Emmy Ball-Hennings
Blume und Flamme
Emmy Ball-Hennings

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Die Schwester

Jetzt weiß ich nicht, ob es unbedingt nötig ist, daß ich etwas von meiner Schwester Rebekka erzähle, aber es kann vielleicht nicht schaden. Wie oft schon habe ich über dieses Thema nachgedacht, im innigen Verlangen es zu verstehen, doch muß ich bekennen, daß es mir bisher nicht gelungen ist.

Meine Schwester war mit 15 Jahren ein schönes Mädchen, hoch und schlank gewachsen, mit schwerem, glattem, streng gescheiteltem Haar und einem sehr fein geschnittenen Gesicht, jedoch mit einem etwas gleichgültigen, manchmal sogar abwehrendem Gesichtsausdruck. Im Typus war sie der vollendete Gegensatz zu mir. Vielleicht war sie in Wirklichkeit nicht so dunkel, wie ich sie als Kind sah, was daran gelegen haben kann, daß in meiner Gegend durchweg blonde oder dunkelblonde Menschen sind. Wir waren jedenfalls sehr verschieden voneinander, und dies nicht nur äußerlich, sondern auch und wohl hauptsächlich im Wesen, worüber ich freilich als Kind wenig nachgedacht habe. Viele Jahre später erst, als ich erwachsen war, erfuhr ich, daß Rebekka nur meine Halbschwester war und daß wir eigentlich nur den Vater gemeinsam hatten. Doch glaube ich, daß ihr dies ebensowenig bedeutet hat wie mir, zumal unsere Mutter genau so zärtlich an ihr hing, ja sie in manchen Dingen noch mehr verwöhnte als mich. Meine Schwester legte größeren Wert auf schöne Kleidung, und wo Mutter nur konnte, gab sie Rebekka stets nach, wenn sie sich etwas Besonderes wünschte. 71

Ich kann mich nicht entsinnen, daß meine Schwester auch nur ein einziges Mal mit mir gespielt hätte. Sie war freilich sieben Jahre älter, und das ist bei Kindern eine lange Zeit. Oh, ich hätte sehr viel darum gegeben, wenn sie nur um einige Jahre jünger gewesen wäre, damit ich als Spielkameradin wenigstens ein klein wenig für sie hätte in Betracht kommen können. Es war an sich so köstlich, eine große Schwester zu haben, und obwohl ich mich bemühte, es zu verbergen, hegte ich eine starke Bewunderung für sie, die aber hauptsächlich dem schönen Äußeren galt. Zu gerne wäre ich ihr ein wenig gefällig gewesen. Einmal, als sie ein englisches Gedicht auswendig zu lernen hatte, erlaubte ich mir, ihr zu soufflieren. Sie sah verwundert auf und fragte, ob ich denn das Gedicht kenne. Glückstrahlend und mit naivem Stolz sagte ich ihr die Strophe her, von der ich zwar nicht eine Silbe verstand; doch hatte ich mit sieben Jahren ein Gedächtnis, daß, wenn ich einen Vers nur einmal richtig gehört hatte, ich ihn ohne jegliche Mühe auswendig sagen konnte. Meine Schwester ärgerte sich offenbar, daß ich als siebenjähriges Mädel das englische Gedicht leichter lernen konnte als sie, die Vierzehnjährige. Verdrießlich warf sie das Buch auf den Tisch und schickte mich in die Küche. Ich ging tiefbetrübt meiner Wege und konnte nicht verstehen, daß ich nicht das Rechte getroffen hatte.

Wie ich's anstellte, war's falsch. Einmal putzte ich ihre Schuhe mit Ofenglanz. Ich hatte entdeckt, daß dies dem Schuhzeug einen silbrigen Glanz gab, der mir ungemein gefiel und den ich für extra vornehm hielt; aber das wurde mir nicht nur von 72 meiner Schwester, sondern sogar von Mutter selbst als Schabernack ausgelegt, da ich bemerkte, ich hätte dies eigens gemacht. Ich sagte allerdings nicht, warum. Eigentlich sollte man ja alle Schuhe mit Ofenglanz putzen, aber bei uns daheim hatte niemand Sinn dafür.

Ich leistete mir noch etwas, von dem ich mir viel versprach. Meine Schwester besaß ein Nähkästchen aus schönem braunen Holz. Nun sah ich, wie Mutter eines Tages eine Gipsfigur, die ährensammelnde Ruth, vergoldete. Diese Ruth war ein Prunkstück auf unserer Kommode. Da Ruth nicht alles Gold in Anspruch genommen hatte, kam ich auf den Gedanken, der Rest der Goldbronze könnte für das Nähkästchen meiner Schwester reichen, und solche edlen Vorsätze sind bekanntlich dazu da, um ausgeführt zu werden. Ich räumte also das Kästchen aus und begann, es von außen zu vergolden. Das Gold reichte gerade, eben und eben. Sehr gerne hätte ich nun auch das Innere des Kästchens vergoldet, aber das Gold reichte nur noch für einen schönen Stern mit ungefähr acht Zacken. Ich war sehr zufrieden mit meinem Werk. Es war ein Vergnügen sondergleichen, sich das Kästchen anzusehen. Es war eine Wundertruhe, ein Schatzkästchen. Beinahe zu schade, Nadel und Faden hineinzulegen, aber für meine Schwester war nicht leicht etwas zu gut. Sie würde staunen. Sie würde ja ihren Augen nicht trauen ob solcher Pracht.

Rebekka staunte wirklich, und sie traute ihren Augen tatsächlich nicht, aber sie staunte leider ganz anders, als ich erwartet hatte. Ich mag nicht sagen, wie . . . Sie war gar nicht mit dem 73 goldenen Kästchen einverstanden, und ich merkte, daß ich anders vorgehen mußte, um ihr Herz zu gewinnen.

Der Zufall oder das Schicksal kam mir entgegen. Ich wurde krank. Es waren zwar anfangs nur die Masern, die mich befielen, doch schloß sich an die Kinderkrankheit eine wochenlange Schwäche, von der ich nicht sagen kann, ob sie von den Masern die Nachwirkung oder eine Krankheit für sich war.

Eine gewisse Schwermut hatte mich befallen, von der ich jedoch glaube, daß sie einen besonderen Grund hatte. Kurz vor dem Ausbruch meiner Krankheit war mir das Trommelfell des rechten Ohres durchstoßen worden, was eine schmerzliche Entzündung mit sich brachte. Ich hatte nämlich in der Schule eine Zeichnung zu machen, irgendein Blatt, das Blatt eines Baumes. Während ich nun über diese Zeichnung nachdachte, zerstreute ich mich, und ehe ich mich's versah, war eine kleine Himmelsleiter entstanden mit einem träumenden Jakob, der seinen Kopf an die unterste Sprosse lehnte. Wie ich dazu kam, die Zeichnung zu machen, weiß ich nicht. Die Himmelsleiter und Jakob waren im weißen Papier verborgen, und der Bleistift spielte von selbst in meiner Hand. Da ich nun aber nicht die gewünschte Blattzeichnung abliefern konnte, kam der Lehrer sehr ungehalten an meine Bank und war im Begriff, mir meiner Unfolgsamkeit wegen eine Ohrfeige zu geben. Hierbei suchte ich mich ängstlich mit der Hand, die immer noch den Bleistift hielt, zu schützen. Der Lehrer gab mir einen Stoß, wobei die Spitze des Bleistiftes mir durchs Ohr fuhr. Ich empfand einen ungemein heftigen Schmerz, vor dem ich sehr erschrak und der mir schwer erträglich schien, obwohl ich mich 74 schon an Schmerzen gewöhnt hatte, da ich beinahe täglich in der Schule sogar hart gezüchtigt wurde, weil ich nicht mehr die kleinste Rechenaufgabe lösen konnte, was der Lehrer für Eigensinn halten mochte, da ich in anderen Fächern gute Fortschritte machte. Mein gutes Gedächtnis erstreckte sich leider nicht im mindesten auf Zahlen. Ich konnte mit neun Jahren viele Psalmen, Gedichte, sogar Prosastücke fehlerfrei aufsagen, was zu lernen zum Teil gar nicht verlangt wurde, dagegen verursachte mir die einfachste Rechenaufgabe die größten Schwierigkeiten, obwohl ich mir immer wieder Mühe gab, das Rechnen zu erlernen. Es nützte aber alles nichts. Ich mag noch heute nicht sagen, wie ich gezüchtigt wurde, doch geschah es oft mit einer Grausamkeit, vor der ich erbebte. Daß es so etwas Hartes und Häßliches geben konnte! Mit den Schmerzen verstand ich ein wenig umzugehen. Ich wußte sie manchmal zu beschwichtigen, indem ich entweder meine geschwollenen Fingerspitzen küßte, mir das Haar streichelte, manchmal auch vor mich hin mit meinem Rücken sprach. Die kleinen heimlichen Selbstgespräche halfen viel, bis ich eines Tages merkte, daß ein Gedicht oder die Kirchenmusik, die Orgel imstande waren, alles Zerrissene und Wunde, auch alles Häßliche und Schwere in mir für eine Weile zu heilen, aufzuheben, vergessen zu machen.

Es stand also insofern nicht so schlimm mit mir, da ich auf dem besten Wege war, mir ein wirkungsvolles System auszudenken, eine gute Methode gegen Schmerzen auszuprobieren. Der liebe Gott, der mein Vertrauter war, schien nicht immer Zeit für mich zu haben. Doch wollte ich ihm dies auf 75 keinen Fall übelnehmen. Er hatte wohl seine Gründe, wenn er schweigsam blieb. Die Dichtung aber schwieg nicht. Vielmehr lernte ich ihre Tröstungen kennen. Ach, du süße, kleine Sternliese, und du gesegneter Dichter, wieviel ich euch verdanke! Und dann gab es noch vieles, was ich hier nicht alles aufzählen kann. In einer schmerzlichen Kindernacht schwor ich jedem edlen Dichter, der mir zum Trost wurde, Dankbarkeit auf Lebenszeit, es ist ein Gelübde, das ich gehalten habe bis auf den heutigen Tag.

Nach der Zeichenstunde jedoch kam ich lahmer denn je nach Hause und verwundet legte ich mich ins Bett, um zu sterben. Warum? Ich weiß es nicht. Wenige Tage vorher hatte ich ein Gedicht gefunden, das ich säuberlich abgeschrieben hatte, um es meiner Schwester zu schenken. Es gefiel mir zwar im Ton nicht besonders, und ich erinnere mich sehr deutlich, daß es das erste Mal war, daß ich ein Gedicht mit einer gewissen Kritik betrachtete. Ich fand, daß es an diesem Gedicht einiges auszusetzen gab, aber man konnte darüber hinwegsehen, weil der Sinn des Gedichtes schön war.

Wenn mit ihrem Pfunde
Fromme Poesie
Einer Erdenstunde
Himmelsduft verlieh,
Ehret ihre Sendung.
Achtet stets den Geist.
Scheltet nie Verschwendung,
Was den Schöpfer preist.

Nun hielt ich dieses Gedicht für eines der notwendigsten, die es je geben konnte. Es enthielt 76 eine Aufforderung, die mich rührte und gepackt hielt. Mit fünfzehn Jahren trug ich dieses Gedicht, das ich mit neun Jahren schon kannte, begeistert in mein Tagebuch ein.

Ich saß, obwohl ich mich vor Schmerzen kaum aufrecht halten konnte, in der Mittagsstunde noch mit den andern bei Tisch; doch spürte ich schon, daß ich mich würde ins Bett legen müssen. Ich schob meiner Schwester das Gedicht hin: »Hab' ich dir mitgebracht.« So, als käme ich von einer weiten Reise. Während Rebekka das Blatt betrachtete, bildete die Hafergrütze in der Milch seltsame Weltteile. Eine helle Landkarte. War das nicht Grönland? Nun, ich hatte mich wohl geirrt. Ich hörte jemand sprechen: »Ja, was soll ich denn mit diesem Unsinn?« Eisberge ragten auf, und das Meer war grün und kalt. Und dann wußte ich nichts mehr von mir. Ich wurde ohnmächtig.

Wochenlang lag ich krank, verwirrt und halb bewußtlos. Nur sehr langsam erholte ich mich, da ich kaum Nahrung zu mir nehmen mochte oder konnte. Meine Schwester fragte nichts nach mir. Sie mochte mich nicht leiden. Dagegen war nichts zu machen. Dergleichen gab es wohl in der Welt. Es würden mir vielleicht noch manche Menschen begegnen, die mich nicht gern haben würden. Es war sehr schwer, sich dieses Unabänderliche, Schmerzliche bewußt zu machen. Wie wohl jedes Kind hatte ich ein starkes Bedürfnis nach Liebe, doch setzte ich dieses Bedürfnis auch bei anderen voraus, und hierbei war es eine herbe Enttäuschung, einsehen zu müssen, daß meine nächste Umgebung nicht so liebebedürftig war, wie ich es mir wünschte. 77

Immer wieder hoffte ich, mich zu irren, aber das Schlimme war, daß ich mich eben nicht irrte. Ich war der Meinung, daß dieses »Nichtgeliebtwerden« meine eigene Schuld sei. Da es mir nicht gelungen war, die Zuneigung meiner Schwester zu erringen, um die ich mich so sehr bemühte, wie würde es mir dann gelingen, die Liebe der anderen Menschen zu erwerben? Dies beschäftigte mich, während ich krank im Bett lag, lange, lange Zeit, bis diese Frage sich allmählich selbst von mir ablöste. Es kam vielleicht nicht so sehr darauf an, geliebt zu werden. Wer darauf verzichten könnte! Es kam darauf an, selbst liebzuhaben. Trotz der Kälte.

Viele Monate später erzählte mir Mutter, ich hätte auf verschiedene Fragen immer nur eine und dieselbe Antwort gegeben: Es ist kalt in Grönland. Dann fragte Mutter mich, ob mir denn so viel von Grönland geträumt habe, aber davon wußte ich nichts. Als ich wieder mit bei Tisch sitzen konnte, berührte meine Schwester einmal meine Hände, indem sie sagte: »Wie deine Hände mager geworden sind!« Diese Liebkosung durchzuckte mich. Ich versuchte zu scherzen: »Ich bin also doch nicht ganz umsonst krank gewesen.« Meine Schwester lächelte, aber sie verstand mich nicht.

 

Über der Kommode hing ein Bild. Es war Werthers »Lotte«, die große, mütterliche Schwester, die, umgeben von einer fröhlichen Kinderschar, ihren kleinen Geschwistern Brot schnitt. Diesem schönen Mädchen hätte ich ähnlich sein mögen. Lotte trug ein weißes Kleid, mit freundlichen Flatterschleifen besetzt. Wie aus Gefälligkeit für 78 die Kinder hatte sie sich eine kleine Rose ins Haar gesteckt, das war reizend. Wie schön mußte es sein, so viele Geschwister zu haben, in einem Zimmer, in dem alles ein wenig sorglos drunter und drüber ging. Das Kleinste saß im hohen Kinderstuhl, ein Stück Schwarzbrot in den kleinen Patschhänden. O dieser reizende kleine Pausback! Man hätte ihn aus dem Bild herausnehmen mögen, um ihn nur ein einziges Mal ans Herz zu drücken, ihm einen Kuß auf seine runden Wangen zu geben.

Eines Tages bekam ich die Möglichkeit, selbst ein wenig Lotte zu sein, weil Frau Jessen, unsere Nachbarin, in der Stadt Besorgungen zu machen hatte und mir für einige Stunden die Aufsicht ihrer Kinder anvertraute. Es war mir recht, daß Frau Jessen sieben Kinder hatte, eines kleiner als das andere. Das war ein großes, unvorhergesehenes Glück für mich, das ich nach jeder Richtung hin gründlich genoß, da es mir selten geboten wurde. Da gab es eine kleine Amelie im Wagen, die »labla« und »aigü« sagen konnte und so drollig mit den Beinchen zappelte, und wenn man sehr freundlich auf sie einsprach, hatte sie ein entzückendes Lächeln, das hervorzulocken Freude machte. Und mit den andern Kindern ließ sich so reizend spielen, daß der Nachmittag im Fluge verging. Sogar Brot hatte ich schneiden dürfen, zwar nicht wie Lotte mit einem breiten Messer, sondern mit einer Brotschneidemaschine, was aber ungefähr auf dasselbe hinauslief. Daheim erzählte ich Mutter, das Brot bei Jessens sei gewiß schwerer und härter als das Brot bei Lotte, und damit zeigte ich nach dem Bild, um Mutter zu zeigen, warum Lotte keine Brotschneidemaschine brauchte. 79

Weiter unten, am Ende der Straße, war die biblische Gegend oder der Rand der Welt. An sich betrachtet war es kein gesunder, kein eigentlich behaglicher Spielplatz, weil Schutt und Asche hier abgeladen wurde, aber das störte uns Kinder nicht im mindesten. Die Gegend war vielseitig und anregend, das Blütentum gleich neben dem Gerümpel. Ein grün bewachsener Wall, ein schmaler Wiesenstreifen ganz nahe dem Scherbenfeld. Zur Linken neben dem Wall, wohl zwanzig Schritte von ihm entfernt, sah man in den geöffneten Raum einer Glashütte, wo Männer an langen Stangen glühende Flaschenkolben hin und her schwangen. Der geöffnete Ofen warf einen rotgelben Flammenschein auf die nackten Oberkörper der Glasbläser. Das sah schön und zugleich schrecklich aus. Die Glashütte wurde von uns Kindern als Hölle bezeichnet, doch kam sie nur zum Ansehen in Betracht, und hinein kam niemand von uns. Der Zutritt war streng verboten.

Der Wall, auf dem spärlich einige Markblumen und Löwenzahn wuchsen, war der Himmel, und hier regierte Kalle Hattenberg kühn genug als »lieber Gott«. Unterhalb des Walles befanden sich sechs Schweineställe nebeneinander, und diese Partie hieß »die Verbannung« oder »die Fremde«. Zwischen den Schweineställen und dem Wall gab es einen Jauchegraben, der beim Spiel vom verlorenen Sohn und der verlorenen Tochter eine wichtige Rolle spielte. Um nämlich aus der Verbannung in den Himmel zu gelangen, war man genötigt, diesen Graben zu überspringen, eine Kunst, in der wir uns unwillkürlich übten. Einige Jungen fanden es flott, sich beim Springen einer Stange 80 zu bedienen, aber ich lehnte für meine Person solche Hilfsmittel ab, freilich erst, nachdem ich zwei Vorhangstangen von daheim zerbrochen hatte. Es gab allerdings auch eine Möglichkeit, auf bequemeren Wegen in den Himmel zu gelangen, aber das war etwas für die ganz Kleinen, die den gefährlichen Sprung noch nicht wagen konnten. Alles, was noch nicht im Himmel war, mußte sich entweder in den Schweineställen oder doch in der allernächsten Umgebung der Ställe aufhalten, bis einer der Wallengel oder Kalle Hattenberg selbst zum Kommen rief. Wer über den Graben sprang, galt, bevor er das Ziel erreicht hatte, als verlorener Sohn oder als verlorene Tochter.

Vom Wall her hörte man bis in den Schweinestall das Lied der Seligen:

»Paradies, Paradies,
Wie ist deine Frucht so süß.«

Was noch nicht in Sicherheit war, sang sehnsüchtig zurück:

»Wie wird's sein, wie wird's sein,
Wenn ich zieh in Salem ein,
In die Stadt der goldnen Gassen.
O, mein Gott, ich kann's nicht fassen,
Was das wird für Wonne sein.«

So ging es im Wechselgesang hin und her, bis einer sich zum Sprung entschlossen hatte.

Als ich das erstemal als verlorene Tochter in diesen gräßlich stinkenden Graben fiel, konnte mich dieses unangenehme Vorkommnis gleichwohl 81 nicht aus der Illusion herausbringen. Ich versuchte zum Vergnügen meiner Spielkameraden hinaufzuklettern, kam einen Schritt vorwärts, fiel wieder zurück, immer singend:

»Hätt' ich Flügel, hätt' ich Flügel,
Flög' ich auf zu meinem Herrn,
Über Meere, Täler, Hügel,
Sonder Schranke, sonder Zügel
Folgt' ich immer meinem Stern.«

Aus den »Harfenklängen« wußte ich eine Menge von diesen Heimwehliedern, die ich allen andern vorzog, und die ich, im Graben hockend, meinen Freunden vorsang.

Mein bester Spielkamerad, der etwa elfjährige Fiete Krey, gehörte zu den Engeln erster Ordnung. Er hatte eine hübsche, kräftige Stimme, sprang vorzüglich und war auch sonst ein tüchtiger Junge. Als Engel nämlich gelüstete es ihn manchmal, einem von uns persönlich beim großen Sprung behilflich zu sein, wogegen jedoch Kalle Hattenberg meistens protestierte, was er sich ja als »lieber Gott« leisten konnte.

»Nein, das gibt's nicht. Wer im Himmel ist, soll im Himmel bleiben und damit Punktum. Erzengel Fiete, es geht nicht an, daß du dich nachträglich in der Fremde herumtreibst, sonst gibt es ein Durcheinander, in dem man sich nicht mehr auskennt.« Dabei war es doch die Hauptaufgabe Kalle Hattenbergs, sich »auszukennen«. Fiete Krey aber, der sich möglichst viel betätigen wollte, meinte: »Ach was, ich brauche ja nicht direkt in den Schweinestall hineinzugehen, wenn es dir 82 nicht paßt, aber die Engel fliegen doch auch über Gräben und Sümpfe hinweg. Das ist doch wohl klar.« Dagegen konnte der liebe Gott dann nichts einwenden, aber es kam doch vor, daß der Engel mitsamt seinem Schützling in den Graben fiel. Manchmal wurde der brave, daheimgebliebene Bruder fortgeschickt, um den verlorenen zu holen, und wenn der Brave hierzu keine Lust verspürte, kam er längst nicht so glimpflich davon, wie es uns aus der Biblischen Geschichte bekannt ist, wo er doch nur den milden Vorwurf des lieben Gottes sich anhören muß: »Du solltest fröhlich und guten Mutes sein, denn dieser, dein Bruder, war tot und ist wieder lebendig geworden. Er war verloren und ist wiedergefunden.«

Wir wollten Geschwister sein, die einander wirklich liebhaben, und es konnte für uns keinen Himmel geben, wenn nicht alle daran teilhaben durften. Wie hübsch war es, wenn Engel und Sünder miteinander befreundet waren. Schön war es, wenn wir alle auf dem Wall nebeneinander singend saßen, in das zarte Blau eines Sommertages hinein:

»Unter deinen Lebensbäumen
Wird uns sein, als ob wir träumen.
Bring uns, Herr, ins Paradies.«

Meine Schwester hatte in ihrem neunzehnten Jahre wohl eines der wichtigsten Erlebnisse, die ein junges Mädchen nur haben kann. Sie hatte sich verliebt, und wenn ich auch als Zwölfjährige diese Liebesgeschichte nicht in den Einzelheiten kannte und, selbst wenn ich einiges darüber 83 gewußt hätte, dies gar nicht recht hätte verstehen können, sah ich dennoch etwas von der Wirkung dieser Liebe. Das Gesicht meiner Schwester war sanfter, weicher geworden. In ihren Augen lag ein Glanz heimlicher Freude. Sie lächelte manchmal vor sich hin, wenn sie, über eine Handarbeit gebeugt, am Fenster saß. Sie kümmerte sich freilich nach wie vor nicht viel um mich, aber sie war doch freundlich mit mir. Im Fensterbrett stand im Blumentopf eine kleine Myrte, und ich wußte ja sehr wohl, was die Myrte bedeutete, doch ließ ich mir nichts merken. Die Myrte hatte schon sieben kleine Zweiglein. Sie war nicht als Abstecker gesetzt, sondern schon als richtiges Pflänzlein mit der Wurzel aus dem Blumenladen geholt worden. Heimlich für mich suchte ich zu berechnen, wieviel Zweiglein wohl zu einem Brautkranz gehören mochten. Was zu sehen war, reichte freilich noch nicht, aber es war doch schon ein nettes, stattliches Bäumlein. Daß Rebekka nicht selbst die Wurzel im Wasserglas gezogen hatte? Nun, hierfür mochte sie ihre Gründe haben. Es war Rebekkas Aufgabe, die Myrte zu pflegen; aber einmal, als mir der Boden etwas trocken vorkam, goß ich ein wenig Wasser, und meine Schwester kam gerade darüber hinzu. Ich sagte, daß ich nicht ganz kaltes Wasser genommen habe, weil dies den Myrten nicht bekömmlich sei.

Meine Schwester sah mich an und lächelte. Oh, sie war schön! Sie war sehr schön, und es war gewiß das Glück, das meine Schwester so schön machte.

Der junge Mann, den sie liebte, war der Sohn des Papierwarenhändlers, bei dem ich meine 84 Schulhefte kaufte. Der Vater meines zukünftigen Schwagers, ein alter, stiller, grauhaariger Mann, der sehr sorglich und höflich bediente, kannte mich wohl vom Sehen und von meinen kleinen Einkäufen her, doch hatte er noch keine Ahnung davon, in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis wir bald zueinander stehen würden. Ich aber wußte dies und bat daher mit besonderer Bescheidenheit um eine weiche Schreibfeder. Mußte er diese dann eigens suchen, wehrte ich beinahe verlegen ab: »O bitte, bemühen Sie sich nicht eigens. Ich kann auch mit harter Feder schreiben. Es ist ja nur Gewohnheit. Die harten Federn haben auch etwas für sich. Übrigens werden die harten Federn auch mit der Zeit weich.«

»Nein, nein, ich habe schon weiche Federn . . . Wenn ich nur wüßte . . .« Dann suchte der alte Mann, bald mein nächster Verwandter, die weichen Federn und achtete kaum darauf, daß ich unentwegt die harten Federn lobte, so daß er sich hätte wundern können, warum ich denn überhaupt eine weiche Feder begehrt hatte, wenn die harte so vorzüglich war.

Hatte der liebe alte Mann dann endlich die richtigen Federn gefunden, kosteten zwei Stück nur einen Pfennig. Ich lernte plötzlich rechnen. Was konnte Herr Michelsen an diesen Federn verdienen? Er mußte ja zusetzen. Solch eine nette Feder zu fabrizieren, war keine Kleinigkeit. Es steckte doch ein Betrieb dahinter, denn schließlich mußten jene Menschen, die die Federn herstellten, doch auch verdienen. Mußten leben. Ob Herr Michelsen sich nicht im Preis geirrt hätte? Seelenruhig gab er zur Antwort: 85

»Nein, nein. Warum?«

Nun, dies zu erörtern, hätte zu weit geführt. Ich warf nur scherzhaft die allgemeine Klage hin, die ich schon oft gehört hatte:

»Ja, ja, das Leben wird immer billiger. Wohin das wohl noch einmal führen soll . . .«

Es konnte ja nicht schaden, wenn Herr Michelsen merkte, daß ich eine Person war, mit der man schon ein vernünftiges Wort sprechen konnte. Ich war ja erfahren nach mancherlei Richtung hin, hatte eine Schwester, die heimlich verlobt war und die eine bald blühende Myrte im Fensterbrett stehen hatte. Schade, daß ich mich Herrn Michelsen nicht zu erkennen geben durfte, obwohl wir doch bald einander du sagen würden. Er sagte ja du zu mir, aber so sprach er auch die andern Kinder an. Nein, verraten durfte ich nicht, wie es mit uns, mit Herrn Michelsen und mir, stand, das wäre eine Indiskretion gewesen. Eine heimliche Verlobung mußte einigermaßen heimlich bleiben, leider.

»Also billig soll das Leben sein?« sagte Herr Michelsen und wickelte mir die beiden Federn in rosa Seidenpapier. »Das ist ja eine beneidenswerte Erfahrung, die du da gemacht hast. Ich finde, daß die Sachen immer teurer werden.«

Aber weniger als einen Pfennig konnten die Federn doch nicht kosten, und bei solch phantastisch niedrigen Preisen schob Herr Michelsen mir noch freundlich ein buntes Wunschbildchen hin, von denen er einen netten Vorrat gleich neben der Kasse liegen hatte. Diese bunten Bildchen hatten doch auch ihren Wert, und einmal hatte Herr Michelsen sie bestimmt kaufen müssen. Er war 86 entschieden ein nobler Mann mit einem gütigen Herzen, und wenn der Sohn dem Vater ähnlich war, stand es gewiß gut um Rebekka. Manchmal war auch der zweite Sohn, also der Bruder des Verlobten meiner Schwester, im Laden und lächelte mich verständnisinnig an, so daß ich hieraus schloß, der jüngste Herr Michelsen wisse um unsere künftige Verwandtschaft. Selbstverständlich lächelte ich freundlich zurück.

Solche heimliche Verlobung war für die Nächstbeteiligten sehr hübsch, aber die andern, die etwas Fernerstehenden, hatten doch rein gar nichts davon. Ich selbst hatte es nur zufällig aufgeschnappt, daß meine Schwester heimlich verlobt war, offiziell hatte man mir dies nicht mitgeteilt. Trotzdem wußte ich es, und das war sehr schön. Beinahe war ich ein bißchen mitverlobt und konnte das Glück meiner Schwester ein wenig mitgenießen.

»Es soll vorläufig strengstes Geheimnis bleiben«, hatte Rebekka zu Mutter gesagt, und Mutter hatte gemeint:

»Ja, es ist vielleicht besser so.«

Deutlich genug hatte ich dieses strenge Geheimnis mit angehört, von der Schlafstube aus, gleich nebenan.

Warum war es besser, wenn man eine Verlobung geheim hielt? Warum sollten die andern nicht auch ein bißchen von solchem Glück mitgenießen? Es war doch in gewissem Sinne etwas egoistisch, ein solches Glück ganz und gar für sich behalten zu wollen. Nein, wenn ich mich einmal verloben würde, sollte das eine sehr öffentliche Angelegenheit werden. Mein Bräutigam und ich würden das Geld zusammenlegen, um in allen Zeitungen 87 groß und schön umrandete Anzeigen aufzugeben: »Als Verlobte empfehlen sich Helga« usw. »Freuet euch mit den Fröhlichen!« Das war nicht mehr als gerecht.

Die heimliche Verlobung begann mich zu bedrücken, und eines Tages konnte ich Doris gegenüber einige Anspielungen nicht unterlassen, zumal sie selbst mir mitteilte, daß ihr Bruder sich in Sachsen verlobt habe. Die Braut, die aus Rauschau stammte, würde in der nächsten Woche schon zu Besuch kommen, und dann würde die Hochzeit gleich gefeiert werden. Auf so viel freudige Ereignisse war ich etwas eifersüchtig, aber ich hatte ja auch eine heimliche Verlobung zu bieten. Es war zu dumm, daß die heimliche Verlobung gerade das eine an sich hatte, daß sie so gar heimlich bleiben mußte. Schweigen mußte ich. Ich fand den Ausweg und sagte: »Ja, Herr Michelsen wird wahrscheinlich auch bald mit meiner Schwester Ernst machen.« Der Ausdruck »Ernst machen« wurde bei uns allerdings angewandt, wenn man besagen wollte, daß jemand kurz vor der Heirat steht, doch wußte ich über die eigentliche Bedeutung dieser Redensart nicht allzu genau Bescheid. Doris hätte gern die nähern Umstände von mir gehört, aber ich mußte meine Zunge beherrschen. Ich sagte nur, daß Rebekkas Myrte bald dreißig Zentimeter hoch sei. Danach mochte Doris berechnen, wie es bei uns stand.

Meiner Freundin Martha, die ich so liebhatte und die ein Anrecht auf die wichtigsten Begebenheiten in unserem Hause hatte, teilte ich dasselbe mit. Da sie aber wenig von diesen Dingen verstand, war ich genötigt, mich deutlicher 88 auszudrücken, so daß das große Geheimnis eigentlich mehr als nur gelüftet, beinahe offen dalag. Ja, meine Schwester sei sehr glücklich. Ich sagte es glatt heraus, weil ich es wünschte.

 

Es geschah aber etwas Trauriges. An einem Pfingsttag merkte ich es zum erstenmal. Wie die Sache eigentlich zusammenhing, wußte ich nicht, und ich weiß es noch heute nicht. Ich weiß nur, daß meine Schwester mich aufforderte, mit ihr nach Wassersleben zu gehen. Etwas Derartiges war noch nie vorgekommen. Sie schien meine Gesellschaft dringend nötig zu haben, dies glaubte ich aus ihrem Benehmen herauszuspüren. Ob sie sich nun in aller Morgenfrühe mit ihrem Freund verabredet hatte oder ob sie wußte, daß er um eine bestimmte Stunde an einem bestimmten Meilenstein vorüberkommen würde, ich weiß das nicht. Wir gingen in unseren hellen Sonntagskleidern in der Nähe von Wassersleben an einem Meilenstein auf und ab. Auf dem stand K. M. 3,2. Sonst nichts. Wir gingen wohl eine halbe Stunde immer nur wenige Schritte auf und ab, wobei ich bemerkte, daß Rebekka immer unruhiger wurde, doch gestattete ich mir keine Frage. Schließlich erklärte sie mir, daß sie auf Michelsen warte.

»Er kommt gewiß noch«, bemerkte ich so diskret wie möglich.

Wir gingen unendlich lange auf und ab. Von Zeit zu Zeit las ich K. M. 3,2. Ob das wohl der richtige Meilenstein war? Ob meine Schwester sich nicht vielleicht im Meilenstein geirrt hatte? Dann wieder fiel mir ein, daß Herr Michelsen ja nur aus einer Richtung kommen konnte. Jeden Menschen, 89 der uns von Süden her entgegenkam, sah ich aufs schärfste darauf hin an, ob es Herr Michelsen sein könne. Wer nur eine entfernte Ähnlichkeit mit ihm hatte, tröstete, beglückte mich. Es kamen junge Männer vorbei, die es beinahe hätten sein können. Herr Michelsen sah nämlich gar nicht besonders aus, so, wie alle jungen Männer aussahen. Aber der eine war eben doch Herr Michelsen, schlank, dunkelhaarig, mit weichem, eingebogenem grauen Hut, dunkelgrauem Anzug und sehr hübschen gelben Stiefeln.

Ach, meine liebe, arme Schwester hatte das Gesicht so gespannt und betrübt! Und so reizend sah sie aus an diesem Morgen in ihrem hellblauen Sommerkleid, eine hellrote Federnelke mit etwas Grün hatte sie angesteckt. Wie entzückend sie aussah! Es war schade, daß Herr Michelsen so lange auf sich warten ließ.

»Da! Ich glaube, das ist er, wenn ich mich nicht irre!«

Ich irrte mich, aber ich sagte es nur, um das unglückliche Gesicht meiner Schwester zu beleben, um ihr ein wenig Hoffnung zu machen, um ihr neue Spannkraft zum Warten zu geben.

Der Herr, der an uns vorüberging, hätte ja leicht Herr Michelsen sein können, wenn er sich nur ein bißchen daran gehalten hätte . . . Herr Michelsen war ja, an sich betrachtet, eine so belanglose Erscheinung. Es gab ja so viele Michelsen, so viele von seiner Art, aber das half wenig. Es war nun einmal dieser eine Michelsen, nach dem meine Schwester verlangte. Oh, ich hätte viele Jahre meines Lebens dafür hingeben mögen, nur um an diesem einen Pfingsttag Herr Michelsen zu sein. Ich 90 wäre gekommen, und wie wäre ich gekommen . . . Aber dergleichen gibt es ja nicht. Wenn's drauf ankommt, kann kein Mensch den andern ersetzen.

Wir matteten uns mit Warten ab, meine Schwester und ich, und jede war mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.

»Wir wollen langsam umkehren«, beschloß meine Schwester, und ich sah in ihr schönes, junges, enttäuschtes Gesicht und blickte dann rasch auf den Meilenstein. Es war ein Schmerz in diesem Gesicht, den ich nicht kannte. Ich sah nur den Reflex einer leidenschaftlichen Verzweiflung. Ich ahnte, daß nicht ich hier helfen konnte. Meine Schwester hatte einen Kummer, den ich nicht begreifen konnte und den ich dennoch in seiner furchtbaren Wirkung sah. Es war ein so schöner Frühlingsmorgen, und die Buchenwälder zu beiden Seiten unseres Weges standen im ersten Grün; aber dies konnte Rebekka nicht trösten, und es gab jetzt nichts, was sie hätte trösten können. Dennoch sagte ich, während wir nebeneinander heimwärts gingen:

»Rebekka, es könnte sein, daß Herr Michelsen vielleicht nicht hat fortkommen können. Wenn etwas passiert wäre, das ihn am Kommen verhindert hat . . .«

»Ja, das wäre möglich«, gab meine Schwester zu, doch war ich nicht sicher, ob sie daran glaubte.

»Es kann irgend etwas bei ihm daheim los sein. Man kann nicht immer jede Verabredung innehalten. Das weiß man doch, daß es hin und wieder mal Hindernisse geben kann . . .«

»Vielleicht war etwas mit seinem Fahrrad nicht in Ordnung.« 91

»Ja, wollte er denn mit dem Fahrrad kommen?«

»Ja, das wollte er. Vielleicht! Genau weiß ich's nicht.«

»Nun ja, dann brauchen wir uns nicht zu wundern. Mit solchem Fahrrad klappt alle Augenblicke etwas nicht. Das ist nichts Besonderes. Jette klagt fortwährend darüber. Das hättest du mir gleich sagen sollen, daß er per Rad kommt, dann hätte ich gewußt, daß wir mit seinem Kommen auf keinen Fall hätten zu rechnen brauchen.«

Und dann wußte ich plötzlich eine Menge Geschichten von Fahrrädern, die recht selten funktionierten.

Alles, was ich gegen die Fahrräder vorbrachte, glaubte meine Schwester mir aufs Wort. Es war erstaunlich, wie sie mir lauschte. Es fiel mir auf, daß sie nicht einen Augenblick daran dachte, daß Michelsen ja auch hätte zu Fuß kommen können, wenn sein Fahrrad nicht in Ordnung war. Dies ging mir selbst beunruhigend durch den Kopf, doch behielt ich es selbstverständlich für mich. Ich bemerkte nur:

»Wir haben doch nur auf die Fußgänger geachtet. Wenn er nur nicht an uns vorbeigefahren ist!«

»Er hat doch auch Augen im Kopf . . . Nein, er war verhindert. So wird es sein.«

Zu Hause aber begann meine Schwester zu weinen, und zwar weinte sie tagelang, so daß ich mich über solche Ausdauer im Weinen nicht genug wundern konnte. Ich sah ein, es mußte etwas für Rebekka geschehen. Aber was?

Herr Michelsen war nämlich mit einer »andern« gesehen worden, die nicht einmal aus unserer 92 Gegend stammte, was die Eifersucht, die meine Schwester empfand, wahrscheinlich noch erhöhte. Es war klar, sie überschätzte das Glück, das die andere genoß, doch ist solche Einsicht einer unglücklich Verliebten nicht leicht beizubringen. Oh, dieser unzuverlässige Herr Michelsen, der mit einer anderen ging, die noch dazu so unverzeihlich langweilig aussah und sich niemals mit meiner interessanten Schwester messen konnte! Einmal begegneten mir die beiden, wie sie in der Abendstunde die Landstraße hinaufspazierten. Am liebsten hätte ich das Paar gestellt und dieses Glück, das mir nicht paßte, gehörig auseinandergesprengt, doch begnügte ich mich, Herrn Michelsen einen durchdringenden Blick zuzuwerfen und ihm ein verächtliches »treuloser Kerl« nachzurufen. Das Paar drehte sich nach mir um, wußte aber wohl nicht, daß der Zuruf tatsächlich ihm gegolten hatte, zumal ich nicht sicher bin, ob Herr Michelsen mich kannte. Eigentlich sollte ich ihn nicht verewigen, doch bleibt mir nichts anderes übrig, da er mich meiner Schwester wegen einmal so intensiv beschäftigt hat, und eigentlich verdanke ich ihm die erste Erkenntnis, daß es verschiedene Arten von Liebe geben kann. Meine Schwester suchte ich von ihrem Kummer abzulenken, indem ich abends zum Klavierspiel das Lied sang: »Eins ist not, ach, Herr, dies eine.« Es verfing nicht. Es saß offenbar sehr fest in meiner Schwester.

Einmal durften wir uns zur Zerstreuung das Familienprogramm eines Varietés ansehen, das mir in seiner Buntheit einen starken Eindruck machte. Ein junges Mädchen sang ein Lied, von dem sich mir einige wichtige Worte einprägten. 93

Die Liebe ohne Treue
Ist eine Blume ohne Duft,
Ist ein Himmel ohne Sterne,
Ist ein Mond ohn' Silberglanz.

Ob Herr Michelsen nicht in sich gehen würde, wenn man ihm diese Zeilen schickte? Es mußte natürlich anonym geschehen. Es konnte nur schlechter Wille und Ungefälligkeit sein, Rebekka nicht liebzuhaben. Aber konnte man nicht ein wenig nachhelfen? Es mußte etwas geschehen, und es geschah auch etwas.

 

Der jüngste Herr Michelsen lächelte mir nach wie vor freundlich zu, was kaum mehr nötig war, weil die verwandtschaftliche Vertraulichkeit hier wohl nicht mehr in Betracht kam. Mir war eigentlich gar nicht mehr danach zumute, zurückzulächeln, aber es konnte vielleicht nicht schaden, wenn man die Beziehungen ein wenig aufrechterhielt, doch fiel mein Gruß etwas wehmütig aus. Dies spürte ich selbst. Der jüngste Herr Michelsen erlernte die Sargmacherei bei Tischler Bebenroth, der in unserer nächsten Nachbarschaft wohnte, und ich sah ihn beinahe täglich, entweder wenn er auf dem Arbeitsweg war, oder wenn er einen Karren vor sich herschob, auf dem ein neuer Sarg stand, den der jüngste Herr Michelsen abzuliefern hatte. Ich hatte ihn noch als Schulknaben gekannt. Jetzt aber mochte er siebzehn Jahre alt sein, und weil er so groß geworden war, nannte ich ihn Herr Michelsen und nicht mehr Jürgen.

Eines Nachmittags begegnete er mir, als er gerade einen winzig kleinen weißen Kindersarg auf der Schulter trug, ein Särglein mit Sternchen 94 besetzt. Es war doch eigentlich eine traurige Beschäftigung, der Herr Michelsen nachging, aber er kam mir mit einer so strahlenden Heiterkeit entgegen, daß ich mich unwillkürlich fragte, ob er wohl mit demselben lustigen Gesicht diese traurige, rührende Kindertruhe bei den Leidtragenden ablieferte. Wir grüßten einander, Michelsen blieb plötzlich vor mir stehen und fragte mich, warum ich denn neuerdings ein solch »nücksches Gesicht« mache.

Ich erwiderte, der kleine Sarg mache mich traurig.

»Ja, du lieber Gott, es gibt viele Särge in der Welt, und man kann sich nicht um jeden Sarg grämen. Aber das wirst du ja auch nicht machen. Wie gefällt dir dies Särglein?«

»Es ist schön, aber es ist doch so traurig.«

»Ja, das ist nun einmal nicht anders. Das Schöne ist manchmal traurig. Aber denk, diesen Sarg hab' ich ganz allein gemacht. Er ist innen auch ganz weiß, mit weißen Spitzen am Rand. Soll ich es dir mal zeigen?« Dabei machte der junge Mensch Miene, den kleinen Sarg von der Schulter zu nehmen, um ihn auf den Boden zu stellen.

»Nein, nein, bitte, nicht«, wehrte ich ab, »behalt' ihn nur auf der Schulter, ich will ihn nicht sehen.«

Er war auf seine Arbeit jedoch so kindlich-stolz, daß ich ihm schon den Gefallen erweisen mußte, mich ein wenig dafür zu interessieren. Wir hatten zufällig die gleiche Wegrichtung, und so kam es, daß wir uns eine Weile ausschließlich über Särge unterhielten, doch hätte sicher kein Vorübergehender uns angesehen, daß wir ein so ernstes Thema hatten. Er hatte mich sofort gebeten, ihm doch 95 wieder du zu sagen, und dies fiel mir dann auch leichter, zumal ich mich bei Jürgen nach seinem Bruder erkundigen wollte.

»Dein Bruder ist nicht so nett, als ich gedacht hatte«, leitete ich das Gespräch ein, und auf die Frage, was er denn gemacht habe, klagte ich Jürgen die ganze Geschichte, indem ich ihm besonders anvertraute, wie schlimm es mit meiner armen Schwester stand.

Ja, um Liebesgeschichten dürfe man sich nicht kümmern, meinte Jürgen etwas verlegen. Er könne ja nicht dafür, beruhigte ich ihn, da ich annahm, es beklemme ihn, einen so ungewöhnlich treulosen Bruder zu haben. Meine Schwester sei vor Kummer dem Tode nahe, und man wisse ja aus der Zeitung, daß unglücklich Liebende sehr oft Gift nehmen.

»Ja, steht es denn so schlimm mit deiner Schwester?«

O ja, so schlimm stand es, versicherte ich. Ich jagte ihm Angst ein, so gut ich nur konnte, indem ich düster und dunkel bemerkte: »Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß du demnächst dich am Sarg meiner Schwester in deiner traurigen Kunst üben kannst. Wie das weitergehen soll, ist nicht abzusehen. Wenn nicht eine plötzliche Änderung eintritt, stirbt meine Schwester. Soll ich es etwa darauf ankommen lassen? Dann kannst du lange sagen, man solle sich nicht um Liebesgeschichten kümmern.«

»Nun, so leicht stirbt sich's doch auch nicht«, meinte Jürgen leichthin, und dabei wechselte er noch das Särglein von einer Schulter zur andern. Das waren ja merkwürdige Brüder, diese beiden 96 Michelsen. Vielleicht dachte der eine genau wie der andere. Dieser Jürgen hatte gut reden: So leicht stirbt sich's auch nicht. Aber ich sah es doch. Ich hatte Augen im Kopf. Ich sah doch, wie meine Schwester täglich immer mehr verfiel. Ich sah doch, daß sie nichts mehr essen mochte. Und ich wußte, wie verzweifelt sie die Nächte durchweinte. »Du könntest deinem Bruder doch einen kleinen Stups geben, Jürgen. Damit er sich besser besinnt. Es ist nur eine Nachlässigkeit von ihm, sonst nichts.«

Jürgen versprach tatsächlich, einiges in der Angelegenheit zu unternehmen, doch wagte er weder sich noch mir einen Erfolg zu versprechen. Jürgen war klüger als ich und wußte etwas, was ich noch nicht einsehen konnte. Ich dachte, daß das Lieben eine Sache des guten Willens sei, doch wurde ich bald anders belehrt.

Lieben und Singen lassen sich nicht erzwingen, so heißt ein Sprichwort, und in diesem Fall stimmte es. Es war ein Scheinglück, das ich in meiner kindlichen Weise zu fördern suchte, aber man tut ja gern sein möglichstes, wo man kann. Herr Michelsen kam zwar, und es schien zwischen ihm und meiner Schwester wieder alles in Ordnung zu sein, so daß ich hätte befriedigt sein können, mein Teil dazu beigetragen zu haben, aber die Herrlichkeit war nicht von langer Dauer.

Aus der Liebesgeschichte meiner Schwester glaubte ich etwas gelernt zu haben, was ich gelegentlich zu verwerten gedachte, wenn ein heimlich Verlobter mir untreu werden sollte. So lebhaft wie möglich suchte ich mir diesen Fall vorzustellen und geriet dabei in ein recht bedenkliches 97 Fahrwasser, da ich mir nicht schlüssig darüber werden konnte, ob ich an unglücklicher Liebe sterben sollte oder nicht. Einerseits wäre das Sterben wohl schicklich für mich gewesen, nämlich in Anbetracht meiner grundehrlichen Liebe zu irgendeinem Herrn Michelsen. Ein jäher Absturz ins Wasser von einem möglichst hohen Felsen schwebte mir vor. So etwas mußte ja imponieren. Selbstverständlich hätte ich bei solch kühnem Sprung gern ein paar Zeugen gehabt. Es sprang sich besser, wenn einige zusahen, und ich hatte ja auch auf der Felsspitze einen Brief hinterlassen, den jemand meinem Freund überbringen mußte, meine letzte Meinung:

Die Liebe ohne Treue
Ist wie eine Blume ohne Duft.

Es war nicht ausgeschlossen, daß er noch nach meinem Tode sich zu mir bekehrte. Davon hatte ich freilich nicht viel, aber es war immerhin besser als gar nichts. Er sollte sich nur nicht einbilden, ohne mich glücklich werden zu können. Das war völlig ausgeschlossen.

Mir ist, als habe der Liebeskummer meiner Schwester kaum stärker sein können als der meine, der doch eigentlich nur in der Luft stand. Das Sprungbrett in der Badeanstalt bei Wassersleben war mir nicht hoch genug, aber wir hatten ja keine Felsen in unserer Gegend. Ich konnte ja nicht dafür, daß es bei uns keine jähe Absturzmöglichkeit gab, also mußte ich vom Sprungbrett aus mich in die Tiefe fallen lassen. Ein bißchen sprang ich für Herrn Michelsen oder für meine Schwester. Es war ein Spiel, bei dem ich sehr gut schwimmen 98 lernte, sonst nichts, denn aus fremden Liebesgeschichten wird man doch kaum etwas für die eigenen erlernen können.

Ob meine Schwester sich für die erlittene Vernachlässigung rächte, oder ob Herr Michelsen ihr eines Tages gleichgültig wurde, vermag ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls verließ meine Schwester die Stadt und zugleich ihren noch vor kurzer Zeit so heiß begehrten Michelsen, und daß nicht eines von beiden daran starb, enttäuschte mich beinahe ein wenig. Aber ich starb ja auch nicht daran, daß meine Schwester nicht viel nach mir fragte. Es tat weh und war schwer verständlich, aber man starb nicht daran. Es gab Heilmittel gegen manche Krankheit. 99

 


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