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Zehntes Kapitel.
Die Taube ist scheu

1

Mit einer galanten Verbeugung bot Dr. Zimmertür Gräfin Sandra, die sich noch nicht von ihrer Verblüffung erholt hatte, den Arm. Während der Astrologe langsam nachfolgte, geleitete er sie das dunkle Gewässer des Bacino Orscolo entlang zum Markusplatz hinauf. Unmittelbar nachdem sie den Torbogen passiert, bog der Astrologe nach links ab und führte sie in ein kleines Café, das zwei niedrige Stockwerke hatte. Sie stiegen die Treppe zum ersten Stock hinan und nahmen an einem Fenstertischchen Platz. Von da hatten sie freie Aussicht über die Piazza, die von elektrischem Licht überflutet dalag. Die Menschenmassen strömten auf und ab, hin und her, mit der monotonen Kreisbewegung eines stagnierenden Gewässers. Es war wie ein Symbol dessen, welche Rolle die Stadt der Dogen jetzt in der Welt spielte.

»Wie«, begann sie, »wie um Himmels willen –«

»Ich bin Ihnen die ganze Zeit gefolgt«, erklärte er. »Ich sah Sie auf dem Markusplatz, ohne von Ihnen gesehen zu werden, und seither bin ich keinen Augenblick von Ihrer Seite gewichen.«

»Aber wie kommt es, daß Sie in Venedig sind? Und daß Sie Signor della Croce kennen?«

»Kennen Sie Signor della Croce, wenn ich fragen darf?«

»Gewiß! Er gehört zu meinen ererbten Bekanntschaften – meinen ererbten Aktiven könnte man sagen! Signor Donati weiß es. Aber lassen Sie uns später von ihm sprechen! Erzählen Sie!«

Der Doktor sah einen Augenblick auf die Piazza hinunter, gleichsam ein Antlitz in dem Strom der Vorbeitreibenden suchend. Dann sah er sie mit einem um Verzeihung bittenden Lächeln an.

»Ich wollte nur sehen, ob er vielleicht schon wieder dort unten ist. Alles in Venedig spielt sich ja auf dem Markusplatz ab. Aber er wird wohl nicht sobald kommen. Er hat es zu eilig, Etienne zu verhören und sich Aufschlüsse über mich zu verschaffen.«

»Sprechen Sie von della Croce?«

»Ja.«

»Wer ist Etienne?«

»Etienne sitzt augenblicklich am Rio San Geronimo in dem Hause Nr. 27 gefangen, dessen Besitzer von seiner wiegenden Gondel aus Etiennes Einzug in die Wohnung beobachtete.«

»Besitzer? Ist das della Croce?«

»Ja. Sie haben ja selbst gesehen, wie unsanft er Etienne sein Entree halten ließ, – so als wäre er ein Klavier oder eine Kohlenkiste. Und nur deshalb, weil Etienne mein Chauffeur ist! Das war der zweite Triumph Saturns. Der erste ereignete sich in St.-Jean-de-Maurienne nächst der italienischen Grenze. Da wurde Merkur zu Boden geworfen, aber dank Etienne war er, bevor man bis zehn zählen konnte, wieder obenauf. Und wie ich schon sagte, ich tippe auf Merkur als Sieger im Knock-out der dritten Runde. Das ist es, was ich praktische Astrologie nenne! Was sagt Signor Donati?«

Der Astrologe, dessen Stirn seit dem ersten Auftreten des Doktors wolkenumhüllt war, schien im Namen seiner Wissenschaft das Wort ergreifen zu wollen, aber Gräfin Sandra gebot ihm mit dem Zeigefinger an seinem Munde Schweigen.

»Lassen Sie mich das Verhör führen«, sagte sie. »Sie sind Partei in der Sache, und man kann von Ihnen kein unparteiisches Urteil erwarten. Jetzt, Doktor, wenn wir gute Freunde sein wollen, verlange ich, daß Sie erzählen, anstatt rätselhafte Andeutungen zu machen und über Astrologie fachzusimpeln! Verstehen Sie!«

Er sah seinen Konkurrenten, dessen Stirn sich noch nicht erhellt hatte, neidisch an.

»Reden ist Silber«, sagte er, »aber nachdem ich gesehen habe, wie Sie Signor Donati zum Verstummen brachten, glaube ich fester denn je, daß Schweigen Gold ist!«

Sie lachte ein wenig befangen.

»Wollen Sie wirklich, daß ich zwischen zwei stummen Personen bei Tisch sitze?« fragte sie. »Erzählen Sie! Wie kommt es, daß Sie gerade jetzt hier auftauchen? Und wo kommen Sie her?«

Er sah sie mit demütigen Hundeaugen an.

»Ich komme aus Straßburg«, sagte er, »der Stadt, dessen berühmtestes Produkt Ihnen so antipathisch ist.«

Sie zog die Augenbrauen fragend zusammen.

»Was in aller Welt machten Sie in – in Straßburg?«

Er antwortete gelassen:

»Ich löste dort das Geheimnis Ihres Traumes und Ihrer einzigen Zwangsvorstellung.«

Sie flammte in Enthusiasmus auf.

»Ist das wahr? Dann können Sie mehr als Dona –, als Signor Donati!«

Der Astrologe schien im Begriff, das Siegel zu brechen, das in so entzückender Weise auf seinen Mund gedrückt worden war, aber sein Konkurrent beugte dem vor.

»Wer von uns beiden mehr kann, das wird die nächste Zukunft lehren. Aber ich bin schon überzeugt, daß nicht ich der Gewinnende sein werde!«

Sein Nebenbuhler warf sich in die Brust. Aber die junge Dame, die der Gegenstand des Wettbewerbs war, hatte nur für den Doktor Augen.

»Haben Sie wirklich meinen Traum gelöst? Erzählen Sie doch, erzählen Sie!«

Wieder glitt der Blick des Doktors über den Markusplatz, auf dem die Menschenmasse hin und her strömte, auf und nieder wie das Wasser hinter einem Katarakt. Lange sah er über das Gewühl von Gestalten und Gesichtern hin. Schließlich fragte er mit einem Tonfall, der zugleich überredend und unglücklich klang: »Darf ich nicht mit dem Erzählen, was Ihr Traum bedeutet, noch ein bißchen warten?«

»Warum? Wenn Sie ihn doch gelöst haben?«

»Ja, aber – aber ich möchte die Erklärung gerne für später aufschieben.«

Sie gab sich gar keine Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen, und der Astrologe war nicht bestrebt, sein Mißtrauen zu bemänteln. Der Doktor musterte sie beide aufmerksam, und ein kleiner Seufzer entschlüpfte ihm. Endlich sagte sie:

»Wie Sie wollen. Straßburg ist ja eine sehr interessante Stadt, nicht?«

Ihr Tonfall widersprach ihren Worten. Signor Donati lächelte triumphierend. Der Doktor sah tief unglücklich aus, als er erwiderte:

»Ich studierte in der Bibliothek.«

»So? Gab es da etwas für Sie zu studieren?«

»Ja. Unter anderem Marco Polos Reisen.«

Sie sah erstaunt aus.

»Marco Polos Reisen? Das ist aber komisch. Das war auch eines der Lieblingsbücher meines armen Vaters.«

»Das war einmal die einzige Lektüre Ihres Vaters«, sagte er. »Einmal vor zwanzig Jahren.«

Sie zog die Augenbrauen empor.

»Woher wissen Sie das?«

»Es ist mir gelungen, es durch einwandfreie Zeugen festzustellen – durch den einzigen einwandfreien Zeugen, der noch existiert, Monsieur Halberlé in Straßburg.«

»Kannte er meinen Vater?«

»Er erinnerte sich seiner, als ich ihm erzählte, daß Ihr Vater vor zwanzig Jahren seinen eigenen Lieblingswein trank.«

Sie lächelte.

»Und woher wußten Sie das?«

»Durch den Weinkellner Joseph im Hotel Turin, wo Ihr Vater damals wohnte.«

»Hotel Turin? Da habe ich auch dort gewohnt?«

»Ja. Erinnern Sie sich vielleicht daran?«

Seine Stimme war erwartungsvoll. Aber ihre Gedanken waren auf ein Seitengleis abgewichen.

»Wissen Sie, was mein Vater behauptete?« fragte sie. »Daß wir in gerade absteigender Linie von Marco Polo abstammen.«

Er wurde Feuer und Flamme.

»Ist das wirklich wahr? Natürlich von der weiblichen Linie? Messer Marco hatte ja nur Töchter! Aber das erklärt vieles – ja, vieles!«

Sie sah total verwirrt aus.

»Was erklärt was? Daß mein Vater behauptete, daß wir von Marco Polo abstammen? Darüber gibt es Papiere in den Archiven – aber ich begreife nicht, was das –«

»Was das erklärt? Es erklärt, wenn nicht ganz, so doch zum großen Teil, warum Ihr Vater ursprünglich auf die Idee kam, Marco Polo zu studieren. Es erklärt sein Interesse für gewisse Seiten in Messer Marcos Geschichte, die man sonst nicht beachtet hat. Und dadurch, daß es dies erklärt, erklärt es unter anderem auch, warum ich gerade jetzt hier in Venedig sitze. Daß Sie und Signor Donati hier sitzen, beruht ja auf anderen – wir wollen sagen – astrologischen Ursachen.«

Er sah von ihr zu Signor Donati mit zwei melancholischen, braunen Augen. Sie errötete leicht und schien dann irritiert.

»Jetzt sprechen Sie schon wieder in Rätseln! Sie wissen doch, daß ich Ihnen das verboten habe! Was in aller Welt kann die Abstammung meines Vaters von Marco Polo damit zu tun haben, daß Sie hier sitzen? Und was hat Ihr Studium Marco Polos damit zu tun, daß wir heute abend Signor della Croce einen Menschen überlisten und gefangennehmen sahen, der, wie Sie behaupten, Ihr Chauffeur ist?«

Der Doktor vergaß seine Wehmut und kicherte befriedigt.

»Er hat Etienne nicht überlistet! Ich habe Etienne mit der Order ausgeschickt, sich überlisten zu lassen!«

»Aber wenn Sie mir jetzt nicht gleich sagen, was das mit Marco Polo zu tun hat, so schreie ich laut, hören Sie, und reiße Sie am Bart!«

Der Doktor sah nicht aus, als ob ihn diese Strafe unangenehm berühren würde, aber von ihrem Blick gebannt, begann er zu erzählen. Er berichtete seine Erlebnisse von dem Augenblick, als er zuerst Signor della Croce ihr in Amsterdam nachspionieren sah, bis zu dem Moment, wo Signor della Croce ihm ein kostbares Manuskript in der Straßburger Bibliothek stahl, und weiter, bis er und der getreue Schmidt auf Signor della Croces Betreiben eben wegen dieses Diebstahls in St.-Jean-de-Maurienne nächst der französisch-italienischen Grenze verhaftet wurden.

Da sank Merkur, von einem Uppercut Saturns getroffen, zu Boden.

»Signor Donati hatte mir ritterlicherweise geschrieben und mitgeteilt, daß der böse Saturn, der über Gefängnis und Einsperrung herrscht, darauf lauere, meinen Stern Merkur zu besiegen, doch, aufrichtig gesagt, ich hatte seine Warnung nicht ernst genommen. Aber in St.-Jean-de-Maurienne mußte ich ihre Wahrheit erkennen. Die Gendarmen in diesem kleinen Nest waren unerbittlich, und wäre nicht der treue Etienne gewesen, weiß Gott wie es gekommen wäre. Als der Gefängniswärter zu Besuch in seine Zelle kam, überwältigte er ihn, band ihn, nahm ihm die Schlüssel weg und befreite mich, alles im Laufe von fünf Minuten. Vielleicht spielte es auch eine gewisse Rolle, daß er und der Gefängniswärter alte Schützengrabenkameraden waren – jedenfalls habe ich nie jemanden, der gebunden und geknebelt wurde, weniger protestieren hören. Wir mußten unser Auto im Stich lassen, aber ein paar Stunden später waren wir über die Grenze – brrr, wie kalt es da oben war – und auf dem Wege nach Venedig. Signor della Croce selbst hatte sein Auto in Modane zurückgelassen und war mit dem Zug weitergefahren. Infolgedessen kamen wir kaum sechs Stunden nach ihm hierher. Aber das war ausschließlich Etiennes Verdienst.«

»Und Signor Donatis«, erinnerte sie mit einem beinahe zärtlichen Seitenblick auf den Astrologen. »Er hat Sie vor Saturn gewarnt. Vergessen Sie das nicht!«

»Ich vergesse es nicht!« sagte der Doktor.

Signor Donati runzelte gedankenvoll die Stirn.

»Sollte der Chauffeur unter der Venus geboren sein? Als ich das Horoskop des Doktors stellte, bemerkte ich einen Einfluß der Venus, der der verhängnisvollen Bestrahlung des Saturns in gewissem Maße entgegenwirkte. Ja, ganz gewiß steht der Chauffeur unter dem Schutz der Venus.«

»Die einzige Person, von der ich das zu behaupten wagen würde«, sagte der Doktor, »befindet sich hier in der Gesellschaft.«

Er verbeugte sich demütig vor Gräfin Sandra.

»Sie haben recht«, erklärte Signor Donati ernsthaft. »Die Gräfin di Passano ist tatsächlich im Zeichen der Venus geboren.«

»Man muß nicht Astrologe sein, um es zu sehen«, murmelte der Doktor.

Gräfin Sandra lächelte.

»Sie haben einiges erklärt«, gab sie zu. »Aber lange nicht alles. Sagen Sie mir vor allen Dingen: Ist es wirklich Ihr Ernst, daß Sie Ihren Chauffeur mit Absicht von della Croce überlisten und einfangen ließen?«

Er nickte.

»Und warum das?«

»Das werde ich Ihnen sofort sagen: damit er della Croce soviel Lügen als möglich über mich aufbindet. Ich bezweifle nicht, daß das schon geschehen ist, und daß Etiennes Gastgeber steif und fest glaubt, daß es Etienne gelungen ist, durchzubrennen, während ich noch in dem Arrest in St.-Jean-de-Maurienne sitze, wenn ich auch jeden Augenblick frei werden kann. Das erstere hat zur Folge, daß er freie Hand zu haben glaubt, das letztere, daß er sich beeilen wird, zu handeln.«

Sie grübelte eine Zeitlang über die Antwort nach. Dann sagte sie: »Meine zweite Frage ist: Warum fuhren Sie gerade nach Venedig, als Sie aus der Gefangenschaft befreit waren?«

Er lächelte.

»Die Antwort ist sehr einfach. Ich wollte sehen, was Signor della Croce hier treibt.«

»Sie waren sicher, ihn in Venedig zu finden?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil ich ein gewisses Rätsel gelöst habe, das uns beide interessierte, und weil ich überzeugt war, daß er es ebenfalls gelöst hatte.«

»Was für ein Rätsel?«

Er legte das Gesicht in mystische Falten.

»Das Rätsel von Marco Polos Millionen«, erwiderte er langsam.

Sie warf den Kopf zurück und brach in ein schallendes Gelächter aus.

»Marco Polos Millionen! Lieber Doktor Zimmertür, Sie sind wirklich fabelhaft! Armer Messer Milione! Endlich wird er rehabilitiert! Solange er lebte, glaubte niemand an seine Ziffern, aber sechshundert Jahre nach seinem Tode kommt Doktor Zimmertür aus Amsterdam und bekennt seinen Glauben an sie! Sie sind beinahe noch ärger als Signor Donati, Doktor! Über die Sterne am Himmel muß man ja wohl oder übel nachgrübeln, aber welches Interesse kann irgendein Mensch auf Erden an Marco Polos Millionenziffern haben?«

Der Doktor hörte sie ruhig bis zu Ende an.

»Sie haben mich mißverstanden«, sagte er dann. »Ich sprach nicht von Messer Marcos Millionenziffern. Deren Richtigkeit hat die Wissenschaft schon längst nachgewiesen. Was ich meinte, sind Marco Polos wirkliche Millionen.«

Sie starrte ihn mit leicht geöffneten Lippen an.

»Wirkliche Millionen? In Geld oder –«

»In Geld oder Schmuck, ja, aber wahrscheinlich das letztere.«

»Die noch vorhanden sein sollten?«

»Die noch vorhanden sind!«

»Sie scherzen mit mir!«

»Ich scherze nicht.«

Weder sie noch der Astrologe suchten jetzt noch ihre Gefühle zu beherrschen. Skepsis ist ein zu milder Name dafür. Der Doktor gab ihnen Zeit, ihrer Heiterkeit freien Lauf zu lassen, bevor er von neuem das Wort ergriff.

»Alles, was Sie sagen, ist ausgezeichnet, und Sie wie Signor Donati sind sehr geistreich. Aber wenn ich Ihnen all dies erzählt habe, so war es nicht nur, damit Sie sich auf meine Kosten ordentlich auslachen können. Sondern um Ihre Hilfe zu erbitten.«

»Unsere Hilfe?«

Sie hielt in ihrer Heiterkeit inne.

»Wenn Sie meine Hilfe brauchen, so ist sie Ihnen schon im voraus gewährt.«

Er verbeugte sich.

»Aber außer Ihrer Hilfe brauche ich noch die Signor Donatis – falls Signor Donati nicht der Ansicht ist, daß dies den Bedingungen unserer Wette widerspricht.«

Der Astrologe machte eine majestätische Handbewegung.

»Indem ich Ihnen jene Warnung vor dem verhängnisvollen Einfluß Saturns zugehen ließ, deren Berechtigung Sie vorhin anerkannten, glaube ich gezeigt zu haben, daß ich mit blanken Waffen kämpfe, obwohl im Kriege, in der Liebe und bei Wetten alle Mittel erlaubt sind.«

Der Doktor neigte dankend den Kopf.

»Haben Sie bemerkt, daß er nicht einen einzigen Nebensatz vergessen hat?« sagte Gräfin Sandra mit funkelnden Augen.

»Ich habe auch bemerkt, daß Signor Donati kein einziges Gebiet vergessen hat, auf dem alle Mittel erlaubt sind, weder die Wetten, noch den Krieg, noch –«

Sie unterbrach ihn rasch.

»In welcher Weise kann ein schwaches Weib Ihnen helfen? Wollen Sie mir das nicht erklären?«

»Das werde ich«, sagte er mit einem kleinen Seufzer. »Mein Auftrag an Sie ist ekklesiastischer Natur. Ich bitte Sie, morgen einen der Beichtväter von San Marco aufzusuchen.«

Sie zog die Augenbrauen mißtrauisch empor.

»Sie scherzen nicht?«

»Ich bin nie ernster gewesen. Ihr Auftrag berührt den heikelsten Punkt dieser ganzen Affäre. Sie suchen einen der Beichtväter auf, am besten einen so alten und unparteiischen als nur möglich. Zu dem sagen Sie: ›Mein Vater, ich habe eine Frage an Sie, eine Frage in einer weltlichen Sache, die zugleich ethische Tragweite hat.‹«

Der Doktor machte eine kurze Pause.

»Fahren Sie fort«, mahnte sie. »Sie sprechen fast ebenso erhaben wie Signor Donati, wenn Sie nur wollen! Was soll ich weiter sagen?«

Er nickte zerstreut.

»Sie legen die Sache weiter dar. ›Es verhält sich so, mein Vater‹, sagen Sie, ›daß ein Besitz, der einer bestimmten Person gehört, sich seit langem unter dem Dach eines anderen Mannes befindet. Dieser ahnt nichts davon, denn der Besitz ist gut verborgen; niemand würde je etwas von seiner Existenz gewußt haben, wenn nicht die Person, von der ich spreche, sie durch das Studium alter Schriften entdeckt hätte. Aber was soll nun dieser Mensch tun, mein Vater? Sagt er dem anderen, daß das kostbare Gut sich unter seinem Dache befindet, wird dieser andre es ganz gewiß als sein Eigentum ansehen, und obgleich er vorher gar nichts von seiner Existenz wußte, wird er sich für bestohlen halten, wenn jemand auch nur einen kleinen Teil davon beansprucht. Was ist da recht, und was ist unrecht? Darf der, von dem ich spreche, insgeheim von seinem Eigentum Besitz ergreifen? Er richtet sich ganz und gar nach Ihrem Worte, mein Vater. Er ist bereit, dem, unter dessen Dach sein Eigentum sich befindet, einen Anteil zu schenken. Soll er es tun, und wie groß, meinen Sie, soll dieser Anteil sein, mein Vater? Antworten Sie mir auf all dies, und Sie heben einen Stein von einem ratlosen Herzen!‹«

Der Doktor verstummte. Sie starrte ihn mit leuchtenden Augen an, halb mißtrauisch, halb von Spannung benommen.

»Sie meinen, daß – daß das Ihr Ernst ist?«

Er nickte.

»Ich meine jedes Wort, das ich gesagt habe.«

»Aber warum gehen Sie nicht selbst zu dem Beichtvater?«

Er lächelte schlau.

»Es ist anzunehmen«, krächzte er mit halbgeschlossenen Augenlidern, »daß Sie bessere Bedingungen erzielen als ein bärtiger jüdischer Doktor aus Amsterdam!«

Sie lachte hell auf. »Sie fürchten, daß für Sie die Antwort nein oder 40 Prozent lauten könnte!«

»Allerdings. Alle Menschen sind so hart gegen meine Stammesgenossen. Nun, wollen Sie die Mission übernehmen?«

Ihre Augen glitzerten vor Spannung und Fröhlichkeit.

»Da können Sie ganz beruhigt sein! Nicht daß ich auch nur ein Jota von dem Ganzen glaube! Aber ich liebe ein hübsches Märchen, wenn ich auch weiß, daß es ein Märchen ist.«

Er lächelte ebenfalls.

»Wir werden schon sehen, was Sie sagen, wenn das Märchen in Erfüllung geht!«

Dann wandte er sich an den Astrologen. Signor Donati hatte ihr Gespräch mit einer Ironie angehört, die seine lange Oberlippe noch länger als gewöhnlich machte.

»Sie, mein geschätzter Konkurrent, möchte ich um etwas ganz anderes bitten«, sagte der Doktor. »Sie haben alle Voraussetzungen, in einem Punkte zu reüssieren, wo ich total versagen würde. Und da es im Interesse der Gräfin Sandra ist –«

Der Astrologe winkte majestätisch mit der Hand ab.

»Keine Entschuldigungen! Ich habe Ihnen schon gesagt, daß meine Hilfe Ihnen zur Verfügung steht!«

»In diesem Fall«, sagte der Doktor, »möchte ich Sie bitten, daß Sie morgen vormittag das Haus Nr. 27 am Rio San Geronimo aufsuchen. Selbst kann ich mich dort nicht zeigen. Meine Gesichtszüge flößen dem Hausbesitzer Abneigung ein, und ich könnte mein Vorhaben nicht durchführen.«

»Rio San Geronimo 27? Das sogenannte Della-Croce-Haus?« fragte Signor Donati im höchsten Maße erstaunt.

»Ganz richtig und richtiger, als Sie glauben, denn ich bin überzeugt, daß Herr della Croce keinen Mangel an anderen Zunamen leidet. Hingegen glaube ich, daß er Mangel an Geld leidet, namentlich um die Leute zu bezahlen, die in seinen Diensten stehen. Das hoffe ich wenigstens, und davon möchte ich Sie bitten, sich morgen zu überzeugen.«

Der Astrologe sah total konfus aus. Der Doktor fuhr fort:

»Sie suchen das Haus auf, Sie werden von Signor della Croces Diener empfangen, Sie fangen mit ihm ein Gespräch an. Als Vorwand für Ihren Besuch können Sie ja angeben, daß Sie die Absicht haben, für einige Zeit ein Haus in Venedig zu mieten, und gehört hätten, daß dieses frei ist. Sie rekognoszieren womöglich das Terrain und suchen vor allem in Erfahrung zu bringen, ob Herr della Croce mehr als den einen Diener hat. Ich bezweifle es, denn er befindet sich ja meistens auf Reisen. Und wenn Sie merken, daß der Diener unzufrieden ist, so tun Sie, was Sie können, um ihn zu kaufen.«

»Kaufen?«

Die Stimme des andern drückte schlecht verhehltes Entsetzen aus.

»Ihn ganz einfach geradezu und schlicht kaufen«, bestätigte der Doktor, »so wie unsere gemeinsame Vaterstadt Venedig die Vasallen ihrer Gegner zu kaufen pflegte, wenn sie für Gold käuflich waren! Ich versichere Ihnen, eine legitimere Transaktion als die Ihre ist weder von Dandolo noch von Mocenigo oder irgendeinem anderen der großen Dogen Venedigs gemacht worden. Vergessen Sie außerdem eines nicht: Sie handeln im Interesse der Gräfin Sandra, und worin dieses besteht, haben Sie ja selbst in den Sternen gelesen!«

Signor Donati neigte den Kopf, endlich von der Berechtigung seiner Mission überzeugt.

»Aber was soll ich tun, wenn es mir gelingt, ihn zu kaufen?« fragte er.

»Sie sollen ihn dazu bringen, unbedingten Gehorsam zu versprechen«, erwiderte der Doktor. »Gleichviel, was es kostet, ich bezahle!«

Er wandte sich an Gräfin Sandra.

»Ich gehe jetzt«, fügte er hinzu. »Aber zuerst möchte ich Ihnen ein kleines Cadeau überreichen. Ich hoffe, Sie werden es mir zuliebe tragen.«

»Ein Cadeau?« wiederholte sie verständnislos. »Was für eine Art von Cadeau?«

Der Doktor zog ein Paketchen aus der Tasche und überreichte es ihr. Es stellte sich heraus, daß es einen Schleier enthielt.

»Den soll ich Ihnen zuliebe tragen?« fragte sie. »Haben Sie es schon satt, mein Gesicht zu sehen? Der Schleier ist tatsächlich dicht genug, um Sie von dem Anblick zu befreien!«

»Ich hätte eher sagen sollen, Herrn della Croce zuliebe«, korrigierte sich der Doktor. »Es ist von höchster Bedeutung, daß er nicht ahnt, daß Sie in Venedig sind. Ihre übrigen Insinuationen weise ich zurück.«

»Della Croce! Morgen soll ich ja auf Ihr Geheiß in die Kirche gehen. Da habe ich wohl nicht viel Aussicht, della Croce zu treffen.«

»Doch!« antwortete der Doktor mit einem glucksenden Lachen. »Gerade da haben Sie alle Aussicht, della Croce zu treffen!«

Sie starrte ihn mit unverhohlenem Staunen an. Er erhob sich und nahm Abschied.

»Ich verschwinde auf vierundzwanzig Stunden«, sagte er. »Wir treffen uns hier morgen abend um zehn Uhr. Signor Donati, ich bitte Sie, Nachrichten über eine glücklich durchgeführte Menschenfischerei mitzubringen. Sie, Gräfin, wissen, was ich von Ihnen zu hören hoffe! Und nun leben Sie wohl – und vergessen Sie nicht, den Schleier zu tragen!«

Er verschwand über die Stiege des kleinen Cafés und wurde von dem Gewühl des Markusplatzes verschlungen. Der Astrologe und sie betrachteten einander lange schweigend. Endlich zuckte Signor Donati die Achseln und sagte:

»Er ist verrückt – aber das geht mich nichts an! Was ich versprochen habe, halte ich selbstverständlich!«

Gräfin Sandra befestigte langsam den Schleier an ihrem Hut.

»Ich will nicht behaupten, daß er mir steht«, sagte sie, »aber er ist aus venezianischen Spitzen – und beinahe ebenso fein wie die Taschentücher, die Sie mir heute nachmittag nicht vergönnt haben!«

Signor Donati sah plötzlich aus, als hätte er Lust, sein Versprechen zurückzunehmen.

Sie verschwanden in der Richtung des Grand Hotel.

2

Als sie am nächsten Tage gegen zehn Uhr abends in das obere Stockwerk des kleinen Cafés kamen, wartete Dr. Zimmertür schon auf sie. Er schien sehr zerstreut, aber hörte ihre Rapporte aufmerksam an.

Gräfin Sandra stattete den ihren zuerst ab. Er war kurz.

»Die geistlichen Behörden sagten ja und ein Dritteil für den, unter dessen Dach das Eigentum sich befindet.«

»Aber keine moralischen Bedenken dagegen, daß man sich insgeheim in den Besitz der Sache setzt?«

»Das wäre ein verwickelter kasuistischer Fall, sagte mein Beichtvater. Aber da der Charakter des nichtsahnenden Eigentümers so beschaffen ist, daß er das Eigentum behalten würde, könne ein Eingriff im geheimen nicht als ungebührlich betrachtet werden.«

Der Doktor schien erleichtert.

»Und Sie, Signor Donati?«

Das Gesicht des Astrologen drückte dämonischen Triumph aus. »Er ist der einzige Diener«, antwortete er kalt, »und er ist gekauft!«

Der Doktor rieb sich die Hände.

»Ohne Risiko, daß er sich noch ein zweites Mal verkauft – Sie wissen schon, an wen?«

»Ohne irgendein Risiko in diesem Falle«, murrte sein Nebenbuhler. »Einige frühere Transaktionen mit Signor della Croce machen ihn einem solchen Verkauf äußerst abgeneigt. Er ist für fünfhundert Lire der Ihre.«

»Das ist billig! Gestatten Sie mir, sie sofort zu bezahlen.«

Der Doktor überreichte eine Banknote.

»Lassen Sie mich Ihnen beiden für Dienste danken, deren Tragweite Sie erst später ermessen werden.«

Er sah auf seine Uhr.

»Bis auf weiteres habe ich nichts anderes zu tun als zu warten. Ich hoffe, daß Sie mir solange Gesellschaft leisten wollen?«

Sie sah ihn erstaunt an.

»Solange? Wenn Sie glauben, daß ich heute abend von Ihrer Seite weiche, irren Sie sich. Denn ich vermute doch, daß sich heute abend noch allerlei ereignen wird?«

»Jawohl, heute abend. Aber wenn Sie glauben, daß ich ein schwaches Weib an einer Expedition teilnehmen lasse, die sehr leicht gefährlich werden kann, dann irren Sie sich!«

»Nicht so sehr wie Sie, wenn Sie glauben, daß ich gutwillig auf die Teilnahme verzichte.«

Sie fixierte ihn herausfordernd. Er lachte.

»›Ein Daniel ist gekommen, uns zu richten‹, heißt es wohl von Porzia«, sagte er. »Ich ergebe mich!«

Sie war sichtlich stolz auf den Vergleich.

»Und Sie, Signor Donati?« fragte sie.

»Ich folge Ihnen durch Feuer und Wasser«, erwiderte der Konkurrent des Doktors.

»Ist das aus astrologischem Interesse?« erkundigte sie sich spöttisch.

Er antwortete nicht. Sein Profil drückte eine komplette Unempfänglichkeit für Ironie aus. Eine unwillkürliche Bewunderung leuchtete in ihrem Blick auf. Der Doktor seufzte unmerklich.

»Worauf warten wir, Doktor?«

»Eigentlich sollten wir darauf warten, daß es in den kleinen Gäßchen hinter San Marco dunkel und still wird. Aber da niemand weiß, wann das der Fall ist, können wir ebensogut jetzt aufbrechen.«

Sie verließen das Café. Der Doktor führte sie unter den Bogen der Procuratie vecchie zur nordöstlichen Ecke des Markusplatzes und dann vorbei an der Torre dell' Orologio zur Nordseite von San Marco. Sie gingen über eine schmale Brücke und stellten sich in den Schatten eines alten Portals. Der Kanal, dessen Namen sie im Schein einer Gaslaterne rasch gelesen hatten, hieß Rio di Palazzo. Etwas weiter weg sah man die Rückseite des Dogenpalastes schimmern, und noch weiter weg die Seufzerbrücke.

»Was in aller Welt tun wir hier?« fragte sie. »Haben Sie uns hergeführt, um uns die Rückseite der Medaille zu zeigen, die die Touristen bewundern?«

Er kicherte.

»Das könnte man wirklich sagen! Außerdem, um eine der Schattenseiten des Lebens zu sehen, könnte man hinzufügen, wenn man melodramatisch angelegt wäre.«

»Dauert es lange, bis wir sie zu sehen bekommen?«

»Das weiß ich nicht! Es kann lange dauern, und es kann rasch gehen. Alles hängt von dem Appetit eines gewissen Herrn ab.«

»Sie sprechen in Rätseln wie gewöhnlich! Sie wissen doch, daß ich Ihnen das verboten habe!«

»Ich sah ihn um fünf Uhr hineingehen«, fuhr der Doktor unbeirrt fort. »Vor acht, neun Uhr konnte er mit seiner Arbeit nicht beginnen, nunmehr dürfte er schon damit fertig sein. So daß jetzt alles davon abhängt, wie eifrig er ist, ein Abendessen zu bekommen. Und welch großem Risiko er sich aussetzen will, um dazu zu kommen.«

Sie runzelte erzürnt die Augenbrauen.

»Rätsel, Rätsel –«

»Warten Sie!« sagte der Doktor. »Warten Sie geduldig, dann wird Ihr Erlebnis um so größer sein.«

Sie beschloß zu gehorchen. Fast eine Stunde warteten sie schweigend. Die Wolken flogen über den Nachthimmel, porzellanweiß vom Mondschein. Sie glichen Entwürfen zu Skulpturen, hier eine Danae, hier eine Europa auf dem Rücken des Stiers, hier wieder ein weißer venezianischer Schwan und eine noch weißere Leda.

»Es ist eine mondhelle Nacht«, sagte der Doktor. »Das paßt ihm nicht! Aber dieses Gäßchen hier ist einsam und der Ausgang auf dieser Seite unbewacht. Sollte er zu einem Fenster hinausklettern, das wäre eine andere Sache!«

»Sprechen Sie von della Croce?« fragte sie in erregtem Tonfall.

»Pst!« flüsterte der Doktor. »Die Uhr schlägt zwölf! Die Stunde der Diebe und der Liebenden ist angebrochen, der Mond scheint, und per amica silentia lunae – Was sagte ich? Sehen Sie dort!«

Ein Schatten löste sich langsam aus den ehrwürdigen Schatten vor ihnen und glitt das schmale Gäßchen hinab zum Kanal, den sie vorhin überquert hatten. Am Rande des Kanals blieb er einen Augenblick stehen und sah sich vorsichtig um. Die drei, die auf der anderen Seite der Brücke warteten, hatten alle den Schatten erkannt.

»Aber er kommt ja aus der Kirche!« murmelte sie. »Aus der Markuskirche.«

»Still!« flüsterte der Doktor.

Jetzt zögerte der Schatten nicht mehr. Er verschwand blitzschnell durch das Gäßchen zum Markusplatz hinauf. Sie warteten nicht länger als notwendig, seinen Spuren zu folgen.

»Vorsicht!« raunte der Doktor. »Er darf uns nicht sehen! Er nimmt sogar den Weg über den Markusplatz! Er ist frecher, als ich glaubte, und das will etwas sagen.«

An der Torre dell'Orologio angelangt, sahen sie den Mann, den sie verfolgten, zur Piazetta kreuzen. Der Astrologe und die Gräfin wollten weiter seinen Spuren folgen, aber der Doktor hielt sie zurück.

»Er gedenkt, eine Gondel zu nehmen«, sagte er. »Es ist unnötig, ein neues Wettrudern durch die Kanäle zu veranstalten. Wir nehmen den Landweg.«

Er führte sie durch die Merceria, durch ein Gewirr von Gäßchen, über Brücken und an Kanälen entlang, bis sie endlich vor dem Tor eines schmalen, ziemlich verfallenen Hauses in einem Quergäßchen standen. Der Doktor klopfte mit dem Türklopfer und schob den Astrologen vor.

»Jetzt ist die Reihe an Ihnen!« sagte er. »Jetzt wollen wir sehen, wie gründlich Sie den Diener gekauft haben! Sollte er sich als unehrlich, das heißt seinem Herrn treu erweisen, wären wir gezwungen, zu anderen Mitteln –«

Es erwies sich als unnötig. Die Türe wurde von einem gebräunten, vierzigjährigen Mann geöffnet, der sie zuerst argwöhnisch anstarrte. Bei dem Anblick des Astrologen erhellten sich seine Züge, und er beeilte sich, den Durchgang freizugeben.

»Wie heißen Sie?« fragte der Doktor. »Giacomo? Gut, Giacomo, Sie haben heute nacht frei! Wir haben verschiedene Dinge mit Ihrem Herrn zu erledigen, und dabei müssen wir ungestört sein.«

Der Diener grinste verständnisvoll, aber zaudernd. Der Doktor steckte die Hand in die Tasche und fischte eine Banknote heraus.

»Bitte schön, Giacomo! Das reicht zu einem guten Souper für heute abend und auch zu einer Fahrkarte – sagen wir mal, nach Rom.«

Der treue Giacomo sah die Banknote an und schoß die Treppen hinauf, um seine Habseligkeiten zu holen. Zwei Minuten später war er verschwunden.

»Die Luft ist rein«, sagte der Doktor. »Nun wollen wir vor allem einmal Etienne befreien.«

Sie fanden ihn in einem Gelaß im Erdgeschoß, nach allen Regeln der Kunst gebunden, aber sonst in guter Verfassung. Er starrte die Gräfin und den Astrologen erstaunt an.

»Hier haben Sie mich, Etienne«, sagte der Doktor. »Wäre ich nicht heute abend mit meinen Freunden gekommen, so wäre ich morgen mit der Polizei erschienen. In Italien können wir ja zur Polizei gehen, denn da sind wir gesetzesgehorsame, ehrenwerte Bürger, im Gegensatz zu Frankreich. Aber wenn wir die Rechnung mit Ihrem Gastgeber beglichen haben, werden wir auch in Frankreich geachtete Mitbürger sein. Lassen Sie uns nun hinuntergehen und alles zum festlichen Empfange des Hausherrn vorbereiten! Es wird nur wenige Minuten dauern, und er ist da!«

Sie hatten wirklich nicht lange zu warten. Etienne war noch damit beschäftigt, seine steifen Glieder zu dehnen, als man draußen Ruderschläge hörte und eine Gondel am Landungssteg anlegte. Jemand rief nach Giacomo, aber als der Ruf aus guten Gründen unbeantwortet blieb, stieg ein Mann ohne Hilfe aus der Gondel. Sie hörten ihn die wenigen Stufen zum Haustor heraufgehen, öffnen und wieder zuschließen. Aus taktischen Gründen hatten sie sich in zwei Gruppen geteilt, die zu den Seiten des Eingangs warteten. Als Herr della Croce das elektrische Licht aufdrehte, fanden sie die Zeit gekommen, sich vorzustellen.

»Giacomo!« rief der Herr des Hauses noch einmal. »Schläfst du, du Halunke? Ist das Souper fertig, wie ich es bestellt habe?«

In diesem Augenblick sah Signor della Croce anstatt des Dieners Giacomo Dr. Zimmertür auf sich zukommen. Er zögerte keinen Moment in der Wahl der Begrüßung. Seine Hand fuhr blitzschnell in die hintere Hosentasche, aber in demselben Augenblick, in dem sie ihr Ziel erreichte, schlossen sich von rückwärts die Arme des treuen Chauffeurs Schmidt wie ein Schraubstock um seinen Oberkörper.

Der Kampf war kurz, aber intensiv; die altersmorschen Möbel der Halle mußten daran glauben; etliche davon verloren unter der laokoontischen Umarmung Etiennes und des Hausherrn für allezeit ihren Stil. Trotzdem gelang es Herrn della Croce, den Revolver hervorzuziehen; zwei Schüsse knallten, und einer der Spiegel, die Venedig berühmt gemacht haben, fiel in einem Regen von Scherben auf die Marmorsteine des Bodens. Eine dritte Kugel nahm den Weg an Dr. Zimmertürs Nase vorbei, bevor sie eine Kristallfacette zertrümmerte. Dann gelang es dem Doktor endlich, seinem Feinde die Waffe zu entwinden. Er beeilte sich, die Stricke zu holen, die früher den treuen Etienne gefesselt hatten, und mit seiner und des Astrologen Hilfe gelang es ihm endlich, Herrn della Croces Raserei zu bändigen. Der Hausherr wurde auf eine Chaiselongue placiert, und der Doktor erhob sich schnaufend.

»Und jetzt wollen wir uns dies ein bißchen ansehen«, sagte der Doktor und wandte sich einem großen Lederportefeuille zu, das der Besiegte bei seinem Eintritt weggelegt hatte.

Er nahm es und trug es behutsam zu einem Tisch in der Mitte des Zimmers. Dann räumte er die Sachen weg, die darauf standen, holte aus einem inneren Zimmer eine Decke, breitete sie über den Tisch und öffnete das Lederportefeuille.

Einige Augenblicke blieb er stehen, den Blick in das Innere der Tasche versenkt.

»Ja, ich hatte recht«, sagte er. »Aber lassen Sie mich Ihnen ein paar Dinge erklären, Gräfin Sandra, bevor ich Ihnen zeige, wie recht ich hatte.«

Er schloß das Portefeuille wieder. Signor della Croce brach plötzlich in eine Serie von Verzweiflungsschreien, Verwünschungen und Flüchen aus, die gar kein Ende nehmen wollten. Der Doktor hörte nicht lange zu. Dann gab er Etienne einen Wink. Aus den Tiefen seiner Hosentasche zog der getreue Chauffeur ein Taschentuch, schwarz wie eine Seeräuberflagge. Der bloße Anblick genügte, Herrn della Croce zum Schweigen zu bringen, aber zur größeren Sicherheit stopfte es Etienne, mit dem Risiko, daß seine sämtlichen zehn Finger abgebissen wurden, seinem früheren ›Gastgeber‹ in den Mund.

Aller Augen hingen wie hypnotisiert an dem rundlichen, kleinen Doktor, als er wieder zu sprechen begann.

3

Er wandte sich jetzt fast ausschließlich an die Gräfin Sandra.

»Vor sechshundertdreißig Jahren«, begann er, »landete hier in Venedig ein Mann, der wundersame Taten vollbracht hatte. Er hatte ganz Asien durchzogen, das damals für alle anderen Europäer ein unbekanntes Märchenland war; er hatte Hunderte von Völkerschaften gesehen und ihre Sitten und Gebräuche kennengelernt; er hatte das Vertrauen eines fremden Despoten erworben; er war durch siebzehn Jahre sein Ratgeber gewesen und hatte drei Jahre lang eine der reichsten Provinzen regiert. Er kehrte zurück, beladen mit Reichtümern, mit Ruhm und mit Erzählungen. Er erwartete, daß man ihn mit den entsprechenden Ehren empfangen würde.

Doch er wurde tief enttäuscht. Nicht genug damit, daß man von seinen Ruhmestaten kein Aufhebens machte, weigerte man sich, auch nur ein Wort von seinen Angaben zu glauben; man machte sich über sie lustig, man nannte ihn geradezu einen Lügner, und man gab ihm einen Spitznamen, der noch Jahrhunderte an seinem Namen hängen blieb: Junker Million – Messer Milione! So dankte Venedig einem seiner größten Söhne, und man kann sich denken, wie das auf ihn gewirkt haben muß. Er zog für Venedig in den Krieg, wurde gefangen genommen und diktierte in der Gefangenschaft den Bericht über seine Reisen einem Mitgefangenen. Das änderte die Auffassung, die Venedig von ihm hatte, nicht. Der Reisebericht wurde als ein unterhaltender Abenteuerroman betrachtet, das war das Ganze. Er vermählte sich und hatte Kinder, aber wenn er erwartete, in seiner Familie mehr Verständnis zu finden, so täuschte er sich. Sie war ganz einfach nicht imstande, einen solchen Mann zu begreifen. Ich sage das« – der Doktor verbeugte sich leicht vor ihr – »bei aller Achtung für die Mitglieder der Familie, die anwesend sind.«

Sie lächelte gedankenvoll.

»Weiter«, sagte sie, »weiter! Was aber hat all dies –«

»Sechshundert Jahre später«, fuhr der Doktor fort, »vor ungefähr dreißig Jahren begab es sich, daß einer der Abkömmlinge Messer Miliones über das Schicksal seines Stammvaters nachzudenken begann. Er ging daran, seinen Reisebericht zu studieren, und bei diesen Studien baute er sich so allmählich eine Theorie auf. Seine Theorie war, daß ein Mann, der sowohl von seiner Heimatstadt wie von seiner Familie so schlecht behandelt wurde, verbittert werden mußte – so verbittert, daß er diese Verbitterung in die Tat umsetzte. War es wahrscheinlich, so fragte sich Messer Miliones Nachkomme, daß ein Mann, der mit Mißtrauen, Hohn und Spott empfangen worden war, gutwillig eine undankbare Vaterstadt und eine verständnislose Familie die Reichtümer erben ließ, die er in dem schwindelnd reichen Osten gesammelt haben mußte? Nein, das war nicht wahrscheinlich, es widersprach den innersten Gesetzen der menschlichen Natur, daß er das getan haben sollte. Aber was hatte er dann mit den Reichtümern angefangen, die er in diesen siebzehn Jahren gesammelt haben mußte und auf die er übrigens in seiner Reisebeschreibung des öfteren anspielte? Sein Testament war erhalten, aber es tat keinerlei Erwähnung von besonderen Reichtümern, weder nach jetzigen noch nach damaligen Begriffen. Es war nichts darüber bekannt, daß er der Kirche irgendeinen größeren Betrag geschenkt hätte, was ja dazumal die gebräuchliche Form war, seine Verwandten um die Erbschaft zu prellen. Man wußte überhaupt nichts, das Feld war für Hypothesen frei, und Messer Miliones Abkömmling stellte eine Hypothese nach der anderen auf. Sie hatten alle den Vorzug, nicht widerlegt werden zu können. Die Aktenstücke reichten dazu nicht aus. Aber andererseits genierten sie niemanden, und der Mann, der sie aufstellte, hatte Zeit genug zum Theoretisieren, denn er irrte seit vielen Jahren in einer Art freiwilliger Landesflucht in Europa umher.«

Gräfin Sandra war blaß vor Spannung.

»Weiter, Doktor, weiter!« flüsterte sie.

»Eines schönen Tages«, fuhr der Doktor fort, »kam der Zufall dem unermüdlichen Theoretiker zu Hilfe. Er befand sich in Straßburg, das damals eine deutsche Stadt war, und er war damit beschäftigt, zum zwanzigsten Male die Reisebeschreibung seines Stammvaters in den verschiedensten Editionen durchzugehen. Er hatte in einer der Ausgaben alle Stellen unterstrichen, die seine Theorie zu bekräftigen schienen – jene Stellen, die von den Reichtümern sprechen, die Marco Polo aus China mitbrachte, und die in einem unüberbrückbaren Widerspruch zu dem stehen, was man über seine Lebensweise in Venedig und über sein Testament weiß. Das hatte ihn nicht einen Schritt näher zur Lösung gebracht, und das konnte es auch nicht, denn das Material, mit dem er operierte, war immer dasselbe. Was er brauchte, war neues Material. Er hatte es in zeitgenössischen Schriften gesucht, aber ohne zu finden, was er suchte. Er hatte die Bibliotheken Europas erfolglos durchstöbert. Aber hier in Straßburg sollte er finden, was er suchte. Und was er fand, war dies!«

Er nahm ein in Leder gebundenes Pergamentbüchlein von einem Seitentischchen und hielt es so in die Höhe, daß alle es sehen konnten. Gräfin Sandra und der Astrologe betrachteten es mit Staunen, der treue Chauffeur Schmidt mit einem verständnisvollen Grinsen und Signor della Croce mit Augen, die vor Raserei blutunterlaufen waren. Er machte konvulsivische Bewegungen, um sich zu befreien, aber die Fesseln, die Etienne gefangengehalten hatten, bestanden die Probe. Endlich beruhigte er sich wieder, und der Doktor fuhr fort:

»Um sich heutzutage dieses Buch auszuleihen, muß man die Bürgschaft eines oder zweier bekannten Gelehrten stellen. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Ich weiß auch, daß man, wenn man langfingrig ist und leise auftritt, ohne eine solche Bürgschaft in seinen Besitz kommen kann. Welche Bedingungen man in früheren Zeiten erfüllen mußte, um das Buch zu bekommen, weiß ich nicht, aber ich weiß, daß Messer Miliones Abkömmling sie erfüllte, denn am Nachmittag des 23. Oktober vor zwanzig Jahren wurde es ihm eingehändigt. Er hatte kaum Zeit, die Hälfte durchzublättern, bis die Bibliothek geschlossen wurde. Er hatte die Absicht, am nächsten Tag seine Studien fortzusetzen. Aber es stand geschrieben, daß es nicht dazu kommen sollte. Am selben Abend noch traf er einen Landsmann, einen Venezianer, der ihn so tödlich beleidigte, daß es nur mit Blut abgewaschen werden konnte. Vermutlich rechnete er damit, daß der Graf di Passano« – der Doktor sprach den Namen halb zögernd mit einem Blick auf sie aus – »es nicht wagen würde, ihn in einem Lande zum Duell zu fordern, wo Duelle allen, außer Offizieren und Korpsstudenten, verboten waren. Aber Graf Passano tat es dennoch. Das Duell fand am nächsten Morgen in aller Frühe statt. Der Graf verwundete seinen Gegner so schwer, daß kaum Hoffnung bestand, sein Leben zu retten. Es blieb ihm nur eines übrig, wenn er nicht ins Gefängnis wandern wollte: zu fliehen. Er floh.«

Der Doktor machte eine kleine Pause und sah Gräfin Sandra unschlüssig an, deren Busen sich vor Erregung hob und senkte.

Sie forderte ihn mit einem Nicken auf, weiterzusprechen, und er tat es.

»Die späteren Schicksale des Grafen haben mit meiner Geschichte nichts zu tun. Ich will nur sagen, daß sein Interesse für Marco Polo unvergleichlich stärker geworden, ja zur Monomanie angewachsen sein muß, seit er wußte, daß es ein Buch gab, in dem er möglicherweise die Bestätigung seiner Theorie finden konnte. Zuerst sein Duell und später der Krieg schnitten ihm die Möglichkeit einer Rückkehr nach Straßburg ab. Er hatte ein einziges Kind, eine Tochter. Vielleicht« – der Doktor lächelte entschuldigend – »vielleicht ließ er sich von seinem Stammvater und dem geringen Verständnis, das dieser bei seiner Gattin und seinen drei Töchtern gefunden hatte, warnen. Ich glaube jedenfalls nicht zu irren, wenn ich sage, daß er seine Lieblingstheorie der Tochter gegenüber nie berührte – möglicherweise ein einziges Mal ausgenommen.«

Gräfin Sandra schüttelte verständnislos den Kopf.

»Er hat nie ein Wort davon erwähnt«, sagte sie. »Während meines Heranwachsens sah ich ihn ja nur ganz selten. Aber auch später – nein, Doktor, er hat nie ein Wort darüber fallen lassen. Was Sie da erzählen, mutet mich wie ein Märchen an, aber ein Märchen, das, wie ich glaube, wahr ist!«

Der Doktor neigte dankbar den Kopf. Dann wendete er sich ihrem unfreiwilligen Gastgeber zu. Sein Gesicht spiegelte dabei keine wohlwollenden Gefühle.

»Aber es gab jemanden«, rief er, »dem sich Graf Passano in einer schwachen Stunde anvertraute. Jemanden, den er auf seinen Reisen getroffen hatte, ein Venezianer wie er selbst, der Freundschaft für den älteren Mann heuchelte und diese Freundschaft dazu benützte, sich bei den verschiedensten Anlässen Geld bei ihm zu borgen – ein Mensch, der sich Ugo della Croce nannte, wenn es ihm gerade paßte, aber sonst auch anderen Zunamen nicht aus dem Wege ging. Dieser Herr erfuhr von der Theorie des Grafen. Es ist anzunehmen, daß er ihr damals keine besondere Beachtung schenkte, denn er hatte viele Eisen im Feuer, und es gibt ja Kostbarkeiten von frischerem Datum als Kublai Khans Regierungszeit in China. Aber eines Tages sah er zufällig die Tochter seines verstorbenen Wohltäters in Amsterdam. Da fiel ihm ein, daß sie noch irgendwelche Papiere ihres Vaters haben könnte, in denen nähere Einzelheiten über diese mystische Theorie standen. Er verschaffte sich Zutritt in ihr Hotelzimmer – das war für einen Mann von seiner Fertigkeit und seinem angenehmen Äußeren kein Kunststück – und sah ihre Schubladen gründlich durch. Ich weiß aus bester Quelle, daß er eine Liste der Schuldner des Grafen mitnahm, die unter anderen auch seinen Namen enthielt. Ob er auch irgendwelche anderen Papiere mit Aufzeichnungen über die Forschungen des Grafen und über jene Vision der Lösung des Rätsels fand, die ihm in Straßburg aufgeblitzt war – das weiß ich nicht, aber es ist wahrscheinlich. Denn als ich zwei Tage später in Straßburg eintraf, um eine Untersuchung in einer ganz anderen Angelegenheit vorzunehmen, war er schon da. Als meine Nachforschungen mich in die Bibliothek führten, fand ich ihn dort, und als ich auf langen Umwegen zu dem Manuskript vorgedrungen war, um das die Gedanken des Grafen Passano so viele, viele Jahre gekreist waren, und es mir ausleihen wollte, fand ich, daß ich einen Mitbewerber hatte. Das war Signor della Croce. Ich trug den Sieg davon und bekam das Manuskript, aber gerade im Augenblick des Sieges stahl mir Signor della Croce die Früchte des Sieges. Ich und mein treuer Freund Etienne jagten dem Dieb und der Diebesbeute durch halb Frankreich nach, von Straßburg bis zu den Alpen. An der Grenze seines Vaterlandes hinterließ uns unser Freund della Croce einen würdigen Abschiedsgruß, er ließ uns wegen des Diebstahls, den er selbst begangen hatte, verhaften!«

Der Doktor kicherte bei dem Gedanken an diesen gelungenen Streich, aber eigentümlicherweise wurde seine Heiterkeit von dem Urheber des Scherzes nicht geteilt. Er fuhr kichernd fort:

»Jetzt komme ich zu dem Corpus delicti, zu dem Manuskript, um das die Gedanken des Grafen Passano beständig kreisten, das mir gegen die Bürgschaft zweier Freunde anvertraut wurde und das mein Freund della Croce mir stahl, die ›Denkwürdigkeiten‹ Messer Rusticianos aus Pisa! Was enthalten sie? Sie enthalten nur eine Sache von Interesse, einen Bericht über Marco Polos Alter. In diesem Bericht heißt es, Messer Marco habe beschlossen, seiner Gattin und seinen Töchtern ein Pflichtteil zu hinterlassen, aber nichts darüber hinaus, da ihr Mißtrauen und ihre Zanksucht sie nicht zu mehr berechtigten. Ich möchte nur bemerken« – der Doktor verneigte sich höflich vor Gräfin Sandra –, »daß diese Eigenschaften sich nicht in der Familie vererbt haben! Ebensowenig dachte Messer Marco daran, seiner Vaterstadt, die ihn so schlecht behandelt hatte, etwas zu hinterlassen. Er sagt nichts darüber, was er mit seinen Besitztümern zu machen gedenkt. Aber plötzlich beginnt seine Phantasie um Tauben zu kreisen. ›Die Taube ist scheu‹, sagt er zu seinem Freund, ›und schwer zu fangen. Aber sie bringt dem Kunde, der die Kunde zu deuten versteht. Dies ist die Stadt der Tauben, und sie wachen unablässig über die größte Kostbarkeit der Stadt. Sei sanft wie die Taube und listig wie die Schlange, und du wirst das Ziel erreichen, sagt der heilige Markus, der Schutzpatron der Stadt. Gedenke dieser Worte, wenn du von meinem Tode hörst, o Rusticiano‹. Das steht ungefähr in den ›Denkwürdigkeiten‹ zu lesen, und was diese Worte auch bedeuten, für den, der sie hörte und der sie niederschrieb, hatten sie keinen Sinn, denn er sagt selbst, daß er sie als Zeichen nahm, daß Messer Marco im Fiebertaumel oder aus Altersschwäche so sprach. Aufrichtig gesagt, bedeuteten sie auch für mich nichts, als ich sie zuerst las. Auf meiner ganzen Jagd nach Signor della Croce irritierte es mich, daß ich ihm nachjagte, um ein Manuskript mit einigen belanglosen Aussprüchen wiederzubekommen – Aussprüchen, die offenbar das waren, wofür der gute Rusticiano sie hielt, das Altersgeschwätz eines großen Mannes in seiner Schwäche. Erst im Arrest in St.-Jean-de-Maurienne, in den mein Freund della Croce mich gebracht hatte, begriff ich, daß diese Worte einen tieferen Sinn hatten, und daß die Jagd nach Rusticianos altem Manuskript vielleicht doch die Mühe lohnte!«

Noch einmal kicherte der Doktor laut. Der Besitzer des Hauses murmelte Verwünschungen, die man sogar durch Etiennes Taschentuch hören konnte.

»Woran denken alle Menschen zuerst, wenn sie den Namen Venedig hören?« fragte der Doktor. »An den Dogenpalast, die Markuskirche und die Tauben, nicht wahr? Und hauptsächlich an die Markuskirche und die Tauben. ›Dies ist die Stadt der Tauben, und sie wachen beständig über die größte der Kostbarkeiten der Stadt‹. Was ist die größte von allen Kostbarkeiten Venedigs, wenn nicht die Markuskirche, diese Dichtung in edlen Steinen? ›Die Taube ist scheu und schwer zu fangen. Möge derjenige, der weniger scheu ist als die Taube, sie überlisten! Gedenke dieser Worte, wenn du von meinem Tode hörst, o Rusticiano!‹ Ich hatte diese Worte so viele Male durchdacht, daß mein erster Besuch, als ich nach Venedig kam, sich von selbst ergab. Er galt dem Markusplatz. Die Tauben, die früher auf Kosten der Republik Venedig erhalten wurden, werden jetzt von den Händen opferwilliger Touristen gefüttert. Dienstfertige Photographen erboten sich, mich mit einer Taube auf jeder Schulter zu verewigen. Andere Leute wollten mir Weizenkörner verkaufen, um sie zu füttern. Aber ich verhärtete mein Herz und ging direkt in San Marcos Kirche. Ich kannte sie schon von früher her bis in alle Winkel und Ecken, aber ich sah sie nun mit neuen Augen. Ich opferte keine Zeit für die fünfhundert Marmorsäulen oder die Mosaiken oder die Schatzkammer, ja nicht einmal für die Bronzepferde. Ich suchte eine ganz bestimmte Sache, eine Gedenktafel mit einer Taube und einem Namen. Und schließlich fand ich auch, was ich suchte.«

Die Spannung der Zuhörer war auf dem Höhepunkt angelangt. Gräfin Sandra hatte zwei rote Flecken auf den Wangen. Etienne hörte mit weit offenem Munde zu. Sogar der Astrolog hatte seine hochfahrende Skepsis vergessen. Und von der Chaiselongue folgten zwei brennende samtschwarze Augen in einem stummen Gesicht jeder Bewegung, die der Doktor machte, mit erbittertem Haß.

»Die Gedenktafel«, fuhr der Doktor fort, »war in einer Wölbung im Osten der oberen Galerie angebracht, beinahe ganz verborgen und sicherlich schon längst vergessen. Sie bot auch nichts von besonderem Interesse für das Auge. Sie zeigte das Bild einer Taube mit einer Botschaft im Schnabel – ein nicht seltenes, frommes Symbol. Ferner einige Worte auf lateinisch:

NOBILIS VIR MARCUS DE PAULO POSUIT

Das war alles. ›Der Edelmann Marco de Paulo‹, das heißt Marco Polo, ›setzte die Tafel‹.

Keine Andeutung, daß sie zum Dank für eine Erhörung oder zu Ehren eines bestimmten Heiligen aufgestellt worden war. Nur diese Mitteilung. Aber gerade ihre Kürze sagte mir genug. – Ich vertrieb mir den Rest des Tages damit, den Markusplatz im Auge zu behalten, auf dem sich ja alles in Venedig abspielt. Im Laufe des Nachmittags sah ich Signor della Croce mit einem sehr befriedigten Gesichtsausdruck aus der Markuskirche herauskommen. Ich zog daraus den Schluß, daß er das Rätsel ebenso wie ich gelöst hatte, was ja um so wahrscheinlicher war, als er ein rasch denkender Italiener ist, und ich ein träge denkender Holländer, wenn auch mit Mischblut. Ich grübelte nach, was ich nun tun sollte. Vorerst sandte ich Etienne aus und veranlaßte ihn, sich von meinem Freund della Croce überlisten zu lassen. Dann erblickte ich Sie und Signor Donati. Wir sahen gemeinsam Etiennes Überlistung mit an, wir trafen uns, und Sie waren so freundlich, mir ein paar Gefälligkeiten zu erweisen. Ich hoffe, ich habe alles erklärt?«

Gräfin Sandra protestierte mit glühenden Wangen.

»Sie haben durchaus nicht alles erklärt! Was bedeutet die Gedenktafel? Warum schickten Sie mich zu einem Beichtvater der Markuskirche? Und warum befinden wir uns eigentlich hier?«

»Drei entscheidende Fragen!« konstatierte der Doktor bewundernd. »Die Gedenktafel bedeutet ganz einfach, daß Messer Marcos Millionen dort deponiert lagen, ohne daß die Kirche darum wußte. Daß jemand in einer katholischen Kirche eine Gedenktafel aufstellt, ist noch heute sehr gebräuchlich und kam damals noch häufiger vor. Aber Messer Marco verwendete die Gedenktafel als eine Art Banksafe – und tatsächlich waren ja zu seiner Zeit die Kirchen die einzigen Stellen, wo man etwas wirklich sicher verbergen konnte. – Wenn Sie sich der Fragen erinnern, die ich Sie bat an den Beichtvater zu richten, werden Sie schon verstehen, warum ich Sie zu ihm schickte. Wenn ich zu den kirchlichen Behörden gegangen wäre, um ihnen das Resultat der langjährigen Forschungen Ihres Vaters sowie meiner anstrengenden Recherchen mitzuteilen, wäre das Ergebnis mit neunzig Prozent Wahrscheinlichkeit dies gewesen, daß sie den Schatz behalten hätten, den Messer Marco dem Finder, nicht dem Verwahrer zugedacht hatte! Nun gab mir der eigene Beichtvater der Kirche durch Sie die Erlaubnis, die Belohnung für meine Mühen zu beheben. Aber da ich trotz alledem nur ungern bei einer solchen Expedition meine eigene Haut riskieren wollte und außerdem einen erstklassigen Experten dafür zur Hand hatte, ließ ich Signor della Croce die Grobarbeit erledigen! Und darum sind wir hier, und morgen wird die ehrwürdige Kirche von San Marco jenes Dritteil von Messer Marcos Schatz empfangen, auf das sie selbst Anspruch erhob – davon

Der Doktor beendete seine Rede und schüttete mit einer plötzlichen Bewegung den Inhalt des Lederportefeuilles über den Tisch. Ein unwillkürlicher Aufschrei entrang sich allen, und ein dumpfes Stöhnen drang durch das Taschentuch des treuen Etienne. Über die Tischdecke ergoß sich eine Flut von Licht, rotes Licht, grünes Licht, blaues Licht, gelbes Licht, weißes Licht und Licht, das in allen Nuancen von Rot, Grün, Blau und Weiß schillerte. Da waren all jene Steine, die noch heute die Juwelierauslagen der ganzen Welt erfüllen, und da waren Steine, deren Namen sie nicht einmal ahnten, und die vielleicht schon seit Jahrhunderten in Vergessenheit versunken waren. Da fanden sich Perlen von reinster Taubenfarbe, Saphire und Diamanten. Aber da waren außerdem Jaspisgeschmeide, wie sie Messer Marco als charakteristisch für die Provinz Peyn erwähnt; Rubine, ›wie sie nur im Lande Balaschan zu finden sind und dem Tatarenkönig als Tribut dargebracht werden‹; und die ›Chalzedonsteine, die im Lande Ciarcian zu finden sind‹ ... Ein unwillkürlicher Schauer durchrieselte sie alle, wenn sie an die Geschichte dieser Steine dachten. Durch die Nacht des mittelalterlichen Asiens, durch Flüsse und Sandwüsten waren sie dem mächtigen Herrscher der Tataren dargebracht worden; schlitzäugige Männer mit struppigen Bärten hatten sie im Namen Kublai Khans als Tribut empfangen, sie gewogen und geprüft; sie hatten die wilden Feste am Hof des großen Khan in Xandu gesehen, wo goldene Gefäße mit Stutenmilch ihm zu Ehren kniend geleert wurden. Dann waren sie einem unbekannten jungen Manne aus dem fernen Europa zugefallen, der die Freundschaft des Herrschers errungen hatte; sie hatten eine neue Reise in breitbauchigen Schiffen rings um das ganze südliche Asien gemacht, waren wieder durch Wüsten und Flüsse nach Venedig gebracht worden – und hatten nun sechshundert Jahre im Schutze von San Marcos Tauben geruht!

Endlich schlug sie den Blick von den Steinen auf.

»Sehen Sie, Signor Donati, sehen Sie! Ist das nicht herrlich!«

Der Doktor stieß einen kleinen Seufzer aus. Ihr erster Gedanke hatte dem anderen gegolten, nicht ihm. Der Astrologe neigte ernst den Kopf.

»Das ist wirklich herrlich«, murmelte er. »Man könnte glauben, Konstellationen am Himmel zu sehen!«

Sie ließ die Hand durch Kublai Khans Juwelen gleiten.

»Mich erinnert dies an den Hoang-ho und Jang-tse-kiang«, sagte sie, »den gelben und den blauen Fluß! Aber das sind gelbe und blaue Ströme von Licht!«

Der Doktor räusperte sich.

»Meiner Ansicht nach«, sagte er, »haben wir schon lange genug unter Signor della Croces gastfreiem Dach geweilt. Etienne, sehen Sie nach, ob die Bande wenigstens bis morgen halten können! Können sie das? Gut. Signor della Croce, Sie müssen schon entschuldigen, daß Sie jetzt Etiennes Zelle nach ihm übernehmen. Sie scheint der sicherste Gewahrsam des Hauses zu sein. Sie haben selbst nicht mehr Empfindsamkeit gezeigt, als es sich darum handelte, ihre Mitmenschen in enge, dunkle Behausungen zu placieren, und Sie müssen jetzt die Konsequenzen auf sich nehmen. Morgen werden Sie aus der Gefangenschaft befreit, aber wer Sie befreien wird, das wird die Polizei von Venedig sein, und wenn ich mich nicht irre, sind Sie beide nicht besonders gut Freund. Es wäre ja äußerst fatal, wenn Sie nur ein Gefängnis mit einem anderen vertauschen sollten, aber que voulez-vous?, das ist das Risiko bei einem Beruf wie dem Ihren! Vor einer Sache warne ich Sie auf das bestimmteste, und das ist, zu versuchen, Ihre Stellung dadurch zu verbessern, daß Sie von der Affäre in San Marco erzählen und uns beschuldigen, die Erbschaft nach Marco Polo behoben zu haben. Die einzige Folge wäre die, daß man Sie ins Irrenhaus stecken würde anstatt ins Gefängnis, denn diese Geschichte wird nie ein Mensch glauben. Leben Sie wohl, Signore, und besten Dank für eine angenehme, wenn auch etwas anstrengende Bekanntschaft!«

4

Sie gingen zusammen durch die nachtdunklen Gäßchen. Der Doktor hatte ihr wieder galant den Arm geboten, aber er war kein besonders unterhaltender Kavalier. Er sprach kaum ein Wort. Er hatte einen einzigartigen Triumph gefeiert und schien weit weniger befriedigt, als wenn er fünf Gulden im Poker gewonnen hätte.

»Wohin führen Sie uns, Doktor?«

Endlich blieb er vor einem kleinen Hotel stehen. Zu ihrem Staunen sah sie, daß sie dicht vor der Rialtobrücke standen. Sie hatte den Eindruck gehabt, daß sie in die entgegengesetzte Richtung gingen. Aber so ist Venedig bei Nacht.

»Die Stunde ist spät«, sagte er, »aber andererseits brauchen wir alle etwas Stärkendes. Und meiner Ansicht nach verdient es der Tag, gefeiert zu werden!«

Er führte vier Schläge mit einem Türklopfer. Ein schläfriger Nachtportier empfing sie. Beim Anblick des Doktors erwachte er jedoch sofort.

»Alles ist geordnet«, sagte er. »Einen Augenblick, ich will nur Lorenzo wecken. Treten Sie ein, Signora, treten Sie ein, meine Herren!«

Sie traten ein. In diesem Augenblick schlug die Uhr in der kleinen Halle drei. Gräfin Sandra lächelte, amüsiert über diese originelle Festlichkeit, aber es war der Astrologe, dem sie zulächelte, und wieder stieß der Doktor einen kleinen Seufzer aus. Der Nachtportier führte sie in einen Saal im ersten Stock. Ein Emailtäfelchen an der Türe verkündete, daß dies eine Sala da nozze e banchetti war. Ein Tisch für vier Personen stand gedeckt, mit Langusten, kaltem Huhn, Salaten, Eiergerichten und Champagner. Sie nahmen Platz, alle, auch Etienne, und der schläfrige Kellner Lorenzo begann mit strahlenden Augen den Champagner zu servieren.

»Sie sehen, ich habe das Schicksal herausgefordert«, sagte der Doktor. »Ich habe das Festbankett im vorhinein bestellt. Das ist kein Vorgehen, eines vorsichtigen Gelehrten würdig, aber ich bin ja auch ein sonderbarer Gelehrter, nicht wahr?«

»Sie sind entzückend«, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln, und eine leise Röte stieg zu jenem Teil der Schläfen des Doktors auf, wo sich einstens der Haaransatz befunden hatte. Er stammelte etwas zur Antwort, aber sie hörte nicht auf ihn. Sie war schon damit beschäftigt, Signor Donati eine Reihe kleiner Malicen zu servieren, die er mit tiefstem Ernst beantwortete. Die Augenlider des Doktors blinzelten ein wenig. Beim Dessert erhob er sein Glas zu ihr und sagte:

»Es freut mich, daß ich eine Aufgabe zu Ende führen konnte, die eigentlich nicht in den Rahmen meines sonstigen Tätigkeitsgebiets fällt, und es freut mich um so mehr, als es für Sie geschehen ist. Gestatten Sie mir, hiermit meine Mission niederzulegen und Ihnen dies zu überreichen!«

Er reichte ihr das schwarze Portefeuille. Sie starrte ihn total verständnislos an.

»Sprechen Sie schon wieder in Rätseln? Das scheint bei Ihnen eine unausrottbare Angewohnheit zu sein. Von was für einer Aufgabe reden Sie denn? Und was meinen Sie damit, mir Marco Polos Juwelen zu überreichen?«

Er blinzelte schuldbewußt.

»Ich glaubte, ich hätte mich so klar wie nur möglich ausgedrückt«, verteidigte er sich. »Die Aufgabe, die ich zu Ende geführt habe, war die, Testamentsvollstrecker für den vor langer Zeit verstorbenen venezianischen Bürger Messer Milione zu sein, und was ich damit meine, Ihnen seine Juwelen zu überreichen, ist doch klar genug. Sie gehören ja Ihnen!«

»Mir!« rief sie. »Sie müssen ja verrückt sein! Warum und in welcher Weise sollten sie mir gehören?«

»Sie gehören Ihnen vor allem einmal als Erbin Messer Marcos in gerade absteigender Linie – warten Sie, unterbrechen Sie mich nicht! Ferner gehören sie Ihnen als Erbin eines genialen Mannes, der die Wahrheit entdeckte, aber verhindert wurde, seine Entdeckung zu vollenden – Ihres Vaters Luigi di Passano. Er war es, der den Weg fand und das Ziel erreicht haben würde, wenn nicht ein rein äußeres Mißgeschick ihn daran behindert hätte. Ich bin nur in seinen Fußstapfen gewandert. Noch einmal: es freut mich, sein Testamentsvollstrecker gewesen zu sein, und hiermit bitte ich um die Erlaubnis, Ihnen die Erbschaft überreichen zu dürfen.«

»Und ich weigere mich, sie anzunehmen! Sie sind derjenige, der die Wahrheit entdeckt hat, Sie haben sich durch alle Schwierigkeiten und Gefahren den Weg zum Ziel gebahnt, und Messer Miliones Erbe gehört Ihnen!«

»Es kann nie mir gehören. Ich wäre ein Grabplünderer, nichts anderes, wenn ich nur einen Augenblick daran dächte, es zu behalten. Sehen Sie das nicht ein?«

Sie zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Er fuhr fort:

»Eher als daß ich die Kostbarkeiten, die mir nicht gehören, behalte, würde ich sie mit Herrn della Croce teilen! Er hat sich ja auch durch alle Gefahren und Schwierigkeiten den Weg zum Ziel gebahnt, wie Sie sich ausdrückten! Er hat ebenso große Ansprüche auf die Kostbarkeiten wie ich. Wenn ich auch nur einen Augenblick daran dächte, sie zu behalten, wäre ich ein Kollege von ihm – was eigentümlicherweise nicht mein Ehrgeiz ist. Verstehen Sie jetzt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich sehe nur eines ein. Sie haben die Juwelen gefunden, und sie gehören Ihnen.«

»Sie gehören mir nicht. Messer Milione hinterließ sie ›dem aus seiner Familie, der klug genug sein würde, sie zu finden‹. Dieser jemand war Ihr Vater. Verstehen Sie das nicht? Porzia löste zu ihrer Zeit viel verwickeltere juristische Probleme.«

Sie lächelte.

»Sie sind ein Sophist«, sagte sie, »und das einzige, wovon Sie mich überzeugen, ist, daß Shylocks Rasse sich seit Porzias Zeiten sehr herausgemacht hat.«

»So wie Marco Polos weibliche Nachkommen sich seit seinen Tagen sehr herausgemacht haben!« erwiderte der Doktor und erhob sein Glas.

Sie lachte. Dann wurde sie wieder ernst.

»Sie wollten im schlimmsten Fall mit Signor della Croce teilen«, sagte sie. »Könnten Sie sich nicht die Möglichkeit denken, mit mir zu teilen – wenn ich auf Ihre wahnsinnigen Schlußfolgerungen einginge?«

Er schüttelte den Kopf.

Sie hob warnend den Finger.

»Überlegen Sie sich, was Sie antworten! Wenn Sie nein sagen, fällt das Ganze an San Marco zurück!«

Er rief:

»Das wäre nicht recht! Die Kirche hat keine wie immer gearteten Ansprüche an den Schatz. Das ist ein rein privates Erbe, das dort wie in einem Kassengewölbe deponiert wurde! Ich habe es Ihnen schon bewiesen, und die kirchlichen Behörden selbst haben es bekräftigt – allerdings ohne es selber zu ahnen, aber das macht ihr Urteil nur um so unparteiischer! Die Sache ist so klar, als sie nur sein kann. Die Juwelen gehören Ihnen, und wenn Sie wollen, geben Sie den Behörden der Kirche jenes Dritteil, von dem sie sprachen. Aber anstatt das einzusehen –«

»Nehmen Sie das Drittel, oder nehmen Sie es nicht?« fragte sie streng. »Zum ersten, zum zweiten –«

»Warum sollte ich das tun?« rief er. »Ich habe eine Untersuchung durchgeführt, die ich anläßlich einer Konsultation vornahm. Für die Konsultation sind Sie mir dreißig Gulden schuldig, die Sie mir in Amsterdam nicht bezahlten – Ich war der einzige in Amsterdam, den Sie nicht bezahlt haben – das ist wahr! Ich weiß es durch den Portier Ihres Hotels – aber für die Untersuchung will ich nichts haben, hören Sie, nicht das Allerge ... – Gut, ich nehme an, ich nehme an!«

»– und dritten!« ergänzte sie langsam. »Das war in der letzten Sekunde! Hätten Sie nicht ja gesagt, so wäre Messer Miliones Erbe an San Marco zurückgefallen, darauf schwöre ich. Wir sind also darüber einig. Aber Sie haben mich an eine Schuld erinnert, und das erinnert mich daran, daß Sie meinen Traum noch nicht gelöst haben! Darf ich die Lösung hören, bevor ich bezahle?«

»Sie bestehen darauf?«

»Unbedingt!«

»Wie Sie wollen. Aber dann muß ich Signor Donati und meinen geschätzten Freund Etienne bitten, uns allein zu lassen. Es ist nicht zu umgehen, daß die Lösung – hm – Familienangelegenheiten berührt.«

Der Astrologe und der treue Schmidt traten auf den Altan vor dem Festsaal. Über den Dächern Venedigs brach schon der Frühlingstag in einer Orgie von feucht flammenden Farben an. Der Doktor senkte die Stimme.

»Sie träumten, daß Sie in einem Bette lagen, das für Sie zu groß war. Plötzlich öffnet sich ein Fenster, und Sie sehen vor dem Fenster zwei Bäume. Die Bäume sind miteinander verflochten. Dann merken Sie plötzlich, daß sie in Brand stehen, Sie stoßen einen Angstschrei aus und erwachen. Dies war Ihr Traum, nicht wahr?«

Sie nickte. Ihr Gesicht war vor Spannung ganz blaß.

»Um Ihnen Ihren Traum und namentlich die Art, wie ich zu seiner Lösung gelangte, erschöpfend zu erklären, müßte ich Ihnen einen ganzen Kursus über Traumdeutung halten, und dazu haben wir ja keine Zeit, nicht wahr? Lassen Sie mich Ihnen also nur sagen, daß alles darin von Anfang an darauf deutete, daß da eine Kindheitserinnerung ›umging‹ – das zu große Bett, in dem Sie lagen, der ganze infantile Trauminhalt mit den brennenden Bäumen und so weiter. Ich bat Sie, mir von Ihrer Kindheit zu erzählen, und plötzlich ging es Ihnen auf, daß derselbe Traum Sie schon früher gequält hatte, einmal vor langer Zeit. Es war also bewiesen, daß eine Erinnerung aus der Kindheit ihm zugrunde lag, und der Charakter des Traumes als Alptraum zeigte, daß es eine unangenehme Erinnerung war, eine von jenen, denen unser bewußtes Ich aus dem einen oder anderen Grunde nicht ins Gesicht sehen will, und die der Traum, der Großwesir, der über unseren Schlummer wacht, dadurch wegzuzaubern sucht, daß er sie verkleidet und umschreibt.

Was konnte das für eine Erinnerung sein? Es war die Erinnerung an eine Szene, der Sie unfreiwillig beigewohnt hatten, daran war nicht zu zweifeln. Alle Träume bestehen aus Umschreibungen, Andeutungen und Bildern, und eine der am häufigsten vorkommenden Umschreibungen ist die, daß ›ein Fenster sich öffnet‹. Das bedeutet ganz einfach soviel wie: wir erwachen und sehen auf. Sie haben also in Ihrem kleinen Mädchenbett gelegen, Sie sind aufgewacht und haben aufgesehen. Was haben Sie gesehen? Sie haben zwei ›verflochtene Bäume‹ gesehen. Nun ist Baum eine der häufigsten Umschreibungen des Traumes für einen Menschen; der Traum redet die primitive Sprache des Kindes oder des Wilden; kleine Kinder fassen die Bäume als verwandte Wesen auf und zeichnen sie oft mit Gesichtern und lassen die Äste Arme sein. Der Blinde in der Bibel, der plötzlich geheilt wurde, sieht die Menschen ›gehen wie Bäume‹. Ihre verflochtenen Bäume waren zwei Menschen – ein Mann und eine Frau. Nach allem zu schließen, gab es nur einen Mann in Ihrem Dasein, nämlich Ihren Vater.

Unter all den Behauptungen, die von meiner Wissenschaft aufgestellt wurden«, fuhr der Doktor fort, »gibt es keine, die einen so heißen Kampf entfacht hat wie die, daß kleine Mädchen oft eine schwärmerische Liebe zu ihrem Vater hegen und kleine Knaben für ihre Mutter – und doch ist es ja eine Tatsache, der wir täglich begegnen, aber der niemand ernstliche Bedeutung zuerkennen will. Die Erwachsenen weigern sich zu glauben, daß es ernste Gefühle geben kann, bevor man erwachsen ist – und doch gibt es sicherlich keine Gefühle, die so stark sind wie die allerersten. Die Liebe unserer Kindheit und die Eifersucht unserer Kindheit ist mindestens ebenso tief wie die Liebe und die Eifersucht unserer Jugend – und daß die arg genug sein können, stellt niemand in Abrede.«

Er machte eine Pause und sagte dann plötzlich:

»Ich habe Sie genügend auf das vorbereitet, was ich zu sagen gedenke: Als kleines Mädchen beteten Sie Ihren Vater an, und als Sie eines Abends plötzlich in Ihrem Bettchen erwachten und sahen, wie Ihr Vater, damals ein noch junger, fröhlicher und übermütiger Mann, Ihre französische Gouvernante umarmte und küßte, gab Ihnen dies daher einen Schock, den Sie vielleicht am nächsten Morgen vergessen hatten, aber dessen Spuren tief, tief in Ihrem unterbewußten Ich zurückblieben. So klein Sie auch waren, wußten Sie doch, daß die Stadt, wo Sie dies erlebten, Straßburg hieß, und dieser Name verknüpfte sich unauflöslich mit der bitteren schmerzlichen Erinnerung. Kurz darauf mußten Sie Straßburg nach dem Duell Ihres Vaters Hals über Kopf verlassen. Ihr Vater gab Sie in ein Klosterpensionat, und da begann die Erinnerung in Ihren Träumen umzugehen. So allmählich verschwand sie wieder daraus, aber viele Jahre später tauchte sie abermals auf. Und warum? Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber hat nicht Ihr Vater, als er im Sterben lag, von seinen abgebrochenen Forschungen in Straßburg phantasiert und Sie ermahnt, hinzufahren und sie fortzusetzen? Ich könnte mir eine solche Erklärung denken. Er hatte ja nie mit Ihnen über seine Theorie gesprochen, aber auf dem Totenbett –«

Sie starrte ihn mit weit offenen Pupillen an.

»Doktor«, sagte sie, »Sie sind ein Hexenmeister. Ich fürchte mich vor Ihnen! Alles, was Sie gesagt haben, ist wahr, jetzt weiß ich es, jetzt erinnere ich mich! Auch das, was, wie Sie sagen, bei dem Tod meines Vaters geschah – ich hielt es damals für das Delirium eines Sterbenden, aber jetzt begreife ich.«

Sie dachte nach.

»Aber das Feuer!« sagte sie. »Warum brannten die Bäume?«

Er lächelte.

»Eine der natürlichsten Umschreibungen des Traumes! Ein beinahe ebenso schlechter Witz, wie ich sie zu machen pflege. Ist die Leidenschaft nicht feurig? Und war es nicht eine Liebesszene, der Sie beiwohnten?«

Sie hatte das Gleichgewicht wieder erlangt.

»Und meine unschuldige Zwangsvorstellung«, sagte sie mit einem Lächeln, »war, das verstehe ich jetzt, nur ein Niederschlag des allgemeinen Widerwillens, den Straßburg und alles, was mit der Stadt zusammenhing, mir einflößte. Nicht wahr? Und darum hatte ich auch den Namen meiner französischen Gouvernante vergessen?«

»Sie sind eine höchst begabte Psychoanalytikerin. Sie brauchen nur etwas persönliche Anleitung, um –«

Sie fiel ihm ins Wort.

»Noch etwas, Doktor! Was war das für eine Beleidigung, die der andere Venezianer meinem Vater ins Gesicht schleuderte? Die das Duell hervorrief!«

Er zögerte.

»Ich will Ihnen auch das sagen, obwohl es Ihnen vielleicht weh tun wird. Ihr Großvater, Graf Carlo Felice di Passano, war der oberste Mann unter dem letzten österreichischen Kommandanten von Venedig. Im Kampf um Venedig 1866 weigerte er sich, seinen Treueid zu brechen. Darum mußte er, als der Kampf zugunsten Italiens endete, nach Österreich fliehen. Darum wurde er als Verräter an der Sache Italiens angesehen. Und darum reisten er, Ihr Vater und Sie selbst mit einem österreichischen Paß – obzwar ich den leisen Verdacht hege, daß Sie recht bald einer anderen Nationalität angehören werden.«

Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie starrte ihn verständnislos an. Als er zur Altantüre ging und den Astrologen hereinrief, errötete sie wie eine Rose.

»Signor Donati«, sagte der Doktor, »die Taube ist scheu und schwer zu fangen, behauptete der alte Messer Marco Polo, aber ich glaube doch, gezeigt zu haben, daß man sie überlisten kann! Ich bin sicher, daß Sie meine Leistung in anderer Form wiederholen werden. Gestatten Sie mir, mit Ihnen anzustoßen!«

Sie tranken feierlich. Draußen brach der Tag in Gold und Rosa an. Die Spalten der Jalousien ließen schon goldene Lichtbächlein herein rieseln. Der Doktor fügte hinzu:

»Aber was die Wette betrifft, die wir vor einiger Zeit in Amsterdam eingingen, so wird sie, fürchte ich, unentschieden bleiben. Wer in der Theorie tiefer in das Wesen unserer gemeinsamen Klientin eingedrungen ist, wage ich noch nicht zu entscheiden, aber, wem es in der Praxis gelungen ist, das weiß ich, und ich beuge mich vor dem Resultat!«

Er erhob sein Glas zu Gräfin Sandra und dem Astrologen. Sie starrten ihn an, als wollten sie ihren Ohren nicht trauen. Ihre Augen drückten erstaunten Trotz aus, die des Astrologen Zorn. Aber das Lächeln in seinem Vollmondgesicht entwaffnete sie. Er war so gütig und so wehmutvoll, daß ihr Trotz plötzlich schmolz und sein Zorn langsam verrauchte. Von ihm wendeten sie die Blicke einander zu, und plötzlich schien eines in den Augen des anderen Dinge zu lesen, die bis dahin nicht darin zu lesen gewesen waren – und die keinen anderen etwas angingen.

Der Doktor nahm den treuen Schmidt unter den Arm und zog ihn mit auf den Altan hinaus. Unter ihnen strömte der Canal Grande wie eine goldene Flut zwischen Palästen aus rosafarbenem Marmor dahin; das war der Trug des ersten Morgenrots; bald würde der Kanal wieder ein zweifelhaft reines Gewässer und die Paläste moderzerfressene Baracken sein. Aber als Traum war es schön, und der Doktor starrte mit trunkenen Augen über die unwirkliche Herrlichkeit der alten Lagunenstadt hin.

Zum Staunen des Chauffeurs Schmidt erhob Doktor Joseph Zimmertür, Amsterdam, Heerengracht 124, plötzlich seine Stimme und rief:

»Wollen wir die Welt und uns selbst kennenlernen, gilt es schließlich gleich, ob wir die ewigen Sterne befragen oder unser eigenes Herz. ›Denn in der Welt ist nichts, das nicht früher in unserem Sinn war, und in unserm Sinn nichts, das nicht früher in der Welt gewesen wäre‹. Aber glücklich ist der, der die Liebe in seinem Herzen trägt.«

Dann klopfte er an die Altantüre und trat in den Saal, wo Messer Miliones Erbin eben das letzte Dritteil des Erbes ihres Stammvaters verschenkt hatte.

 

Ende

 


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