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I.
Zwei heilige Bäume.

Der Morgen kam; es scheuchten seine Tritte
Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing,
Daß ich, erwacht aus meiner stillen Hütte
Den Berg hinauf mit frischer Seele ging;
Ich freute mich bei einem jeden Schritte
Der neuen Blume, die voll Tropfen hing;
Der junge Tag erhob sich mit Entzücken,
Und alles ward erquickt, mich zu erquicken.

Goethe.

Unter der groben Linde in Kesselsheim lag eine kleine Strohhütte. Der alte Baum und die Hütte gehörten zusammen wie Schwester und Bruder, und kein Mensch im Dorfe hatte eines von beiden je jünger gekannt, als es jetzt aussah. Schon die Großväter, die an Krückstöcken zwischen den Gärten umherspazierten, hatten den Baum in ihrer Jugendzeit die alte Linde genannt. Es ging aber die Sage, die Vorfahren des jetzigen Eigentümers, die Feilenhauer nämlich, hätten seit undenklichen Zeiten in der Hütte gewohnt. Auf der Stelle der armseligen Hütte aber habe ursprünglich ein stolzes Schloß gestanden. Das sei von einem Grafen von Feilenhauer erbaut worden, dem ringsumher alles Land und aller Wald zu eigen gewesen sei.

Die Sage ging noch weiter. Sie erzählte, der Graf von Feilenhauer sei ein kreuzbraver Mann und ein Vater der Armen gewesen, aber er habe einen Bruder gehabt, der ihn um das Seinige betrogen und ihn um Ehre und Vermögen gebracht habe.

Nun, das waren alte Geschichten, die man sich aus Kurzweile erzählte, an die aber niemand glaubte. Es hatte auch wirklich nicht den Anschein, als ob hier jemals gräfliches Gemäuer gestanden. Die Hütte lag allerdings in einer Niederung auf einer von einem Bache umflossenen Anhöhe. Da konnte es schon sein, daß in grauer Vorzeit an ihrer Stelle ein Schloß in das Land hinübergegrüßt hatte. Merkwürdiger war schon der Bewohner, ein zwanzigjähriger Jüngling, der früher eifrig wissenschaftlichen Studien abgelegen und sogar eine Zeitlang die Universität besucht hatte, jetzt aber ein einfacher Holzschläger war. Das hatte auch seine natürlichen Gründe. Vor drei Monaten lebte noch die alte Mutter mit ihm unter demselben Dache. Heute aber lag sie auf dem kleinen Kirchhofe neben dem Vater, und Wolfgang Feilenhauet bewohnte die Hütte ganz allein.

Noch war die Sonne nicht aufgegangen, als sich der Holzschläger von seinem ärmlichen Lager erhob und das eiserne Öllämpchen anzündete. Rasch war er angekleidet, gewaschen und gekämmt. Von seiner Mutter hatte er die gute Angewöhnung geerbt, auf dem alten Betschemel kniend sein Morgengebet zu verrichten. Niemals vergab er es, und sein Gebet kam recht tief aus dem Herzen.

Ein Stück Brot mit einem Schluck Wasser war sein Frühstück, und es schmeckte ihm heute so vortrefflich, daß er das grobe Gebäck einmal verwundert anschauen mußte. Es gingen so viele Sagen über seine Hütte, daß er sich nicht grob verwundert haben würde, wenn sein mageres Frühstück während der Nacht durch eine wohltätige Fee zu einem Morgenimbiß würdig einer königlichen Tafel verwandelt worden wäre.

Wolfgang Feilenhauer vertändelte jedoch seine Zeit nicht mit Träumereien. Wenige Minuten später nahm er aus einem Winkel eine Art und trat vor die Hütte. Die aufgehende Sonne beleuchtete die kräftige, wohlgebaute Gestalt und das blühende Gesicht. Wahrlich, er war ein schöner Jüngling, und obschon er sich niedrigem Gewerbe hingegeben, so hatte seine ganze Erscheinung doch etwas Vornehmes. Die alten Leute sagten, so seien die Feilenhauer alle gewesen: Sie sähen wie richtige Grafen aus.

Einen Blick in die mächtigen Äste der rauschenden Linde werfend, schritt er hinweg. Auf dem steinernen Brücklein blieb er jedoch einen Augenblick sinnend stehen und schaute den flüsternden Wellen des Bächleins nach, das seine Hütte in einem weiten Kreise umzog. In früheren Zeiten sollten auch die Wiesen und Ländereien innerhalb dieses Kreises zu der Hütte gehört haben. Wolfgang hatte es oft erzählen hören, aber niemals einen besonderen Drang verspürt, der Wahrheit nachzuforschen. Seine Mutter hatte ihm nur gesagt, es bestehe eine Familienüberlieferung, daß die Hütte niemals in fremde Hände übergehen solle, und er hatte ihr versprechen müssen, es ebenso zu halten. Das wollte er. Wenn er auch kein gräfliches Wappen aufweisen konnte, so sollte doch der Stammsitz der Feilenhauer unangetastet erhalten bleiben. Schulden standen nicht darauf, und er verdiente mit seiner Art genug, um sie vor dem Verfall zu bewahren.

Wolfgang ging weiter. Sein Weg führte an dem kleinen Kirchhofe vorbei. Das Pförtchen öffnend, trat er ein und schritt an den betauten Gräbern vorüber. An der letzten Reihe blieb er an einem sorgfältig gepflegten Grabhügel stehen. Die Blumen, die er darauf gepflanzt hatte, ließen die Köpfe hängen, denn es war schon spät im Herbste, und in der vorhergehenden Nacht hatte es stark gefroren. Wehmütig kniete der Holzschläger nieder und verrichtete für seine Lieben ein andächtiges Gebet. Dann ging er nachdenklich weiter.

Rechts vom Wege lag das alte Burghaus des Herrn von Cedernstein auf einer erhabenen Felsplatte, ringsum von einem stattlichen Parke umgeben. Zutraulich kamen Hirsche und Rehe, die hier gehegt wurden, an die Umzäunung und liehen sich am Kopfe kraueln.

»Der Herr Wallram von Cedernstein hat alles, was eines Menschen Herz begehren kann,« sprach Wolfgang zu sich selbst, »aber er macht immer ein mürrisches Gesicht. Es ist die Frage, ob er so heiter und vergnügt ist wie der arme Wolfgang Feilenhauer, der in seinem Dienste die Art gebrauchen muß.«

Dem stattlichsten Hirsche einen Schlag mit der Hand auf die Schulter gebend, setzte er seinen Weg fort und pfiff ein Lied in den kalten Morgen hinein. Die Wiesen rechts und links glitzerten im Tau. Die Sonne vergoldete jedes Tröpfchen und schuf ein Feld voll leuchtender Diamanten daraus. Jetzt hatte er den Berg mit den hochstämmigen Waldbäumen erreicht. Der stärker sich hebende Wind schüttelte die weitausgebreiteten Kronen und streute das gelbe Laub auf seinen Kopf und seine Schultern.

Höher und höher kletterte der Wanderer empor und erreichte endlich eine Stelle, wo die dicksten Eichen angeschlagen und numeriert waren. Herr Wallram von Cedernstein ließ jeden Winter eine Anzahl Stämme niederschlagen und löste daraus bedeutende Summen, die in der Hauptstadt verpraßt oder für Pferde, Wagen und sonstige Liebhabereien verausgabt wurden. Die Leute sagten, der Graf bringe oft an einem Abende mehr durch, als ganz Kesselsheim den Winter über brauche. »Und für uns tut er nichts!« setzten sie mißvergnügt hinzu. »Wer einen Zipfel von seinen Äckern und Wiesen in Pacht hat, den schraubt er alle Jahre höher, bis er zuletzt die Summe nicht mehr erschwingen kann und aus seinem kleinen Besitze verjagt wird.«

Sie sagten noch mehr oder vielmehr sie flüsterten es sich zu, denn alles das, was über den Grafen rundging, laut zu sagen, möchte gefährliche Folgen gehabt haben.

Mitten auf der Krone des Berges lag ein Waldfleck mit himmelhohen, kerzengeraden Buchenstämmen. Dieser prächtige Bestand gehörte nicht dem Grafen, sondern dem alten Helferich in Kesselsheim. Wallram hatte seit Jahr und Tag nach dem hübschen Waldflecke geangelt und eine bedeutende Summe darauf geboten. Es kränkte seinen Stolz, daß ein anderer so mitten im Herzen seines Eigentumes lag. Der alte Helferich war jedoch ein eigensinniger Kauz. »Ei, was verkaufen,« sagte er; »ich hab's nicht nötig und die Bäume sind meine Freude. Solange ich lebe, soll keine Art daran kommen.«

Dabei blieb er, und wenn der Graf Holz schlagen ließ, so machte er absichtlich einen Spaziergang unter seinen Buchen und zeigte triumphierend auf seinen schönen Holzbestand. Hin und wieder fielen dann auch wohl ein paar höhnische Worte über des Grafen schlechte Bewirtschaftung, und das führte nach und nach eine fast unerträgliche Spannung zwischen den beiden Gutsbesitzern herbei. Wallram wurde von Jahr zu Jahr griesgrämiger und zorniger. Wer ihn reizen wollte, der mußte von Helferich sprechen und seine schönen Buchen loben. »Wartet nur,« sagte er dann, »es wird schon eine Zeit kommen, wo der Wald in den Besitz des rechten Herrn übergeht.«

Wolfgang war an seiner Arbeitsstätte angekommen, zog seinen Kittel aus und begann unverweilt, die bezeichneten Stämme anzuhauen. Unaufhörlich schallte die Axt durch den Wald.

»He,« rief plötzlich eine Stimme hinter ihm; »Du mußt nun einmal an die andere Seite gehen!«

Der Holzhauer wandte sich um. Da stand der alte Helferich vor ihm, rieb sich die Hände und sprach: »Junge, das Picken verstehst Du aus dem Grunde. Wenn ich eine von meinen prächtigen Buchen wollte niederschlagen lassen, würde ich Dir die Arbeit übergeben.«

»Es sind ihrer genug darunter, die das Alter erreicht haben,« antwortete Wolfgang, »und ich meine, es sei wirtschaftlich, wenn Ihr auch bald ans Lichten gehen würdet.«

»Meinst Du, Junge? Nun, ich kann Dir nicht unrecht geben, aber sieh' einmal meine Haare an. Nicht wahr, sie sind so weiß wie frischgefallener Schnee! Ein Kopf, der einmal diese Farbe trägt, macht solange nicht mehr mit. Warum soll ich mir die kurze Zeit die Freude verkümmern? An den Buchen hat mein Herz von Kindesbeinen auf gehangen, und die Liebe zu den alten Stämmen hat sich auch im Alter nicht vermindert. Wenn einer fiele, würde es mir sein, als verlöre ich ein Glied vom eigenen Leibe. Offen gestanden, Wolfgang, möchte ich, daß sie auch nach meinem Tode stehen blieben, bis sie, einer nach dem anderen, abstürben.«

»Aber dann würde doch niemand Nutzen davon haben.«

»Braucht's auch nicht, Wolfgang. Ich habe ja nicht Kind noch Kegel. Nur so einen entfernten Halbvetter weit in den Niederlanden. Ich kenne den Menschen nicht einmal und weiß wahrhaftig nicht, ob's angebracht ist. Schau', Wolfgang, ich gehe deshalb schon lange mit dem Gedanken um, den Wald irgendeinem braven Menschen durch Testament zu vermachen. Es müßte einer sein, der ein rechtes Herz für Bäume hat, zum Beispiel so einer, wie Du!«

»Ihr stichelt, Helferich, und wollt das gerade Gegenteil damit sagen, weil ich alle die schönen Bäume niederhaue.«

»Nun, Junge, das tust Du im Tagelohne. Du hast dennoch ein Herz für die Bäume. Hab' Dich schon oft belauscht, wenn Du so einen Stamm, der dem Untergange geweiht war, von oben bis unten betrachtetest und mit ihm sprachst, als wolltest Du Abschied von einem alten Freunde nehmen.«

Wolfgang wurde über und über rot, denn er hatte wirklich zuweilen solche Zwiegespräche mit den Bäumen gehalten.

»Brauchst Dich nicht zu schämen, Junge,« sagte Helferich, indem er ihm mit der Hand auf den Rücken klopfte. »Es ist ein schöner und braver Zug von Dir. Komm' einmal mit da hinüber in meinen Baumschlag. Da will ich Dir etwas zeigen, was Du noch nicht kennst, und was außer mir und einer Person, die tot ist, noch niemand gesehen hat.«

Wolfgang folgte neugierig. Bei einer Buche von außergewöhnlicher Dicke blieben sie stehen. Helferich zeigte mit dem Finger hinauf und sprach: »Auf dem mittleren Aste steht eine kurze Geschichte geschrieben, die ich, solange ich noch klettern konnte, fast alle Tage gelesen habe. Es ist freilich schon lange her, daß ich nicht mehr hinaufkann, aber das Herz treibt mich noch immer an den Stamm, und ich sehe die Inschrift noch im Geiste. Versuch's einmal, ob Du hinaufkannst!«

An dem dicken Stamme hinaufzukommen, war keine Möglichkeit. Es stand aber ein jüngerer Auswüchsling daneben, dessen Äste sich in die Krone des anderen erstreckten. An dem kletterte Wolfgang hinauf und bahnte sich von oben den Weg zur Nachbarin.

Auf dem bezeichneten dicken Aste fand Wolfgang innerhalb eines Kreises ein flammendes Herz und darunter zwei ineinander verschlungene Buchstaben. Sie waren im Laufe der Zeit groß auseinander gewachsen, aber noch sehr deutlich zu erkennen. Nur wußte er nicht, was er daraus machen sollte.

Als er wieder von der Buche herunterkam, standen dem alten Helferich die Tränen in den Augen und seine Lippen bewegten sich wie im Gebete. »Hast Du's gesehen, mein Junge, und ist noch alles hübsch erkennbar?«

Wolfgang nickte und schaute ihn fragend an.

»Ja, Junge,« sprach er, »die paar Buchstaben sind ein ganzes Buch und bilden die lange Leidensgeschichte meines Lebens. Noch habe ich sie niemand erzählt, und die sie kannten, sind längst gestorben.«

Er war bei diesen Worten so bewegt, daß ihm die Augen von neuem überliefen.

»Komm' heute abend auf ein Stündchen zu mir herüber.« sprach er. »Ich erzähle Dir dann die Geschichte, die auch Dich etwas angeht.«

»Mich?« fragte Wolfgang erstaunt.

»Dich!« antwortete der alte Helferich und ging mit gebeugtem Haupte von dannen.

Wolfgang suchte sinnend seine Arbeit auf. Immerfort gingen ihm die Worte Helferichs durch den Sinn. Wie sehr Wolfgang Feilenhauer auch nachgrübelte, er vermochte sich nicht zu erklären, was der gute Alte wohl mit der Inschrift auf der Buche zu tun habe.

Früher als sonst schwang Wolfgang am Abend die Axt auf die Schulter und schlug den Heimweg ein. Zum erstenmal wurde es ihm zu enge in seiner Stube, denn es drängte ihn, die Geschichte des alten Helferich zu hören. Der Greis empfing seinen jungen Freund mit den Worten: »Ich habe Dich schon erwartet und einen Stuhl für Dich zurechtgestellt. Setze Dich, mein Junge.«

Wolfgang ließ sich nieder und Helferich hob an: »Eigentlich war ich heute morgen mit der Absicht gekommen, Dich zu sprechen. Das Herz wurde mir jedoch zu weich, und da mußte ich wieder fort. Es ist im Grunde genommen kindisch, wenn so ein alter Mann vor Rührung nicht mit der Sprache herauskann. Aber nun soll's geschehen, denn der Schnee dieses Winters wird den Helferich mitnehmen.«

»Warum so kleinmütig?« fragte Wolfgang. »Ihr seid trotz euerer weißen Haare noch rüstig und könnt immer noch ein Dutzend Jahre mitgehen.«

»Das weiß ich besser,« antwortete Helferich. »Jeder Pulsschlag sagt mir, daß es zu Ende geht, und ich bin froh darum. Warum, das wirst Du gleich hören. Sieh', mein Junge, als ich in Deinen Jahren stand, da war kein Mensch glücklicher als ich. Ich hatte wahrhaftig Ursache dazu, denn das bravste Mädchen des Dorfes war im stillen meine Braut. Wir waren zusammen in die Schule gegangen, und hatten zusammen das Vieh gehütet. An demselben Tage waren wir zur ersten heiligen Kommunion, und von jeher hielten wir es für eine selbstverständliche Sache, daß wir Mann und Frau würden.

Als wir beide größer wurden, sahen wir uns seltener, aber die Zuneigung blieb. Sie wäre wohl auch geblieben, wenn wir uns in verschiedenen Weltteilen befunden hätten, denn unsere Liebe war in Gott gegründet. Mein Vater war ein reicher Mann, der schon eine arme Schwiegertochter in sein Haus einziehen lassen durfte. Mit fester Zuversicht rechnete ich auf sein Jawort und baute schon allerlei schöne Pläne für die Zukunft. Marie dachte geradeso wie ich, aber zum Heiraten war es noch zu früh.

Endlich hatte ich das dreiundzwanzigste Jahr erreicht, und nun hielt's ich an der Zeit, mit Marie ins reine zu kommen. Sonntags nach der Vesper wandelten wir den Berg hinauf. Droben im Walde, wo die dicke Buche steht, machten wir Halt. Ich ergriff ihre Hand und sprach: Marie, willst Du meine Frau werden?

Sie antwortete einfach: Ja, Helferich, und ich will Dich all mein Leben gern haben.

Wir brauchten nicht viel Worte zu machen, wir wußten es ja vorher. Unter der Buche knieten wir nieder und sprachen ein andächtiges Gebet. Dann kletterte ich hinauf und schnitt unsere Namen und das Herz in die Rinde. Der heilige Wald war der einzige Zeuge unseres Geständnisses gewesen, und er sollte auch unser Abkommen bewahren.

Froh und glücklich gingen wir nach Hause und kamen überein, daß jedes am folgenden Tage mit seinen Eltern sprechen sollte. An der Linde vor Deinem Hause sprachen wir noch ein Ave zu unserer gemeinsamen Mutter dort droben. Die Linde rauschte mit ihren Zweigen, und es ward uns feierlich zumute. Uns kam die Sage in den Sinn, daß die Mutter Gottes den Stamm geheiligt habe.«

»Woher rührt denn diese Sage?« fragte Wolfgang.

»Das weiß ich nicht,« entgegnete Helferich. »Die Leute sagten, sie sei innen im Stamme. Wie sie dazu kamen, das habe ich niemals erfahren. Doch weiter in meiner Geschichte. Am folgenden Morgen, als ich zum Vater kam, ergriff er meine Hand und sprach: »Ich weiß, warum Du kommst. Ich sah Dich gestern abend mit Marie unter der Linde stehen. Doch daraus wird nichts. Ich habe bereits eine Braut für Dich gewählt und gehe noch heute zu ihrem Vater, um das Jawort zu holen. In sechs Wochen soll die Hochzeit sein.«

Ich bat, ich flehte, warf mich auf die Knie und weinte, aber er blieb unbeugsam und ging hinweg. Am Mittag kam er zurück und kündigte mir an, daß die Werbung angenommen worden sei und daß ich mich bereitzuhalten habe. Mein Widerspruch half nicht. Ich sollte mich fügen oder als ein ungehorsamer Sohn verstoßen und enterbt werden.

Das letztere hätte ich am Ende willig getragen, aber zu einem wirklichen Ungehorsam hatte ich nicht die Stirn. Marie schrak zusammen, als sie von dem Beschlusse meines Vaters hörte. Das Herz brach ihr, aber sie erklärte fest, daß sie zurücktrete. Sie wollte keinen Ehestand ohne den väterlichen Segen.

Das waren schreckliche Tage, die ich nicht wieder erleben möchte. Halbtot vor Leid, fügte ich mich in das Unvermeidliche. Nicht lange hernach warb ein armer, aber braver Mann um Marie. Ihre Eltern drangen in sie, seine Hand anzunehmen und einen Tag vor meiner beabsichtigten Heirat stand Marie am Altare. Ich aber blieb unvermählt, denn die mir zugedachte Braut starb in derselben Nacht durch einen Sturz in den Keller. Das Genick war ihr gebrochen. Ich betrauerte sie aufrichtig, denn sie war ein braves, ehrliches Mädchen gewesen.

Als nach einem Jahre mir mein Vater neue Heiratsvorschläge machte, erklärte ich fest und bestimmt, daß ich ledig bleiben wolle. Dabei bin ich geblieben. Mein Leben ist zwar dahingegangen, wie in der Wüste, aber ich bin derjenigen, die mein Herz erwählte, treu geblieben. Marie war glücklich, aber ihr Herz hing bis auf die letzte Stunde an mir. Das weiß ich, wenn sie es auch niemals ausgesprochen hat. Jetzt ist sie im Himmel, und ich werde auch bald dort sein.

Als ihr Gatte starb, machte ich mir noch einmal Hoffnung und ging zu ihr hinüber. Doch da ich ihr ins Auge sah, wußte ich, daß sie beschlossen hatte, ihrem einzigen Sohne kein Tüpfelchen der reinen Mutterliebe zu entziehen. Darum schwieg ich und schüttelte ihr die Hand zum Abschiede.«

Hier machte der gute Helferich eine lange Pause und schaute lange vor sich hin. Die Erinnerung an jene Zeit ging noch einmal mit ihren Einzelheiten an seiner Seele vorüber. Seine Lippen zuckten und sein Herz pochte ungestüm.

»Ja, mein Junge,« fuhr er fort, »es war eine lange, schmerzliche Zeit, die ich durchzuleben hatte. Der liebe Gott hat mir jedoch darüber hinweggeholfen. Der Wald mit seinen Buchen blieb mir von jener Stunde an heilig. Wie an einem Vermächtnis aus ferner Jugendzeit hing ich daran, und hartnäckig verweigerte ich den Verkauf an den Grafen von Cedernstein. Er würde meine lieben Bäume gefällt und zu Geld gemacht haben, und auch jene Buche, auf der Du das Herz und die Namen gesehen hast, wäre seiner Verschwendungssucht zum Opfer gefallen. Ich möchte aber wenigstens diesen einen Baum erhalten, bis er vor Alter stirbt.«

Wolfgang hatte ihn mit Aufmerksamkeit angehört, aber er begriff nicht, warum der alte Helferich gerade ihn, den jungen Menschen, in seine Angelegenheiten einweihte.

»Nun kommt der Schluß, mein Junge,« fuhr der alte Helferich fort. »Die Geschichte, die ich erzählte, hat bisher still in meinem Herzen geruht. Außer mir und Marie wußte sie niemand. Du kannst also leicht denken, daß ich sie auch jetzt nicht dem ersten besten preisgeben wollte. Daß ich gerade Dich dazu wählte, hat seinen guten Grund: Die Marie, von der ich sprach, war – Deine Mutter.«

»Meine selige Mutter?« fragte Wolfgang erstaunt.

»Ja, mein Junge. Sie lebte in armen Verhältnissen. Tausendmal war ich im Begriffe, ihr beizuspringen, aber sie hätte um nichts in der Welt etwas angenommen. Ich kannte sie ja von Kindesbeinen an, und darum wagte ich es nicht. Nun aber liegt mir daran, daß nach meinem Tode jene Buche in eine Hand kommt, die das Denkmal achtet. Darum habe ich in meinem Testamente festgesetzt, daß mein schöner Wald in den Besitz des braven Wolfgang Feilenhauer übergehen soll. Ich lege ihm dafür keine andere Verpflichtung auf als die, meine Buche nicht zu fällen. Das aber soll nur ein mündliches Versprechen sein, damit die Testamentsvollstrecker nicht nach dem Grunde grübeln. Nun sage mir, mein Junge, ob Du darauf eingehen willst?«

»Helferich,« sprach Wolfgang gerührt, »ich bin Euch von Herzen dankbar, daß Ihr mich zum Hüter des Geheimnisses und zum Bewahrer jenes Andenkens an meine liebe Mutter gemacht habt. Ich verspreche Euch ein treuer Hüter zu sein.«

»Brav, mein Junge! Der Wald gehört Dir. Wenn Du ihn schonst und vernünftig bewirtschaftest, wird er Dich vor Mangel schützen. Du darfst die Bäume alle niederschlagen, nur den einen nicht: der soll vor Alter sterben. Deine Erben müssen dasselbe Versprechen in Deine Hand legen, das Du mir gegeben hast.« –

Gerührt dankte Wolfgang. Dann nahm er Abschied und ging gedankenvoll seiner Wohnung zu. Was er gehört, das hatte ihm eine neue Welt aufgeschlossen, eine Welt der Vergangenheit, die sein Herz wie ein heiliger Schauer durchwehte. War ihm die alte Linde schon früher ein heiliger Baum gewesen, so betrachtete er sie jetzt mit noch gröberer Verehrung. Lange, lange blieb er vor ihr stehen.

Drinnen aber im Hüttchen, wo die alte Schwarzwälder Uhr tickte, setzte er sich auf den Schemel, stützte den Kopf auf die Hand und dachte an seine Mutter. Er bewunderte ihre stille Ergebung, ihren Gehorsam und ihre Tugend und gelobte feierlich, sich ihren Wandel zum Vorbilde zu nehmen und in all seinen Handlungen stets nach dem Rechten zu streben. »Wenn sie sehen könnte, wie der alte Helferich ihr so treu geblieben ist und ihr Andenken auch über das Grab hinaus ehrt,« dachte er, »wie würde sie sich da oben freuen! Wer sie wird es schon wissen und noch bei Lebzeiten gewußt haben.«

Erst spät ging Wolfgang zur Ruhe. Die Buche und die Linde begleiteten ihn bis in seine Träume.

Am folgenden Morgen nahm er wieder seine Art, wie er es sonst alle Tage getan, und wanderte den Berg hinauf. Daß er ein reicher Erbe geworden war, daran dachte er nicht. Mitten in der Arbeit hielt er jedoch manchmal ein, um zu dem Buchenwalde hinaufzuschauen. War es ihm doch, als schwebe der Geist seiner Mutter wie eine hehre Lichtgestalt durch das Gezweige.


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