Emmy Ball-Hennings
Blume und Flamme
Emmy Ball-Hennings

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Im Atelier Leise.

Nachdem ich mich erholt hatte, fand diesmal meine Mutter eine neue Stellung für mich, und zwar in einem photographischen Atelier, das eine Stunde weit von meinem Elternhause entfernt in der Angelburgerstraße lag. Der Inhaber dieses Unternehmens, ein Däne mit Namen Leise, gab mir jeden Monat 25 Mark, wofür ich Bilder zu kopieren hatte. Wenn man bedenkt, daß ich hier weder Kost noch Logis hatte, war es nicht viel, was ich erwarb, doch lernte ich im Atelier Leise so viel Schönes kennen, daß ich gerne noch einmal dorthin zurück möchte, wenn es möglich wäre.

Das Atelier lag im vierten Stock, und durch die hohen Fenster sowie vom Balkon aus konnte man auf ein weitausgedehntes Häusermeer, über viele Dächer der Stadt hinwegblicken. Lange Tische waren an die Fenster gerückt, wo ich mit meinen vielen Kopierrahmen zu schaffen hatte. Das Licht, die Sonne, war meine Mitarbeiterin, die auf meine Negative fallen mußte, um ein Bild, ein Positiv, hervorzubringen. Meine Beschäftigung, zunächst in einem verschwiegenen Zwielichtraum ohne Fenster, lichtempfindliches Papier auf Platten zu legen, diese in einen Rahmen zu spannen und ans Licht zu tragen, war, an sich betrachtet, etwas sehr Einfaches. Für mich aber war es ein Erlebnis, das mir große Freude machte. Die Negative, die ich in den ersten Tagen kaum näher betrachtete, sahen zunächst unscheinbar aus. Sie mußten sauber und völlig staubfrei sein, und das Papier durfte nur leicht und mit ganz reinen Händen berührt 309 werden. Gleich der menschlichen Seele waren die Negative, und das Licht war die Liebe, die Zauberin des Bildes. Und diese Bilder schienen wie von weitem herzukommen.

Was das für Bilder waren? Ich erinnere mich an den ersten Tag, da ich die allererste Platte nachsah. Ich stieß einen kleinen Schrei des Entzückens aus, da ich zunächst, um mich zu üben, die allerkleinste Platte untersuchte. Es war das Herz Jesu, das mich freundlich ansah. So natürlich und einfach der Vorgang war, wirkte er auf mich wie ein Wunder. Meine Kolleginnen, zwei Mädchen meines Alters, Karen und Marie, die im Kopierraum mit anderen photographischen Arbeiten beschäftigt waren, hatten jeweils eine große Freude an meiner Freude.

Wir stellten Kirchenbilder aus allen möglichen Gegenden her, doch kann ich nicht leicht beschreiben, in welche Begeisterung mich diese Bilder versetzten. Es war, als wäre ich auf Reisen, so, als führe ich durch ganz Deutschland, und überall durfte ich die Kirchen, die hohen Gebete aus Stein bewundern. Brachten unsere Reisenden, welche die Aufnahmen machten, neue Platten, so konnte ich die Zeit kaum erwarten, die Kopien zu machen, um zu sehen, wie man bemüht war, den lieben Gott zu verwöhnen. Er sah auf all die schönen Kirchen hinab wie auf kleine Geschenke, die man ihm zur Freude darbrachte.

Das Bild der äußeren und der inneren Kirche wurde auf hübsche Kartons geklebt. Über der Kirche war gleichsam schwebend angebracht entweder das Bild des Heiligen, nach dem die Kirche benannt und dessen Schutz sie anheimgestellt war, 310 oder ein Herz-Jesu- und manchmal ein Muttergottesbild. Auch war öfters ein Spruch unter diesen Bildern, Worte, die ich viele tausende von Malen nachgezeichnet habe, am liebsten goldfarben auf blauem Grunde: Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnet. Gewiß, immer wieder die nämlichen Worte zu malen, kann man, an sich betrachtet, für eine mechanische Beschäftigung halten. Mich aber erfüllte einzig und allein das Bewußtsein: wofür. Und dieses war etwas, das mich trug, mich stets aufs neue beglückte.

Fragten meine Eltern, wie es mir auf meinem neuen Posten gefalle, war ich voll des Lobes über meinen »katholischen«, über diesen nahezu überirdischen und himmlischen Beruf. War es ein heller Tag, an dem sich gut kopieren ließ, sang es unwillkürlich in mir:

Sonne, Wonne,
Himmlisch Leben
Willst du geben,
Wenn wir beten . . .

Wie köstlich war es, die innere Kirche zu betrachten, die Altäre, in denen die Reliquien verborgen lagen, die ich gleichsam mitkopierte. Und manchmal waren auf diesen Bildern betende Menschen zu sehen, die es natürlich nicht bemerkt hatten, daß sie aufgenommen wurden. Nur die Schatten, die knienden Gestalten, zu betrachten, deren Gebete längst erhört waren, das war schön, sehr schön.

Heilig war der Alltag, den ich liebte, wie von einer wundersamen Sonntagssonne warm umflutet. 311 Meine Kameradinnen waren die liebsten Arbeitsgenossen, die man sich nur denken und wünschen kann. Karen war gebürtige Dänin, die nur sehr wenig Deutsch sprechen konnte und so kam es, daß ich sehr rasch die dänische Sprache erlernte, wenn auch nicht gerade fließend und vollkommen. Doch wurde ich mit den schönsten nordischen Volksliedern bekannt gemacht, und die Freude an diesen Liedern trug nicht wenig dazu bei, daß ich wenigstens den Geist der dänischen Sprache wie im Spiel auffaßte. Ich konnte die dänischen Lieder singen, noch bevor ich alle Worte des Liedes verstand. Ich begann damals dänische Lieder ins Deutsche zu übersetzen, und dies war eigentlich ein Mittel, mich auf die Schönheiten der deutschen Muttersprache erst recht aufmerksam zu machen. Wir sangen im Atelier während der Arbeit abwechselnd deutsche und dänische Volkslieder. Marie, meine jüngere Kollegin, war zwar von dänischer Abstammung, doch waren ihre Eltern zum Deutschtum im Jahre 1864 übergetreten, daher Marie beide Sprachen beherrschte, wodurch sie eine große Vielseitigkeit im Ausdruck besaß. In meinem Verkehr mit Karen war sie in der ersten Zeit eine treffliche Vermittlerin, die gut zu übersetzen und zugleich zu belehren verstand, doch erlernte ich leichter die dänische Sprache, als Karen deutsch lernen konnte. Sie begnügte sich damit, unsere schönsten Volkslieder anzuhören, wie man einen Vogel singen hört, dessen Klänge uns entzücken, nach deren Bedeutung wir jedoch nicht fragen. So sangen Marie und ich das Lied von der Abendsonne, davon wir Karen nur ein wenig übersetzen konnten. Wie hätte es sich in einer anderen 312 Sprache recht sagen lassen können, so schön, wie es in unserer Sprache hieß?

Schon in früher Jugend
Sah ich gern nach dir.
Und der Trieb zur Tugend
Glühte mehr in mir.

Wir sangen dieses Lied, wenn die Sonne sich neigte. Die Sonne, die den ersten und letzten Strahl durch die hohen Fenster warf. Es war, als wäre sie gern bei uns jungen Mädchen. Sie war der Gast, der zu uns gehörte. Über Jürgensby ging die Sonne unter. Das war die allabendliche Gewohnheit der Sonne. Um diese Stunde setzten wir uns ein wenig auf den Balkon, um das letzte Gold zu betrachten, das die Wellen der Ostsee empfingen. Dies zu betrachten war die kleine Feier des Alltags, und wir waren hinweggenommen auf diesem schmalen Balkon hoch über der Stadt, die so hingegeben war an das letzte Licht, an den letzten Glanz des Tages.

Wenn ich so am Abend
Staunend vor dir stand
Und, an dir mich labend,
Gottes Huld empfand.

Dann stand Karen auf dem Balkon, hatte Tränen in den großen, blauen Augen, weil die Abendsonne oder weil das Lied so schön war. »Dejlig«, sagte sie, und die ganze schmiegsame Zärtlichkeit ihrer nordischen Heimatsprache lag in diesem einen Wort »dejlig«. Es heißt »schön«, und Karen, die Dänin, war selbst schön.

In dieser blauen Stunde, kurz bevor wir Licht anzündeten, kam Herr Leise zu uns, unser Chef, der uns dieses angenehme Leben ermöglichte. Es 313 hatte manchmal den Anschein, als beabsichtige er nichts anderes, als uns eine hübsche Beschäftigung zu geben. Ich hatte bei diesem alternden Manne den Eindruck, als sei ihm das Geldverdienen etwas recht Nebensächliches. Er malte und skizzierte für sich Landschaften, die er uns abends zeigte und die mir sehr gefielen. Ob er ein Künstler war, weiß ich nicht; doch glaube ich, daß er jedenfalls ein künstlerischer und dichterischer Mensch war, der sich vielleicht zufällig mit photographischen Bildern durchzubringen versuchte. Für mich war Herr Leise ein von Gott selbst berufener Mann, der dafür zu sorgen hatte, daß die Menschen stets eingedenk der Kirche seien. Herr Leise war der richtige Propagandamann des lieben Gottes. Aber diese Reklame geschah nur der Menschen wegen. Es war ein Liebesberuf, den Herr Leise ausübte.

Herr Leise war ein sehr lieber Mensch, der für unsere Dienstleistungen, die doch selbstverständlich und uns selbst ein Vergnügen, ja eine Ehre waren, sich so dankbar zeigte, daß es einen manchmal nahezu verlegen machen konnte. Hatten wir gegen Weihnachten viel zu tun, war Herr Leise besorgt darum, es könne uns zuviel sein. Oh, Tag und Nacht hätte man für einen solchen Dienstherrn schaffen mögen!

Wir drei Mädels hatten nur einen einzigen Wunsch, daß Herr Leise nie Konkurs machen möchte. Es ließ sich nicht leugnen, die Geschäfte gingen etwas schwach und in Anbetracht der vielen Kirchenaufnahmen hätten wir mehr Aufträge haben müssen. Offenbar gab es antireligiöse Strömungen in der Welt, aber dies war etwas, das die Kirche 314 selbst erleiden und ertragen konnte. Es waren Schicksalsschläge, aus denen die Kirche siegreich hervorgehen würde, und lange bevor ich etwas von der leidenden und triumphierenden Kirche wußte, glaubte ich das Schicksal der Kirche im allerkleinsten, allerbescheidensten Rahmen zu kennen. Sie konnte es vertragen, eine Zeitlang negiert zu werden. Sie war der Fels, der ewig stehenblieb.

Freilich, ich machte mir meine sorgenden Gedanken. Ich zählte die Bestellungen, stellte Berechnungen auf und machte phantastische Kalkulationen. Rheinland und Bayern, ja, das waren noch Provinzen. Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnet. Ich malte, so sauber ich nur konnte. Jedes Wort, jedes Bild wurde von meinen innigsten Kindeswünschen begleitet. Es war so hübsch, die Pakete zu binden, sie auf die Post zu tragen, dies alles heimlich mit vielen Grüßen wegzuschicken.

Herr Leise war ein Geschäftsmann, der sich nicht leicht aus der Fassung bringen ließ. Die Bestellungen aus Schlesien ließen zu wünschen übrig. Es war nicht schwer, die Sachlage zu durchschauen, es war leider gar nicht schwer, doch durfte man sich nichts merken lassen. Nichts durfte man sagen, was danach angetan war, die Hoffnung zu trüben, und das Herz Jesu hatte nach wie vor einen Strahlenkranz. Seht her oder seht nicht her, hier bin ich.

Herr Leise ließ sich nichts merken. Ob das Geschäft zurückging oder nicht, es schien ihm gleichgültig zu sein. Ein hochinteressanter Mann, der seiner Sache sicher war. Ich bewunderte ihn sehr, mehr noch, ich liebte ihn. Es war ein wahrer 315 Segen, daß Herr Leise etwas Privatvermögen besaß und sich eine Zeitlang über Wasser halten konnte. Dieses Privatvermögen von Herrn Leise, wovon Karen mir berichtete, befriedigte mich wahrscheinlich mehr als Herrn Leise selbst. Es kam ja nur darauf an, schlechte Geschäfte aushalten zu können, und Herr Leise konnte es aushalten.

Zum Weihnachtsfest waren wir drei Mädels bei der Familie Leise eingeladen und trotz des schlechten Geschäftsgangs wurden wir reich beschenkt. Ach, diese lieben Menschen hätten uns nichts Sichtbares zu geben brauchen. Es gab im Hause Leise so viel Schönes, das unvergeßlich war.

An einem Adventsabend, kurz vor Weihnachten, hörte ich zum erstenmal Harfe spielen. Dagny, die Nichte von Frau Leise, spielte aus einer dänischen Oper »Elverhoi«. Bis hierher war ich der Meinung gewesen, es hätte nur zu Davids Zeiten Harfen gegeben, und nun hatte Dagny ihre Harfe aus Korsör mitgebracht. Dagny war anzusehen wie ein Märchen in ihrem luftblauen Sammetkleid, mit der aschblonden Kronenflechte von Haaren über einem allerliebst verträumten Gesicht. Sie sang und spielte vom König in Thule, und dann noch einiges aus »Hoffmanns Erzählungen«. Es mag das Lied gewesen sein, wo sich nach dem einleitenden, traumhaften Vorspiel zum erstenmal ein Schleiervorhang senkt und das nachfolgende Leben einem Traum unter Träumen gleicht. Eine Liebesgeschichte beginnt hier. Das Vorspiel endet mit den Worten: »Der Name meiner Ersten war Olympia . . .« Noch liegt mir im Ohr dieses letzte Wort, das Dagny sang, schwer und duftend, mit unsagbar liebender Langsamkeit: Olympia . . a . . a. 316

Die Musik war wie ein Geschenk, doch gab es kein Wort, das meine Dankbarkeit hätte auszudrücken vermögen. Ich war glücklich.

Nach dieser musikalischen Darbietung wurden uns die Weihnachtsgeschenke überreicht. Was Karen bekam, weiß ich nicht mehr. Marie bekam eine kleine goldene Uhr. Ich bekam einen spanischen, schwarzen Spitzenschal, den ich mir einmal gewünscht hatte, da ich einige Kirchgängerinnen auf unseren Bildern mit schwarzen Spitzentüchern bemerkt hatte. Obwohl ich nun dieses Tuch in unserer Stadt kaum tragen konnte, machte es mir dennoch viel Freude. Es war jahrelang nur zum Ansehen da, getragen habe ich es erst viele Jahre später, nämlich, als ich das erstemal zur heiligen Kommunion gehen durfte. Acht Jahre über blieb das Tuch unbenutzt liegen, nur daß ich mich von Zeit zu Zeit an dieser Weihnachtsgabe erfreute.

 

Vielleicht waren es die glücklichsten Monate meiner Mädchenzeit, die ich im Atelier Leise verbrachte. Vielleicht waren diese Tage zu schön, um dauern zu können. Ich wußte und ahnte die geschäftlichen Schwierigkeiten, mit denen Herr Leise zu kämpfen hatte, und sah zum voraus, daß mein Chef mich wahrscheinlich als erste würde entlassen müssen. Doch war mir meine Arbeit so sehr ans Herz gewachsen, daß es sehr schwer war, mich davon zu trennen. Meine kleinen Herz-Jesu- und Madonnen-Platten hatte ich liebgewonnen. Es war etwas Lebendiges, das ich bald verlassen mußte. Selbst das Sonnenlicht fiel besonders in unseren Raum. Ich kannte hier die Wanderung, den Tageslauf der Sonne und in meinem kindlichen Schmerz 317 konnte ich mir nicht vorstellen, daß die Sonne anderswo genau so scheinen könnte, wie hier in der Angelburgerstraße im Atelier Leise. Es war, als gäbe es hier eine besondere Sonne.

Ich erinnere mich an den Augenblick, als Herr Leise mir mitteilte, daß ich am nächsten Ersten vorerst mit meiner Arbeit aufhören könne. Es seien zur Zeit so wenig Aufträge, doch würde er mich wieder rufen lassen, wenn es wieder mehr Arbeit geben wollte. Ich nickte, so tapfer ich konnte: »Ja, gewiß, Herr Leise, das verstehe ich gut.« Darauf ging er in sein Arbeitszimmer. Karen und Marie schwiegen, und ich sah auf den blauen Karton, auf die Worte, die ich zum Teil schon gemalt hatte: Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses . . . Und dann begann ich zu weinen, weil ich nicht bleiben durfte. Sehr gerne wäre ich geblieben, umsonst und ohne Lohn. Ja ich hätte zahlen mögen, um bleiben zu dürfen. Gehen mußte ich, weil nicht genügend Bilder bestellt wurden. Warum nicht mehr? Ach, es war traurig, daran zu denken.

Nie war mir das Untergeordnete, das Mechanische meiner Beschäftigung zu Bewußtsein gekommen. Nur an das Wofür und Warum hatte ich gedacht. Wie sehr war ich in meinem Element gewesen, in einer Sphäre, in der ich nicht untergehen konnte, gleich dem Fisch im Wasser. Meine Befriedigung war es gewesen, dafür zu sorgen, daß die Menschen in ihren Wohnstuben Kirchen- und Heiligenbilder an den Wänden hängen hatten, eine kleine, immerwährende Erinnerung an das Heimathaus, das ich selbst noch nicht erreicht hatte und das golden noch in weiter Ferne 318 schimmerte. Und dies alles sollte plötzlich zu Ende sein?

 

Ich selbst war so sehr auf Bilder angewiesen. Man wird hier einwenden können, dies sei etwas recht Äußerliches. Dies gebe ich zu, doch meine junge, unerfahrene Seele nährte sich von Bildern, weil diese es waren, die mich zum Urbild führen wollten. Von Veronika hatte ich ja gehört, daß es die Gemeinschaft der Heiligen war, die uns in ihre Mitte nimmt, und so wenig ich auch wußte, ahnte ich doch das eine: Das Ewig-Heilige führt uns hinan.

Niemals hätte ich dies von mir aus allein finden können. Die Heiligen selbst waren es, die ihr Andenken um Jesu willen verbreiten wollten, und ich gewann die kleinen Bilder lieb, wie man eine Brücke liebt, über die man hinweggehen kann und die nur dazu dient, den Menschen an das andere Ufer, an das Ziel der Sehnsucht, zu tragen. Da ich dieser Brücke so sehr bedurfte, wie hätte ich ihr nicht dankbar sein sollen? Hinter jedem Bild stand ein Wort, ein lebendiges Wort, das ich aufgefangen hatte und das mich unwiderstehlich an sich zog. Es hieß Liebe und war der Hauch des Unbegrenzten, der mich berührte. Dann aber war ich wieder entlassen worden, wie fortgejagt.

 

Man darf nicht vergessen, daß ich in der Diaspora lebte; und meine Umgebung, weit davon entfernt, mein innerstes Verlangen zu unterstützen, war nur darauf bedacht, mich diesem zu entfremden, und aus diesem Grunde vielleicht hing ich so sehr an meinen kleinen Heiligenbildern, deren 319 Gesichtszüge ich betrachten konnte und die mir wie Freunde waren, ohne die ich nicht sein konnte. Wie man bei einer Brücke nicht jede Schwelle, nicht jeden Pfeiler kennt, so hielt auch ich es nicht für unbedingt nötig, die Geschichte jedes Heiligen genau zu kennen, und so begann ich mein Vertrauen auf die Unbekannten auszudehnen, deren Heiligenschein von der Liebe Jesu Zeugnis gab. Noch heute kann ich nicht genau sagen, an wen eigentlich ich meine kleinen Anliegen richtete, da ich nur das engelhafte Gesicht sah, dessen Namen ich nicht kannte. Ich bat um Schutz für meinen künftigen Weg.

Ich hatte allen Grund, zu bitten, denn mein Weg führte mich von dieser Zeit steil ins Dunkle hinab, so sehr, daß ich das Licht der Liebe vergessen konnte.

 

Nun wird freilich kein Mensch von einem Tag zum andern ein anderer. Aber der Mensch kann vieles sein, was er nicht zu sein scheint. Und vieles scheint der Mensch zu sein, was er in Wahrheit nicht ist. Es gibt so manches Gefährliche, das im Menschen verborgen liegt und das sich erst bei Gelegenheit und in Versuchung zeigt. Unschuldig scheint der junge Mensch, solange noch keine wesentliche Schuld ihn belastet. Er erscheint gut, weil er noch nicht viel Böses verübt hat. Warum? Weil er noch keine hinreichend starke Veranlassung zum Schlechten gefunden hat. Sobald jedoch eine natürliche Neigung sich zur Leidenschaft entwickelt, entzündet, hier erst hat der Mensch zu beweisen, ob er sein Gleichgewicht zu bewahren, ob er sich zu halten vermag. Hier beginnt die 320 Macht des Bösen, die bemüht ist, den kleinen Menschen aus seinen Fugen zu treiben, ihn seiner Stützen zu berauben, und man muß nicht unbedingt ein schlechter Mensch sein, um sich plötzlich in der Reihe der Sünder zu befinden. Es war nicht mein kühler Verstand, der mich auf den dunklen Weg führte, es war die verirrte Leidenschaft, die mich fallen ließ. Doch sei hier vorweggesagt: Gott läßt es nur zu, daß wir das Gleichgewicht verlieren, damit wir um so inniger auf seine Seite fallen.

Wohl konnte ich mich verändern und in das trügerische Zwielicht des Irrtums und der Sünde gleiten. Die Heiligen aber, die Lieblinge Gottes und die guten Freunde aller Menschen, bleiben unveränderlich und lassen oftmals ihr hilfreiches Licht leuchten, wenn wir es kaum erwarten. Wir können wohl vorübergehend die Heiligen vergessen. Sie jedoch vergessen uns nicht, gleich guten Geistern, die uns nie loslassen, wenn wir sie nur einmal angerufen haben. Und ich hatte sie um ihren Beistand angefleht. Sie kamen auf meine Kindesbitte zurück, da ich der Hilfe am dringendsten bedurfte und einsehen mußte, daß ich allein nicht einen Schritt gehen konnte.

Denn die Heiligen sind in Christi Nachfolge das Licht der Erde, das uns barmherzig den Weg erhellt, den wir zu gehen haben. Erscheinen uns die Heiligen auch unerreichbar wie die Sterne, so nehmen sie uns gleichwohl in ihre Mitte um der Liebe willen, der wir vertrauen dürfen und die sich verschenkt, damit keines von uns verlorengehe. Die Gnade dieses ewigen Lichtes sei und bleibe mit uns allen.   Amen.

 


 


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