eisner und sah ihn prüfend an.

»Ich bin Schriftsteller,« antwortete Fritz Eisner verlegen.

»So,« meinte Herr Doktor Fischer und senkte seinen Kopf, »ich dachte, Sie wären Gärtner. Man sollte nur Gärtner sein, und wenn man es nicht ist, sollte man es werden.«

Die Ziehleute hatten indessen eine Reihe von Möbelstücken und Kisten auf die Straße gestellt, und der erste hatte sich, mit einem Eimer voll blecherner Küchensachen in der Linken und einem eisernen Gartentisch, dessen Beine nach oben ragten, auf dem Rücken, ins Haus begeben. Das heißt, die drinnen hätten es nicht bemerkt, wenn es nicht plötzlich auf der Treppe einen dumpfen Krach und dann ein helles Geklirr von Scherben gesetzt hätte.

Die Kapitänswitwe und Frau Luise Lindenberg stürzten sofort hinaus, und Fritz Eisner folgte; denn er fühlte, daß jetzt seine Funktionen begännen und der Augenblick gekommen sei, wo er einzuschreiten habe.

Also, ein Gasarm war ohne Zweifel etwas verbogen, und der Zylinder und die Glocke hatten ihre alte Form eingebüßt und lagen in vielen Scherben auf dem Treppenabsatz. Der Glühstrumpf, sonst empfindlich wie Spinnwebe, war merkwürdigerweise unbeschädigt geblieben.

Die Kapitänswitwe benahm sich sehr energisch. Es war überraschend, daß sie – wohl um dem Möbelmann besser verständlich zu sein – mit einer vollendeten Beherrschung sich der Sprache und des Wortschatzes des einfachsten Volkes dabei bediente.

Der Möbelmann hatte aber ganz ruhig den großen eisernen Gartentisch von seinen breiten Schultern genommen und ihn neben sich gestellt und schnuffelte nun, sich aufreckend (er war wirklich sehr groß), an dem Gelenk des Gashahns.

»Da is jarnischt passiert,« sagte er nach einer Weile, »da davor sind wir nich haftbar. Det mußte zur Seite jebunden sind.«

Aber da kam er bei der Kapitänswitwe an die Rechte.

»Vastehen Se, Madamken,« sagte endlich der Möbelmann, als sie gar nicht aufhören wollte, leicht lallend, und stellte sich sehr breit und sehr ruhig vor die Kapitänswitwe hin, »vastehen Se: es jibt jute Menschen, un es jibt böse Menschen – und es jibt ... Potsdamer.«

»Sie sind Zeuge davon,« schrie die Kapitänswitwe, »und Sie haben es auch gehört!«

»O,« meinte Frau Luise Lindenberg sehr freundlich – sie hatte bisher geschwiegen, »solche Glocke kann doch nicht Holland und Brabant kosten. Lassen Sie doch bitte für meine Rechnung eine neue besorgen!«

Im Augenblick glätteten sich die Wogen.

»Nu sehn Se, da haben wir's jleich,« meinte der Möbelmann und nahm den eisernen Gartentisch mit einem Ruck wieder auf die Schulter.

Und die anderen Möbelleute – es war ja nur eine halbe Fuhre – rückten nach, und sehr schnell verschwanden Tische, Stühle, ein Klavier, Kisten, Koffer, Kasten, Waschkörbe, der Spiegel, der noch aus der Einrichtung der verstorbenen Mutter von Frau Lindenberg stammte, in den Räumen, fanden hier und da Unterkommen; einer schlug sogar die Kisten noch auf; ein anderer legte Stoffgardinen über die Fensterhaken; und ehe noch eine halbe Stunde vergangen war, da wischten sich auch schon die drei Möbelleute mit dem Hemdsärmel die Stirn; und der, der vorhin mit dem Gashahn den Zusammenstoß gehabt hatte, stellte sich trinkgeldbereit vor Frau Luise Lindenberg hin und sagte in leidlicher Haltung:

»Die Betten sind och schon ufjeschlagen, jnädge Frau.«

Er sagte das, trotzdem die Betten doch zum Logis gehörten, teilweise aus Gewohnheit, teilweise aus Betrunkenheit. Aber er war dabei doch noch sehr gerade und lallte nur wenig. Denn er war wie ein Korpsstudent durch jahrelange Übung gewöhnt, sich mit Anstand zu alkoholisieren.

Und als Frau Lindenberg sich den Trinkgeldansprüchen der Möbelleute gewachsen gezeigt hatte, wandte sich der Sprecher mit vertraulicherer Wendung zu Fritz Eisner als an eine männliche Seele, mit der man über Männerdinge reden könne.

»Wo kann man denn hier bei Ihnen draußen noch schnell eenen kippen, junger Mann?« sagte er und legte Fritz Eisner schwer die Hand auf die Schulter.

»Ich glaube, Sie werden wohl hier kein Lokal finden,« meinte Fritz Eisner.

Der Möbelmann riß erst halb erstaunt, halb mitleidig die eingekniffenen Augen auf. »In so 'ne Jejend«, sagte er dann verachtungsvoll, »würde ick jar nich ziehen.«

Und damit drehte er sich und schwankte hinaus.

»Man kann doch nur mit Lehmann seinen Umzug machen,« rief Frau Luise Lindenberg begeistert und fuhr umher, packte aus und stellte allerhand schöne Dinge auf.

Auch den Kasten mit der Laubsägearbeit, in dem die Photographien waren. Und eine Berliner Vase mit Schwanenhenkeln, die auf der einen Seite die Linden mit dem Brandenburger Tor in seiner spitzpinseliger Malerei zeigte und auf der anderen das Schloß. Sie war sehr hübsch, und Frau Luise Lindenberg hielt große Stücke auf sie; aber das Schloß hatte ein Loch bekommen, und deswegen mußte es immer gegen die Wand stehen und durfte sich nicht sehen lassen.

Fritz Eisner stand umher und fühlte sich eigentlich sehr überflüssig, wie Männer stets in solchen Lagen – eine Tatsache, aus der Frauen gern ihre Überlegenheit ableiten.

»Die Kapitänswitwe«, sagte Frau Luise Lindenberg, während sie ein Dutzend silberner Löffel auspackte und zweimal nachzählte, »ist doch eine sehr feine und reizende Frau. Direkt eine Dame

»Findest du?« meinte Fritz Eisner nachdenklich. »Sie ist doch etwas energisch.«

»Das hat sie von ihrem Mann. Solch Kapitän muß sich eben bei seinen Leuten in Respekt zu setzen wissen.«

»Ob sich das wirklich überträgt?«

»Ja, ich habe,« fuhr Frau Luise Lindenberg fort (was war denn das?! Bei den Kaffeelöffeln schien doch einer zu fehlen. Ach, nein: – elfe, zwölfe!), »also ich habe wenigstens ein tiefes Mitgefühl mit allen Frauen, die gleich mir so früh schon ihren Gatten verloren haben und nun mit den Kindern einsam und verlassen in der harten Welt stehen.« Bei allen Dingen, die das Familienleben anbetraf, bevorzugte Frau Luise Lindenberg eine gehobene, ja fast poetische Sprache. »Und man muß doch auch bedenken, auf welche grausige Art die Frau Kapitän ihren armen Mann verloren hat. Welches, meinst du wohl, war sein Bild? Es hingen da doch mehrere.«

»Ich weiß nicht,« meinte Fritz Eisner, »da war keiner, der nach einem Kapitän aussah. Aber wenn sie eben unvorsichtigerweise schon einen Kapitän heiratet, so muß sie doch mit solchen peinlichen Zufälligkeiten von vornherein rechnen.«

Frau Luise Lindenberg gefiel das durchaus nicht. Es gibt Dinge, über die man nicht spottet! Aber mit den Bräutigams seiner Töchter zankt man sich noch nicht. Das ist zu früh.

»Und dieser merkwürdige Mensch, der da kam! Das war bestimmt ein Verrückter.«

»Ach Gott,« meinte Fritz Eisner, »er war wohl nur ein wenig sonderlich.«

»So?« rief Frau Luise Lindenberg, »ich verstehe nicht, warum man einen solchen Mann frei herumlaufen läßt. So etwas gehört doch in eine Anstalt! Was er da sagte: Du sollst Gärtner werden! Und wie er das Kind hochnahm! Ich habe geradezu Angst gehabt, er würde ihm etwas tun.«

»Mir gefiel er aber ganz gut,« meinte Fritz Eisner. »Er war vielleicht etwas wunderlich, etwas vernachlässigt und unglücklich. So einer, der keinen Einklang zu finden weiß zwischen der Gedankenfolgerichtigkeit und der Lebensfolgerichtigkeit. Einer, der sich verrannt hat. Denn die Gedanken laufen schnurgerade, pflanzen sich gradlinig im Raum fort nach Art der elektrischen Wellen, ohne Hemmungen zu finden. Sie gehen glatt durch alle Dinge, die sich ihnen entgegenstellen, hindurch, unbeirrt auf ihre Ziele zu.«

»Bei den Gabeln,« sagte Frau Luise Lindenberg nachdenksam, »stimmt aber etwas nicht.«

»Das Leben geht dagegen im Rösselsprung nach links oder rechts, nach oben oder unten. Auf irgendeines der acht Felder springt es, und immer gerade auf das, was wir nicht erwarten. Und wenn das nun einer nicht begreift und Dinge, die in der Folgerichtigkeit seiner Gedanken liegen, dann nun vom Leben fordert, Dinge, die am Leben zerschellen müssen, einfach zerspringen müssen wie faule Eier, die man gegen eine Mauer wirft – – dann – – ja dann wird er eben leicht etwas komisch.«

»Ich hatte doch die beiden Salzfässer eingepackt,« sagte Frau Luise Lindenberg. »Etwas komisch, Fritz?! Ich halte den Mann für ganz gemeingefährlich verrückt!«

»Ach Gott,« meinte Fritz Eisner, »nicht viel mehr als andere Leute auch:

›Ein Reis vom Narrenbaum trägt jeder, wer er sei,
Der eine trägt's geheim, der andre trägt es frei!‹

sagt schon der alte Logau. Und der hier trägt's eben frei.«

»Ich wüßte aber nicht, daß ich eins trage,« rief Frau Luise Lindenberg sehr gekränkt.

Sie hatte nämlich die Eigenschaft, daß man mit ihr nie über eine Sache, ein Thema, ein Abstraktum reden konnte, sondern daß sie jedes Gespräch sofort persönlich nahm, auf sich bezog und, die Hand auf dem Busen, rief: »Ich aber nicht!«

Das erschwerte ohne Zweifel die Unterhaltung mit ihr; aber es vereinfachte sie auch.

Da klingelte es, und ein Hund bellte. Fritz Eisner lief öffnen, und Annchen Lindenberg flog Fritz Eisner im dunkeln Korridor um den Hals. Sie hatte wirklich Sehnsucht nach ihm gehabt – die zweimal vierundzwanzig Stunden.

Hannchen Lindenberg, Cand. jur. Eginhard Meyer, eine junge Dame und ein schwarzer Hund mittlerer Größe, ein entfernter Verwandter der Familie der Black-and-Tan-Terriers – das heißt, man hatte schon seinen Urgroßvater aus dieser Familie entfernt – quollen mit Lärm, Gebläff und Gelächter in das Zimmer. Annchen und Hannchen sahen wirklich hübsch aus. Denn helle Kleider, junge Dinger und ein erster rosiger Frühlingstag – –

Wie weit man hier wäre, und sie wollten helfen. Selma wäre auch dazu mitgekommen, sie würde ein paar Tage hierbleiben, rief Hannchen lustig.

Frau Luise Lindenbergs Gesicht wurde länglich. »Aber wo soll sie denn schlafen?«

»In meinem Bett oder auf dem Sofa!«

Fräulein Selma war eine Blume aus dem reichen und bunten Bukett der Freundinnen Hannchens. Kleine Beamtentochter, die Hannchen in der Bibliothek des Kunstgewerbemuseums aufgegriffen hatte, allwo Hannchen sich Monogramme für ihre Aussteuer und eine Kante für das Überhandtuch abgepaust hatte, von denen sie erzählte, daß sie sie entworfen hätte. Und nun war sie seit fünf Tagen von Selma unzertrennlich.

Selma war nicht hübsch, sah wie eine Dichterbraut aus: spitznasig und nach gar nichts. Sie ging aber in Sandalen, mit den Bewegungen einer Blindschleiche, hatte ein lederfarbenes Gewand an, das mit violetten Efeublättern bestickt war – sie nannte das ein individuelles Eigenkleid – und dessen Halsausschnitt und Ärmel mit einer roten Schnur durchzogen waren. Und außerdem hatte sie Holzperlen im Haar, das sie in Schnecken trug.

Das Kleid stammte nebenbei aus ihrer vorletzten Entwicklungsstufe, und sie trug es eigentlich nur noch gegen ihre Überzeugung. Denn sie hatte vor zwei Wochen unter schweren Seelenkämpfen Otto Eckmann überwunden und war Kunstgewerblerin neuester Prägung geworden. Das war, wie sie sagte, keine Verirrung und kam dem Urwesen aller Dinge näher. Sie brauchte dazu nur einen Kreis, ein Quadrat, einen Rhombus und einen Tuschkasten. Und nun nahm sie entweder den Kreis und legte ihn so oder so durch den Rhombus und setzte das Quadrat daneben. Oder sie legte den Rhombus durch das Quadrat und setzte den Kreis daneben. Und ließ das immer wieder abwechseln. Und bezeichnete es je nach Laune: Teppich, Tapete, Wandbehang, Sofakissen oder Lichtschirm. Wenn sie besonders üppig in ihrem Kunstgefühl sein wollte, machte sie Konzessionen und bereicherte ihre Ornamente noch um ein langgezogenes Oval. Sie nannte das Stilkunst.

Egi Meyer konnte sie nicht recht riechen, und Fritz Eisner nannte sie eine Banausin. Aber das machte Hannchen Lindenberg nichts. Sie blieb unzertrennlich von ihr. Der einzige Trost, den Egi Meyer und Fritz Eisner hatten, war, daß solche Selmas bei Hannchen Lindenberg nie länger als acht Tage dauerten. Und fünf waren schon vorbei.

»Was hast du denn mit deinem Hut gemacht?« rief Hannchen und nahm Egis Hut und hielt ihn hoch gegen das Licht. »Ich näh' dir das gleich.«

Aber Eginhard Meyer wollte davon durchaus nichts wissen. Es ginge noch so, sagte er.

»Nein,« rief Hannchen lachend, aber etwas schrill, »es geht nicht. Deinethalben vielleicht, aber meinethalben nicht.«

Die Hutkrempe hatte sich nämlich am Rand gelöst; das heißt nicht am innern, am äußern. Und amüsanterweise war ein schwarzer, etwas rostfleckiger Blumendraht dabei zutage getreten; und um den wieder in sein Versteck zurückzuscheuchen, fischte Hannchen Lindenberg aus einem Koffer ein Nähzeug heraus.

Eginhard Meyer war nämlich darin wenigstens noch ganz der Gelehrte alter Schule, daß er auf sein Äußeres wenig gab. Er war zu Hannchens Entsetzen pietätvoll seinen Kragen gegenüber und stets gleichmäßig unrasiert, so daß man annehmen mußte, daß er, vielleicht aus irgendeinem Aberglauben, die Tage, da er rasiert war, nicht unter Menschen ging.

Wenn Fritz Eisner schon meist sehr bummlig angezogen war, so übertraf ihn Eginhard Meyer darin, ohne die Entschuldigung zu haben, daß er sich seine Sachen selbst kaufen müßte, und daß sein Konto beim Schneider schon ziemlich überzogen wäre. Man verstand es eigentlich nicht recht, weshalb Eginhard Meyer schlecht angezogen ging und nachlässig, da seine Brüder für jedes Journal hätten Modell stehen können und lieber halbnackt als unmodern sich unter Leute gewagt hätten. Aber er war dafür nicht zu haben und gab darauf nichts. Und er setzte allen Versuchen, ihn menschlich möglich zu machen, eine passive, aber unbrechbare Resistenz entgegen. Selbst durch Hannchens wortreichste Ausführungen konnte er sich nicht bestimmen lassen, hiervon abzugehen. Eine Sache, die ebenso für wie gegen ihn sprach.

Aber Frau Luise Lindenberg war doch der Gedanke, mit Selma die Wohnung zu teilen, nicht angenehm. »Hört mal, Kinder,« sagte sie, »wie stellt ihr euch denn das vor mit dem jungen Fräulein? Tante Trautchen aus Melsungen wollte doch kommen, die Ärmste.«

Hannchen Lindenberg jedoch, die gerade ihre Blusen und Waschröcke in das Spind hing und sie säuberlich – sie war sehr eigen – vorher glättete, rief: »Aber, Mama, sie wird doch nicht heute und morgen kommen! Nein, Selma, nicht wahr, du bleibst bei uns?«

»Ja, wenn ihr es durchaus wollt,« sagte Selma.

»Aber ich habe doch an Tante Trautchen vorhin depeschiert« – das war wahr –, »solche Briefe wie sie schreibt man nicht aus heiler Haut.«

Es war nämlich Tante Trautchens Art, hin und wieder aus ihrem Hinterhalt in Melsungen Schreckschüsse nach Berlin abzufeuern. Nicht ein Vierteljahr, wo es nicht geschah, wo sie nicht behauptete, zusammenzubrechen und vor Katastrophen zu stehen.

Wenn Frau Luise Lindenberg – sie war doch eine gute Seele – dann ganz erschrocken hinfuhr, war sie mit hundert Leuten sinnlos quietschfidel; oder wenn man sie aufforderte und ihr das Fahrgeld schickte, kam sie angereist, juhutratra, und verlangte jeden Tag ein anderes Vergnügen, tadelte alles und war für nichts dankbar.

Und vorgestern hatte sie wieder aus ihrem Hinterhalt in Melsungen einen Schreckschuß abgefeuert, der Frau Luise Lindenberg so eingeschüchtert hatte, daß sie tränenden Auges der Ärmsten depeschiert und ihr das Fahrgeld in der gleichen Weise übermittelt hatte. Tante Trautchen aus Melsungen drohte also wirklich.

Plötzlich begann nebenan die Frau Baumeister wieder zu klimpern und zu singen: »Fliegenschmalz, Fliegenschmalz lülüü, lalaa, Fliegenschmalz lülüü. Fliegenschmalz lalaa.«

»O, hier musiziert auch einer,« meinte Annchen – was wirklich nicht schwer zu erraten war – und schubste ihre Blusen mit einem Knuff in den Schrank hinein.

Aber der Black-and-Tan-Terrier, der bisher ziemlich ruhig zwischen Kisten und Kasten umhergeschnuffelt hatte, fing plötzlich an, jämmerlich zu heulen. Er war wohl musikalisch.

»Hier ist doch ein Hund,« rief Frau Luise Lindenberg ganz erstaunt und hob aus der Kiste ein Pack mit Noten, um es auf das Klavier zu legen, »wo kommt denn der her?«

Hannchen sah Frau Luise Lindenberg an, als hätte sie nichts gehört. »Ach, Muttchen,« sagte sie schmeichelnd, »siehst du heute reizend und jung aus!«

»Was ist denn das für ein Hund?« rief Frau Luise Lindenberg schon weniger freundlich.

»Gott, das arme Tierchen,« meinte Annchen, »komm her, mein Mohrchen.«

»Er ist mir in Berlin nachgelaufen,« beichtete Hannchen, »er lag ganz jämmerlich und verhungert an einer Laterne, und da bin ich in einen Milchladen gegangen und habe ihm einen Viertelliter Milch gekauft. Und da ist er dann mitgekommen. Er war nicht loszuwerden.«

»Und nun wollen wir Mohrchen behalten,« begleitete Annchen.

»Hatte er denn keine Marke?« forschte Frau Luise Lindenberg.

»Nein, nichts, keine Marke, kein Halsband, keinen Maulkorb.«

Frau Luise Lindenberg setzte berechtigtes Mißtrauen in die Erzählung ihrer Tochter Hannchen. Denn sie wußte genau, daß die keinen Hund in Ruhe lassen konnte und mit der bösesten Töle sofort Freundschaft schloß oder eine Zankerei anfing, was ihr – sie konnte wundervoll bellen – leicht fiel. Aber Frau Luise Lindenberg kam nicht durch mit ihrem Protest.

»Man kann das arme Tier doch nicht in Nacht und Nebel auf die Straße jagen,« rief Hannchen.

Draußen ging gerade in wundervollen Farben die Sonne unter und füllte das Zimmer mit rotem Schein.

»Meines Nachbars Hund, und hätt' er mich gebissen,
Fänd' Platz in solcher Nacht an meinem Herd«

deklamierte Eginhard Meyer und wies mit dem Arm groß gen Westen. (Er war belesen und nicht witzlos.)

»Ach ja, Mohrchen, du bleibst bei uns,« rief Annchen und hob das Äffchen von der Konsole, ließ Mohrchen es erst anknurren und stubste ihm dann damit heimtückisch auf die Nase, daß es zurückfuhr.

Aber Hannchen, die immer erziehen mußte, nahm sofort eine alte Zahnbürste und holte etwas Alaun aus der Hausapotheke, denn sie hatte gerade gelesen – sie gehörte zu denen, die immer alles gerade gelesen haben – daß man Hunden mit Alaun die Zähne putzt. Das soll ihnen gut tun.

»Hör' mal,« sagte Fritz Eisner zu Egi Meyer nachdenklich, »ich würde ihn nicht behalten.«

»Rechtlich darf Hannchen ihn behalten,« meinte der Cand. jur. Eginhard Meyer.

»Ja – aber – das – das ist doch gar kein Hund. Das ist ja 'ne Hündin.«

»Eigentlich soll man überhaupt einen fremden Hund auf der Straße nie locken,« meinte Egi Meyer mit einem Blick auf Selma, »denn es dauert wie beim Logierbesuch Wochen, bis man ihn wieder los wird.«

Aber Mohrchen war gegen Zahnbürste und Alaun, kroch unter das Sofa und wutschte dann durch eine Türspalte in das Nebenzimmer, das nach den ländlichen Nachbarn hinausging. Und da Annchen sich dort ihre fünfundsiebzig kleinen Nippsachen auf eine Kommode baute (Kätzchen mit wackelndem Kopf, die Cello spielten; Mokkatassen; Kleeblätter mit Marienkäfern darauf, täuschend; ein kleiner Seehund aus Katzenfell; zwei Mäuse in Porzellan nach Kopenhagen; eine Perlmuttermuschel mit Ansicht aus Binz und eine Holzschnitzerei vom Inselberg bei Friedrichroda, sehr niedlich; – »die Dinge sind nichts, aber ich habe sie gern und für mich bedeuten sie etwas,« sagte Annchen, und dagegen konnte man nichts machen) – ja so, also da war natürlich Fritz Eisner bei ihr, denn wie es ja auch schon im Buch Ruth heißt: Wo du hingehst, da will ich auch hingehen.

Und Annchen plauderte reizend von ihren Erlebnissen. Sie brauchte nämlich nur über die Straße zu gehen, so passierten ihr und anderen schon die wunderbarsten Dinge. Sie sah und hörte Herrlichkeiten – ich glaube, der technische Ausdruck ist dafür »Ergänzungsphilosophie « – die Dinge ereigneten sich wohl nicht, aber sie hätten sich doch ereignen können. Der Keim zu ihnen war irgendwie vorhanden. And wenn sie sich nicht so entwickelten, so lag das nur an der langweiligen Bedingtheit des Erdgeschehens; und was schadete es, wenn das in lustiger Weise durchbrochen wird!

»Findest du nicht auch,« warf Fritz Eisner ein, um das Thema zu heben, »wundervoll die ersten hundert Seiten von ›Dorian Gray‹? Jedes Wort ein geschliffener, ziselierter Dolch, mit dem man einen Menschen umbringen könnte, und von dem man doch sicher weiß, daß nur mit ihm gespielt wird, um ihn in der Sonne funkeln zu lassen.«

»Ach ja,« meinte Annchen, die die Bücher, die ihr Fritz Eisner brachte, nie las, aber begeistert lobte, »es ist sehr interessant. Ich bin da gerade ... aber hör' mal, Fritz, ich habe etwas mit dir zu besprechen, etwas sehr Ernstes: Hannchen ist sehr unglücklich.«

»Ach,« meinte Fritz Eisner erstaunt, »das sieht man ihr aber nicht an.«

»Ja, sie hat sich eben sehr in der Gewalt. Aber vorhin hat sie geweint. Sie hat lange geschwankt, ob sie den Brief nicht doch Egi zeigen soll. Sie schwankt sogar noch. Aber da habe ich ihr gesagt, du solltest ihn erst mal lesen und ihr raten. Mir tut der arme Mensch furchtbar leid. Aber lies ihn draußen, daß Egi ihn nicht zu sehen bekommt.«

Es war eigentlich kein Brief, sondern ein kleines, sauber geschriebenes Manuskript, und der Verfasser hatte sicher viel Mühe darauf verwendet. Erst frischte er gemeinsame Jugenderinnerungen auf: »Mein Kind, wir waren Kinder,« und dann erzählte er etwas von »Weiberschwur, dem er nicht mehr traue«, und rief weiter aus, auf Seite zwei, Mitte: »ich hab' dich geliebet und liebe dich noch, und fiele die Welt zusammen«. (Donnerwetter, sagte sich Fritz Eisner, das kommt mir doch bekannt vor.) Auf Seite drei, oben, aber stellte er fest: daß er Hannchen allnächtlich im Traume sehe; und weiter unten, daß es trotzdem besser für ihn wäre, wenn er die »hohe Herzenskönigin« nie gesehen hätte. (»Hohe Herzenskönigin,« meinte Annchen, »ist schön, das könnte direkt ein Dichter gesagt haben«.) Von Egi Meyer aber schien er auf Seite sieben – Zeile acht bis zwölf – keine hohe Meinung zu haben, denn er nannte ihn »den dümmsten der dummen Jungen«, behauptete: daß Hannchen aus Ärger den ersten besten Mann, der ihr in den Weg gelaufen wäre, genommen hätte, und apostrophierte die »Geliebte« dann: »Wenn er dich küßt, küßt mich der kalte Tod.« Langsam ging er zu »Wahnsinn und Mitternachtsgraus« über, und – Seite neun unten – nannte er das Leben »ein ewig Jammern und ein ewig Abschiednehmen«. Auf Seite zehn endlich erklärte er jedoch versöhnlich: daß, selbst wenn sein Herz bräche, er nicht grolle.

»Ja,« meinte Annchen, »der Brief hat mich tief ergriffen; aber was kann man da machen? Ich zerbreche mir den Kopf.«

»Ihm den Heine fortnehmen,« sagte Fritz Eisner.

Hannchen war auch auf den kleinen Hinterbalkon gekommen. Sie hatte ihre Freundin Selma so lange auf ihren Bräutigam gehetzt.

»Also, was sagt Fritz denn? Oder soll ich es besser mit Muttchen besprechen?«

»Um Himmels willen!« rief Fritz Eisner, »schreibe ihm doch einfach, daß du sein Andenken bewahren würdest – das verpflichtet zu nichts; – daß er noch jung wäre – und das ist unbestreitbar; – und daß er infolgedessen schon darüber hinwegkommen würde. Und außerdem gäbe es ja auch bei dem Dichter, der ihm so viel schon geschenkt hätte, noch ein sehr schönes Rezept für ihn: ›Wenn dir ein Mädchen untreu wird, so lieb' schnell eine andre!‹«

»Ja,« meinte Hannchen, »so ähnlich werde ich ihm schreiben,« denn Hannchen schrieb sehr gern, puffte stets Dutzende von Briefen in die Welt nach allen Seiten wie die Sonnen beim Monsterfeuerwerk.

Merkwürdig, merkwürdig. Mit was für ernsten und lebensentscheidenden Dingen Kinder doch oft spielen!

»Sieh doch mal Mohrchen,« rief jetzt Annchen ganz entzückt, »wie nett!« Mohrchen hatte sich nämlich ganz weit zwischen die Gitterstäbe gedrängt und wedelte kokett und zierlich mit dem Schwanz und ließ keinen Blick von dem Spielzeughund, der mit nennenswerten Kletterkünsten in seinem Drahtkäfig auf den höchsten First seiner Kiste hinaufgeklommen war und von dort aus, den Kopf gehoben, leise winselnd in der Hundesprache eine ganze Fuhre der allerverliebtesten Worte flüsterte. Und wie Frauen sind, gefiel das Mohrchen sehr.

Fritz Eisner nahm Mohrchen beim Ohr: »Hör' mal, Mohrchen, ich will dir mal was sagen: Eine anständige junge Dame aus gutem Haus benimmt sich nicht so kompromittierlich. Verstanden?«

Mohrchen sah Fritz Eisner mit seinen braunen runden Hundeaugen ganz unverschämt an und knurrte: »Red' du doch nicht!« Aber sowie Fritz Eisner Mohrchen losließ, drängte es sich von neuem durch die Gitterstäbe, soweit es ging. Für Moralpauken war es nicht zu haben.

Und dann rief Frau Luise Lindenberg zum Abendbrot. Wo sie es in dem Wirrwarr hergezaubert hatte, war ein Rätsel; – aber es war da.

»Es ist zu schade, Kinder,« sagte sie beim Essen, »daß ihr die Frau Kapitän noch nicht kennengelernt habt. Ich bin ganz begeistert von ihr.«

Kurz nach dem Abendbrot aber meinte Frau Luise Lindenberg ostentativ, daß sie der Tag doch sehr angestrengt habe, und daß sie wenigstens müde sei.

»Der letzte Zug geht doch erst um Zwölf,« riefen Annchen und Hannchen.

Frau Luise Lindenberg machte ein sauersüßes Gesicht wie eine gezuckerte Grape fruit. »Ich bin nun lange genug auf den Füßen. Aber ihr könnt ja noch aufbleiben.«

Ach Gott, sonst war das gerade immer so schön gewesen, eben die Nachtstunden zwischen Zehn und Zwölf. So in die Sofaecke eingekuschelt, wo man in zwei Stunden so viel verliebte Dummheiten sprach, wie man in zwei Jahren nicht verantworten konnte. Aber dann ringelte sich ja heute auch immer Selma, diese Banausin mit ihren Blindschleichenbewegungen – sie sprach mit den Schulterblättern – herum und wirkte überaus störend auf jegliches Tete-a-tete. Und Brautleute ohne solches sind wie Enten auf dem Land.

»Hör' mal,« sagte Egi, »ich glaube, man würde unsere Abwesenheit nicht übel vermerken.«

»Ja,« meinte Frau Luise Lindenberg, » wenn ihr aber gehen wollt, müßt ihr schnell machen, sonst bekommt ihr den Zug nicht mehr. Was soll ich euch nächsten Sonntag« – das sollte ein für allemal den Termin festlegen – »für den nächsten Sonntag kochen? Na, ich mach' euch was ganz Feines. Ob es schon Krebse gibt?«

Frau Luise Lindenberg hatte nämlich die vorzügliche Eigenschaft, was ihre Küche anbetraf, mit der Zeit nicht nur mitzugehen, sondern ihr voranzueilen. Über Krebse zu Spargel, über Spargel zu jungen Hühnern, Stachelbeertorteletts zu jungen Gänsen, über Feldhühner zu Hasenbraten, das ganze Jahr durch in nie endender kontinuierlicher Kette. Wer einmal ihre Krebssuppe gegessen hatte, verzieh ihr manches. Und Fritz Eisner und Egi Meyer hatten schon öfters ihre Krebssuppe gegessen.

Annchen und Hannchen kamen natürlich mit vor zum Bahnhof. Aber Selma auch. Hannchen ließ sie nicht von ihrer Seite. Die acht Tage waren ja noch nicht herum. Und Mohrchen, für das Hannchen schon eine famose Schlafecke improvisiert hatte, drängte sich auch mit hinaus.

Unten war sternklare Nacht und Mondschein; aber es war recht frisch geworden. Die Häuser geisterten in grünlichem Silber, und der Park atmete eine scharfe Kühle aus. Es war wie ein Gedicht von Eichendorff, auch wohl von Schumann vertont; – aber gesungen von einer achtunddreißigjährigen Lehrerin als Zugabe auf einem Vorstandskränzchen des Vereins »Jugendlust«.

Selma meinte, Mondschein wäre immer kitschig.

Hannchen dagegen, in der die erbliche Belastung von der Mutter immer wieder durchbrach, bekam deklamatorische Krämpfe, nannte es eine himmlische Nacht, sie möchte überhaupt Stunden noch gehen; und sie zitterte dabei wie ein afrikanisches Windspiel, denn sie prästierte stets mit Batistblusen die Abgehärtete. Sie war aus Prinzip für unzeitgemäße Bekleidung.

Eginhard Meyer sagte trocken:

»Der sternenklare Himmel und der Mondschein dienen zur Verschönerung der Natur.«

Denn er war mißlaunig, daß Hannchen Lindenberg Selma fest untergefaßt hatte und nun neben ihrem lautlosen Sandalenschritt dianenhaft daherstapfte, statt sich bei ihm (wie Pflicht) einzuhängen. Es lag die Stimmung von Kabbelei zwischen ihnen in der Luft.

Annchen aber hatte sich bei Fritz Eisner verankert, weich und anschmiegsam, wie das ihre Art war, und sagte gar nichts.

»Hör' mal,« meinte Fritz Eisner plötzlich, »wo ist denn eigentlich das Mohrchen?«

Man pfiff und rief, lockte, blieb stehen, eilte fünfzig Schritt zurück – nirgends nichts zu hören noch zu sehen. Endlich schien es Fritz Eisner, als ob er da hinten drüben bei den Büschen am Park im matten Dämmerlicht so den Schatten von irgendeinem vierbeinigen Wesen huschen sah. Oder rannten da nicht überhaupt zwei Wesen?! Man konnte es nicht erkennen; und ganz aus der Ferne hörte man schon den Zug heranbrausen. Also marsch, marsch, vor zur Bahn.

Solch einen kurzen Abschied hatten Annchen und Fritz und Hannchen und Egi noch nie genommen. Sie kamen gerade noch in den Zug hinein. Aber es war doch nett, und es hob das Selbstgefühl von Fritz Eisner und Eginhard Meyer, wie da diese hübschen hellen Mädchen standen und ihnen nachwinkten und nachriefen. Sich sagen, daß so etwas einem selbst gilt und nicht irgendeinem x-beliebigen andern, ist doch sehr angenehm und schmeichelhaft, macht einen im Innersten warm und dankbar.

»Sie haben es jut, junger Mann,« meinte ein biederer älterer Fahrgast zu Fritz Eisner, »mir bringt keener mehr so zur Bahn.«

»Ja, das ist meine Braut,« versetzte Fritz Eisner stolz.

»Die Kleene oder die Jroße?« forschte der biedere Fahrgast.

»Die Kleine,« entgegnete Fritz Eisner.

»Ich bin och immer mehr for de Kleenen gewesen,« philosophierte der Biedermann nachdenklich, der anscheinend als Anhänger Haeckels eine physiologische Betrachtungsweise seelischer Dinge liebte.

»Sie ist heute mit ihrer Mutter und ihrer Schwester hier heraus auf Sommerwohnung gezogen.«

»So so, is uf Sommerwohnung jezogen, – wohin denn? Ich kenne doch so hier die Leute.«

»Nummer achtzehn. Das Haus gehört einer Kapitänswitwe.«

»Kapitänswitwe«, sagte der biedere Fahrgast, »is juf. Haben Sie eijentlich den Kapitän zu ihr gekannt?«

»Nein, wie ist das möglich?« rief Fritz Eisner. »Er ist doch schon vor sechs Jahren mit seinem Schiff untergegangen.«

»Sehen Sie, ick bin ein alter einjesessener Potsdamer ... aber so hört man immer wieder mal Neuigkeiten. Also Sie haben den Kapitän nich gekannt? Na ick versichere Ihnen, ick habe sogar schon drei unterjejangene Kapitäne von Ihre Kapitänswitwe jekannt.«

Fritz Eisner war das nicht so recht klar. »Aber entschuldigen Sie,« sagte er, »die Frau Kapitän kann doch schließlich und endlich nicht mit der ganzen Woermann-Linie verheiratet gewesen sein.«

»Verheiratet is jut,« sagte der Biedermann so nebenher. »Und haben Sie denn schon den Onkel Fischer jetzt da jesehen? Der Olle hat ihr doch das Haus überschreiben lassen.«

»Och,« meinte Fritz Eisner ungläubig.

»Wissen Sie, det is en janz jroßer Blumenzüchter. Der schenkt wohl mal was weg, aber der verkooft nich een Stück. Der könnte en schönes Jeld verdienen; aber det hat der nich nötig. Wenn Sie ihn sehen, meinen Se, Se möchten ihm 'nen Sechser schenken. Nich wahr? Und dabei is er schwerreich.«

»Er ist wohl auch etwas sonderlich,« meinte Fritz Eisner.

»Wissen Se: danach, wie eener aussieht, darf man nie jehen. Wenn Sie ihn näher kennen, is det en janz famoser Mann, der Doktor Fischer.«

Rrrr, ging die Bremse. »Na, denn wünsche ick Ihnen ooch anjenehme Nachtruhe,« sagte der biedere Fahrgast und kletterte aus dem Zug.

Eginhard Meyer, den nur Bücher, aber keine Menschen reizten, war indigniert. Er war nicht dafür, sich mit all und jedem anzufreunden, und er sehnte sich nach einem Gespräch höheren Fluges. Er war für sein Alter ein Mensch von vielem Wissen. Aber er hatte in seiner Art etwas von den Pedanten, die Montaigne mit Vögeln vergleicht, die ein Korn vom Boden aufpicken und es eine Weile lang im Schnabel hin und her drehen, nur um es dann einfach wieder fallen zu lassen.

Er war wohl doch noch zu jung, um zu verstehen, daß das menschliche Wissen nach allen Seiten unabsehbar ist, und daß auch die Wissenschaft als ein großer Fabrikbetrieb sozialisiert ist, in dem jeder nur einen Handgriff tut. Und selbst wenn er das empfunden hätte, war er fest überzeugt, daß er, und gerade er, dazu berufen war, all die einzelnen Teile zu einem Ganzen zusammenzufügen. Jetzt schrieb er gerade Grundlegendes über die Notwendigkeit der Todesstrafe, das er Fritz Eisner mit vieler redegewandter Spitzfindigkeit auseinandersetzte.

Aber Fritz Eisner war anderer Meinung. Es gäbe kein Recht und kein Anrecht. Jeder hätte von sich aus recht, der Heilige so gut wie der Mörder. Er wäre ein verkappter Buddhist wie alle Schriftsteller. » Tatwam asi«, »das bist du«. Es wäre ja der eigentliche Sinn seines Berufes, in der Seele fremder Dinge, Landschaften, Menschen zu leben. Sein nächstes Buch ... Und Fritz Eisner verbreitete sich ausführlich über die Schönheiten und bis dato ungekannten, der Welt neu zu erschließenden Tiefen seines nächsten Buches.

Denn Fritz Eisner war wohl doch noch zu jung, um den Wahnsinn des ewigen Weitergehens in Kunst, Leben und Literatur zu empfinden. Auch war ihm wohl nicht klar, daß alle Bücher, die Menschen je geschrieben, mit einem Fragezeichen enden und letzten Endes doch nur zwecklos und episodenhaft bleiben. Er wußte noch nicht, daß jedes Buch nur im Augenblick des Entstehens allein ist und sich sehr groß vorkommt, daß im nächsten Jahr aber nicht mehr das Buch, sondern schon ein anderes neu sein wird. Und daß man eigentlich dann erst sieht, ob es wirklich oben schwimmt, oder ob es untersinkt. Und wenn es wirklich schwimmen können sollte, dann kann es schon froh sein, wenn es nicht viel schlechter schwimmt als zehntausend andere auch ... Ja, also sein neuer Roman würde den Naturalismus, der trotz aller Vertiefung des Weltbildes eine überholte Kunstform wäre, zwar nicht entthronen, aber durch eine Steigerung des Seelischen zu einer neuen Blüte anderer Art ...

Draußen jedoch vor dem Fenster ihres Abteils, der winzigsten, flüchtigsten Insel in Raum und Zeit, zog in Riesenflächen, nachtschwarz und mondbeschienen, die uralte, ewig rätselvolle Einsamkeit der Welt vorüber.


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