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Fünftes Kapitel.
Bibliotheksstudien

Als Dr. Zimmertür am nächsten Morgen erwachte, hatte er jedoch den jungen Mann aus Amsterdam vollständig vergessen. Zwei Flaschen Riquewihr als Aperitif und eine Flasche Châteauneuf-du-Pape zum Speisen schenken einen gesunden Schlummer und ein Vergessen, des dunklen Lethe würdig.

Das Wetter war an diesem Morgen strahlend; der Frühling hatte über den ganzen vogesischen Frontabschnitt gesiegt; die Fensterscheiben und Kupferdächer funkelten unter einer heißen Sonne, und in der Ferne stiegen die gotischen Spitzbogen des Straßburger Münsters wie eine Orgelkantate zum blauen Himmel auf. Sowie der Doktor mit seiner Toilette fertig war, eilte er dem Illkanal entlang der Place de la République zu, wo die Bibliothek lag.

Diese präsentierte sich als ein massiver Bau aus der deutschen Zeit, gegenüber dem ehemaligen kaiserlichen Palast gelegen. Das Reisehandbuch gab an, daß sie nahezu eine Million Bände umfaßte. Dr. Zimmertür ging hastig die Eingangstreppe hinauf, gab seine Überkleider ab und begab sich in den großen Lesesaal.

Was er brauchte, war ein Beamter mit wenigstens zwanzig Dienstjahren. Denn daß der Ausleihkatalog aus jener Zeit noch erhalten sein sollte, war wohl kaum anzunehmen! Er wendete sich mit einer Frage an den ersten Beamten, den er sah. Die Antwort bestätigte seine Befürchtungen: der Ausleihkatalog wurde höchstens fünf Jahre aufgehoben.

Und war noch irgendein Bibliothekar aus der Zeit vor zwanzig Jahren da?

Kaum – der Krieg hatte in Straßburg allerhand Veränderungen herbeigeführt, und er hatte auch diese stille Freistatt der Musen nicht verschont. Viele Beamte waren im Krieg gefallen, andere hatten es vorgezogen, das Vaterland zu wechseln. Aber halt! Es war noch eine Reliquie von Anno dazumal da, ein festes Inventarstück konnte man sagen – Monsieur Halberlé.

War es möglich, Monsieur Halberlé zu sprechen?

Das war ganz sicher unmöglich. Monsieur Halberlé war von seiner gewöhnlichen Arbeit in Anspruch genommen.

Aber ließ es sich nicht denken, daß er sie für einen Augenblick unterbrach?

Sie unterbrechen? Eine Arbeit unterbrechen, mit der er seit dreißig Jahren Tag und Nacht beschäftigt war? Ausgeschlossen! Monsieur Halberlé war überdies ungemein irritabel. Es war schon keine angenehme Aufgabe, sein Zimmer zu betreten, ohne ihn zu unterbrechen. Beides zugleich zu wollen, war geradezu ein Wagestück. Konnte man Monsieur in anderer Weise zu Diensten stehen?

Dr. Zimmertür dachte nach. Wieder stand er vor einer Türe, die in die Vergangenheit führen konnte. Gestern hatte die Türe Joseph geheißen, heute hieß sie Halberlé. Joseph hatte ihn auf Irrwege geführt, aber er hatte zum richtigen Weg zurückgefunden und war mit Josephs Hilfe so weit vorgedrungen, als er konnte. Nun mußte er ein Mittel finden, Monsieur Halberlés Herz aufzuschließen. Wie mochte wohl sein Sesam lauten?

»Darf ich fragen, worin Monsieur Halberlés Arbeit besteht?« sagte er zu dem jungen Beamten. Zu seiner Verwunderung konnte dieser nur schwer seine Heiterkeit unterdrücken.

»Aber bitte«, erwiderte er. »Es ist ja kein Geheimnis. Monsieur Halberlé beschäftigt sich seit dreißig Jahren ausschließlich mit einer Sache, nämlich alle jene Stellen der Weltliteratur, in denen die Elsässer Weine erwähnt werden, zu sammeln und zu kommentieren! Das ist seine große Arbeit, das ist seine Lebensaufgabe!«

Der Doktor lächelte selbst.

»Ist das möglich?«

»Es ist buchstäblich wahr. Monsieur Halberlé ist der glühendste Patriot im Elsaß.«

»Beim Bacchus!« rief der Doktor. »Er hat recht! Kann man seiner Heimat eine schönere und kindlichere Huldigung darbringen? Er ist also ein eifriger Anbeter des Gottes der Trauben?«

»Weit gefehlt! Schon vor vielen Jahren hat ihm sein Arzt verboten, Wein zu trinken. Aber so wie Dante seine Jugendliebe Beatrice niemals vergaß, vergißt Monsieur Halberlé die Jahre nicht, als er noch Elsaß' Weinen durch die Tat huldigte, und so wie Dante ist er seiner Liebe treu geblieben.«

»Das ist schön«, murmelte der Doktor, »das ist schön. Aber was das betrifft, daß er den Wein, den er verherrlicht, nicht trinken sollte, so habe ich da meine leisen Zweifel. Ich traf gestern einen Weinkenner, der dasselbe behauptete, der aber ...«

Der Beamte begann ungeduldig zu werden.

»Kann ich sonst irgendwie zu Diensten stehen?« fragte er. Die Gedanken des Doktors drehten sich im Kreise, auf der Jagd nach einer Idee. Er wollte, er mußte dieses einzige Bindeglied der Bibliothek mit der Vergangenheit sprechen. Aber wie sollte er es anstellen? Überredung half da nichts, das sah er voraus. Ein Empfehlungsschreiben? Wo sollte er eines hernehmen? Und würde Monsieur Halberlé einem solchen irgendwelche Beachtung schenken? Kaum anzunehmen! Er kannte diese monomanen Typen; alles, was außerhalb ihrer Interessensphäre lag – »Heureka!« Er hatte es! Man mußte eben an diese Interessensphäre appellieren.

»Einen Augenblick«, sagte er zu dem jungen Beamten und kritzelte hastig etwas auf eine Visitenkarte. »Wollen Sie Monsieur Halberlé dies übergeben? Wie irritabel er auch sein mag, dies kann er ja doch nur als eine Freundlichkeit auffassen. Lesen Sie selbst!«

Der Beamte nahm die Karte und las:

»Dr. Joseph Zimmertür, Amsterdam, bittet um die Erlaubnis, einen holländischen Hinweis auf den Riquewihr mitteilen zu dürfen.«

Der Beamte verschwand zögernd in ein inneres Gemach, aus dem ein irritiertes Grunzen drang. Er kam sehr rasch wieder heraus und nickte dem Doktor bekräftigend zu, der vor Freude zusammenzuckte. Nun galt es, seine Karten gut auszuspielen und mit der erforderlichen Kaltblütigkeit.

Kurz darauf erschien ein kleiner weißhaariger Herr im Jackett mit einem Profil, das verblüffend dem des Sokrates ähnelte. Er fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und blinzelte rasend gegen das Tageslicht; er war offenbar mitten in ernsten Studien gestört worden und befand sich sichtlich in einer überaus labilen Gleichgewichtslage. Der Bibliotheksbeamte murmelte ein paar Worte und wies mit einer Geste in die Richtung von Dr. Zimmertür. Monsieur Halberlé kam auf den Doktor zugetaumelt, der ihn mit einer tiefen Verbeugung begrüßte.

»Sie wünschen mit mir zu sprechen?«

»Ich habe mir die Freiheit genommen ...«

»Sie haben mir eine holländische Belegstelle für den Riquewihrwein zu geben?«

»Ja.«

»Wollen Sie sie mir so rasch als möglich geben! Meine Zeit ist sehr in Anspruch genommen.«

Er legte den Kopf schräg, schloß die Augen halb und wartete auf den holländischen Beleg, mit einem Notizbuch in der linken und einem Bleistift in der rechten Hand. Er glich aufs Haar einer tagblinden Weisheitseule.

Der Doktor räusperte sich.

»Der Beleg findet sich in meinen Memoiren, zweiter Teil.«

»Ihren Memoiren? Wo und wann sind die erschienen?«

»Sie sind noch nicht erschienen.«

»Wie beliebt? Nicht erschienen?«

»Nein.«

»Höre ich recht? Am Ende sind sie noch nicht einmal geschrieben?«

»Ich schreibe jetzt gerade an einem Kapitel davon. Es handelt unter anderem vom Elsaß; und zwei Flaschen Riquewihr, die ich gestern trank, werden eine hervorragende Rolle in diesem Kapitel spielen.«

Monsieur Halberlé ließ den Bleistift und das Notizbuch sinken. Er öffnete die Augen und starrte den Doktor an.

»Mein Herr, Sie uzen mich!«

»Ich uze Sie? Das wage ich auf das bestimmteste in Abrede zu stellen.«

»Sie uzen mich!«

»Das tue ich nicht!«

»Doch!«

»Wollen Sie vielleicht meinen Memoiren jedes Interesse absprechen? Bezweifeln Sie, daß sie eines Tages erscheinen werden? Sind Sie nicht Ihrer Zeit voraus, wenn Sie schon heute einen Beleg aus diesen Memoiren publizieren können, die vielleicht erst in Jahr und Tag erscheinen werden? Und ist nicht dies, seiner Zeit voraus zu sein, der höchste Triumph, den ein Mann der Wissenschaft erringen kann? Antworten Sie mir, Monsieur Halberlé, ist dem nicht so?«

Monsieur Halberlé blinzelte das Vollmondsgesicht des Doktors an, öffnete den Mund, um seiner Wut Luft zu machen, schloß ihn wieder, spreizte seinen weißen Spitzbart mit den Fingern aus, glättete ihn wieder und starrte dabei die ganze Zeit dem Doktor in die Augen. Schließlich wurde sein sokratisches Antlitz von einem faunischen Lächeln gespalten. Er streckte die Hand aus und sagte:

»Da haben Sie mich mit meinem eigenen Köder gefangen! Sie wollen über etwas ganz anderes mit mir reden? Gestehen Sie es ein! Was ist es?«

Der Doktor schüttelte ihm herzlich und nachdrücklich die Hand.

»Ich habe mir eine Kriegslist erlaubt, weil man behauptete, es sei notwendig, und es freut mich, daß Sie mir das nicht übelnehmen! Ja, ich habe etwas mit Ihnen zu sprechen. Ich komme, als ein wallfahrtender Pilger, zu Ihrem Gedächtnis, Monsieur Halberlé. In der Schatzkammer Ihrer Erinnerungen verwahren Sie etwas, das von ebenso großer Bedeutung für mich ist wie ein Literaturzitat für Sie! Wenn Sie sich nicht an das erinnern, wonach ich Sie fragen will, gibt es wohl niemanden auf Erden, an den ich mich wenden kann.«

Monsieur Halberlé begann wieder ungeduldig auszusehen.

»Wonach wollen Sie mich denn fragen? Wann und wo hat es sich zugetragen?«

»Hier hat es sich zugetragen. Vor zwanzig Jahren.«

»Vor zwanzig Jahren?« wiederholte der Historiograph der Elsässer Traube. »Unter den Weinen dieses Jahrgangs ist ein selten feiner Traminer. Er wird in der Literatur häufig erwähnt.«

»Das freut mich«, sagte der Doktor herzlich. »Ich bedaure nur, daß wir ihn nicht hier, während wir miteinander sprechen, verkosten können. Aber hören Sie nun, was ich Sie fragen will.«

Er machte eine Pause und fuhr fort:

»Vor zwanzig Jahren hatte diese Bibliothek den Besuch eines Italieners, eines Grafen Passano.«

Er machte abermals eine Pause und sah den weißhaarigen Liebhaber der Elsässer Weine erwartungsvoll an. Würde der Name Erinnerungen wecken? Nein, er weckte keine Erinnerungen.

Monsieur Halberlé strich sich hastig durch den Bart und murmelte in sich hinein:

»Das fügt sich aber wirklich gut! Gerade für diesen Jahrgang Traminer gibt es eine Belegstelle, die ich vergessen hatte. Sie steht bei Maurice Rabusson. Vielleicht in den ›Weisen ohne Stern‹? Ja, da muß es sein.«

»Monsieur Halberlé«, sagte der Doktor, »es ist unrecht von mir, Sie mit meinen lächerlichen, bedeutungslosen Nachforschungen zu belästigen. Sie haben Dinge, die Ihrer Aufmerksamkeit würdiger sind. Nochmals, verzeihen Sie, daß ich Sie unterbrochen habe, und leben Sie wohl!«

Der alte Forscher starrte ihn verblüfft an. Dann fuhr er sich durchs Haar und sagte:

»Habe ich nicht zugehört, was Sie sagten? Was sagten Sie doch?«

»Monsieur Halberlé«, sagte der Doktor ernsthaft, »Sie haben keine Zeit.«

»Monsieur«, gab der Epiker der Elsässer Weine noch ernster zurück, »ich habe Zeit. Außerdem bin ich Ihnen Dank schuldig. Haben Sie mir nicht einen holländischen Hinweis auf den Riquewihr gegeben und mir eine französische Belegstelle für den Traminer in Erinnerung gerufen?«

Der Doktor verbeugte sich.

»Alles, was ich Sie fragen will, ist dies: Erinnern Sie sich eines Italieners, eines Grafen Passano, der vor zwanzig Jahren täglich in die Bibliothek kam? Und haben Sie eine Ahnung, was er eigentlich hier studierte?«

Monsieur Halberlé schüttelte den Kopf.

»Es war ein schlanker schöner Mann mit einer Adlernase«, fuhr der Doktor fort. »Er wohnte im Hotel Turin. Sie erinnern sich seiner nicht?«

Ein neues Kopfschütteln, diesmal gleichgültiger als früher.

»Sein Aufenthalt hier wurde durch ein eigentümliches Ereignis markiert«, fuhr der Doktor fort. »Eines schönen Tages mußte er mit seinem kleinen Töchterchen und deren Gouvernante aus Straßburg fliehen. Und wenn es bei dieser Flucht nicht um sein Leben ging, so ging es doch jedenfalls um seine Freiheit. Am Abend vorher war er von einem anderen Italiener zum Duell gefordert worden und hatte ihn schwer verwundet. Duelle waren verboten und – Sie erinnern sich an nichts?«

Es war unverkennbar, daß Monsieur Halberlés Gedanken sich wiederum anschickten, im Sturmmarsch zu der Zitatensammlung der Weltliteratur zurückzuwandern. Der Doktor dachte wie ein Rasender. Dies war vielleicht sein einziges Bindeglied mit der Vergangenheit; wenn er hier nichts erreichte, mußte er seine Nachforschungen aufgeben oder im Blinden tappen, auf die Hilfe des Zufalls hoffend. Dieses alte Original konnte oder wollte sich an nichts erinnern. Warum? War es nicht deshalb, weil alles, was der Doktor bisher über den Grafen Passano erzählt hatte, einer anderen Welt angehörte als der, in der er lebte. Ja, ganz gewiß. Wer doch irgendeinen Ausspruch des Grafen über das Elsaß und dessen Weine zitieren könnte! Das hätte dieses widerspenstige Gedächtnis besser angespornt als tausend andere Tatsachen! Ha! Er fühlte, wie seine Gedanken sachte die Idee erhaschten, der er nachgejagt hatte. Versagte auch diese Möglichkeit, dann mußte er alles in die Hand des Zufalls legen.

»Monsieur Halberlé«, sagte er, »eine letzte Frage: Wenn ich Ihnen sagen könnte, welchen Wein Graf Passano trank, könnte Ihnen das nicht besser helfen, sich seiner zu erinnern? Ich meine, wenn Sie ihn überhaupt gesehen haben!«

»Schon möglich«, gab der pensionierte Bacchusjünger langsam zu. Er schien plötzlich teilnehmender. »Wie kommen Sie darauf? Und was hat er getrunken?«

»Ich weiß es zufälligerweise«, sagte der Doktor mit pochendem Herzen. »Ich weiß es durch den Weinkellner Joseph, mit dem ich gestern eine Unterredung hatte. Er saß jeden Abend im Sommergarten des Hotel Turin ...«

»Da pflegte ich selbst vor zwanzig Jahren zu sitzen«, murmelte der weißhaarige Weinforscher. »Das war damals, als ich noch den köstlichen Trank meines Heimatlandes trinken durfte. Das Hotel hat einen ausgezeichneten Keller und – zur Sache! Was trank er?«

»Er trank Goxwiller«, sagte der Doktor. »Jeden Abend stach er ein bis zwei Flaschen aus, sagte Joseph ...«

Der Epiker der Elsässer Traube unterbrach ihn mitten im Satz:

»Goxwiller! Meine eigene Lieblingsmarke, die Essenz meiner Jugend, das Elixier meiner Mannesjahre. Das Öl, mit dem ich meine steif werdenden Glieder schmierte, bis diese Quacksalber es mir verboten und mir die Wahl zwischen dem Wein und den Gewässern des Styx ließen. Beging ich nicht doch einen Irrtum, als ich dem mildesten und köstlichsten aller Traubensäfte des Elsaß Valet sagte? Was steht doch im ›Freund Fritz‹, Seite 123 ...«

Er unterbrach sich und sah den Doktor lächelnd an.

»Ich habe mich schon wieder vergessen«, sagte er. »Und ich vergesse, was für Sie die Hauptsache ist. Ich erinnere mich an Ihren Mann. Goxwiller! Warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt?«

»Das frage ich mich eben selbst«, sagte der Doktor. »Aber Sie erinnern sich – Sie erinnern sich also wirklich an irgend etwas?«

»Natürlich erinnere ich mich jetzt«, erwiderte Monsieur Halberlé trocken. »Sollte ich einen Mann vergessen, der mir beinahe den ganzen 1893er Jahrgang meiner eigenen Lieblingsmarke ausgetrunken hat! Nicht diesseits des Styx! Ich erinnere mich an ihn, als wenn es gestern gewesen wäre. Aber was wollen Sie, daß ich Ihnen erzählen soll? Sie wissen, wie er aussah, Sie wissen mehr über das, was er hier trieb, als ich weiß – was wollen Sie also wissen?«

»Ich habe es Ihnen schon gesagt, Monsieur Halberlé, ich will wissen, was er studierte, wenn er nicht Goxwiller trank! Er verbrachte Tag für Tag in der Bibliothek. Der Weinkellner Joseph hat es gesagt.«

Monsieur Halberlés weiße Augenbrauen zogen sich langsam zusammen. Er dachte, und er dachte scharf, das sah man. Das Resultat seiner Denktätigkeit kam in kleinen, halb gemurmelten Rapporten zutage.

»Er kam hierher – das stimmt – er saß Tag für Tag hier – das stimmt – ich sah mir an, was er las – das stimmt – denn ich kannte ihn ja aus dem Sommergarten des Hotels. Aber was war es nur, was er studierte? Was war es? Was war es?«

Seine gemurmelten Mitteilungen brachen ab. Er dachte schweigend weiter. Der Doktor hielt vor Spannung den Atem an. Würde der Ariadnefaden halten oder reißen? Würde die Erinnerung des alten Exzentrikers in die Irre wandern und zu den Zitaten aus der Weltliteratur zurückkehren, oder würde sie ihn durch die Irrgänge der zwanzig Jahre hinaus ins Tageslicht führen?

Plötzlich schlug Monsieur Halberlé ein trockenes Lachen an. Sein Gesicht leuchtete vor Triumph, in den sich ein klein wenig Hohn mischte. Der Triumph galt offenbar der Gedankenarbeit, die er soeben geleistet, der Hohn dem Resultat, zu dem diese Arbeit geführt hatte.

»Sie wünschen zu wissen, was Ihr Graf hier in der Bibliothek las? Na schön, das will ich Ihnen sagen – obgleich es mir schleierhaft ist, welches Interesse seine Lektüre für Sie haben kann oder für ihn gehabt haben konnte.«

»Offenbar nicht die Geschichte der Elsässer Weine«, warf der Doktor ein, »das höre ich an Ihrem Tonfall. Was war es also, was er studierte, Monsieur Halberlé?«

»Es waren ›Marco Polos Reisen‹«, rief der Chronist der erwähnten Weine mit einem wiehernden Gelächter. »Ganz einfach Marco Polo! Nie etwas anderes – und vom Morgen bis zum Abend! Jetzt wissen Sie, was Sie wissen wollten. Sie gestatten? – Ich habe die Ehre!«

»Aber«, begann der Doktor.

Monsieur Halberlé hörte ihn nicht mehr. Mit flatternden Haaren und wehenden Jackettschößen war er schon auf dem pfeilschnellen Rückzug in das Heiligtum, wo er die Triumphe der Elsässer Traube in Tinte feierte.

Als der Doktor die Eingangsstiege der Bibliothek zur Hälfte hinuntergegangen war, blieb er unvermittelt stehen und putzte sich hastig die Nase.

Das letztere geschah, um das erstere zu markieren. Denn stehengeblieben war er vor Staunen.

Die Treppe hinauf kam niemand anders als der junge Mann, den er vor einigen Tagen in Amsterdam und am letzten Abend in seinem Hotel in Straßburg gesehen hatte – der Mann, der sich so unverkennbar für das Tun und Treiben der Gräfin Sandra di Passano zu interessieren schien.


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