Wolfgang Hellmert
Fall Vehme Holzdorf
Wolfgang Hellmert

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Fall Vehme Holzdorf

Novelle

von

Wolfgang Hellmert

 

Verlag von Philipp Reclam jun.
Leipzig
(1928)


Für

Klaus Mann


Es gibt keine unaufhörlichere und quälendere Sorge für den Menschen als, wenn er frei bleibt, etwas zu finden, vor dem er sich beugen kann.

Dostojewski: Karamasoffs.

Leicht zerstörbar sind die Zärtlichen.

Hölderlin: Empedokles.


9 I.

Die Wolkenbank, hinter der die Spätsonne stand, zerriß. Mit einem Male überschwemmte eine ungeheuerliche Lichtwelle den Wald.

»Man wird ja irrsinnig vor soviel Licht«, sagte Herbert, aber augenblicklich schwieg er wieder, als hätte er bereits zu viel gesagt.

Der neben ihm schritt nickte lässig und kurz mit dem Haupte. Er hatte kaum auf die Worte seines Kameraden gehört. Auch hielt er es nicht für angebracht, einen so unwichtigen und, wie ihm schien, rein lyrischen Gefühlsausbruch mit mehr als einem Kopfneigen zu beantworten. Man hatte andere Sorgen. Man wollte leben. Man hatte zu diesem Zwecke militärische Geheimnisse rechtsgerichteter Organisationen an die Kommunisten, kommunistische Aufmarschpläne an die vaterländischen Verbände zu liefern. Man hatte sich geschickt zu verhalten; zwischen zwei Parteien, die sich auf den Tod befehdeten, zu lavieren, so daß ja keine merkte, daß man 10 ein Spitzel war. Ein Spitzel – wie das klang – nach Schleichgängen über Hinterhöfe, nach Zusammenkünften in schmierigen Schankstätten, nach lauter phantastischen und unappetitlichen Dingen, die es in Wirklichkeit nicht gab. Heinz Wiesel lächelte amüsiert vor sich hin, aber dann fand er es eigentlich schade, daß die Dinge, tatsächlich geworden, sich soviel unromantischer vollzogen. – – Sein Marschgenosse kam ihm wieder in den Sinn. Glückliche Jugend, die vor nichts anderem irrsinnig wurde, als vor zuviel Licht. Er wollte Herbert irgendein Scherzwort zuwerfen, da spürte er erst, daß der gar nicht mehr an seiner Seite war. Heinz sah sich suchend um: Ja zum Donnerwetter, wo mochte der Bengel nur stecken? Er blieb stehen, pfiff, aber das Signal wurde nicht beantwortet. Heinz beschattete die Augen. Dieses törichte Licht, dachte er noch, man kann keine zehn Schritte weit sehen. Dann schlug etwas gegen seine Brust. Er schrie leise auf und fiel mitten hinein in einen sonderlich glänzenden Nebel.

– – – Als Herbert noch schwankend vor Furcht und Erregung zu dem Toten trat, war die Sonne längst untergegangen. Wiesel lag ein wenig zur Seite gekehrt. Er sah bläßlich aus und war schmaler geworden. Etwas Unfaßbares schien ihn angerührt und in die Länge gezogen zu haben. Aber das Furchtbarste war wohl, daß er die Augen offen hielt, diese Augen, die jetzt einen erschütternden, blinden Ausdruck hatten, die erschrocken 11 und sinnlos in den Wald hineinstierten, dorthin, wo er schwärzlich wurde und voller Geheimnis war.

Herbert kämpfte mit einem Schwindelgefühl, das stark und unwiderstehlich in ihm aufstieg. Bluffen will er mich, will mir Angst einjagen, dachte er, so eine Gemeinheit. In einer jähen Erbitterung stieß er mit dem Fuß nach der Leiche. »Du Hund«, sagte er leise, »du Hund.« Aber als er nun sah, wie wehrlos sein Tritt hingenommen wurde, ergriff ihn doch ein schüchternes Mitleid. Vielleicht auch erahnte er damals schon ein Geringes davon, was es zu bedeuten hat, jemanden hinausgedrängt zu haben aus dem Leben.

Einige Minuten stand er reglos. Nur jetzt nicht nachdenken, empfand er. Er hob ein wenig unsicher die Hand und fuhr sich hastig über die Stirn, als wolle er den schweren Schatten, der sie ganz verhüllte, nur noch tiefer herabziehen. Eine ungeheure Lust überkam ihn, jetzt kräftig zu singen. Aber war diese Lust nicht immer gekommen, wenn er allein in einem dunkelen Raume war, oder wenn er eine Strafe erwartete?

– – – »Wahnsinn, zu singen«, redete er einen Baum an. Er konnte seinen Satz kaum selber begreifen. Es war ihm genau so zu Mute, als läge er in einer Narkose an jener Grenze zwischen Bewußtheit und Schlaf, wo man die Worte erst übersetzen muß, die man auffängt aus einer vernebelten Welt. – – –

Als er wieder besser zu denken vermochte, saß er neben 12 dem stillen Manne im fußhohen Gras. Wenn jetzt jemand vorüberspaziert wäre – der Schreck wollte ihn neuerlich betäuben, aber diesmal ließ er sich nicht wieder unterkriegen.

Einiges war noch zu erledigen. Er überwand seinen Widerwillen und begann, den Toten sorgfältig zu durchsuchen. »Aha«, triumphierte er, als er in der hinteren Hosentasche Papiere spürte. Aber als er sie durchsah, waren es: ein alter Paß, eine Radfahrkarte und wenige, gleichgültige Korrespondenzen.

Da war scheinbar nichts zu machen. Vielleicht fand man zu Hause im Schreibtisch oder in Wiesels Koffern mehr. Herbert sah nach der Uhr. Herrgott, halb zehn war es schon geworden. Bis zur nächsten Bahnstation hatte er fast eine Stunde zu gehen. Na, Hauptsache, er war gegen zwölf Uhr wieder in Berlin. Er nahm alle Papiere des Toten an sich. Seinen Schlüsselbund, sogar sein Geld, ein paar schmutzige, verknüllte Banknoten steckte er ein. Dann deckte er wahllos und unsorgsam Erde, Steine und Laub über den Leichnam. Das dauerte noch eine geraume Zeit. »Es soll sein, als ob gar nichts geschehen wäre«, flüsterte er. Da er nichts anderes fand, säuberte er sich nun die Hände an seinem Taschentuch. Man hätte Wiesels Beinkleider benutzen können, fiel ihm ein. Er sah scheu nach dem Erdhaufen hin und wurde schamrot. Ich bin ein Rohling, dachte er. Dann schritt er, ohne sich noch einmal umzusehen, in die Nacht. Und 13 kaum, daß er dreißig Schritte entfernt war vom Tatort, konnte man ihn singen hören.

– – – Fünf Minuten vor zwölf fuhr der Vorortzug in den Potsdamer Bahnhof. Endlich, endlich. Fiebernd aus Hast stürzte Herbert aus seinem Abteil. Den langen Bahnsteig nahm er im Galopp, und die zwei Herren, die vor ihm die Sperre passierten, zeigten entrüstete Gesichter, da er sie empfindlich gestoßen hatte. Nun werden sie gleich auf die Jugend schimpfen – Herbert verspürte eine Art von Schadenfreude. Aber Ruhe und Sicherheit kehrten ihm erst später zurück, als er schon eine lange Weile auf der Trambahn stand und sich bewiesen hatte, daß nichts, absolut nichts in der Stadt verändert war.

Diesen törichten Einfall, die Stadt müsse sich nach seiner Tat verwandelt haben, hatte Herbert nämlich in der Eisenbahn gehabt. Und zwar in diesem Momente, als er den fingernagelgroßen Blutfleck auf seinem Jacket entdeckte. Es war nicht etwa Entsetzen, was er da gefühlt hatte – es gibt Augenblicke, in denen alle Worte gewichtlos werden – irgendetwas, so mochte es wohl am ehesten zu bezeichnen sein, war in ihm zusammengestürzt oder zerrissen oder erwürgt. Und da war in ihm dieser Gedanke hochgestiegen, die Stadt müsse ihr Gesicht verzogen haben, wenn er sie beträte. Gleich ihm habe sie, glaubte er, den Akzent ihres Wesens in das Phantastische und Grauenhafte geschoben. Wilder und mörderischer würde sie ihn, wenn er zurückkehrte, 14 anscheinen. Jetzt lachte er einfach über solche Hirngespinste. Er gab sich einen Ruck, aber die Nerven revoltierten. Das Gelächter war nicht mehr zu halten, und ohne die geringste Überleitung pruschte er los. Wie ein Backfisch, pöbelte er gegen sich, und geriet in einen leichten Ärger.

*

Es schlug gerade dreiviertel eins, als Herbert vor dem Hause des politischen Führers pfiff. Oben brannte noch Licht. Im erleuchteten Fenster standen lebhafte Schatten. Herbert spähte achtsam hinauf. Da öffnete sich schon das Haustor.

Er wurde sofort vorgelassen. Der Politiker hatte ihn mit Ungeduld erwartet. »Was bringen Sie für Nachrichten?« fragte er nervös und um ein weniges zu nasal. Er zwirbelte seinen Schnurrbart hoch und sah Herbert aufgeregt, aber sehr gerade in die Augen.

Der Junge stand in tadelloser, militärischer Haltung vor ihm. »Also!« sagte der Politiker dringlich.

Zum ersten Male bemerkte Herbert, wie sehr der Verehrte die Stimme forcierte, wie unschön und gewaltsam er mit den Händen durch die Luft fuhr. – Unwillkürlich mußte er über ihn lachen. Aber dann fand er seine plötzliche Unbotmäßigkeit derartig ungeheuerlich, daß er beschämt und verwirrt sein Antlitz senkte.

»Ich habe die gesuchten Papiere nicht unter Wiesels Briefschaften gefunden«, entgegnete er schließlich 15 stockend. »Vielleicht liegen sie bei ihm zu Hause. Die Schlüssel zu seinem Schreibtisch sind in meinem Besitz.«

Der Politiker erblaßte und räusperte sich besorgt.

»Aber es hat keine große Eile damit«, sagte Herbert. Er war mit einem Male ganz leicht und ganz frei. »Wiesel hat doch keine Verwendung mehr für sie, ich habe ihn nämlich heute erschossen.«

Der Politiker tat einen kleinen, zitternden Schritt.

»Aber ich bitte Sie,« sagte Herbert, »zu Beunruhigungen ist nicht der mindeste Anlaß. Wer sucht heute nach einem verschollenen Abenteurer? Wiesel ist verreist, durchs Loch im Westen gerutscht, damit basta. Daß man ihn nicht findet, dafür ist schon gesorgt.«

Der Politiker lächelte jetzt und trug sich vergnügt. »Sie sind ein tüchtiger Bursche«, sagte er anerkennend und rieb sich geräuschvoll die Hände, »prächtige Ideen haben manchmal die Leute. Die Auslandsreise des Herrn Wiesel ist allein ein Stück Gold wert. Grüßen Sie ihn, wenn Sie ihm schreiben.« Er wandte sich ab, wie um begreiflich zu machen, daß die Audienz zu Ende war. Nachdenklich setzte er sich an seinen Schreibtisch. Man hörte deutlich, wie er aus einem Schubfach ein schweres Aktenstück heraushob und darin blätterte. So geht das also, dachte er, der Wiesel ist nun hinüber. – Und jetzt strich ihm doch ein Unbehagen, kühl und quälerisch wie der schmale Wind, der den Gewittern vorausläuft, über den Rücken. Ohne es zu wissen, machte er ein paar zaghafte Gebärden mit der Hand.. »Ich habe keine 16 Schuld«, sagte er dabei vor sich hin. Angestrengt überlegte er irgendetwas, das er sofort wieder vergaß. »Der Holzdorf hat viel mehr getan, als ich eigentlich wollte«, memorierte er dann. »Vielleicht habe ich es gewünscht? Gar nichts habe ich gewollt«, behauptete er plötzlich fast laut, »gar nichts habe ich gewünscht.« Eine Weile suchte er nun nach dem Unterschied zwischen Wille und Wunsch. Zuletzt begütigte er sich bei dem Gedanken, daß er allenfalls seinen Wünschen, keineswegs aber seinem Willen Ausdruck verliehen hatte.

Er blickte auf.

Herbert stand noch immer auf der gleichen Stelle. Ich soll den Wiesel grüßen, dachte er und begriff es nicht.

»Gute Nacht«, sagte der Politiker unfreundlich. Da merkte der Junge erst, daß er gehen sollte. Er richtete etwas an seiner Krawatte und trat an die Tür.

»Vergessen Sie's nur nicht,« rief der Politiker noch hinter ihm drein, »morgen früh bringen Sie mir Wiesels Papiere!«

Herbert hatte die Stube eben verlassen, als Lehgarbe zu dem Politiker trat. Lautlos war er aus dem Nebenzimmer auf den Mann zugeschritten, so lautlos, daß der vor Schreck taumelte, als Lehgarbe unversehens neben ihm stand. »Ach Sie sind es«, beruhigte er sich und erkannte ihn. »Sie sind es.« Er entschloß sich, den verwundenen Schreck durch einen überlegenen Tonfall zu verwischen und auszugleichen: »Eine erfreuliche 17 Nachricht habe ich für Sie, Herr Direktor, Herbert Holzdorf hat den Spitzel Wiesel heute abend im Grunewald erschossen.«

Lehgarbe schmunzelte vergnügt vor sich hin. »Weiß es schon, weiß es schon«, und er tänzelte aus Entzücken, als der Herr Politiker vor Staunen den Mund aufriß. – – »Ich habe mir nämlich erlaubt zu lauschen«, bequemte er sich endlich zu erklären. »Sie werden verstehen, daß ich äußerst neugierig gewesen bin.«

»Gewiß, gewiß, Herr Direktor,« der Politiker bemühte sich mit fast peinlicher Diensteifrigkeit, Verständnis wie volle Billigung auszudrücken, »gewiß. Übrigens, der Junge hat uns da aus einer bösen Patsche geholfen. Man sollte sich ihm ein wenig erkenntlich erzeigen.«

Lehgarbe kicherte verächtlich in sich hinein: »Ich möchte Sie nur vor Taten gewarnt haben, die unter Umständen ein Mitwissen zu deutlich erweisen«, meinte er und wurde wieder ernst. »Das gute Herz spielt einem für gewöhnlich die bösesten Streiche. Ich für meine Person will mit der ganzen Geschichte nicht das Geringste zu tun haben, sobald Holzdorf die Papiere zurückgebracht hat. Ich finde, diese Dummheit, einen Attentatsplan gegen den Minister schriftlich zu fixieren und ihn obendrein noch in unsaubere Hände geraten zu lassen, genügte vollkommen. Ich habe keine Lust und keine Veranlassung, mich in einen Mordprozeß verwickeln zu 18 lassen, als Zeuge nicht und schon gar nicht als Angeklagter.«

Der Politiker krauste die Stirn: »Ach, das kommt überhaupt nicht in Frage«, erklärte er nach kurzem Nachdenken überzeugt. »Für mich ist Wiesel ins Ausland gefahren. Im übrigen werde ich Holzdorf, so schnell, wie es mir möglich sein wird, in die Provinz beordern lassen. Inzwischen kann hier langsam Gras über die Affäre wachsen; sollte doch etwas herauskommen, kann man dem Jungen ja einen zweiten Paß zur Verfügung stellen.«

»Tja, mir soll es recht sein – tun Sie, was Sie für gut erachten, ich habe diesen – wie heißt er gleich – Holzdorf Gott sei Dank nie kennengelernt«, und mit dieser Behauptung beschloß der Herr Lehgarbe diese nächtliche Unterhaltung . . .

Herbert hatte im Nachbarzimmer Erich Borchert getroffen. Unter seinen politischen Freunden mochte er ihn wohl am besten leiden. Erich war ein lustiger kluger Junge, gut gewachsen und siebzehnjährig wie er selbst. Sie hatten einige Belanglosigkeiten gesprochen, über die gegenwärtige politische Situation diskutiert, nun waren sie auf dem gemeinsamen Heimwege. Das Gespräch war ins Stocken geraten – junge Leute erschöpften leicht die Möglichkeiten ihrer Unterhaltung – und Herbert war seinen Gedanken zurückgegeben, diesen vielen verzweifelten Gedanken, die ungeordnet und unkontrollierbar auf ihn einstürmten.

19 Niemals hatte er es für wahrscheinlich erachtet, bald eine Tat, die er so verhältnismäßig leicht verübt hatte – denn Angst und Schrecken wie auch die Ohnmacht waren seinem Gedächtnis schon fern – daß eine so leicht verübte Tat ihn nachträglich beunruhigen könnte. Im Gegenteil, er erinnerte sich sehr klar, daß er über Verbrecher, die nach ihren Vergehen schwankend geworden, gehöhnt hatte, ja entsann sich sogar einer Äußerung: Ein Täter, über den seine Tat eine solche Macht gewinnt, daß sie es vermag, ihn zu Dingen zu treiben, die nicht von vornherein in seinem Willen gelegen waren, ist nicht wert, jemals mit einer Tat begnadet worden zu sein.

Nun, nun, seine Tat hatte ja keine Macht über ihn erlangt. Alles vollzog sich planmäßig und nach seinem Willen. Er versuchte zu pfeifen. Er würde nie, niemals schwankend werden oder zu zweifeln beginnen.

Aber einen seltsamen Druck verspürte er, irgendwo in der Magengegend oder in den Eingeweiden. Es fiel ihm auch wieder ein, wie sonderbar sich vorhin der Führer benommen hatte: »Grüßen Sie den Wiesel«, hatte er ihm gesagt. Hatte er etwa die Geschichte von der Abreise, diesen romantischen Bericht über ein spurloses Verschwinden, den man sich für den Eventualfall erklügelt hatte, für Ernst genommen? Ich habe ihm doch gesagt, daß ich den Wiesel erschossen habe, überlegte Herbert. Es ist wohl nicht denkbar, daß ein Politiker das Wichtigste überhört.

20 Jäh stieg ein Verdacht in Herbert auf.

Mein Gott, sie wollen dich allein lassen, dachte er, und er blieb zitternd und wie verloren mitten auf der Straße stehen. Sie wollen dich allein lassen, hundsföttisch allein, mit deiner Tat, mit deiner Drangsal und mit deinen Zweifeln.

Und ihm wurde offenbar, daß sich schon etwas Fremdes in seinen Glauben gedrängt, daß er schon mit dem Zweifeln begonnen hatte.

In diesem Augenblick klopfte ihm jemand auf die Schulter. »Ja wo bleibst du denn«, hörte er eine vertraute Stimme fragen, »ich war schon ein gutes Stück vorausgegangen und bin wieder umgekehrt, weil du gar nicht kommen wolltest. Dein Geschäft hättest du wirklich in kürzerer Zeit verrichten können.«

Herbert spürte, wie in ihm die Spannung sich löste, dennoch begriff er erst ganz allmählich, daß der Sprecher wahrscheinlich Erich Borchert war.

Er ging mühselig einige Schritte vorwärts. »Mir ist gar nicht wohl heute«, entschuldigte er sich flüchtig. »Die Anforderungen der Partei. – Ich bin sicherlich krank und überarbeitet.«

Erich fand nun, daß er blaß aussähe, aber Herbert bestritt das und schien ganz plötzlich erbittert.

Von da ab schritten sie schweigend.

Erst vor Herberts Haustor blieben sie wieder stehen. Hatten sie auf dem Weg auch wenig zu reden gewußt, als sie sich verabschieden sollten, waren die beiden jungen 21 Menschen voll von vielen Worten, fiel ihnen dies und jenes ein, das sie sich noch wichtig zu sagen hatten.

Das ging denn so zehn Minuten lang unermüdlich hin und her. Erich sah auf die Uhr. »Donnerwetter,« meinte er müde, »nun ist's aber höchste Zeit nach Hause zu gehen. Der Vater wird wieder Reden machen . . .«

Aber Herbert nahm von dieser Äußerung nicht die geringste Notiz, und bald hatte er den Kameraden in ein neues Gespräch verstrickt. Endlich erschöpfte sich auch seine Erfindungskraft. – Er hatte die letzte Viertelstunde fast ausschließlich allein gesprochen. – Beschämt merkte er, wie sehr er sich quälen mußte, um noch etwas hervorzubringen.

Aus dem Dämmer vom nahen Kirchturm her schlug es halb vier.

»Jetzt kann ich nicht mehr nach Haus,« flüsterte Erich, »sonst gibt's wieder heillosen Zank.« Er zerdrückte zwischen den Mundwinkeln ein Gähnen. »Nimm mich doch mit herauf zu dir«, bat er. »Ich werde daheim erzählen, daß wir auf Nachtübung waren. Die sind ja erst in der Frühe zu Ende, und der Alte feiert mich außerdem noch als Helden.«

Das ist wunderbar, dachte Herbert. »Aber komm doch«, drängte er plötzlich, und voll tiefer und glockenreiner Freude schloß er die Türe auf.

Das elektrische Licht im Treppenhaus wollte nicht funktionieren. Es war fast ganz dunkel hier. Die kleinen Milchglasfenster ließen nur wenig von der 22 schwachen, schmalen Helligkeit herein. Sie stiegen langsam und vorsichtig nebeneinander die vier Stockwerke hinauf. Draußen sangen schon zwei Vögel. Mit einem Male spürte Herbert Erichs warmen Körper. Da wußte er, daß er nicht mehr allein war. Nun ist einer bei mir, dachte er. Nun wird einer diese Nacht mit mir teilen, diese unheimliche, scheußliche, verfluchte Nacht.

– – – Spät erst schliefen sie ein. – Und ihr Schlaf war wider Erwarten fest und traumlos.

*

Als Erich um acht Uhr gegen Herberts Bett trommelte, stand im Fenster klar und durchsichtig wie ein kostbares Glas ein goldener Herbstmorgen.

Im Zimmer war eine kleine Unordnung, wie sie nach verwachten Nächten in allen Zimmern ist.

Herbert rieb sich die Augen. So schwer erwachte er jeden Morgen, so schlafbetäubt, so trunken von vergessenen Träumen – wie ein kleines Kind.

»Du scheinst mir noch recht müde zu sein«, wunderte sich Erich, der halb angezogen schon im Zimmer herumturnte. »Also ich bin ganz frisch; eine durchbummelte Nacht schmeißt mich noch lange nicht um.«

Herbert richtete sich linkisch hoch. Sein Kopf schmerzte gelinde. Er hatte dies benehmende Gefühl, irgend etwas müsse in der Stube sein, was nicht hinein 23 gehöre, was ihn nun auf eine hämische und geheimnisvolle Weise bedrücken könne.

Vielleicht schwankten die Luft oder der Boden – aber da begriff er auch schon, daß es der helle Sonnenschein in dem Zimmer war, der ihn ängstete und verwirrte.

Die Sonne bringt es an den Tag, fiel ihm ein. Mühsam schnitt er eine Grimasse, »So ein Quatsch,« versuchte er sich zu beruhigen, »so ein Quatsch.« Aber da stand der Erich neben ihm. »Du könntest mir wenigstens ›Guten Morgen‹ sagen,« schmollte er. »Überhaupt hast du noch kein Wort geredet, so lange, wie du nun schon wach bist.« Er beugte sich über ihn: »Was bist du nur sonderbar, Herbert, hast du mir denn gar nichts zu erzählen?«

Herbert war immer noch benommen von Schrecken und Schlaf. Was soll ich ihm wohl zu erzählen haben? überlegte er. Vielleicht will er mich aushorchen.

Aber dann lachte er bitter: »Pfui Teufel, so mißtrauisch bin ich geworden«, und wie um seinen häßlichen Gedanken wieder gut zu machen, strich er verschüchtert und liebevoll über Erichs Hand und sagte sehr leise: »Mein lieber kleiner Junge –«

Der ganze Raum war plötzlich in milde und weiche Zärtlichkeit getaucht.

Ein unstillbares Verlangen zu schlafen, war mit einem Male in Herbert. »Gar nicht mehr aufwachen,« stammelte er gierig, »gar nicht mehr aufwachen.«

24 Jetzt beneidete er ihn fast, diesen stillen Mann da draußen im Walde. Der hatte alles hinter sich, was quälte und erniedrigte, was lärmte, drängte und in den Kampf rief, in diesen lächerlichen, zermürbenden Kampf der tausend Tage, in dem man freudlos wurde, einsam und schuldig.

Schuldig – –?

Herbert machte zwei spärliche, abwehrende Gesten.

Dieses Gefühl der Schuld schien ihm, so drückend und schwerwiegend es auch in ihm emporwuchs, deplaciert zu sein, unwürdig und ungehörig. Er hatte durch seine Tat Männer vor Unheil bewahrt, die er für nützlich, groß und verehrungswürdig erachtete, die Aufdeckung des Mordes, der an einem Schädling geplant war, vereitelt. Seine Tat war eine vaterländische gewesen. – Eine Heldentat.

Er war unschuldig, ja zu beloben, ganz wie man wollte. Und dennoch wühlte es in ihm.

Gott, wo ist die Wahrheit?

Er wußte gar nichts mehr. – Und dieses verfluchte Sonnenlicht. Daran war keineswegs zu denken gewesen, die Sonne – die Sonne schmiß ihn aus seinem Programm. Einen Augenblick lang sah er den Wiesel fast leibhaftig vor sich liegen. Wenig von Erde bedeckt, aber überströmt von einer riesigen flutenden Sonne. Eine ungeheuerliche Lichtwelle ist durch den Wald gegangen, dachte er noch. – – – Dann drehte sich das Zimmer.

Wie ein geprügelter kleiner Hund kroch Herbert unter 25 die Bettdecke, in eine Umdunkelung hinein, die vieles zu tilgen versprach.

»Aber was hast du denn nur?« fragte Erich den Schluchzenden zaghaft. Er riß die Decke zurück und hob ihn mit ängstlichem Scherz nun in die Höhe. – – –

Nie hat es Herbert klar zu erkennen vermocht, wie es möglich wurde, daß er seine Tat verriet.

So mag es am ehesten geschehen sein, daß ihn seine Erinnerungen überfielen, daß ihn seine Gefühle überstürzten, so überstürzten, daß er gleichsam im Zwange diese Aussage machte: »Ich habe getötet.«

Denkbar ist auch, daß das Sonnenlicht, das kalt und betäubend auf ihn eindrang, als ihn Erich aus der schwachen Begütigung der umdunkelnden Decke hob, daß das Sonnenlicht ihm das Geständnis entriß.

Aber denkbar ist ja so vieles, daß man den letzten Anhaltspunkt verliert, wenn man zu denken beginnt.

Und jemand, den etwas aus der Bahn geworfen hat, jemand, der durch Nebel und mancherlei Finsternis tappen muß, darf sich nicht noch weiter verspinnen, darf sich nicht verirren in die vagen Bezirke undurchsichtiger Gedanken.


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